3. KAPITEL

Die Natur der Bestie

Oben schrie eine Frau, wieder und wieder. Es war ein herrlicher, schöner Klang, und er machte ihn verrückt.

Cyrus lag in dem schmalen Bett des Priesters. Mouse schlief auf dem Boden, wo sie sich in den Schlaf geweint und Cyrus damit furchtbar auf die Nerven gefallen war. Aber sie hatte das Bett frisch bezogen, also gab sie zumindest ein ganz brauchbares Zimmermädchen ab.

Das Geschrei oben erstarb, vermutlich zusammen mit der Frau, die es von sich gegeben hatte. Als nächstes würden sie ihr Blut abzapfen und ihre Organe essen. Die Erinnerung daran trocknete ihm den Mund aus. Was täte er nicht alles für den Geschmack von Blut auf seinen Lippen.

Mouse hatte ihn mit Dosensuppe gefüttert, die zu dünn und zu salzig war. Auch als Vampir hatte er gern verschiedene Gaumenfreuden genossen – Schokolade, teuren Käse und guten Kaviar. Als Blut noch seine Hauptquelle der Lebenserhaltung gewesen war, konnte er zum reinen Vergnügen essen. Dass er so minderwertige Nahrung aufnehmen musste, weil er Hunger hatte, war grausam deprimierend, aber die Suppe hatte ihn glücklicherweise ein wenig gestärkt.

„Bist du wach?“ Er setzte sich auf und stieß sie mit den Zehen an. Zusammengerollt lag sie auf der Seite, die Decke, die er ihr – generös, wie er fand – überlassen hatte, hielt sie an die Brust gepresst. Als sie sich nicht bewegte, gab er ihr einen lahmen Tritt. „Steh auf!“

Sie rührte sich nicht. Einen irren, freudigen Moment lang fragte er sich, ob sie gestorben war. Doch ein weiterer Tritt entlockte ihr eine kleine Bewegung. Sie runzelte leicht die Stirn und drehte den Kopf. Ihr stumpfes Haar fiel zur Seite und entblößte den Hals. Die Schlagader pochte mit verführerischer Vertrautheit.

Nur ein Biss.

Doch er war kein Vampir mehr, verfügte weder über Fangzähne, noch empfand er echten Blutdurst, zumindest keinen physischen. Aber seine Seele dürstete noch immer danach. Der reiche, volle Geschmack von Blut, die emotionale Verbindung mit dem Opfer während des Trinkens – danach sehnte er sich. Dosensuppe kam dagegen einfach nicht an.

Lautlos glitt er zu Boden und legte sich mit geschlossenen Augen neben sie. Ihm war schwindlig, und der Raum drehte sich um ihn. Trotz ihrer knochigen Hüften und Schultern war ihr Fleisch warm und einladend. Er erinnerte sich an diesen Teil, die Verführung. Es hatte Zeiten gegeben, in denen es ihm großen Genuss bereitet hatte, seinen Opfern Schmerzen zu bereiten, damit sie sich wehrten. Aber er war sich seiner Kraft nicht sicher, und er wollte nicht, dass sie schrie und die Vampire oben alarmierte.

Ihr Haar roch immer noch nach Shampoo. Billiger, stechender Erdbeerduft. Die Flasche hatte im Bad gestanden. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Hals und schmeckte ihre Haut. Salzig vor Schweiß und Furcht.

Seine Berührung weckte sie nicht. Sie stöhnte leise, als er mit der Zunge über ihre Ohrmuschel strich. Ihre Hüften stießen nach hinten, und er drückte sie fest an sich, an seine wachsende Erregung.

Genau so war es immer gewesen. Purer körperlicher Genuss, gepaart mit einem übermächtigen Gefühl. Immer kam der Moment, wo der Akt ihn trunken machte, ihn vergessen ließ, dass er töten wollte, und sein Bewusstsein überwältigte. In diesem Augenblick war er immer wieder der Illusion verfallen, dies wäre ein Ausdruck der Liebe und nicht nur das Vorspiel des Todes. Für einen Moment hatte er sich vorgemacht, dass sie ihn liebten.

Cyrus presste die Augen zusammen und schob die Hand von vorne unter ihr Kleid. Der Schlag ihres warmen Herzens war ein Widerhall seines eigenen Herzschlags, er klang wie Hohn in seinem Kopf.

Niemals hatten sie ihn geliebt. Wie könnten sie? Er war es niemals wert gewesen, geliebt zu werden. Nicht von seinem Vater, nicht von seinen Frauen, nicht von seinen Gefolgsleuten. Was hatte er je getan, um Liebe zu verdienen?

Und dann hatte der perfekte Moment immer eine hässliche Wendung genommen. Wut erfüllte ihn. Sein Griff um ihre knochige Hüfte wurde schmerzhaft. Auch ohne Vampirkraft wusste er, dass er Blutergüsse hinterließ.

Das war es, was er wollte. Den Schmerz. Die Todesangst in ihren Augen. Er schwelgte darin.

