April
Clara ruft mich an, ob sie bei mir wohnen kann. Die Nebenwohnung wird renoviert und sie hat von morgens bis abends Hämmern und den Lärm von Kreissägen um die Ohren. Wie soll sie da schreiben.
„Ich habe nur noch zwei Wochen Zeit für Liebe mit Hindernissen“, sagt Clara.
Ich sage klar, Clara kann kommen, dann können wir uns hier ein paar schöne Tage machen. Da können wir tagsüber schreiben und übersetzen, in den Pausen Kaffee trinken gehen und nachts Filme sehen.
Clara kommt noch am gleichen Tag. Clara fährt einen Mini, den stopft sie mit ihrem Gepäck voll, einem Haufen nicht zueinander passender Reisetaschen, das Gegenteil einer gut aufeinander abgestimmten Louis-Vuitton-Kollektion. Ich habe Clara mal gefragt, warum sie sich so ein kleines Auto kauft, wenn sie immer so viel Gepäck hat. Und Clara hat gesagt, wenn sie ein größeres Auto hätte, dann hätte sie noch mehr Gepäck. Clara hat eine große Tüte Essen mitgebracht, lauter ausländische Spezialitäten, die es nur im Eispalast gibt – Matjesfilets und Meerrettich, und Quark und Schwarzbrot. Da können wir uns einen richtig deutschen Abend machen.
Wir machen also eine anständige deutsche Brotzeit, wie wir es uns in den Achtzigern im Ausland vermutlich nie getraut hätten und sehen danach den Lehrfilm, der ist nämlich gestern gekommen. He Is Just Not That Into You. Wir setzen uns gemütlich vor den Fernseher. Wir stellen den Papierkorb zwischen uns, jede kriegt einen Nussknacker und dann sehen wir den Film und knacken Nüsse.
„Das sind also die Nüsse von Hans-Dieter?“, sagt Clara.
„Ja“, sage ich.
„Gar nicht mal schlecht“, sagt Clara. „Klein aber fein.“
Ich sehe Clara fragend an.
„Jeder weiß, dass es nicht auf die Größe ankommt“, sagt Clara und ich verdrehe die Augen.
Wir können ruhig reden bei dem Film, wir kennen ihn ja sowieso auswendig, nicht wahr. Wir sehen ihn ja nur, um uns an die Botschaft zu erinnern. Und die Botschaft ist – man kann es nicht oft genug wiederholen, im Grunde – wenn ein Mann nicht anruft, dann ruft er nicht an, weil er nicht anrufen will.
„Mal was von Paul gehört?“, fragt Clara.
„Paul, welcher Paul?“, sage ich, als ob es nie einen Paul in meinem Leben gegeben hätte.
„Paul der Papa vom Prinzesschen“, sagt Clara.
„Oh, der Paul“, sage ich. „Nö, nichts gehört.“
Dröge Worte für den fiesen Zustand, dass dieser Paul sich doch nie wieder gemeldet hat, nicht auf Facebook, nicht auf Skype und das, obwohl er ständig online ist. Denn das kann man ja sehen, wer wann online ist. Oder hat er sich gemeldet? Mir ist jetzt dunkel irgendwie so, als ob er mir zuletzt eine Nachricht geschickt hätte. Bin ich hier vielleicht diejenige, die sich nicht gemeldet hat? Kommt mir jetzt geradezu so vor. Und jetzt bin ich mir plötzlich sogar ziemlich sicher. Und dann weiß ich es wieder. Klar – da war dieser Entendialog. Und Pauls letzte Worte waren: Da konnte man nix machen, die kam schon so. Und ich habe auf diese Facebook-Nachricht nicht geantwortet, weil ich ja nichts mehr mit Paul zu tun haben will, nicht wahr. Aber danach haben wir noch mal geskypt. Allerdings nur kurz. Das zählt jetzt vermutlich aber nicht als Antwort auf eine Nachricht bei Facebook, oder? Zumal es ja Paul war, der mich angeskypt hat. Also wer ist jetzt am Ball, er oder ich? Also ich doch vermutlich.
„Weißt du, dass dieser Hans-Dieter gestern nach Moskau geflogen ist?“, fragt Clara.
„Ehrlich?“, sage ich.
„Ja“, sagt Clara. „Und heute will er seine Russin heiraten.“
Da sieht man mal, dieser Hans-Dieter, kleine Nüsse, aber großen Mut.
„Tja“, sagt Clara und grinst. „Der ist jetzt weg vom Markt. Vielleicht solltest du doch noch mal eine Nachricht an Paul schicken.“
Ich nehme ein paar von Hans-Dieters Nüssen und will sie schon nach Clara werfen, aber da fällt mir doch zum Glück noch rechtzeitig ein, dass das ja meine Wohnung ist, die muss ich sauber machen. Ich lege die Nüsse wieder in die Schale.
„Feigling“, sagt Clara.
Ja, da hat sie recht. Ich bin ein Feigling. Denn wenn ich nicht so ein Feigling wäre, dann würde ich mich doch von ein paar Jahren Altersunterschied und ein paar tausend Kilometern nicht entmutigen lassen, nicht wahr, während Leute wie Hans-Dieter sogar nach Moskau fliegen, um fremde Russinnen zu heiraten.
*
Am nächsten Morgen machen wir uns ein Frühstück wie zu Studenten-WG-Zeiten und dann gehts aber an die Arbeit. Endlich ist es warm geworden und wir nehmen beide unsere Laptops und setzen uns nach draußen, an den schönen Kacheltisch, unter das große Segeltuch, das langsam Löcher bekommt und wohl demnächst mal erneuert werden müsste.
„Also an die Arbeit“, sagt Clara.
„Gut, los“, sage ich.
Und um noch ein bisschen Zeit herauszuschinden, und auch einfach aus Interesse, liest jede ihren letzten Satz vor.
Clara liest: Linda schloss die Tür hinter Daniel. Sie wusste: Sie würde ihn nie wiedersehen. Daniel war für immer aus ihrem Leben gegangen und würde nie erfahren, was sie wirklich für ihn empfand.
Ich lese: Schließen Sie das Gerät nur an ein ordnungsgemäß geerdetes Stromnetz an. Steckdose und Verlängerungskabel müssen einen funktionsfähigen Schutzleiter besitzen.
„Na, das sind doch klare Worte“, sagt Clara.
„Vielleicht sollten wir alle einen funktionsfähigen Schutzleiter besitzen“, sage ich.
