August
Zwei Tage später bin ich mit dem Fonduegerät durch und schlage mich mit der Bodenhacke rum. Was um Gottes Willen sind Vibrationswerte? Und warum spielen sie eine Rolle? Die Vibrationswerte werden entsprechend den in der Konformitätserklärung genannten Normen ermittelt. Ja aber wozu? Und warum ist Paul seit Tagen nicht online? Und warum habe ich seit Tagen nichts von Clara gehört? Es klopft vorne an der Tür, ich denke, es ist Dona Ermelinda und gehe nach vorne.
Da steht Paul vor der Tür. So ist das bei einer Glastür – man sieht sofort, wer draußen steht.
Ich kann es gar nicht glauben. Irgendwie hatte ich völlig vergessen, dass es Paul auch real gibt, also im wirklichen Leben, weil ich ihn ja immer nur virtuell treffe. Oft nur als kleiner schreibender Bleistift beim Chatten. Selten sichtbar auf dem Bildschirm. Und nun ist er plötzlich hier. In echt, sozusagen. Das ist ein bisschen so, als ob der Nachrichtensprecher oder der Wettermann plötzlich vor der Tür steht, obwohl er doch eigentlich in den Bildschirm gehört.
„Was machst du denn hier?“, sage ich.
„Dich besuchen?“, sagt Paul.
„Ja aber ...“, sage ich.
„Ja aber was?“, sagt Paul.
„War´s in Vancouver vielleicht zu langweilig?“, frage ich.
„Vielleicht wollte ich einfach hier sein“, sagt Paul. „Und was ist jetzt – kann ich reinkommen, oder soll ich das ganze Wochenende hier in der Tür stehen bleiben?“
„Komm rein“, sage ich. „Klar Paul, komm rein.“
Paul hat nur ein verlängertes Wochenende Zeit, dann muss er zurück, denn schließlich muss er arbeiten, und außerdem hat er die Prinzessin am nächsten Wochenende wieder. Paul ist die weite Strecke geflogen, nur um mich für ein langes Wochenende zu besuchen. Das kann doch kaum angehen. Das kann ich gar nicht glauben.
„Du bist die weite Strecke geflogen, nur um mich zu besuchen?“, sage ich.
Paul nickt.
„Enge Sitze, Flugzeugessen, becherweise Orangensaft und das alles, nur um mich zu sehen?“, frage ich.
„Inklusive Heathrow“, sagt Paul. „Mit fünfundvierzig Minuten Sicherheitskontrolle. Mit Schuhe ausziehen und Gürtel ablegen.“
„Hallo die Enten“, sage ich, denn was anderes fällt mir dazu nun wirklich nicht ein.
Ich fahre mit Paul in die Serra de Estrela oder vielleicht eher er mit mir. Oder vielleicht gegenseitig. Also wir sind mit seinem Leihwagen unterwegs. Er fährt und ich genieße das Nichtstun auf dem Beifahrersitz und sage, wo es langgeht. Die Serra de Estrela ist 1993 Meter hoch, deswegen haben sie am höchsten Punkt einen Turm gebaut, mit den fehlenden Metern, damit es zweitausend Meter werden, so wie in diesem Film mit Hugh Grant, wo ein Engländer auf einen Hügel steigt und von einem Berg herunterkommt. Na ja, so ähnlich jedenfalls. Denn da war´s Erde und hier ist´s ein Turm.
Oben in den Bergen steigen wir aus und laufen ein Stück. Wir bleiben stehen, eng beieinander und sehen über die Landschaft. Wir erleben einen entspannten Tag nach einer aufregenden Nacht. Um es mal so zu sagen. Ich glaube, ich bin schon lange nicht mehr so glücklich gewesen. Ich hatte ganz vergessen, wie das ist.
Wir gehen in einen der vielen Souvenirshops am Straßenrand. Es gibt Keramik, bunt bemaltes Tongeschirr zum an die Wand hängen und schwarze Keramiktöpfe, in denen man Eintöpfe im Ofen schmoren kann. Eintöpfe mit Kartoffeln und Ziegenfleisch und Knoblauch, Eintöpfe, wie sie hier in der Gegend üblich sind. Paul hält einen Teller in der Hand, er würde ihn gerne kaufen, fünf gelbe Sonnenblumen mit grünen Blättern auf beigem Grund, aber wie soll er ihn mitnehmen im Fluggepäck, da kommt der Teller ja in Scherben an. Paul kauft ihn trotzdem und schenkt ihn mir. Und so werde ich eine Erinnerung an dieses Wochenende haben, solange mir der Teller nicht runterfällt und in Scherben zerspringt. Es gibt Lederjacken in allen Größen, Farben und Formen, es gibt warme Hausschuhe aus hellem Leder mit puscheligem Fell innen, für die eisigen Winter hier oben in den Bergen. Es gibt schöne Postkarten vom Leben früher, in Schwarz-weiß. Die Fotos, nicht das Leben. Es gibt Schnitzereien aus Kork und bemalte Kacheln. Es gibt sogar eine Sonnenuhr aus bemalten Kacheln mit einem Zeiger aus Eisen.
Wir kaufen einen Queijo da Serra, das ist dieser in ganz Portugal berühmte Käse, der hier im Gebirge aus Schafsmilch hergestellt wird und eine echte Spezialität ist. Der Käse ist weich. Man schneidet ihn oben auf, nimmt die Schale ab wie einen Deckel und holt den Käse mit Dessertlöffeln raus. Wir machen in Seia Pause und laufen durch die kleine Stadt. Paul ist beeindruckt. Die alten Häuser. Die alte Kirche. Der viele Naturstein. Es gefällt ihm. So viel alte Kultur. Das hat er in Kanada natürlich nicht.