Erschrocken wachte sie auf. Er beugte sich über sie und sah, wie sie nach und nach verstand, was mit ihr geschah. Zuerst Verwirrung, dass sie aus diesem sündigen, genüsslichen Traum erwacht war. Dann die Scham, als sie begriff, dass der Traum Wirklichkeit gewesen war. Entsetzen, als sie sah, wer sie hielt, und schließlich völlige Schicksalsergebenheit, als sie verstand, was er vorhatte.

Obwohl ihr Körper bebte, waren ihre Glieder wie erstarrt in einem jämmerlichen, hilflosen Versuch, ihn wegzustoßen. Sie berührte ihn dabei nicht einmal. Adrenalin trieb seinen geschwächten Körper an. Seine stumpfen Menschenzähne drangen nicht durch ihre Haut. Sie fand ihre Stimme und schrie, als er auf dem zarten Fleisch ihrer Kehle herumbiss, aber sie kämpfte nicht gegen ihn. Er versuchte es noch einmal, und sie trommelte mit den Fäusten auf seine Brust. Er beachtete sie nicht und biss erneut zu, wobei er ihr den Mund zuhielt, um sie zum Schweigen zu bringen.

Das Mädchen wehrte sich, schlug und biss, während er sich fluchend auf sie rollte, um sie auf den kalten Boden zu pressen. Ihr Kleid rutschte über die Hüften, und er drängte sich zwischen ihre Beine. Durch die dünne Baumwolle ihres Höschens hindurch spürte er die Hitze, die er geweckt hatte, als sie noch zu träumen glaubte. Unter seinen Berührungen riss sie die Augen weit auf und erstarrte nur für eine bloße Sekunde, ehe sie sich wieder aufs Schlagen und Winden besann. Sie dachte, er wolle sie vergewaltigen und kämpfte noch härter als eben, als sie geglaubt hatte, er wolle sie töten.

Ihr Schrecken war ein Aphrodisiakum. Der Duft ihres Angstschweißes füllte seine Nase. Das Gefühl, wie sie sich unter seinem harten Körper wand und nach einem Weg suchte, um ihm zu entkommen, steigerte seine Erregung. Er packte ihre Haare und zerrte ihren Kopf nach hinten. Dann zielte er auf die zerbissenen roten Stellen, die er an ihrem Hals hinterlassen hatte, stürzte sich darauf und biss zu.

Diesmal drückte er nicht nur kurz zu. Cyrus ließe erst nach, als sein Kiefer schmerzte und es in seinen Ohren rauschte. Mouse zerkratzte seinen Rücken mit ihren Nägeln und hinterließ schmerzhafte Striemen auf seinen Schulterblättern. Ihr Schrei, ein langes scharfes Heulen, steigerte die Tonhöhe, je härter er sich in ihre Haut verbiss.

Schließlich platzte ihr Fleisch mit einem widerlichen Geräusch auf. Sie blutete. Nicht in einem Schwall wie bei einer Arterie, nur ein paar Tropfen. Hätte er sich in seinem Leben nach dem Tod an diesen Geschmack erinnern können, dann wäre es für ihn die Hölle gewesen. Unerträglich die Vorstellung, wie lange er sich nicht der süßen Gewalt des Bluttrinkens hatte hingeben können … Er erschauderte, als er zärtlich über das gerissene Fleisch der Wunde leckte.

Ihr Schrei wurde leiser und verwandelte sich in ein Schluchzen, das er nur wahrnahm, weil sich sein Mund auf ihrer zuckenden Kehle befand. Er hatte sie verletzt, sie zum Schreien gebracht. Dass er diese Macht wiedererlangt hatte, ob Mensch oder nicht, elektrisierte ihn.

Der Geschmack ihres Blutes hatte ein heftiges Feuer in seinen Lenden entzündet. Er stieß gegen ihre Schenkel und überließ sich der schaurigen Leidenschaft, die das sickernde Blut aus ihrem aufgerissenen Hals in ihm auslöste, und der Verzweiflung, die er in ihrer Seele spürte. Aber es war nicht genug. Es war nicht wie früher.

„Bitte“, krächzte sie und holte so mühsam Luft, als ob der Sauerstoff Tonnen wöge. „Bitte nicht.“

Ihr verzweifeltes Flüstern brachte ihn zum Höhepunkt. Er warf den Kopf zurück und stöhnte, als er kam, sein Samen spritzte über das bleiche Fleisch ihrer Schenkel. Keuchend rollte er sich von ihr. Sie schob sich auf den Ellenbogen weg und kam dann unter hemmungslosem Schluchzen auf die Füße. Die Badezimmertür schlug zu, und der Klang des Riegels war, als ob ihm jemand Eis auf den Bauch geschüttet hätte.

Cyrus hatte es nicht so genossen wie in alten Tagen. Früher, als er ein Vampir gewesen war, hätte er keinen einzigen Gedanken an seine Tat verschwendet. Jetzt regte sich sein Gewissen, ein Stachel, den er nach seiner Verwandlung ziemlich gut in den Griff bekommen hatte. Warum konnte er es jetzt nicht ignorieren? Ganz sicher kam er auch ohne ein Gewissen blendend aus.