Und dann legen wir aber wirklich los. Clara taucht ab in ihre Welt der Gefühle und ich tauche ab in die Welt der Leisehäcksler.
Dona Ermelinda ist übrigens stolz auf mich. Und da hat sie auch allen Grund zu. Ich hab´s nämlich endlich getan. Ich habe endlich und endlich die Asche ins Meer gestreut. Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen und mich ins Auto gesetzt. Ich habe die neue CD von Rosanne Cash eingelegt und bin ans Meer gefahren. Nach Aveiro. Über die Autobahn. Die A 25 führt ja direkt ins Meer, sozusagen. Hab die Ria überquert und bin nach Barra gefahren. Rosanne Cash singt: take these chains from my heart...
Das ist jetzt meine dritte Trauer-CD. Die erste war eine von Leonard Cohen, I´m your man. Die habe ich gehört und gehört, bis ich nicht mehr konnte und das Auto an den Straßenrand fahren musste zum Heulen. Dann manchmal als Abwechslung Bob Dylan. Die ganzen alten Sachen. Knocking on Heaven´s Door... Lay lady lay ... Forever young. Und dann wieder Leonard Cohen. Everybody knows you`ve been faithful ah give or take a night or two. So war´s bei uns auch. Dreißig Jahre sind ja eine lange Zeit, da kann schon mal was passieren, was eigentlich nicht passieren sollte, nicht wahr, und da tut mir auch nichts leid.
Ich bin nach Barra gefahren und habe mich ins Café O Farol gesetzt. O Farol, das heißt der Leuchtturm. Und als ich schon sitze und bestellt habe, da fällt mir ein: Das ist das Café, wo Jan seinen letzten Kaffee getrunken hat. Das war unser letzter Ausflug. Danach hat er sich mit einer Erkältung ins Bett gelegt. Aus der Erkältung ist eine Lungenentzündung geworden. Und drei Wochen später war er tot. Ich wäre am liebsten wieder aufgestanden, ich bin vielleicht nur sitzengeblieben, weil ich überhaupt nicht wusste, wohin. Wenn man dreißig Jahre alles zusammengemacht hat, ist jeder Schritt alleine mühsam. Als ob man wieder neu laufen lernen muss. Laufen ohne Stütze. Und mir wird klar: Ich will gar keinen anderen Mann. Ich will diesen einen wiederhaben, denn der ist es immer gewesen, und den will ich zurück, und zwar sofort.
Der Mann vom Café bringt mir meinen dunklen Galão und mein Pastel de Nata. Ich versuche, nicht zu heulen. Ich will keinen Hans-Dieter, und es liegt nicht an seiner Art oder seinen Walnüssen. Ich will auch Paul nicht, und es ist nicht wegen dem Altersunterschied, einem Altersunterschied, der womöglich eine Art kosmischer Ausgleich sein soll, denn was Jan älter war, ist Paul jünger. Und Miguel Moreira kann so perfekt sein, wie er will – er ist es einfach nicht.
Ich will schlicht und einfach meine alte Liebe zurück. Plötzlich stürzen die ganzen Erinnerungen auf mich ein, es ist fast so, als ob die Zeit sich auflösen würde, als ob alle Zeiten parallel existieren und ich kann uns sehen, damals an der Uni in Hamburg im Chemiesaal zusammen mit zweihundertachtzig anderen Studenten und wir verstehen im Grunde kein Wort und die Ausführungen an der Tafel sagen uns auch nichts. Und ich sehe uns mit diesem alten Opel Record nach Norwegen fahren, zwanzig Liter Sprit auf hundert Kilometer plus drei Liter Öl. Richtig schnell im Anzug, wir haben das Auto die Rakete genannt. Die Rakete war das einzige Auto, das uns je gestohlen wurde. Eigentlich waren wir ganz froh, die alte Schleuder los zu sein. Aber nach zwei Tagen wurde das Auto von der Polizei gefunden. Haben die Diebe einfach auf einem Parkplatz abgestellt. Kein Wunder bei dem Spritverbrauch. Hätten wir am liebsten auch gemacht, aber uns hätten sie die Rakete ja immer wieder zurückgebracht. Wie jung wir waren. So voller Pläne. Und einiges haben wir ja auch gemacht zum Glück und da bin ich natürlich dankbar für. Wie heißt es immer? Man bereut eher das, was man nicht getan hat, als das, was man getan hat. Ja, da ist viel dran. Und ich würde sogar viel dafür geben, nochmal mit Jan auf der Este zu kentern und dann im Schlamm stundenlang nass und verfroren das verlorene Gepäck zu suchen.
Irgendwann bin ich aufgestanden und habe mich ins Auto gesetzt. Ich habe den Deckel von der Urne abgemacht und eine Runde zu I´m your man geheult. Da war ein zweiter Deckel drunter, ich habe ihn mit meinem Schweizer Messer aufgedröselt und die ganze Asche in eine Plastiktüte gekippt. Ganz schön viel Asche. Ganz schön schwer. Und damit bin ich an den Strand gegangen. Gar nicht so einfach ans Meer zu kommen. Und dann die ganzen Leute, überall Leute und das Gefühl: Die beobachten mich alle. Ich bin die ganze Mole bis zum Ende gelaufen und habe gesehen: Wenn ich da versuche, die Asche ins Meer zu streuen, dann liege ich womöglich gleich selber mit drin. Im besten Fall ohne gebrochenes Bein, im schlimmsten Fall mit. Ich bin die Mole wieder zurück. Ich habe mich vorne auf die Felsen gesetzt.
Da war ein Brautpaar am Strand. Mit Fotograf. Ich habe auf dem Felsen gesessen und die Szene beobachtet. Die Frau musste sich auf den Boden setzen und das Brautkleid ausbreiten und der Mann hat sich daneben gesetzt, auf den Stoff vom Brautkleid, wegen Sand und nass. Dann mussten sie wieder stehen und eine Flasche Sekt schütteln und fotografiert wurde in dem Moment, wo der Sekt so richtig schön spritzte. Die beiden sahen glücklich aus, ein bisschen erschöpft, aber glücklich. Ich dachte: Sie stehen am Anfang ihrer Ehe und ich sitze hier mit der Asche in der Plastiktüte am Ende meiner Ehe. Anfang und Ende. Das ist der Kreislauf. Ich habe überlegt, ob ich die Asche einfach zwischen die Felsen schütte und dann holt sie das Meer irgendwann. Aber dann dachte ich nein, diesen Wunsch möchte ich richtig erfüllen, er wollte ins Meer gestreut werden, ich werde die Asche ins Meer streuen.