Wir trinken in einem lauten Café unseren Galão und kaufen Broa, das traditionelle Maisbrot, das sogar sehr gut schmeckt, wenn es schön frisch ist.
Am Abend sind wir wieder zu Hause. Wir sitzen auf der Terrasse und blicken über die Weinfelder. An den Weinstöcken hängen schon Trauben, es sieht ganz nach einer guten Ernte aus. Eine Grille zirpt laut. Vom Weinhof unten hört man das Rufen der Unken, es klingt wie eine quietschende Gartenpforte. Wir essen Maisbrot, löffeln dazu den Käse und trinken Rotwein.
Am Sonntag gehe ich mit Paul in mein Lieblingscafé in den Thermen. Irina grüßt und freut sich, dass ich in Begleitung bin. Ich frage mich, ob sie sich fragt, ob der Mann an meiner Seite nicht ein bisschen zu jung für mich ist. Mir wird klar: Das werde ich mich immer fragen, wenn ich mit Paul unterwegs bin. Und mir wird auch klar: Das möchte ich nicht.
„Schön ist es hier“, sagt Paul.
Ja, das Café ist klasse. Gemütlich eingerichtet und mit Blick auf den Fluss. Paul liest eine Computerzeitschrift, die er noch vom Flug hat und ich lese den Público. In der Beilage vom Samstag ist wie immer ein Ausflugstipp für Wochenende. Dieses Mal ist es ein langer Bericht über ein Restaurant bei Águeda. Irgendwo hinter Águeda in den Bergen, ein ganzes Stück weg, in einem alten Granitdorf. Da haben sie eine leerstehende Zwergschule in ein Restaurant umgewandelt. Das Essen soll klasse sein, das Ambiente was ganz Besonderes. Ich denke: das ist doch ein guter Ort, um mit Paul hinzufahren.
Also fahren wir zum Abendessen nach Macieira, denn so heißt der kleine Ort bei Águeda in den Bergen. Der Ort ist wirklich abgelegen. Also richtig abgelegen. Dreizehn Kilometer Stichstraße mit unzähligen Kurven. Ab und zu ein weiter Blick über eine unbesiedelte Landschaft. Macieira ist ein ziemlich kleiner Ort und in der Tat sind alle Häuser aus Granit. Es sieht im Grunde wirklich noch so aus wie vor hundert oder zweihundert oder was weiß ich wie viel hundert Jahren. Wir parken auf dem Dorfplatz und laufen zum Restaurant. Die Straßen sehen ziemlich eng aus, wer weiß, ob man da überhaupt fahren kann, da laufen wir lieber.
Die Schule ist wirklich stilvoll renoviert. Im Flur ist die Rezeption und im ehemaligen Klassenzimmer das Restaurant. Es hängen sogar noch die alten Landkarten an der Wand. Auch die alte Schultafel hängt noch an der Wand und wird sogar benutzt, da sind jetzt mit Kreide die Tagesgerichte angeschrieben. Der Raum ist voll besetzt, wir haben Glück, dass wir überhaupt noch einen Tisch bekommen.
Wir sind nicht die Einzigen, die den Artikel im Público gelesen haben, sagt die Besitzerin. Es sind nur noch zwei Tische frei und einer davon ist schon reserviert. Wir bestellen Chanfana – Ziegenfleisch in schwarzen Tontöpfen stundenlang im Holzofen geschmort – und fangen schon mal mit den Vorspeisen an.
Es ist schön mit Paul und es fühlt sich gut an, so als Paar. Es gibt viel zu erzählen, ganz besonders, weil ich ja jetzt die Prinzessin kenne. Und weil die Zeit mit Lena so schön war und weil sie mir richtig fehlt, höre ich gerne Geschichten über sie, das bringt sie mir wieder ein bisschen näher. Als Nachspeise gibt es Frischkäse mit hausgemachtem Kürbispüree und Leite Creme. Wir nehmen beide den Frischkäse. Es schmeckt einfach wunderbar, diese Kombination aus leicht salzigem Käse und süßem Kürbispüree. Und als wir beim Kaffee sind, satt und zufrieden, kommt Miguel ins Restaurant. Mit Helena.
Die Besitzerin bringt sie an den reservierten Tisch. Miguel hat also auch den Público gelesen, na ja das tut er natürlich immer, das ist ja seine tägliche Lektüre. Aber dass er dann auch gleich ausgerechnet heute hier auftauchen muss! So weit weg von Porto. Aber ich bin ja auch gleich heute hier aufgetaucht. So weit weg von zu Hause.
Helena sieht mich und sagt etwas zu Miguel. Miguel guckt zu uns rüber. Wir nicken uns alle zu. Ich bin froh, dass wir schon mit dem Essen fertig sind und gleich gehen können. Miguels Anwesenheit hier irritiert mich irgendwie. Eigentlich müsste ich da jetzt hingehen und Miguel und Helena begrüßen und Paul vorstellen. Aber mir ist nicht so recht danach. Ich trinke meinen Espresso aus und Paul bestellt die Rechnung.
Ich gehe auf Toilette, als Vorsichtsmaßnahme, damit ich unterwegs nicht pinkeln muss und auch um ein bisschen Zeit zu gewinnen und zu überlegen. Eigentlich müssten wir natürlich zu Miguel und Helena an den Tisch gehen und ich müsste Paul vorstellen. Aber mir ist nicht danach. Auf der anderen Seite ist einfach nicht hingehen unhöflich. Plötzlich steht Helena neben mir.