Er hatte ihr wehgetan. Eben noch hatte dieser Gedanke ihm Befriedigung verschafft. Das sollte er auch. Unzähligen Mädchen hatte er Schlimmeres angetan, ihre Unschuld und ihr Vertrauen vernichtet, wenn nicht sogar ihr Leben.

Genau das hatte er mit Mouse getan.

Von seinen eigenen Gefühlen irritiert, stützte er sich mit zitternden Armen auf und starrte auf die geschlossene Badezimmertür. Ihr Schluchzen konnte er zwar nicht hören, aber er stellte es sich vor, während er lauschte, wie das Wasser in die Badewanne einlief. Ihr Geist war schon schwach gewesen. Ihre Freunde waren vor ihren Augen abgeschlachtet und gefoltert worden, doch das hatte sie noch nicht vollständig gebrochen. Nicht ganz. Nicht, bis er sie missbraucht und terrorisiert hatte.

So bist du eben. Du bist ein Monster.

Obwohl er wusste, dass es die Wahrheit war, wollte er es einfach nicht glauben. Ein Stück Menschlichkeit hatte sich wieder in seiner zerrissenen Seele eingenistet, zum Guten oder Schlechten. Wahrscheinlich zum Schlechten.

Mühsam stand er auf, stützte sich auf alles Erreichbare und gelangte zur Badezimmertür. „Komm da raus.“

Sie antwortete nicht.

„Ich sagte, komm da raus.“ Ihm fehlte die Geduld für dieses Spiel. Eigentlich sollte er oben sein, von den Ungeheuern Antworten auf seine Fragen verlangen und darauf bestehen, dass sie ihn in seinen früheren Zustand verwandelten. Doch nachdem er seine Energie darauf verschwendet hatte, sie gefügig zu machen, würde er kaum noch die Treppe hinaufkommen.

„Zur Hölle mit dir.“ Cyrus humpelte zu der kleinen Kommode und zog ein paar Sachen heraus, die dem toten Priester gehört hatten. Die Hose war ein bisschen kurz und die Taille etwas zu weit, aber um angemessene Garderobe konnte er sich später kümmern. Er schob die Arme in eins der grässlichen schwarzen Hemden mit verdeckter Knopfleiste und wandte sich in Richtung der schmalen Treppe. Auf halbem Weg gaben seine Beine nach, und er sackte zu Boden. Aber er kämpfte sich weiter, zog sich voran bis zum Fuß der Treppe, rang um Atem und kroch langsam die unregelmäßigen Stufen hinauf.

Cyrus hatte erwartet, dass die Tür oben versperrt sein würde, und das war sie auch, allerdings von innen. Offenbar war jemand mehr darum besorgt, die Vampire draußen als ihn drinnen zu halten. Es brachte ihn trotzdem in die Bredouille. Er musste sich recken, um den Knauf zu erreichen, und brauchte mehrere Anläufe, bis er ihn drehen konnte. Die Tür schwang auf, und sein schwaches Gleichgewicht in der unbeholfenen Haltung beförderte ihn mit dem Gesicht voran auf den rauen Teppich des Hauptflurs.

Die Leichen des Priesters und der Nonne waren aus der Eingangshalle entfernt worden, jedoch durch frischere Körper ersetzt. Cyrus zog sich über den Boden, der Teppich zerkratzte ihm den Bauch an der Stelle, wo das Hemd hochrutschte. Er packte das Rad von einem der Motorräder und wollte sich daran hochziehen. Die Maschine geriet ins Kippen, und für einen endlosen Moment wartete er darauf, dass sie auf ihn niederkrachte, aber sie fing sich. Mit einem frustrierten Seufzer robbte er in Richtung Wand, an der er sich in einem Gewaltakt purer Willenskraft aufrichtete. Schon früher hatte er mit solchen Kunden verhandelt. Vor nichts und niemandem empfanden sie Achtung, aber dennoch verbesserte es die Ausgangsposition, wenn man ihnen aufrecht entgegentrat, statt zu ihren Füßen herumzukriechen.

An die Wand gelehnt, gönnte Cyrus sich eine Verschnaufpause und betrachtete durch die dunklen Fenster flüchtig die Umgebung. Ein völlig zerklüfteter Parkplatz in einem Ozean aus Wüstensand, dahinter eine öde Straße. Genau die Art von Gegend, die Kretins sich vorstellten, wenn sie in rührseliger Verherrlichung der freien Landstraße poetisch wurden. Sein Blick fiel auf eine der Maschinen, und das Emblem auf dem Tank machte ihm eine Gänsehaut.

Die Fangs.

Einerseits widerstrebte ihm der Gedanke, auch nur eine Minute mit der verrohten Bande zu verbringen. Andererseits war er spontan dankbar, dass er ihnen einst in den Tagen vor seinem Tod Unterschlupf gewährt hatte. Wenn sie irgendeinen Anstand kannten, was er eigentlich nicht glaubte, sollten sie sich verpflichtet fühlen, ihn aufzuklären, was hier vor sich ging.

Die großen Doppeltüren zur Kirche waren geschlossen, kryptische okkulte Zeichen mit Kreide darauf gemalt. Mühsam zog er die Tür auf und ging hinein.