Ich gehe wieder an den Strand, auf die andere Seite der Mole und da sehe ich die perfekte Stelle: Hier an dieser Ecke kann ich direkt bis ans Wasser. Ich hocke mich hin. Ich öffne die Tüte. Die Asche ist gesprenkelt und grobkörnig, so ganz anders als die Asche aus dem Holzofen in meinem Atelier. Ich gebe mir einen Ruck und kippe alles ins Meer. Plötzlich entsteht ein riesiger schwarzer Fleck im Wasser. Das ist die Asche, sie färbt das Wasser tiefschwarz. Mir bleibt vor Schreck fast das Herz stehen. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich sage: Mach´s gut Jan. Ich mache ein Foto, damit ich eine Erinnerung habe, und fahre nach Hause. Rosanne Cash singt: take these chains from my heart and set me free ...
“Sag mal, übersetzt du eigentlich?”, sagt Clara plötzlich.
„Steckdose und Verlängerungskabel müssen einen funktionsfähigen Schutzleiter besitzen“, sage ich.
„Vielleicht sollten wir mal Kaffee trinken fahren“, sagt Clara.
In diesem Moment kommt Miguel Moreira in den Hof gefahren. Er parkt sein Auto, einen dunkelblauen Oktavia, und steigt aus. Clara dreht sich um und ist sichtlich beeindruckt.
„Und wer ist das?“, sagt Clara.
„Das ist Miguel Moreira“, sagt Miguel.
„Sie sprechen ja deutsch“, sagt Clara, weil ihr im Moment nichts Schlaueres einfällt und da sieht man mal, dass es selbst Clara die Sprache verschlagen kann.
„Hab ´ne Hörkassette im Auto“, sagt Miguel. „Deutsch in dreißig Minuten.“
„Gibt es dazu auch das portugiesische Gegenstück?“, sagt Clara, die ihre Sprache offensichtlich wiedergefunden hat.
Miguel lacht.
„Studium in Berlin, Architektur“, sagt Miguel. Er streckt seine Hand aus, um Clara zu begrüßen. „Sehr erfreut.“
„Ebenfalls“, sagt Clara und schüttelt seine Hand.
Dann kommt Miguel zu mir und drückt mir ein Päckchen mit Kuchenstücken in die Hand. Er gibt mir ein Küsschen rechts und links, portugiesische Begrüßung, aber er hält dabei Abstand.
„Sag mal, Anna“, sagt er. „Kann ich für ein paar Tage bei dir wohnen, ich habe einen Auftrag hier in der Gegend.“
„Aber klar“, sag ich.
Und nun sind wir plötzlich eine Dreier-WG.
*
Nach drei Tagen muss Clara wieder nach Hause, sie hat einen Termin beim Zahnarzt und sie hofft, der Baulärm ist vorbei, denn irgendwann müssen sie mit der Wohnung ja mal fertig sein. Wir gehen abends alle drei essen. Wir gehen in den Thermen zu Ti Joaquim, ein Restaurant mit richtig viel Geschirr und Gläsern und Stoffservietten. Miguel hält uns die Tür auf und benimmt sich auch sonst wie ein echter Gentleman. Und das Ganze noch dazu mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Es ist ein total netter Abend. Danach gehen wir noch auf einen Kaffee und einen Portwein ins Bon d`Jau, das ist mein Lieblingscafé. Es ist voll wie immer und Irina, meine Lieblingskellnerin, winkt mir nur kurz zu, statt zu klönen, denn erstens bin ich in Gesellschaft und zweitens muss sie ziemlich viel rennen. Weil so viel los ist.
Wieder zu Hause sehen wir nicht eine von unseren romantischen Komödien und schon gar nicht den Lehrfilm, weil der ja nichts für Männer ist, die wissen das ja schon alles, sondern schlicht und einfach einen Tatort. Da können wir alle mit leben. Bis auf das Opfer vom Tatort natürlich.
Ehe ich ins Bett gehe, checke ich noch meine E-Mails und gehe noch kurz bei Facebook auf die Seite (das ist krank, ich weiß, dass das krank ist. Ich bin jetzt Single. Ich hoffe, das gilt als Entschuldigung). Keine Nachricht von Paul. Dafür eine E-Mail von Clara aus dem dreißig Meter entfernten Gästehäuschen: Wenn du ihn nicht willst, nehme ich ihn. Nein, mache ich natürlich nicht. Wollte dich nur mal anstupsen. Ein Smiley, ein Winken, ein Gute-Nacht.
Am nächsten Morgen steht Clara bei mir im Arbeitszimmer und wir sind beide ganz traurig, dass es vorbei ist. Wir müssen das wiederholen, unbedingt und auch nicht erst sonstwann, sondern bald mal.
„Schade, dass ich nicht auf Frauen stehe“, sage ich. „Da würde ich jetzt anfangen mit dir zu flirten.“
„Ich weiß“, sagt Clara. „Geht mir ganz genauso.“
Jetzt denken wir beide an damals und an unsere feministischen Zeiten und an die aufgeklärte Lektüre, die wir auf den Tischen zur Frauenwoche ausgelegt haben und daran, dass wir alle ein bisschen dachten: So eine Frauenbeziehung wäre doch eigentlich viel schlauer als eine Beziehung zu einem Mann. Wäre sie vermutlich auch, aber was sollen wir machen. Ist eben einfach nicht.
„Vermutlich brauchen wir die Männer eben doch“, sage ich.
„Ja“, sagt Clara. „Schon zum Glühbirnenwechseln.“
„Und zum Müllraustragen“, sage ich.
„Und zum Reifenwechseln“, sagt Clara.
„Und wer nimmt die Mäuse aus der Mausefalle, wenn kein Mann da ist?“, sage ich.
„Ein klare Männeraufgabe“, sagt Clara und ich nicke.
Tja die „eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad Zeiten“ sind ganz offensichtlich vorbei. Natürlich kann man als Fisch ohne Fahrrad leben, das ist gar keine Frage, aber mit Fahrrad ist es eben einfach schöner, das finden auch die meisten Fische. Denn wer soll sonst die Mäuse fangen, wenn nicht das Fahrrad. Oder so ähnlich, jedenfalls.
„Hast du eigentlich eine Nachricht an Paul geschickt“, fragt Clara und sieht auf das Entenfoto, das hier immer noch an meiner Pinnwand hängt.
„Nicht wirklich“, sage ich.