„Hallo Anna“, sagt Helena.
„Oh, hallo Helena“, sage ich. „Wie geht´s dir?“
„Ganz gut“, sagt Helena. „Und dir?“
„Auch gut“, sage ich.
„Sag mal ...“, fängt Helena den Satz an, bricht ab und setzt neu an. „Sag mal, gibt es eigentlich einen bestimmten Grund, warum du dich bei Miguel nicht meldest?“
„Ich?“, sage ich. „Ich melde mich nicht.“
„Hat Miguel mir jedenfalls so erzählt“, sagt Helena.
„Ihr redet über mich?“, sage ich.
„Wir sind gute Freunde“, sagt Helena. „Wir gehen nicht zusammen oder wie immer man das heute nennt. Wir sind einfach befreundet.“
„Oh“, sage ich.
Da habe ich wohl was falsch eingeschätzt. Bleibt die Tatsache bestehen, dass ich mich in der Tat nicht bei Miguel gemeldet habe. Ganz so wie wir Frauen es den Männern immer vorwerfen. Ich habe mich benommen wie die Männer in meinem Lehrfilm. Aber warum habe ich ihn nicht angerufen? Vermutlich, weil ich einfach nicht wusste, was ich sagen sollte. Oder was ich von ihm will. Oder ob ich überhaupt was von ihm will.
„Er mag dich sehr gerne, weißt du“, sagt Helena.
„Ja, ich weiß“, sage ich. „Deswegen wollte er ja nicht mit mir schlafen.“
Mist, das ist mir jetzt so rausgerutscht, das geht Helena doch überhaupt nichts an. Und jetzt kann ich es nicht mehr zurücknehmen, denn das gesprochene Wort ist ja bekanntlich wie der abgeschossene Pfeil und die verpasste Chance. Zurück bekommt man´s nicht.
„Hat er das so gesagt?“, fragt Helena.
„Ja, irgendwie schon“, sage ich.
War doch so, oder. Na jedenfalls so ähnlich. Na ja, es war ein bisschen anders, wenn ich mich richtig erinnere. Aber auf keinen Fall möchte ich das im Detail jetzt hier auf der Damentoilette in der ehemaligen Zwergschule von Macieira weiter vertiefen. Noch dazu mit einer Frau, die ich kaum kenne.
„Ich werde dir jetzt etwas sagen, was mich eigentlich überhaupt nichts angeht“, sagt Helena. „Aber vielleicht geht es mich ja doch was an, denn Miguel ist schließlich mein Freund.“
„Ja?“, sage ich.
Obwohl ich mir nicht so sicher bin, dass ich das überhaupt hören will.
„Ich glaube, Miguel liebt dich“, sagt Helena.
„Hat er das gesagt?“, frage ich.
„Nein, natürlich nicht“, sagt Helena. „Miguel redet nicht über seine Gefühle. Da ist er wie alle Männer. Aber ich habe gesehen, wie er dich ansieht.“
Oh. Oha. Ähm.
„Warum tut er dann nichts?“, sage ich.
„Und was soll er bitte schön tun?“, sagt Helena. „Soll er sich jetzt hier vielleicht mit Paul schlagen?“
Woher weiß sie eigentlich, dass das Paul ist, oder nimmt sie das einfach an? Was hat ihr Miguel bloß alles erzählt über mich.
„Nein, natürlich nicht“, sage ich. „Was ich meine ist, also, ich meine, warum macht er denn dann nicht mal einen Schritt auf mich zu?“
„Vermutlich weil er nicht den blassesten Schimmer hat, was du willst“, sagt Helena.
Tja, das Problem ist, das weiß ich ja selber nicht. Und jetzt fällt mir ein – Miguel hat ja einen Schritt auf mich zu gemacht. Am Auto. An diesem Freitagabend in den Thermen. Auf dem Parkplatz. Nur dann war Funkstille. Er hat sich nicht mehr bei mir gemeldet. Und ich mich nicht bei ihm.
Als wir gehen, bleiben wir kurz bei Miguel und Helena am Tisch stehen. Ich stelle alle gegenseitig vor. Wir tauschen ein paar Nichtigkeiten und Nettigkeiten aus. Und dann gehen wir. Wer sind die beiden?, fragt Paul. Freunde, sage ich. Freunde aus Porto.
Montag ist Pauls letzter Tag. Paul liegt im Garten im Liegestuhl und liest in seiner Computerzeitschrift. Ich sitze auf dem Rasen und lese überhaupt nichts. Am Abend gehen wir im Nachbardorf essen. Es ist voll und laut wie immer, das Essen ist ziemlich gut und unglaublich günstig. Und am Dienstag muss Paul in aller Frühe los um seinen Flieger zu kriegen und das Wochenende ist viel zu schnell zu Ende.
*
Und jetzt besuchst du mich in Vancouver, hat Paul zum Abschied gesagt. Ich habe ja gesagt, aber natürlich nein gemeint. Ich weiß, dass ich ihn nicht besuchen werde. Das war ein tolles Wochenende. Das war vielleicht das schönste Wochenende meines Lebens. Klar hätte ich gerne mehr davon, mehr von solchen Wochenenden, aber ich werde doch nicht sehenden Auges in mein Unglück rennen, denn was anderes kann das hier doch gar nicht werden, nicht wahr. Mir ist dieser Altersunterschied einfach zu groß. Ich will das nicht. Ich werde mir das nicht antun. Und auch wenn die Männer im Datingcafé sich immer jüngere Partner wünschen und sich das ja auch tausendmal antun – ich werde mir das nicht antun. Ich habe keine Lust, ängstlich vor dem Spiegel zu stehen und mein Aussehen zu beobachten und Falten zu zählen, nur weil mein Partner jünger ist. Das kommt überhaupt nicht in die Tüte. Und dann hält mich womöglich noch eines Tages irgendjemand für Pauls Mutter. Ich denke nicht daran, mir das anzutun. Dann bin ich eben ein Feigling. Okay. Aber ich bin wenigstens nicht wahnsinnig. Also gibt es doch nur eine Lösung. Und zwar das Ganze zu beenden, solange es noch einigermaßen einfach zu beenden geht.