Aus einer provisorisch auf einem Seitenaltar arrangierten gigantischen Stereoanlage dröhnte laute, dissonante Musik. Nach dem ausgedehnten Aufenthalt der Fangs in seinem Herrenhaus war Cyrus heilfroh gewesen, diesen Krach los zu sein. Ein wildes Würfelspiel hielt im Hauptchor die meisten Gangmitglieder in seinem Bann. Ein paar schliefen auf Kirchenbänken, ohne sich darum zu scheren, welche Spuren ihre dreckigen Stiefel und schmierigen Klamotten auf den ungepolsterten Sitzen hinterließen. An einer Seitenwand versah ein Fang die Figuren auf einem Fresko des letzten Abendmahls mit überdimensionalen Schwänzen. Jemand schmiss eine Bierflasche, sie platzte mit lautem Getöse an der Wand. Insgesamt benahmen sie sich rücksichtsvoller als in Cyrus’ Haus, wo sie Bier saufend seine formellen Abendessen gesprengt hatten. Dies muss ihr Kirchenbenehmen sein.

Als Cyrus eintrat, unterbrachen alle ihre Beschäftigung und wandten sich ihm zu. Alle außer dreien. Sie saßen im Allerheiligsten, wo er noch am Morgen gefangen gewesen war. Kerzen markierten die Peripherie eines Kreises um sie. Ihre Fingerspitzen berührten sich, und sie sangen in tiefen Brummtönen. Er erkannte die große Frau mit der Raucherstimme und einem Gesicht, das sogar für einen Vampir hässlich war. Die anderen beiden sahen aus, als wären sie zur Zeit ihrer Verwandlung jünger gewesen, ein Mann mit schwarzem Stachelhaarschnitt und eine Frau, die wohl den gleichen Friseur besuchte. Sie alle zogen ihre grotesken Vampirfratzen.

Wut, so rasend, dass sie in seinen Venen brannte, nahm von Cyrus Besitz. Aber seine Muskeln waren zu schwach, und als er auf sie losging, stolperte er und fiel prompt auf die Nase. Benommen hob er den Kopf und sah, wie die Vampire von allen Seiten des Raumes auf ihn einstürmten. Sie schlugen ihre Klauen in seine Haare und rissen ihn an den Kleidern.

Ein Schrei, schmerzlich vertraut, erfüllte die Luft. Die Biester, die ihn gepackt hielten, erstarrten. Er sah auf und erblickte Mouse. Das dürftige Kleidchen klebte an ihrer nassen Haut, die triefenden Haare hingen ihr verfilzt um die Schultern. Sie stürzte sich direkt auf die Vampire um ihn herum und stieß sie weg. Ein Vorgehen, das Cyrus als erstaunlich furchtlos bezeichnet hätte, wenn sie ohne Zittern und hysterisches Kreischen ausgekommen wäre. Aber sie hatte die Vampire aus der Fassung gebracht, und das genügte. Sie waren so erstaunt, dass sie keinen Widerstand leisteten und sie nicht angriffen.

Sie packte Cyrus’ Handgelenk mit ihrer kalten, nassen Hand, zog ihn auf die Füße und stützte ihn mit überraschender Kraft. Er sah sich noch einmal um, starrte die drei Vampire im Kreis an und überlegte, ob er erneut versuchen sollte, an sie heranzukommen.

„Bitte!“ Mouse zerrte wie wahnsinnig. „Bitte!“

Sie hatte recht, Angst zu haben. Die Vampire würden nicht für immer erstaunt sein. Sie würden über sie herfallen wie eine Todesflut, und der schwache, verletzliche, menschliche Cyrus konnte sie nicht aufhalten. Er hielt sich an Mouse fest, und seine Füße schlingerten knochenlos unter ihm, als sie ihn aus dem Heiligtum schleifte.

Die beiden schafften es bis zur Tür, bevor die Monster ihnen nachsetzten. Mouse schrie gellend, als einer von ihnen eine Handvoll ihrer Haare zu fassen bekam. Dann riss sie sich los und packte Cyrus noch fester. Nur wenige Schritte noch, und sie waren sicher, aber diese wenigen Schritte schienen Kilometermärsche für Cyrus’ abgestorbene Beine und seine rasant abnehmende Energie. In einem letzten heldenhaften Kraftakt riss Mouse die Kellertür auf und stieß ihn hindurch. Er stürzte hin und um ein Haar wäre er die Treppe hinuntergefallen. Mouse zog die Tür zu und versperrte sie.

Die Vampire krallten sich von außen an die Tür, doch das Krallen wich bald wütenden Stimmen und die Stimmen schwerem Getrampel. Die Fangs hatten sie verlassen.

Cyrus rang nach Atem, die Brust schmerzte von der Anstrengung. „Was sollte das denn?“

„Bitte, geh da nie wieder hoch!“ Sie packte ihn vorn an seinem zerrissenen Hemd, wobei seine langen Haarsträhnen mit in ihre Fäuste gerieten.