„Solltest du vielleicht“, sagt Clara. „Das Entenfoto ist zwar nicht perfekt, aber es ist immerhin ein Entenfoto.“
Dann fährt Clara los und ich bin mit Miguel alleine.
*
Miguel bleibt noch drei Tage. Er behauptet, er hat einen Auftrag in Viseu, aber so richtig viel arbeiten sehe ich ihn eigentlich nicht. Dafür fährt er mit mir durch die Gegend. Er lädt mich jeden Abend zum Essen ein. Jeden Abend in ein anderes Restaurant. Und heute ist sein letzter Tag und wir fahren ins Douro-Tal.
Wir fahren in seinem dunkelblauen Auto durch das Dorf und ich darf endlich mal wieder auf dem Beifahrersitz sitzen. Mann, ist das schön. Ich sehe aus dem Fenster, ich träume vor mich hin. Ich sehe zu Miguel, er hat ein weißes Hemd an und Jeans. Und wenn ich mich trauen würde genauer hinzugucken, dann würde ich sehen, dass diese Jeans auch noch verdammt gut sitzen. Er hat die Ärmel etwas hochgekrempelt, weil es ein warmer Tag ist und ich sehe auf seine Arme und Hände. Seine Haut ist leicht gebräunt, er wohnt in Porto, er geht oft an den Strand. Die Hände sind kräftig, aber nicht klobig. Er hat eigentlich richtig schöne Hände, das fällt mir jetzt zum ersten Mal auf. Die Nachbarn winken uns fröhlich zu, als wir vorbeifahren, sie denken jetzt bestimmt: Die Dona Anna hat einen neuen Freund. Und ich sehe an ihren Gesichtern, dass sie das gut finden. Ich lese in ihren Gesichtern ein na-endlich-wurde-aber-auch-Zeit.
Ach Miguel. Ich frage mich, was er eigentlich von mir hält. Ich kenne ihn schon so lange. Er denkt seit zehn Jahren an meinen Geburtstag. Er ist immer ein guter Freund gewesen. Hat er mich je als etwas anders gesehen als eine verheiratete Ehefrau? Hat er mich je als Frau gesehen? Sieht er mich jetzt als Frau? Wäre ich für ihn eine Frau? Ich habe keine Ahnung.
Mir wird klar: Wir reden eigentlich nie über was Persönliches. Ich weiß schon, dass er Freundinnen hatte. Ein paar habe ich sogar kennengelernt. Die Maria da Luz zum Beispiel und die Isabel aus Guarda. Oder damals die Mónica. Aber es ist nie was Festes draus geworden. Und alle wissen, der Miguel ist eben Single. So ist er eben. Bisher habe ich mir da auch keine Gedanken drüber gemacht und jetzt möchte ich nicht fragen.
Was, wenn er in mir mehr sieht als die gute Freundin? Ich habe ja schon jetzt ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht in ihn verliebt bin. Ich fühle den sozialen Druck eines ganzen Dorfes auf mir lasten. Und den von Dona Ermelinda ganz besonders. Aber ich kann einfach nicht, ich kann einfach nicht, ich kann nicht ...
„Na, Anna, heute ganz verträumt?“, sagt Miguel und parkt das Auto.
Wir steigen aus, wir sind in Peso da Régua, was für eine wunderbare Landschaft. Kein Wunder, dass sie die ganze Region zum Weltkulturerbe erklärt haben. Der Wein wird in Terrassen am Douro-Ufer kultiviert. Dazwischen in Reihen Olivenbäume. Dafür ist die Gegend hier berühmt: Portwein und Olivenöl. Hier sind die ganzen berühmten Kellereien. Es gibt sogar ein Portwein-Museum. Dort zeigen sie die Geschichte des Portweins und die Herstellung. Sie haben Fotos von früher und die alten Geräte. Und gleich daneben einen Laden, eine Art Lagerhalle, wo man Portwein probieren und natürlich kaufen kann.
Hier am Fluss ist es jetzt richtig warm. Wir gehen runter an den Douro, laufen eine Weile am Fluss entlang. Am Anleger liegen die kleinen und großen Boote für Touristen. Das große Reklameschild von Sandeman auf dem Hügel gegenüber – eine riesige schwarze Figur mit einem Cape. Wir laufen wieder zurück bis zu dem Café direkt am Wasser und setzen uns auf die Esplanada. Wir sehen den Booten zu, die Touristen für Fahrten auf dem Douro einladen. Ein Boot fährt in Richtung Anleger. Die Touristen stehen an der Reling und fotografieren.
Wir trinken Kaffee und essen Kuchen. Miguel kauft den neuen Público und wir teilen die Zeitung und lesen. So haben Jan und ich immer im Café gesessen. Eigentlich jeden Tag, und eigentlich, wo immer wir waren. Einmal am Tag ins Café zum Zeitunglesen. Ich kann mich an viele Cafés in meinem Leben erinnern. Das Café mit dem schönsten Blick? Ulla´s Place in Tahsis BC. Das Café mit dem schlechtesten Cappuccino? Eine Bude, deren Namen ich zum Glück vergessen habe, in Carcross, Yukon Territories. Und den besten Kaffee gibt es in – ach, es gibt viele gute Cafés. Dieser Kaffee hier ist gut, ein schöner dunkler Galão in Tassen aus Glas und der Blick auf den Douro ist klasse. Wir lesen unsere Zeitung und sind zufrieden.
Am Abend sind wir wieder zu Hause und Miguel lädt mich zum Billardspielen ein. Wir gehen zu Fuß ins Dorf, damit wir was trinken können, trinken im Sinne von Alkohol. Wir bestellen uns einen Macieira, diesen leckeren portugiesischen Brandy, und spielen unter den wohlwollenden Augen der Dorfbevölkerung Billard. Miguel spielt ziemlich gut, ich spiele reichlich daneben, er zeigt mir, wie´s geht, gibt Tipps, ist rücksichtsvoll, das ganze klassische Ding eben.
Dann laufen wir zu Fuß nach Hause. Wir halten Abstand und reden wenig. Unser ganzes Leben hier über die Tage fühlt sich an wie eine gute alte Ehe, nur ohne Sex. Obwohl – das ist vielleicht gar kein Widerspruch. Was weiß ich, vermutlich gibt es viele gute alte Ehen ohne Sex. Und vermutlich ist das nicht mal schlimm. Was hier fehlt, ist die Faszination, die Spannung, es fehlt ... ach, was weiß ich, was fehlt ... take these chains from my heart and set me free ...