„An was denkst du?“, sagt Clara und stellt das Tablett auf den Tisch.
Wir sitzen auf der Dachterrasse vom Eispalast, es ist warm, aber nicht zu heiß, das perfekte Wetter zum Draußensitzen, wenn man einen Platz unter einem Sonnenschirm erwischt. Vor uns auf dem Tisch Galão und Pasteis de Nata. In der Ferne die Serra de Estrela. Dort oben in den Bergen irgendwo hat Paul mich geküsst. Noch vor kurzem.
„An Paul“, sage ich.
„Wirst du ihn wiedersehen?“, fragt Clara.
„Nein“, sage ich. „Das werde ich nicht.“
„Und weiß er das auch schon?“, fragt Clara.
„Nein“, sage ich. „Noch nicht.“
Wir trinken unseren Galão und gucken auf die Serra de Estrela. Was für ein Blick. Was für eine Weite.
„Und was ist mit Rui?“, sage ich. „Wirst du mit ihm zusammenziehen?“
„Nein“, sagt Clara. „Das werde ich nicht.“
„Und weiß er´s schon?“, frage ich.
„Nein“, sagt Clara. „Noch nicht.“
Ein heftiger Windstoß kommt und weht unsere Plastikteller von der Terrasse. So eine Öko-Sauerei.
„Ich weiß nicht so recht, wie ich es ihm sagen soll“, sage ich. „Nach diesem tollen Wochenende. Aber es hat einfach keinen Zweck. Ich meine, was soll das. Er wohnt achttausend Kilometer weit weg. Er ist elf Jahre jünger.“
„Du könntest umziehen“, sagt Clara. „Das ist vermutlich irgendwie machbar. Übersetzen kann man ja überall.“
„Und der Altersunterschied?“, sage ich.
„Tja“, sagt Clara. „Der bleibt. Da kannst du hinziehen, wo du willst.“
„Soll ich uns noch einen Kaffee holen?“, frage ich.
„Gerne“, sagt Clara. „Und auch gleich noch so ein Törtchen dazu. Eins pro Person natürlich.“
„Natürlich“, sage ich.
Ich hole Kaffee und Kuchen. Ich komme zurück und stelle das Tablett auf den Tisch. Clara sieht in die Ferne.
„Das ist meine Entschuldigung“, sage ich. „Differenz in Raum und Zeit. Zeit im Sinne von Alter. Und was ist deine?“
„Ich habe keine“, sagt Clara.
„Soll ich dir sagen, was deine ist?“, sage ich.
„Lass hören“, sagt Clara.
„Du bist ein Sehnsuchtsjunkie“, sage ich. „Dir geht es nur um die Sehnsucht, aber nicht um die Erfüllung. Deswegen schreibst du auch laufend diese Kitschromane. Lange Sehnsucht, kurze Erfüllung und Schluss.“
„Danke Frau Freud“, sagt Clara. „Vielen herzlichen Dank auch.“
„Gern geschehen“, sage ich.
„El amor tiene fácil la entrada, y difícil la salida”, sagt Clara. “Lope de Veja. Der Beginn einer Liebe ist einfach, das Ende schwierig.“
Clara mit ihren spanischen Zitaten. Na ja. Ich finde das Zitat hier jetzt nicht so treffend, denn der Anfang war ja auch nicht gerade einfach. Vielleicht ist Liebe einfach immer schwierig. Von Anfang bis Ende. Einschließlich der Mitte. Eben immer. Und überhaupt.
„Dürften wir die Damen vielleicht auf ein Getränk einladen“, sagt da plötzlich eine Stimme auf Deutsch. Clara und ich sehen zur Seite – da stehen doch in der Tat zwei Herren. Allerdings ins Shorts und Sandalen. Der eine trägt sogar einen weißen Stoffhut.
„Wir haben gehört, dass Sie auch deutsch sprechen“, sagt der Herr ohne Stoffhut. „Und da dachten wir, was für ein schöner Zufall, hier so in der Fremde auf Landsleute zu treffen.“
„Tut mir leid“, sagt Clara. „Wir sind keine Damen. Und wir suchen daher auch keine Herren.“
Da spricht sie mir aus der Seele. Die beiden Männer sehen etwas irritiert aus.
„Man wird ja wohl noch fragen dürfen“, sagt der Herr mit Stoffhut.
„Man wird ja wohl noch antworten dürfen“, sagt Clara.
Die beiden Herren empfehlen sich. Sie sind bestimmt nett, und es gibt bestimmt auch Damen, die ihre Aufmerksamkeit zu würdigen wissen. Clara und ich gehören nun mal nicht dazu. Für uns gilt in diesem Fall leider: Nicht alles, was vorstellich ist, ist auch mögbar.