„Glaubst du, ich geh da freiwillig noch mal hoch? Die töten mich!“ Eigentlich war ihm danach, ihre Schultern zu packen, er wollte die Finger in ihr mageres Fleisch bohren und sie schütteln. Aber sie zu misshandeln war einfach keine Herausforderung, entschied er. Das erklärte auch, warum es ihm vorhin keinen echten Genuss bereitet hatte.

„Wenn sie dich töten, töten sie mich auch!“ Sie hielt ihn fest, ihr Griff war nicht abzuschütteln.

„Wovon redest du?“ Er senkte die Stimme. In vergangenen Zeiten wäre er lieber gestorben, als Verständnis für eine kreischende Frau zu zeigen, aber sie wusste mehr als er. So ungern er es sich eingestand, er brauchte sie, und er brauchte sie in beruhigtem Zustand, damit sie ihm erzählen konnte, was sie wusste.

Cyrus sackte auf die zweite Stufe, und auch sie ließ sich nieder. So hockten sie Seite an Seite zwischen den verkohlten Steinmauern des engen Treppengangs. Sie schluckte pathetisch und rieb ihre Augen. „Wenn du stirbst, bin ich wertlos.“

Ich hatte den Eindruck, dass du sowieso wertlos bist. „Wie meinst du das?“

„Sie lassen mich nur leben, um auf dich aufzupassen. Sie wissen nicht, wie man einen … Menschen versorgt. Sie halten mich am Leben, damit ich dich pflegen kann.“ Sie merkte plötzlich, dass ihre Körper sich berührten, und rückte von ihm ab. „Wenn du stirbst, töten sie mich. Ich bin austauschbar. Das haben sie mir gesagt, als sie Vater Bart und Schwester Helen umbrachten.“

Resigniert wandte sie den Kopf ab, und er sah den blutigen Abdruck seiner Zähne in ihrem Fleisch. Er schaute weg. „Was ist, wenn ich mich umbringe? Was, wenn ich in die Küche gehe, ein Messer nehme und mir die Handgelenke aufschlitze?“

„Nein!“ Sie griff wieder nach ihm, aber er wich ihr aus, auch wenn seine Knochen vor Erschöpfung schmerzten.

„So. Du bist also verantwortlich dafür, dass es mir gut geht, und haftest dafür mit deinem Leben. Bisher hast du wenig getan, um meine Lebensfreude zu steigern. Da sind Rasierklingen im Bad und Messer in den Küchenschubladen. Das sagt mir, dass es dir egal ist, ob du lebst oder stirbst.“ Er studierte ihr Gesicht, während sie seine Worte verdaute.

Entmutigt sah sie zu Boden, ihre Stimme kaum ein Flüstern. „Würdest du dich umbringen?“

Würde er? Das würde diese miserable menschliche Existenz beenden. Aber sie hatten ihn aus dem Reich des Todes zurückgeholt, und ganz gewiss zu einem bestimmten Zweck. Das konnten sie wohl schwerlich ein zweites Mal tun. Und es war ja nicht mal gesagt, dass er eine Rasierklinge heben konnte, um sich aufzuschlitzen. „Nein. Ich wünsche nicht zu sterben.“ Er rutschte eine Stufe tiefer, entschlossen, sie nicht mehr anzusehen.

„Ich auch nicht“, flüsterte sie. „Zumindest glaube ich das.“ Das gab ihm eine vage Hoffnung, etwas gegen sie in der Hand zu haben, falls nötig.

„Dann hältst du mich besser am Leben.“

„Da sind wir“, verkündete Max und ließ seine Sporttasche auf den dicken Teppichboden fallen. Das schwach blecherne Geräusch, mit dem sie aufschlug, war der einzige Hinweis darauf, dass wir uns in einem Flugzeug befanden.

„Air Fang One?“

„Au, der war schlecht.“ Max lümmelte sich auf ein cremefarbenes Sofa mit Seidenbezug und legte die Füße hoch, als wäre es eine Secondhand-Couch im Studentenwohnheim. „Nimm Platz, es ist ein langer Flug.“

Ich konnte den Blick nicht vom prächtigen Dekor des Privatjets wenden. Wände, Teppich und Mobiliar waren in gedämpften neutralen Pastelltönen gehalten. Warmes Licht ergoss sich aus verdeckten Quellen und hob das dunkle Holzfinish der Tischplatten und des ausgedehnten Unterhaltungsbereichs am Ende der Kabine hervor. „Das hier ist schicker als mein Apartment.“

„Es gibt jede Menge Orte, die schicker sind als dein Apartment.“ Max ließ eine Konsole in der Lehne der Couch aufschnappen. Elegant glitt eine Fernbedienung heraus. Er schnappte sie und drehte sich zum Fernseher. „Zum Beispiel mein Apartment.“

Neugierig beäugte ich ein kleines rundes Tischchen und zwei robust wirkende Ohrensessel, optisch sehr ansprechend, besonders durch die farblich abgestimmten Sicherheitsgurte, aber wahrscheinlich nicht sonderlich bequem. „Willst du die ganze Zeit auf dem Sofa rumlümmeln?“

„Wie bitte?“ Max riss sich von einer anscheinend japanischen Fernsehshow mit Oben-ohne-Kandidatinnen los und setzte sich auf. „Oh, nein. Entschuldige. Du möchtest eine Führung?“

„Gibt’s noch mehr zu sehen?“ Ich war schon von diesem Raum beeindruckt genug.