Am nächsten Tag muss Miguel zurück nach Porto, er lädt mich ein wie immer, ich soll ihn doch auch mal besuchen. Und ich sage wie immer, ja eigentlich gerne, aber da ist die Autobahn, ich habe immer noch Angst, da ist die Panik, ich traue mich nicht auf die Autobahn. Ich habe es immerhin schon bis Aveiro geschafft, ich bin dabei meinen Radius zu erweitern, ich gebe mir Mühe, ehrlich, aber da ist die Panik, das ist nicht so einfach. Aber vielleicht schaffe ich es eines Tages doch noch nach Porto.
„Du könntest mit dem Bus kommen“, sagt Miguel. „Ich hole dich vom Busbahnhof ab.“
Als Miguel weg ist, gehe ich hoch ins Gästehäuschen und mache das Bett. Ich ziehe das Bett ab, da steht plötzlich Dona Ermelinda mit im Zimmer. Mann, jetzt habe ich mich aber verjagt. Sie wirft einen Blick auf das Bett. Dann sieht sie mich an.
„Ist der Sr. Miguel wieder abgefahren?“, fragt sie.
„Ja“, nicke ich.
„Porto ist ja eine sehr schöne Stadt“, sagt Dona Ermelinda. „Mein Schwager kommt aus Porto, der Schwager, der mit meiner Schwester verheiratet ist, die mal in Figueira da Foz gewohnt hat, mit ihrem ersten Mann damals, kurz ehe sie nach Águeda gezogen ist. Und da hat sie dann ihren zweiten Mann kennengelernt. Den aus Porto.“
Ich habe es ehrlich gesagt schon vor langer Zeit aufgegeben, mir die Verwandten von Dona Ermelinda zu merken. Es reicht im Grunde zu wissen: Es sind viele und sie sind gut verstreut.
„Waren Sie eigentlich schon mal in Porto?“, fragt sie jetzt.
„Zweimal“, sage ich.
„Vielleicht sollten Sie mal wieder hinfahren“, sagt Dona Ermelinda jetzt. „Ist nämlich wirklich eine schöne Stadt, dieses Porto. Sagt mein Schwager immer wieder. Porto ist eine schöne Stadt.
„Ich weiß nicht“, sage ich. „Die Autobahn und alles ...“
„Sie könnten mit dem Bus fahren“, sagt Dona Ermelinda. „Es gibt einen Bus von Viseu nach Porto. Das ist eine ausgezeichnete Verbindung. Meine Enkelin fährt immer mit diesem Bus, wenn sie in die Stadt will. Sie sagt, das ist im Grunde viel praktischer als mit dem Auto.“
„Ja schon“, sage ich.
„Und um die Fische müssen Sie sich keine Sorgen machen“, sagt Dona Ermelinda. „Die füttere ich.“
Meine kleinen Fische, alle ohne Fahrräder und kommen sie nicht wunderbar klar? Und wenn ich sie nicht fütter, füttert sie Dona Ermelinda. Und schon ist ihre Welt in Ordnung.
„Ich weiß nicht“, sage ich.
„Das Leben geht weiter“, sagt Dona Ermelinda. „Aber man muss natürlich auch ein bisschen was dafür tun, dass es weiter geht.“
Mir ist schon klar, was sie meint. Sie hätte es offensichtlich lieber gesehen, wenn ich mich mal an eine Schulter angelehnt hätte und ganz besonders an die vom perfekten Single. Ein schöner Katholizismus ist mir das hier.
*
Ehe ich wieder in die Welt der Leisehäcksler eintauche, checke ich schnell noch meine E-Mails. Keine Nachrichten. Na dann mal los mit dem Übersetzen. Das Gerät funktioniert aus Sicherheitsgründen nicht ohne korrekt positionierte Fangbox. Mist irgendwie, dass da nichts in meiner E-Mail-Fangbox war. Die ist doch völlig korrekt positioniert, nicht wahr. Auf der anderen Seite, wie soll ich da was einfangen in meiner Fangbox, wenn ich oben nichts in den Schlund des Häckslers werfe. Vielleicht funktioniert Facebook auch nach dem Prinzip der Leisehäcksler, und nur wer oben was reinwirft, bekommt unten was in die Fangbox. Ich gehe noch mal zu Facebook. Ich gehe zu der Seite mit den Nachrichten von Paul.
Und dann schreibe ich endlich eine Antwort auf seine letzte Nachricht: Tja Pech. Trotzdem nettes Foto. Danke dafür! Anna.
Ist das jetzt irgendwie zu knapp? Auf der anderen Seite ich will ihm ja auch nicht mit langen Nachrichten auf den Wecker fallen. Ich möchte hier nicht um Antworten betteln, deswegen eine Nachricht ohne Fragezeichen, die lässt alles offen. Es kann eine Abschlussnachricht sein, aber es kann auch ein Anstoß sein. Es gibt ihm die Möglichkeit zu antworten, aber es fordert ihn nicht dazu auf. Es lässt alles offen. So was muss gut durchdacht sein, denn zurücknehmen kann man diese Nachrichten auf Facebook ja nicht, jedenfalls ich kann es nicht, das ist wie mit diesen abgeschossenen Pfeilen. Denn drei Sachen kann man nicht zurücknehmen: das gesprochene Wort, den abgeschossenen Pfeil und die Nachricht auf Facebook.
Und jetzt müsste ich eigentlich mal mit der Übersetzung in die Puschen kommen und dazu müsste ich eigentlich nachschlagen, was ein Litzenquerschnitt ist, und das gleich in beiden Wörterbüchern, denn das Wort kenne ich in keiner Sprache.
Aber auf der anderen Seite habe ich mir nicht mal versprochen im Datingcafé zu surfen, einfach nur um mal so zu sehen ,wie´s in der Single-Welt aussieht und um Leute wie Paul zu vergessen, die sich nicht per Skype melden, obwohl sie andauernd online sind, und wie heißt es so schön in der Gebrauchsanleitung für Leisehäcksler: Legen Sie immer rechtzeitig eine Arbeitspause ein. Nachzulesen auf Seite sechs, Absatz elf. Also dann.