*
Jetzt wo Paul weg ist, stürze ich mich wieder in meine Übersetzungen. Mit dem elektrischen Fonduegerät bin ich ja durch, da muss ich nur noch einmal Korrektur lesen. Dann erledige ich noch ein paar Scheidungsurteile und ein Testament. Jetzt ist die Elektro-Bodenhacke dran. Man soll Lärmschutz und örtliche Vorschriften beachten. Das ist vernünftig. Und die Benutzung kann zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten eingeschränkt sein. Das leuchtet sofort ein und lässt sich gut übersetzen. Man soll keine Steine damit zerkleinern. Leuchtet ja auch sofort ein. Ich frage mich kurz, ob es wirklich Trottel gibt, die sich eine elektrische Bodenhacke kaufen, um damit Steine zu zerkleinern. Schwer vorstellbar. Auf der anderen Seite natürlich und immer wieder: Alles, was vorstellbar ist, ist auch möglich. Das haben sich die Verfasser dieser Gebrauchsanleitung vermutlich auch gedacht. Man soll auch keine Rasenflächen damit umgraben. Leuchtet jetzt irgendwie nicht sofort ein, jedenfalls mir nicht, aber auch das wird seinen Grund haben.
Man soll mit Vernunft an die Arbeit gehen. Das ist ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit, das sollte doch im Grunde für jede Arbeit gelten und ganz im Grunde natürlich auch für das ganze Leben. Aber vielleicht doch gut, dass die Verfasser es nochmal ausdrücklich erwähnen. Man soll aufpassen, dass man beim Rückwärtsgehen nicht stolpert. Da ist auch was dran. Das Gerät hat Hackmesser. Die können ausgetauscht werden, wenn sie stumpf sind. Und als ich das übersetze, macht es bei mir plötzlich endlich Klick.
Ist ja auch ein Ding, dass ich solange gebraucht habe, um das zu verstehen. Ich habe da einfach Rosanne Cash geglaubt. Immer diesen Song im CD-Player und im Ohr. Take these chains from my heart and set me free.
Nun lerne ich endlich aus dieser Gebrauchsanweisung: Wenn die Hackmesser ausgetauscht werden müssen, muss man sie austauschen. Man wartet nicht drauf, dass sie sich irgendwie von selber austauschen oder dass irgendjemand sie irgendwann austauscht. Man lässt es von einem Fachmann machen oder man macht es selber. Aber man muss was tun. Man muss aktiv was unternehmen, damit sie ausgetauscht werden.
Auf Vernunftsgründen mache ich eine kleine Arbeitspause und mache mir in der Küche einen Kaffee. Während das Wasser heiß wird, nasche ich schnell ein paar Stücke Schokolade und dann setze ich mich mit meinem Kaffee wieder an den Computer und gucke mal kurz bei Skype vorbei, ehe ich mich wieder an die Übersetzung für die elektrische Bodenhacke mache. Da sind ein ganzer Haufen Nachrichten mit diesen kleinen orangen Punkten. Vier neue Nachrichten. Habe gar nicht mitgekriegt, dass mich jemand angeskypt hat. Das kann man bestimmt anders einstellen, ich weiß nur nicht wie.
Meine Mutter schreibt: Sag mal, was machst du eigentlich die ganze Zeit? Geht es dir gut? Ich habe dich seit Tagen nicht mehr online gesehen.
Oha – meine Mutter hat den globalen Kontroll-Mechanismus entdeckt. Das ist nicht gut.
Ich schicke meiner Mutter eine Nachricht: Liebe Mutti, es geht mir gut, ich war nur eine Zeitlang nicht online, damit ich ungestört übersetzen konnte.
Das entspricht zwar nicht der Wahrheit, klingt aber plausibel und vernünftig.
Clara schreibt: Arbeitest du oder hängst du nur draußen im Pool rum? Ich weiß jetzt, was ich mit meinem Leben anfangen werde. Ich gehe nach Argentinien und lerne Tango tanzen.
Ich schreibe an Clara: Tango tanzen ist eine wunderbare Idee. Mach das. Man soll nie aufhören was Neues zu lernen.
Das entspricht auch nicht so ganz der Wahrheit, denn ich möchte natürlich, dass Clara hier bleibt, hier in meiner Nähe. Clara soll nicht nach Argentinien gehen, aber womöglich hat sie das wirklich vor, denn spanisch spricht sie ja.
Nicki schreibt: Hi Anna, ich hoffe, es geht dir gut. Paul ist ganz begeistert von Portugal. Er lässt dich grüßen und fragt, wann du kommst. Er freut sich schon – c u soon Nicki
Ich schreibe: Hi Nicki –ich hoffe, dir geht´s auch gut. Ich habe noch keinen Flug gebucht, ich melde mich bei Paul – Anna
Das ist ja sogar wahr, irgendwie. Denn ich habe noch keinen Flug gebucht. Ich werde allerdings auch keinen Flug buchen. Und natürlich muss ich mich bei Paul melden, schon um das zu erklären. Und zwar bald.
Via-dom schreibt: Sehr geehrter Kunde, wir freuen uns Ihnen mitzuteilen, dass wir Ihnen bei Bestellungen von größeren Mengen Viagra einen Rabatt von 15 Prozent einräumen können.
Da brauche ich zum Glück nichts drauf zu antworten, und da ich auf weitere Angebote dieser Art lieber verzichten möchte, wird der Absender gleich blockiert.
*
Die Frage ist jetzt: Wie kann ich Paul erklären, dass ich nicht komme. Eine Nachricht bei Facebook ist da wohl nicht angebracht. Eine E-Mail auch nicht. Und per Videocall ist ja auch irgendwie pervers. Ich beschließe: Ich werde Paul einen Brief schreiben. Einen richtigen Brief. Vielleicht sogar einen handgeschrieben Brief. Also gut, ich werde den Brief mit der Hand schreiben. Ich nehme ein Blatt Papier und fange an. Der Stift schreibt nicht wirklich gut. Ich suche einen anderen. Ich probiere drei Stifte aus, bis ich endlich einen finde, der gut schreibt. Ich nehme ein neues Blatt Papier. Ich fange noch mal von vorne an. Mann, fällt mir das schwer. Ich weiß überhaupt nicht, was ich schreiben soll. Na ja, im Grunde weiß ich schon, was ich schreiben will.