Max erhob sich und deutete auf die stoffbespannten Paneele in der einen Wand. „Komm mit.“

Selbstverständlich befand sich dort eine versteckte Türklinke, eingearbeitet in eine Elfenbeinmulde. Max öffnete sie und gab den Blick auf einen schmalen Gang frei, ähnlich den Gängen in kommerziellen Fliegern, dahinter sah ich ein Cockpit mit dem ganzen Arsenal blinkender Lämpchen und leuchtender Skalen. Zwei Piloten in Standarduniform verständigten sich über Headsets mit dem Tower, während sie Knöpfe drückten und Instrumente überprüften. Sie wirkten ganz normal. Menschen eben.

„Die Bewegung beschäftigt Menschen?“, fragte ich halblaut, als Max mich wieder zum Passagierbereich führte.

„Werwölfe“, knurrte Max düster. „Im Hauptquartier wimmelt es geradezu davon. Sie sind auch gegen Vampire, deshalb findet es die Bewegung ganz toll, sie an Bord zu haben. Willst du das Schlafzimmer sehen?“

„Du Draufgänger.“ Ich stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Ich hoffe, es gibt zwei Betten, andernfalls kannst du beten, dass der Flug nicht lange dauert.“

„Der Flug ist gar nicht so lang“, gab er zu. „Das Problem ist das Warten auf den Sonnenuntergang auf dem Rollfeld.“

Beim Gedanken an den Sonnenaufgang geriet ich in Panik. Es war eine Sache, im Schutz eines großen, fest gebauten Hauses auszuharren, wenn der Morgen dämmerte, oder auch in Ziggys altem Ford-Econoline-Laster. Ein Flugzeug schien dagegen schrecklich riskant. „Wir hocken in diesem Ding mit der Sonne am Himmel?“

„Ja. Doch.“ Max wirkte erschreckend unbekümmert. „Langer Flug, kurze Nacht. Besonders, seit wir durchfliegen. Was glaubst du wohl, warum sie dieses alte Mädchen ohne Fenster gebaut haben?“

„Oh Gott! Was ist, wenn wir abstürzen? Max, wir könnten sterben!“

„So? Wir würden auch sterben, wenn wir als Menschen abstürzen. Wenn du dir Sorgen machen willst, dann sorg dich lieber darum, ob die Piloten uns vielleicht für ihre Zwecke killen.“ Nach dieser beruhigenden Anmerkung führte mich Max zum anderen Ende der Kabine, wo er eine Mahagonitür mit Goldbeschlägen öffnete. Am Ende eines schmalen Flures lag ein weiterer, gleichartig geschmackvoller, gleichartig neutraler Raum mit einem Doppelbett.

„Verdammt.“ Er schüttelte den Kopf, als wäre er tief enttäuscht. „Außer, du willst teilen?“

„Ich passe. Nimm es nicht persönlich. Ich bin im Moment ganz aufs Verdrängen meiner Gefühle konzentriert.“ Es war nicht besser geworden, aber ich tat mein Bestes, nicht darüber nachzudenken. Darin war ich sehr gut geworden, seitdem meine Eltern tot sind. Solange ich den Kummer verdrängte, konnte er mich nicht außer Gefecht setzen, wenn wichtigere Dinge meine Aufmerksamkeit erforderten. Ich sank aufs Bett und schloss die Augen. „Ich habe meine Tasche in dem anderen Raum gelassen.“

„Ich hol sie dir.“

Als Max mit der Tasche wiederkam, überflog ich schnell den Inhalt. Ich hatte mich entschieden, mein Herz im Wandsafe von Nathans Laden zu lassen. Nachdem wir es von Cyrus zurückgeholt hatten, war es in Nathans Verwahrung. In Sicherheitsfragen war er unübertroffen. Die Schachtel, die mein Herz enthielt, war feuerfest und zugeschweißt. Nichts außer der totalen Apokalypse konnte dem Inhalt etwas anhaben. Dennoch war ich machtlos gegen das Gefühl der Angst, den der Gedanke an die Trennung von der Schachtel auslöste. Ich wusste, in dem Safe konnte ihm nichts zustoßen – und, es dazulassen, war weit schlauer als der Versuch, ein Menschenherz durch den Zoll zu schmuggeln. Trotzdem – ich musste mir immer wieder sagen, dass die Angst um mein Leben irrational war.

Eine schlanke, freundlich aussehende Vampirin klopfte höflich an den Türrahmen, um uns auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen. Ein breites Grinsen zog sich über Max’ Gesicht, als er sie ansah. „Sie sind neu hier.“

Die junge Frau errötete, dann fiel ihr ein, dass sie zu professionellem Auftreten verpflichtet war. „Ja, das bin ich. Mein Name ist Amanda. Ich bin Ihre Flugbegleiterin auf dem heutigen Flug.“

„Ich bin Max. Max Harrison. Ich bin Ihr Passagier.“ Er reichte ihr die Hand, und sie schüttelte sie mit einem Ausdruck milder Verblüffung.