Nach einer Stunde tauche ich aus der Datingcafé-Welt auf. Da ist die Facebook-Welt richtig gut gegen. Alle Männer in meinem Alter halten sich für jünger, als sie sind, und möchten deshalb eine Frau, die sich nicht nur für jünger hält, sondern auch wirklich jünger ist. Biologisch. Und sie meinen damit nicht Claras Pünktchenhosen oder meine Buntstifte, die ich immer mit mir in der Tasche rumtrage. Das tue ich übrigens nicht, weil ich im Herzen immer noch jung oder vielleicht sogar ein Kleinkind bin, jedenfalls nicht nur, sondern weil ich von einem ‚Visual Diary` träume, das sind diese Skizzenbücher, die man mit sich rumträgt, um unterwegs zu skizzieren. Und ich habe ständig eins bei mir, weil ich ja immer morgen damit anfangen will, und dann möchte ich nicht ohne Papier dasitzen, wenn´s mich wirklich überkommt, nicht wahr. Doch leider ist mein Visual Diary immer noch ein Büchlein mit lauter Blankoblättern, ziemlich weitgereisten Blankoblättern mittlerweile, mit zwanzigtausend Flugkilometern.
Die meisten Männer sind erstaunlich gleich, nicht nur, dass sie sich jünger fühlen, als sie sind, nein, sie fahren auch noch alle Motorrad und trinken gerne Rotwein am Kamin. Eine Kombination, die ziemlich gefährlich werden kann, eigentlich, aber das wird diesen Männern ja wohl klar sein, so viel Erfahrung werden sie ja wohl haben, selbst wenn sie sich jünger fühlen als sie sind. Ansonsten ist es Grusel in Stufen. Eine Grusel-Spirale, deren Ende nach oben nicht absehbar ist.
Und den ersten Preis hat ganz eindeutig der Typ verdient, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt und eine viel jüngere Frau sucht. Sie soll nicht nur jung, sondern auch gesund sein, damit sie ihn pflegen kann, und sie soll auch noch willig sein, sich von ihm von Zeit zu Zeit an einen Baum fesseln zu lassen. Damit er sie dann in seinem Rollstuhl suchen kann? Und was, wenn er dabei einen Herzinfarkt kriegt, denn mit seiner Gesundheit steht es ja offensichtlich nicht zum Besten, nicht wahr, und dann hat er womöglich einen Herzanfall, und sie hängt da gefesselt am Baum. Oder im Baum. In Gummi oder Lack womöglich. Und dann kommt keiner ans Handy. Das ist doch wieder mal ein schönes Beispiel für: nicht alles, was möglich ist, ist auch vorstellbar. Jedenfalls nicht für mich. Für den Typ ja irgendwie anscheinend schon. Und wenn nun wirklich auch alles möglich ist, was vorstellbar ist, dann wird er womöglich sogar noch eine Susi für seine Spielchen finden.
Den zweiten Preis kriegt der sechzigjährige, der hundertfünf Kilo wiegt und eine schlanke Gespielin unter vierzig Jahren sucht. Oder in anderen Worten, bei ihr soll Gewicht plus Alter unter seinem Alter liegen, und dafür darf ihr Brustumfang seinen Kilobereich überbieten. Oh my god ... omg ... omg ... Den dritten Preis ... ach ich geb´s auf. Je länger ich hier surfe, desto verzweifelter werde ich.
Aber den Extra-Preis für Extra-Blödheit, den vergebe ich schnell noch und den bekommt der Typ, der hier weder ein Foto noch einen Text eingestellt hat. Vom ihm weiß man nur, dass er 58 Jahre alt ist, einen Beruf hat (welchen verrät er nicht) und dass er real existiert (zumindest sollte man davon ausgehen können, weil das Datingcafé ja die Eintragungen überprüft, schreiben sie). Tja, dieses Fahrrad muss nun womöglich bis an sein Lebensende ohne ein neues Fischlein auskommen und fragt sich vermutlich auf immer und ewig wieso. Und in dieser ganzen Verzweiflung kommt plötzlich ein Lichtblick. Skype blinkt. Paul. Es ist Paul. Paul skypt mich an.
Paul: hi wieso meldest du dich eigentlich nie?
Was spielen wir hier eigentlich? Verdrehte Welt? Ich melde mich nicht, und das muss ausgerechnet Paul mir vorwerfen? Paul, der gesagt hat, ich soll Geduld haben beim Skypen? Ich verstehe die Welt nicht mehr.
Ich: ich melde mich nicht?
Paul: du hast letztes Mal aufgelegt und dich nie mehr gemeldet.
Ich fasse es nicht, ich sterbe hier vor Warterei und übe mich in Geduld und nun wirft Paul mir vor, ich melde mich nicht.
Ich: hab dir ne nachricht auf facebook geschickt
Paul: stand aber nicht wirklich was drin
Ich: stimmt - sry
Paul: und wie gehts dir?
Ich: gut und dir?
Paul: gut und die schneekoenigin
Ich: wohnt immer noch im eispalast
Paul: faehrt sie auch schlittschuh?
Ich: nur nachts bei vollmond
Paul: und bei neumond
Ich: bei neumond nicht, bei neumond is zu dunkel
Paul: hab dir ne nachricht auf facebook geschickt
Jetzt merke ich, mein Herz setzt richtig einen Schlag aus. Paul hat mir nicht nur eine Nachricht auf Facebook geschickt, er kündigt sie auch noch beim Skypen an. Tja wenn‘s regnet, regnet´s aber auch gleich richtig.
Ich: ok
Paul: c u later
Ich: yep
Ich gehe also sofort zu Facebook, und da ist doch tatsächlich eine Nachricht von Paul in meiner Facebook-Fangbox.
Ich besuche im Mai meine Mutter in Deutschland und ich war noch nie in Portugal, und da wollte ich schon immer mal hin. Und da dachte ich, vielleicht komme ich einfach mal vorbei und besuche dich. Natürlich nur, wenns dir passt. Erst Portugal, dann Deutschland. Was meinst du? Big hugs Paul
Jetzt ist der Ball wieder bei mir, und zwar gleich doppelt, und es ist auch noch ein ziemlich großer Ball, geradezu eine Art Medizinball, und ich habe nicht den blassesten Schimmer, was ich mit diesem Ball anfangen soll. Natürlich möchte ich, dass Paul mich besucht. Na, auf keinen Fall möchte ich, dass Paul mich besucht. Ich bin für Paul doch nur noch eine Erinnerung, er kennt mich kaum, wir sind einmal auf Grouse Mountain gewesen und im Stadtpark und das Ganze ist auch schon drei Monate her. Aber wenn Paul hier ist, richtig hier, im Alltagsleben, und dann sieht er mich so, wie ich bin, ich meine mein Alter, den Altersunterschied und alles und überhaupt.