Ich möchte schreiben: Lieber Paul, ich werde dich nicht besuchen, weil es für uns keine Zukunft gibt. Und deswegen traue ich mich keine Gegenwart.
Das ist es doch. Das muss ich jetzt nur noch etwas anders formulieren. So, dass Paul was damit anfangen kann.
Drei Stunden, zwei Liter Milchkaffee und einen Papierkorb voll zerknüllter Entwürfe später ist es geschafft. Der Brief an Paul ist fertig. Und um ganz sicher zu gehen, dass es auch alles richtig ist, lese ich Agathe den Brief laut vor. Agathe sagt eine ganze Weile nichts. Und dann nickt und nickt und nickt sie. Ich falte den Brief, stecke ihn in einen Umschlag und klebe ihn zu.
Ich fahre nach Vouzela. Ich bringe den Brief zur Post. Ich habe schon lange keine Nachrichten mehr auf einem Postamt abgegeben, in letzter Zeit werfe ich ja eher alles virtuell ins Universum. Ist eigentlich schon erstaunlich, dass das alles ankommt. Während bei der Post ja doch immer wieder mal was wegkommt. Dann hole ich mir den Público und die neue Fernsehzeitung und setze mich ins Café.
Der Galão ist gut, aber irgendwas fehlt. Ich brauche eine Weile, um darauf zu kommen. Natürlich. Ich lese meinen Público alleine, ich habe niemanden, mit dem ich ihn teilen kann. Ich habe niemandem, mit dem ich mich darüber streiten kann, wer welchen Teil zuerst bekommt. Und ich frage mich: Möchte ich wirklich für den Rest meines Lebens den Público im Café alleine lesen?
*
Es liegt eine drückende Hitze über dem Land. Seit Tagen schon. Ich skype Clara an, ob sie nicht mit mir ans Meer fahren will, wir könnten am Strand liegen und im Meer baden. Am Meer ist es bei dem Wetter viel angenehmer, da weht immer ein frischer Wind. Wir könnten die Promenade mit den Palmen entlang laufen und Leute und Boote gucken. Und abends könnten wir in einem der Restaurants von Costa Nova oder Barra gegrillten Fisch essen. Aber Clara will nicht. Sie sagt, sie kann nicht. Sie steckt mitten in einem neuen Projekt und hat überhaupt keine Zeit. Und so gerne sie mit mir ans Meer fahren würde, sie kann einfach nicht. Da fahre ich eben alleine.
Ich skype mit meiner Mutter und sage ihr, dass ich mir einen Tag freinehme und ans Meer fahre. Nur damit sie beruhigt ist, wenn sie mich nicht online sieht.
Was für ein Glück, dass die Autobahn direkt bis ans Meer führt. Jedenfalls fast. Ein letzter Kreisel und man ist an der Küste. Dann muss man sich entscheiden: Costa Nova oder Barra.
Costa Nova hat eine schöne Strandpromenade an der Lagune und die bunt gemalten Streifenhäuser, die man auch überall auf den Postkarten sieht, die man in Aveiro und in Costa Nova in den Souvenirshops kaufen kann. Die Häuser sehen in der Tat sehr schön aus, richtig fröhlich. Rot-weiß-gestreift, blau-weiß-gestreift, gelb-weiß-gestreift. Alle nebeneinander. Weiße Balkone und hübsche Fenster. Natürlich sind es heutzutage keine Fischerhäuser mehr, sondern Restaurants und Appartements zum Vermieten. Es gibt Läden mit Strandutensilien und Sonnenschirmen und Cafés mit Eis und Kuchen.
Die Barra wirkt dagegen mehr wie eine kleine Stadt. In der Barra ist das Café O Farol, wo Jan und ich waren. Dort habe ich auch an dem Tag gesessen, als ich die Asche ins Meer gestreut habe. Dort werde ich auch jetzt wieder hingehen und sehen, ob es mir nicht doch gelingt, die Ketten von meinem Herz zu nehmen. Damit ist es entschieden. Ich biege nach rechts ab, nach Barra.
Ich sitze im Café und nehme mein Moleskin aus der Handtasche. Immer noch sind alle Blätter leer. Nie habe ich etwas hineingeschrieben. Nicht mal meinen Namen. Immer habe ich es gewollt. Nie habe ich es getan. Da wird es jetzt aber wirklich Zeit. Ich nehme einen Stift in die Hand und plötzlich läuft es von ganz alleine und ich fülle Seite um Seite mit Erinnerungen.
Wie wir mal am Strand von Aveiro gezeltet haben, damals als man noch wild zelten durfte und nackt durch die Gegend gelaufen sind, weil wir den ganzen Strand für uns hatten. Ich sehe uns im Grünen picknicken und in Restaurants sitzen. Wir spielen Mensch-ärger-dich-nicht und Gin Rummy. Wir streiten, bis wir das Gefühl haben, tiefer kann man den anderen nicht mehr verletzen und dann setzt wirklich einer noch einen drauf und der andere schlägt verbal zurück und siehe da, es ging doch noch tiefer. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, da erlebt man viel zusammen. Viel Gutes und viel Schlechtes. Hauptsache das Gute überwiegt. Und man hat es gut zusammen. Denn dann ist Zusammensein schöner als Alleinesein. Wie sagt doch Robert Redford in Jenseits von Afrika zu Meryl Streep, in einer Szene am Ende des Films: Du hast das Alleinsein für mich verdorben.