Dann richtete sie einen entschuldigenden Blick auf mich. Ich winkte ab. „Er gehört nicht zu mir.“

„Der Kapitän sagt, wir sind klar zum Start. Sie müssen sich beide einen Sitzplatz aussuchen und die Sicherheitsgurte anlegen“, erklärte sie formell, als klammerte sie sich an die eingeübten Standardsätze, um Max’ Charme zu widerstehen.

„Machen wir.“ Amüsiert zwinkerte er ihr zu, woraufhin sie hastig aus dem Raum huschte.

„Musst du denn immer junge unschuldige Frauen sexuell belästigen?“ Ich verdrehte die Augen.

Er lachte. „Entschuldigen Sie, kennen wir uns?“

Nach dem Start war ich einigermaßen davon überzeugt, dass keine unmittelbare Gefahr bestand, ins Meer zu stürzen und sogleich zu verbrennen. Ich schnallte mich ab und stand auf. „Ich bin hundemüde. Hab gestern nicht gut geschlafen. Macht’s dir was aus, wenn ich abstürze?“

„Das ist in einem Flugzeug zwar nicht die beste Wortwahl, aber hau dich ruhig hin.“ Max schüttelte den Kopf, seine Mundwinkel sanken herab. Gebannt starrte er auf den Bildschirm. „Neunhundert Kanäle! Ich glaube, hier bin ich gut aufgehoben.“

„Toll.“ Um die Wahrheit zu sagen, ich war angeödet von der spanischen Varietéshow, die er während des Starts verfolgt hatte, und nicht wirklich müde. „Weck mich, bevor wir landen, falls ich so lange schlafe.“

„Mach ich.“

Auf dem Weg zur Schlafkabine hörte ich das gestellte Stöhnen einer über-enthusiastischen Pornodarstellerin aus dem Fernseher plärren. Na, Hauptsache, er hatte etwas, um die Zeit totzuschlagen.

Nicht, dass ich schon mit vielen Privatjets geflogen war, aber die Betten waren bequemer, als ich gedacht hätte. Die Laken bestanden aus einem Gewebe von der Sanftheit ägyptischer Baumwolle, und das unablässige Surren der Motoren erzeugte eine bauchartige Umgebung oder vielmehr das, was ich mir darunter vorstellte. Eigentlich hätte ich sofort einschlafen müssen, aber meine Gedanken rotierten erbarmungslos. Ich hatte keine Ahnung, wo Nathan war oder ob er überhaupt noch lebte. Wenn ich durch das Blutsband zu kommunizieren versuchte, war alles, was ich empfing, ein lähmender Schmerz. Hieß das, er war tot? Die bloße Vorstellung verstärkte meine Qual, daher schirmte ich mich gegen seine Gedanken ab … oder gegen die Leere dort, von wo sie früher kamen. Alles, was ich wollte, war, Nathans Arm um mich fühlen, ihn sagen hören, dass alles gut würde. Ich lag da und weinte, dankbar für den mechanischen Geräuschpegel, der mein Schluchzen nicht bis zu Max dringen ließ.

Den Übergang vom Wachsein zum Schlafen bekam ich nicht mit, und so war es ein gewaltiger Schreck, als ich die Augen öffnete und mich im Schlafzimmer von Cyrus’ palastartigen Herrenhaus befand. Die Matratze war weich, die Leinenlaken so kühl und frisch, wie ich sie in Erinnerung hatte.

Clarence hat den Ort wirklich in Schuss gehalten.

„Du bist wach.“

Ich hatte die Stimme meines früheren Schöpfers nicht mehr gehört, seit ich ihn umgebracht hatte, nicht mal in meinen Träumen. Gesehen hatte ich ihn oft, aber immer durch einen trüben blauen Filter. Wir hatten nie gesprochen. Aber an seine heimtückisch schmeichlerische, manipulierende Art erinnerte ich mich sehr gut. Sein sanfter Ton hätte meinen Argwohn wecken müssen, aber irgendwie wusste ich, dass ich träumte, sodass er mir nichts anhaben konnte. Ich musste ihm nicht widerstehen. Nicht, dass ich das je gekonnt hätte.

Ich rollte mich auf die Seite, um ihn anzusehen. Seine langen, weiß-goldenen Haare bedeckten seine Schultern und das Kissen unter seinem Kopf. Sein schöner Mund formte langsam ein Lächeln, und ich sehnte mich danach, ihn zu berühren.