Er wird meine Wohnung sehen, es ist eine schöne Wohnung, sehr gemütlich, mit vielen Pflanzen, aber es ist keine junge Wohnung. Ganz anders als die von Paul. Paul mit seinem Einzimmerappartement in Kitsilano, wo die Küchenzeile und das Bett nur fünf Meter auseinanderstehen, wenn überhaupt, und das Herzstück der Küche die Mikrowelle ist. Ich weiß nicht.
Und dann, was wenn Paul mich im Bad sehen würde. Meinen Körper zum Beispiel. Und die lange Narbe am Knie. Oder beim Zähneputzen im Bad, womöglich, was wenn Paul reinkommen würde und er würde sehen, mir fehlt der Zahn. Das tarne ich ja sonst, denn niemand soll sehen, dass mir der Zahn fehlt, und ich weiß, dass das sehr undankbar ist, denn wenn man frontal in einen Laster fährt und die einzigen Langzeitschäden sind ein ausgeschlagener Vorderzahn, eine Narbe am Knie und ein Autobahn-Trauma, dann hat man doch wirklich richtig Glück gehabt. Es hätte uns ja viel schlimmer treffen können. Wir hätten verstümmelt sein können. Verkrüppelt. Wir hätten tot sein können.
Das waren meine ersten Worte nach dem Unfall, als wir da standen und die Welt sich drehte: Mein Gott, ich habe uns umgebracht. Und Jan hat gesagt, nein das überleben wir. Und so ist es ja auch gewesen, obwohl die Versuchung schon da war, es einfach nicht zu überleben, denn wir wussten ja schon von der Krankheit und irgendwie wäre das natürlich eine Lösung gewesen. Jedenfalls denkt man das. Zumindest für einen kleinen Moment. Aber das wäre es natürlich nicht und das weiß ich auch und bin ja auch froh, dass ich noch am Leben bin. Auch wenn ich mich mit diesem Leben schon noch ziemlich schwer tue, irgendwie.
Und jetzt, auf der anderen Seite – ist das nicht ein unglaubliches Zeichen? Ein Zeichen, dass Paul mich will, dass er mich nett findet, dass er sich vorstellen kann, was ich mir auch vorstellen kann. Auf der noch anderen Seite – vielleicht will er einfach nur Portugal sehen und ich mache mir hier tausend Gedanken, dabei geht es nur um Sightseeing und eine günstige Gelegenheit. So nach dem Motto, du ich kenn da so ´ne Frau, die findet mich ganz nett, da kann ich wohnen, die hat bestimmt ein Auto und fährt mich rum und zeigt mir Portugal. Und die Sprache spricht sie auch, das ist doch klasse, denn nur so lernt man ein Land richtig kennen, indem man jemanden besucht, der da wohnt.
Mein Blick fällt auf Agathe, die hier nach wie vor auf der Fensterbank steht und mir täglich bei der Arbeit zusieht. Ich drücke auf das Knöpfchen am Po. Ich mache den Mund auf um Agathe zu fragen und klappe ihn wieder zu. Ich frage mich als Erstes, warum diese blöde Orakelpuppe nur antwortet, wenn man sie so laut fragt. Ich finde, die sollten Orakelpuppen produzieren, die man flüsternd befragen kann. Dieses laute Fragen ist doch peinlich, selbst wenn keiner da ist, der einen hören kann. Irgendwie ist es peinlich. Wie heißt es immer so schön? Da kann man zum Mond fliegen, aber es gibt immer noch keine Orakelpuppen, die man nicht anbrüllen muss.
Agathe nickt einmal mit dem Kopf und zeigt mir so, dass sie betriebsbereit ist, um es mal mit den Worten aus der Welt der Leisehäcksler auszudrücken.
„Soll Paul mich besuchen?“, frage ich.
Agathe nickt.
„Aber ist das eine gute Idee?“, frage ich weiter.
Agathe schüttelt den Kopf.
Ich möchte doch zu gerne mal wissen, nach welchem Prinzip diese Puppen funktionieren. Aber ich traue mich nicht, Agathe aufzumachen. Denn womöglich ist sie dann kaputt, hinterher, und ich habe gar keine Agathe mehr.
„Ist Paul in mich verliebt?“, frage ich.
Agathe sagt nichts. Sie nickt nicht und sie schüttelt auch nicht den Kopf. Sie steht einfach da und sieht mich weiter an.
Dafür steht jetzt Dona Ermelinda im Raum und schüttelt den Kopf. Glücklicherweise nicht als Antwort auf meine Frage, aber doch vielleicht ein bisschen als Antwort auf mein Leben.
„Ich habe Ihnen eine Suppe gebracht“, sagt Dona Ermelinda. „Sie müssen vernünftig essen, ich bin mir nicht sicher, ob Sie wirklich vernünftig essen.“
„Natürlich esse ich vernünftig“, sage ich.
Dona Ermelinda sieht noch mal auf Agathe. Dann auf mich. Dann schüttelt sie noch mal den Kopf.
„Danke für die Suppe“, sage ich.
„Ist schon gut“, sagt Dona Ermelinda. „Ich habe sowieso einen großen Topf gekocht, weil ja meine Enkel heute kommen, nicht die aus Viseu, die anderen, die, die eigentlich in Frankreich wohnen, aber im Moment sind sie in Águeda und besuchen ihre Tante.“
„Aha“, sage ich.
„Mal was von Sr. Miguel gehört?“, fragt sie jetzt
„Äh nein, noch nicht“, sage ich.
Dafür habe ich was von Paul gehört. Aber das erzähle ich ihr nicht, denn von Paul weiß sie nichts, und das ist auch gut so.
„Und die Dona Clara?“, fragt sie.
„Clara gehts ausgezeichnet“, sage ich. „Wir treffen uns nachher im Eispalast.“
„Das ist gut“, sagt Dona Ermelinda. „Ist nämlich nicht gut, hier die ganze Zeit so alleine zu sitzen. Sie müssen einfach auch mal unter Leute gehen, dieses Alleinesein immer, das ist nicht gut.“
Sie vermeidet es bei diesem Satz Agathe direkt anzusehen, aber als sie aus dem Zimmer geht, wirft sie ihr doch noch einen Blick zu.