Ich trinke ein Wasser nach dem anderen, gehe pinkeln, kehre an meinen Tisch zurück, schreibe weiter, trinke einen Espresso, esse eine Torrada, trinke ein Wasser, schreibe weiter. Der ganze Tisch steht voll mit Flaschen und Tassen und Tellern, gerade noch ist Platz für mein schwarzes Büchlein, in das ich schreibe und schreibe und unser ganzes Leben hineinpacke.
Am späten Nachmittag habe ich einen vollen Tisch und ein volles Moleskin und eine schöne Rechnung. Ich zahle und gehe an den Strand. Ich gehe zu der Stelle, wo ich die Asche ins Meer gestreut habe. Ich erkenne die Stelle sofort wieder. Es ist direkt an der Mole. An dem großen Stein. Genau zwischen Fels und Mole.
Ich nehme mein Büchlein und werfe es ins Meer. Das Buch blättert auf und schon fängt das Meer an, die Tinte aufzulösen.
Ich habe Hunger und sollte vielleicht etwas essen gehen. Ich glaube, ich muss jetzt bald was Richtiges essen, sonst wird mir nämlich irgendwann schlecht. Ich gehe zu einem der Restaurants und setze mich an einen der Tische. Es ist voll und laut. Die Kellner sind damit beschäftigt, Bestellungen aufzunehmen und zwischen Küche und Gästen und Getränketresen hin und her zu rennen. Das wird dauern, bis da einer an meinen Tisch kommt. Ich nehme mein Handy aus der Handtasche und rufe Miguel an.
„Estou?“, sagt Miguel.
So meldet man sich hier in Portugal. Nicht mit Namen oder Hallo oder Ja. Nein – man sagt: Ich bin. Was vielleicht so viel heißen soll wie: Ich bin hier. Was man sich ja aber eigentlich denken kann, wenn der andere abnimmt.
„Miguel?“, sage ich. „Ich bin´s. Anna.“
„Wo bist du?“, sagt Miguel.
Das ist so im Handy-Zeitalter. Man fragt nicht mehr, wie geht es dir, man fragt, wo bist du.
„In Aveiro“, sage ich. „In Barra.“
„Soll ich vorbeikommen?“, fragt Miguel.
Mein Herz setzt einen kleinen Schlag aus. Und ich merke, ja, er soll vorbeikommen, das ist ein nettes Angebot, da muss ich hier nicht alleine essen in diesem Restaurant unter lauter fremden Leuten.
„Ja“, sage ich.
Eine knappe Stunde später ist Miguel da, da muss er ganz schön zugefahren sein, die ganze Strecke von Porto nach Aveiro um diese Zeit im Abendverkehr. Wir teilen einen Reis mit Meeresfrüchten, den ich bestellt habe und der genau fertig ist, als Miguel kommt. Wir reden über alles Mögliche. Außer über uns natürlich. Miguel fragt nicht nach Paul. Und ich frage nicht nach Frauen in Miguels Leben.
Nach dem Essen gehen wir an den Strand. Wir laufen die ganze Mole hoch, bis zum Ende und wieder zurück. Vom Meer weht ein frischer Wind. Es ist jetzt dunkel, und es wird angenehm kühl, das tut gut nach der Hitze vom Tag. Wir ziehen unsere Schuhe aus und laufen direkt am Wasser lang, ich spüre den nassen Sand unter meinen Füßen. Er ist kühl und gibt nach und unsere nackten Füße hinterlassen Abdrücke im Sand. Das Wellen schlagen laut an den Strand und laufen im Sand aus und verwischen unsere Abdrücke wieder.
Die ersten Angler kommen, stellen ihre Angeln auf und richten sich für die Nacht ein, mit Sonnenschirm für die Feuchtigkeit der Nacht und einem Stuhl zum Ausruhen. Da kommt plötzlich eine größere Welle. Und als wir sie sehen, ist es zu spät, wir können nicht schnell genug rennen, und ehe wir uns versehen, hat uns die Welle erwischt. Aber richtig. Mist, das passiert doch sonst eigentlich nur den Touristen. Zur Freude der Einheimischen. Sowas aber auch.
„Scheiße“, sage ich. „Ich habe keine Lust, mich schon wieder zu erkälten. Wo bekomme ich jetzt trockene Sachen her. Scheiße.“
Miguel sagt nichts. Er sieht mich an. Wir sind beide pitschnass. Von oben bis unten. Er sieht zu den Restaurants am Strand. Zwischen den Restaurants ist ein Hotel. Wir stehen nass und frierend ganz in der Nähe eines Hotels. Wir sollten da rein gehen und heiß duschen. Die werden uns natürlich nicht so duschen lassen, das ist klar. Aber wir können ja ein Zimmer nehmen und duschen und dann ein bisschen warten, bis die Sachen wieder trocken sind.
Ich darf zuerst duschen. Die heiße Dusche tut gut. Ich dusche so lange, bis ich das Gefühl habe, bis auf die Knochen durchgewärmt zu sein. Ich steige aus der Dusche und sehe mich im Bad um. Keine Bademäntel. Ist eben ein einfaches Strandhotel und nicht so ein Hotel, wie ich sie nur aus Filmen kenne, mit weißen flauschigen Bademänteln, in denen man fast verschwindet. Ich wickel mich in ein Handtuch ein und gehe ins Zimmer. Miguel hat meine nassen Sachen ausgebreitet, damit sie schneller trocknen.