„Ich bin nicht wach.“ Es war mir nicht möglich, die Trauer in meiner Stimme zu unterdrücken. „Ich bin in einem Flugzeug. Ich schlafe.“

Er nickte und griff nach mir. Seine Hände waren nicht die Monsterklauen, die sie nach fünfhundert Jahren lebendigen Todes geworden waren. Sie waren weich und stark, als er das Haar aus meinen Augen strich und glitten meinen Hals hinunter zu der Narbe, die er in der Nacht, in der er mich verwandelte, hinterlassen hatte. Ein Schauder des Verlangens durchdrang mich unter seiner Berührung. In Wirklichkeit wäre Cyrus über diese Reaktion erfreut gewesen. In meinem Traum milderte Bedauern seine meist grausamen Züge. „Du hast recht. Du bist nicht wach. Aber jetzt sind deine Augen offen.“

Behutsam lehnte ich mich vor und küsste ihn. In dieser Geste lag nichts von Kontrolle oder Machtkampf, die immer gegenwärtig waren, als er noch lebte. Ich ergab mich vollständig, willig, ihm auch meinen Geist zu öffnen. In meinem Traum konnte ich ihn wiederhaben, die Seiten von ihm, die ich geliebt und nicht gefürchtet hatte. Die Seiten, die mich verleitet hatten, darüber nachzudenken, ob meine Menschlichkeit es wert war, bewahrt zu werden.

Als ich die Augen wieder aufschlug, war ich wach, und ein höchst erschrockener Max rückte hastig von mir ab.

„Ich wollte dich – wecken“, stammelte er und rieb sich das Kinn, als ob ich ihn geschlagen hätte. Der Blick in seinen Augen war entsprechend vorwurfsvoll. „Und du hast mich geküsst.“

„Entschuldigung.“ Ich widerstand dem Drang, mir die Lippen abzuwischen. „Ich habe geträumt.“

„Muss ja ein Hammer von einem Traum gewesen sein.“ Max steckte die Hände in die Jeanstaschen und rückte zurück, während er alles mögliche ansah, nur nicht mich. „Da war was in den Nachrichten. Ich dachte, du müsstest das sehen.“

In dem anderen Raum hatte Max CNN laufen, die Bild-in-Bild-Funktion zeigte MSNBC. Ich fiel auf die Couch. „Kein Porno? Dann muss es wichtig sein.“

„Psst, da ist es wieder.“ Er deutete auf den Bildschirm. „Es kommt nach diesem Aktuelle-Highlights-Scheiß.“

Eine Ansagerin, die soeben einen Beitrag über ein Pferd, das eine Toilette benutzt, moderiert hatte, wechselte in einen besorgten, ernsten Tonfall. „Die Polizei von Grand Rapids, Michigan, fahndet nach einem Verdächtigen, der für ein brutales Gemetzel verantwortlich sein soll, das sich Montagnacht vor mehreren Augenzeugen abgespielt hat.“

„Das war letzte Nacht …“ Die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich griff mir eins von den Kissen und drückte es fest gegen meine Brust.

Die Sprecherin fuhr fort. „Das weibliche Opfer, dessen Name nicht bekannt gegeben wurde, joggte auf einem öffentlichen Radweg, als ein bislang nicht identifizierter Mann sie anfiel und ihr die Kehle durchschnitt.“

Ein Teenager erschien auf dem Bildschirm, ihr Gesicht fleckig und gerötet vom Weinen. „Es ging so schnell. Niemand hätte was tun können. Sein Gesicht war total entstellt, ganz verbrannt oder so. Es sah aus, als ob er ihr den ganzen Hals aufgeschlitzt hätte.“

„Wir suchen weitere Zeugen und bringen sie mit Polizeizeichnern zusammen und hoffen, so schnell wie möglich eine Verhaftung vornehmen zu können.“ Ich erkannte den Polizisten auf dem Bildschirm als den, der mir in meinem alten Leben einen Strafzettel verpasst hatte. Obwohl er über einen Psychokiller berichtete, sah er in diesem Bericht wesentlich verständnisvoller aus als an jenem Tag, an dem er mich für meine lausigen Fünfzig in der Dreißigerzone angehalten hatte.

Zurück im Studio, fixierte die Sprecherin die Kamera mit einem düsteren Blick. „Polizeizeichner haben dieses Phantombild angefertigt …“

Obwohl es hastig mit Bleistift gezeichnet und die zackige Schnauze seiner Vampirfratze irgendwie in eine größere Nase und gequirlte Brandnarben übersetzt war, gab es kein Leugnen, dass es sich bei dem Mann auf dem Bild um Nathan handelte. Die Reporterstimme fuhr fort. „Nach Angaben der Polizei ist der Verdächtige weiß, etwa Mitte dreißig, trägt Narben im Gesicht und hat Tätowierungen am Körper. Er wird als gefährlich eingestuft.“

„Tätowierungen.“ Ich drückte meine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger. „Die magischen Zeichen. Natürlich.“

„Hoffentlich hat die Bewegung schon mehr Informationen dazu, wenn wir gelandet sind“, sagte Max sanft.

„Sie werden ihn töten, oder?“ Ich konnte mich nicht erinnern, mich je so müde gefühlt zu haben. Das war der Moment, in dem Max eigentlich etwas Beruhigendes sagen sollte. Doch er schwieg.

Verzweifelt bedeckte ich das Gesicht mit den Händen. „Ich hoffe, dass sie ihn töten. Wenn sie es nicht tun, wird er sich seine Taten niemals vergeben können.“