*
Mit Clara im Eispalast ist es klasse wie immer. Heute ist ein Wahnsinns-Panoramablick. Man sieht weit über die Serra de Estrela und die Ortschaften funkeln als helle Punkte in der Sonne. Vielleicht sollte ich doch mal wieder in die Serra de Estrela fahren, das wäre ein schöner Ausflug, auch mit Paul und für Paul, aber ich weiß immer noch nicht, ob Paul überhaupt kommen soll, denn das ist im Grunde gar keine gute Idee. Clara und ich essen erst einen Salat und gehen dann zu fnac und wühlen ein bisschen in den Büchern und den Filmen. Dann gehen wir ins Kino, jede mit einer Tüte Popcorn und sehen „Alice im Wunderland“. Da sieht man mal wieder, wie jung wir doch geblieben sind. Trotz unserer innerlichen und äußerlichen Verletzungen. Wir haben das ganze Kino für uns, und wenn wir jetzt für eine Frauenbeziehung wären, könnten wir hier ganz ungestört knutschen, aber ist ja nicht. Wider Erwarten essen wir unser ganzes Popcorn leer. Und dann muss Clara nach Hause und ich auch.
„Stell dir vor“, sagt Clara. „Hans-Dieter ist wieder hier. Aber ohne die Russin.“
„Und wieso das?“, frage ich.
„Weiß nicht“, sagt Clara. „Die ist wohl in Moskau geblieben.“
Ist ja auch merkwürdig irgendwie. Tut mir der Hans-Dieter direkt leid. Vielleicht ist es doch manchmal besser, einfach ein Feigling zu sein.
„Mal was vom Papa vom Prinzesschen gehört?“, fragt Clara.
„Er will mich besuchen“, sage ich.
„Was?“, sagt Clara. „Und das erzählst du mir erst jetzt? Das heißt, du hast es mir ja nicht mal erzählt, ich musste es dir aus der Nase ziehen. Das ist unglaublich.“
„Ich habe noch nicht zugesagt“, sage ich.
„Und warum nicht?“, fragt Clara.
„Wegen allem“, sage ich.
Clara schüttelt den Kopf jetzt genauso vehement wie Dona Ermelinda und Agathe und dann fahre ich nach Hause.
Kaum bin ich zu Hause, skypt Clara mich an.
Videocall wichtig jetzt sofort haste zeit?
Ich skype nicht so gerne mit Clara mit Bild, denn Clara ist so hippelig, die hippelt in meinem Bildschirm hin und her, dass mir ganz schwindlig wird. Aber gut, wichtig ist wichtig und so, wie es aussieht, ist Clara im Moment sowieso die wichtigste Person in meinem Leben. Also rufe ich sie an.
Im Grunde haben wir uns jetzt schon so an das Bildschirmtelefonieren gewöhnt, dass wir nicht mal mehr drüber staunen, und das mir, die ich doch sogar mal fünf Jahr ohne Strom und Telefon gewohnt habe. Ich kann mich noch an die Erfindung des Faxens erinnern. Und auch daran, wie es wieder aus der Mode kam. Und da ist auch schon Claras Gesicht.
„Hi“, sage ich.
Clara hippelt ein bisschen hin und her und ihr Kopf wutscht über meinen Bildschirm. Dann sitzt sie plötzlich still.
„Ich weiß“, sagt Clara. „Nicht hippeln.“
„Was gibt´s“, sage ich. „Was ist denn so wichtig.“
„Ich möchte dir was vorlesen“, sagt Clara. „Zwei Texte. Zum Vergleich. Und du sagst mir, welcher dir besser gefällt.“
„Worum geht´s?“, frage ich.
„Liebe mit Hindernissen“, sagt Clara. „Immer noch.“
„Okay schieß los“, sage ich und Clara fängt an zu lesen.
„Linda saß auf der Bank im Park und spürte den leichten Wind, der die Blätter im Park rascheln ließ und das Laub über den Weg trieb. Sie schloss die Augen. Gestern war etwas geschehen, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Daniel war wieder in ihr Leben getreten. Linda fühlte, wie ihr Herz schlug. Sie öffnete die Augen und blickte wieder auf den Brief, den Daniel ihr geschickt hatte. Er bat darum, sie wiedersehen zu dürfen. Linda seufzte. Sie würde auf den Brief nicht antworten. Sie wusste tief in ihrem Inneren, dass Daniel sie wieder verletzen würde. Und sie wusste sofort, wie ihre Antwort lauten würde. Ihre Antwort lautete nein.“
„Und jetzt Nummer zwei“, sage Clara. „Bist du bereit?“
„Aber hallo“, sage ich. „Lass hören.“
„Linda saß auf der Bank im Park und spürte den leichten Wind, der die Blätter im Park rascheln ließ und das Laub über den Weg trieb. Sie schloss die Augen. Gestern war etwas geschehen, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Daniel war wieder in ihr Leben getreten. Linda fühlte, wie ihr Herz schlug. Sie öffnete die Augen und blickte wieder auf den Brief, den Daniel ihr geschickt hatte. Er bat darum, sie wiedersehen zu dürfen. Linda seufzte. Das war das Zeichen, auf das sie so lange gewartet hatte. Endlich. Sie wusste, dass Daniel sie wieder verletzen würde, denn ein Leben und eine Liebe ohne Verletzungen gab es nicht. Und sie wusste sofort, wie ihre Antwort lauten würde. Ihre Antwort lautete ja, ja ich will, ja.“
„Das ist nicht witzig“, sage ich.
„Ich scherze auch nicht“, sagt Clara und hippelt ein bisschen auf dem Schaukelstuhl, so dass mir ganz schwindelig wird.
„Hast du Paul geantwortet?“
„Nein“, sage ich.
„Nein als Antwort“, sagt Clara. „Oder nicht geantwortet.“
„Noch nicht geantwortet“, sage ich. „Und die Antwort lautet nein.“
„Und warum?“, sagt Clara.
„Weil es nur kompliziert werden würde, weil es nichts werden kann, weil Paul kein Mann für mich ist, weil wie soll das alles werden“, sage ich.
„Cuando el amor no es locura, no es amor“, sagt Clara. „Wenn die Liebe keine Verrücktheit ist, ist es keine Liebe“, und verschwindet vom Bildschirm.
Und da gebe ich mir doch tatsächlich einen Ruck und schicke Paul eine Nachricht. Auf Facebook. So unverbindlich wie möglich, denn ich will mir ja nichts vergeben, nicht wahr.
Hi Paul, finde ich gut deine Idee mit Portugal. Wenn schon Europa, dann auch richtig. Beijinhos Anna
Und keine vierundzwanzig Stunden später ist eine Antwort von Paul da.
Hi Anna. Flug gebucht. Komme am 5. Mai, Ankunft 18.45 Lissabon. Freu mich schon. Big hugs Paul