Er geht ins Bad und sagt, sag mal, mit wie viel Grad duschst du eigentlich? Ich kann überhaupt nichts sehen, hier ist ja nur noch Wasserdampf. Dann macht er die Tür zu.
Ich wickel mich aus dem Handtuch, lege mich ins Bett und rolle mich in die Decke ein. Mir ist ganz warm, ich werde ganz müde und döse langsam ein.
Nach einer Weile merke ich, dass Miguel sich zu mir ins Bett legt. Er sagt, komm, ein bisschen Decke musst du schon abgeben. Ich lasse ihn mit unter die Decke. Er ist auch ganz warm vom Duschen. Wir rollen uns aneinander. Er fängt an, mich zu streicheln. Ich spüre seine Hände auf meinem ganzen Körper. Ich sage, und was, wenn es mir nicht ernst ist, was dann. Und Miguel sagt, wir beide denken immer viel zu viel nach, wir sollten vielleicht nicht immer so viel über alles nachdenken.
Und so lassen wir das Nachdenken mal für eine Weile und sind einfach nur zusammen.
Wir bleiben zwei Tage in Aveiro. Die meiste Zeit in diesem Zimmer im Hotel. Miguel geht und holt uns Kaffee, was zum Essen und bringt ein paar Zeitungen und Zeitschriften mit. Ich sitze auf dem Balkon, in ein Handtuch gewickelt, denn die Sachen sind immer noch ein bisschen klamm, lese den Público und sehe ab und an auf das Meer. Es ist blau bis zum Horizont und noch weit darüber hinaus, weil es nämlich direkt in den Himmel übergeht. Mein Handy klingelt und ich nehme ab. Es ist Clara.
„Sag mal, wo bist du eigentlich?“, sagt Clara.
„In Aveiro“, sage ich. „In einem Hotel. Im Bett mit Miguel.“
„Lass die Witze“, sagt Clara. „Also wo bist du?“
„In Aveiro“, sage ich. „In einem Hotel. Ich sitze auf dem Balkon.“
„Aha“, sagt Clara.
„Und Miguel ist gerade draußen und versucht Pizza aufzutreiben“, sage ich.
„Und?“, sagt Clara.
„Nichts und“, sage ich. „Und bei dir?“
„Hans-Dieter hat mich besucht“, sagt Clara. „Er hat irgendwo gehört, dass ich wieder alleinstehend bin. Da wollte er mal anfragen.“
„Sag ihm, du gehst nach Argentinien“, sage ich.
„Hab ich“, sagt Clara. „Jetzt will er unbedingt mitkommen.“
„Was ist eigentlich mit dieser Russin?“, sage ich.
„Keine Ahnung“, sagt Clara. „Die ist wohl immer noch in Moskau.“
„Armer Hans-Dieter“, sage ich.
„Ja, armer Hans-Dieter“, sagt Clara. „Also wenn der arme Hans-Dieter dich irgendwann mal nach meiner Adresse in Argentinien fragt, dann gibst du sie ihm nicht, das ist ja wohl klar.“
„Du gehst also wirklich nach Argentinien?“, sage ich.
„Ja“, sagt Clara. „Ich bin schon dabei, die Wohnung aufzuräumen, deswegen konnte ich auch nicht mit dir ans Meer fahren. Ich habe sogar schon eine Untermieterin gefunden. Erstmal für ein halbes Jahr. Dann sieht man weiter.“
„Ach Clara“, sage ich.
„Und du?“, sagt Clara. „Was ist mit dir und Miguel?“
„Erstmal noch diese Nacht“, sage ich. „Und dann sieht man weiter.“
Am nächsten Morgen sind unsere Sachen richtig trocken. Wir frühstücken im Frühstücksraum des Hotels. Es ist nicht so doll, aber es ist durchaus okay. Eine Art schmales Frühstücksbuffet. Mit Orangensaft, der nach Plastik schmeckt und einer Müslisorte mit mehr Zucker als Müsli. Ich esse eine Schüssel Cornflakes mit Joghurt und ein Brötchen mit Käse und Schinken. Miguel trinkt eine große Tasse Milchkaffee und isst nur einen Muffin, sonst nichts.
„Heute Abend ist eine Vernissage in der Galerie Blue Moon“, sagt Miguel. „Ein Freund von mir hat eine Ausstellung. Abstrakte Bilder, sehr schön. Wir könnten hingehen. Und vorher vielleicht chinesisch essen. Oder zum Japaner.“
Und ich weiß, wenn ich jetzt hier ja sage, dann kommt eins zum anderen und zack bin ich in einer Beziehung mit Miguel. Und was, wenn ich mich nun verliebe und dann verlässt er mich? Wegen einer anderen. Oder einer Jüngeren. Oder einfach so. Oder er wird krank. Oder er hat einen Unfall. Oder er stirbt. Ich werde das nicht noch mal überleben. Noch mal so eine Trauer wird mich umbringen. Gerade erst hat sich mein Herz ein bisschen erholt. Die Ketten sind ab, aber ich weiß noch nicht, ob es ohne Ketten überhaupt hält.
„Anna?“, sagt Miguel. „Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ich kann nicht“, sage ich.
„Und warum?“, sagt Miguel.
„Was wird, wenn es mit uns nichts wird“, sage ich.
„Das war kein Heiratsantrag“, sagt Miguel. „Das war eine Einladung zum Abendessen. Eine einfache Einladung zum Abendessen.“
„Ich kann nicht, Miguel“, sage ich. „Es tut mir leid.“
„Ja“, sagt Miguel. „Mir auch.“