Mai
Ich räume wie eine Verrückte das Haus auf. Das Ganze artet geradezu in einen Frühjahrsputz aus. Ich topfe sogar die Pflanzen um, das ist sowieso schon lange fällig, die Erde von den kleinen Kakteen ist schon ganz trocken und jetzt ist doch eine gute Gelegenheit. Clara kommt am Nachmittag, um mir mit den großen Töpfen zu helfen und die Banane und das Monster-Buntblatt umzutopfen. Sie sieht sich prüfend um, lässt ihren Blick durch das wunderbar aufgeräumte Wohnzimmer schweifen und über die frischgeputzten Fenster und die gewaschenen Gardinen.
„Ich finde ja“, sagt Clara schließlich. „Ich finde ja, du solltest auch noch das Haus streichen. Am besten gleich innen und außen.“
Aber sie grinst und sie meint es nicht böse und ich lasse das mal kommentarlos durchgehen.
Am nächsten Nachmittag gehe ich zum Friseur und lasse mir die Haare etwas kürzer schneiden, das sieht nämlich peppiger aus. Allerdings kriege ich zunehmend Skrupel, was für ein Unsinn im Grunde, dass Paul mich besucht, das macht doch keinen Sinn, das macht doch überhaupt keinen Sinn, wie konnte ich mich auf so einen Unsinn einlassen. Und das in meinem Alter. Was will ich denn mit einem elf Jahre jüngeren Mann. Ich will nichts mit einem jüngeren Mann. Ich will nichts von einem jüngeren Mann. Ich will einen Mann in meinem Alter. Mindestens. Der Mann, an dessen Schulter ich mich anlehnen will, soll älter sein (aber natürlich nicht zu alt!) und ich will zu ihm aufsehen können.
Aber ich trage meine Skrupel mit mir selber aus, denn ich habe es aufgegeben, mit Clara über das Thema zu reden. Ich kann dieses ‚Cuando el amor no es locura, no es amor` wirklich nicht mehr hören. Das muss sie sich ja einreden, sie mit ihrem verheirateten Liebhaber, von dem sie immer noch denkt, er lässt sich irgendwann von seiner Frau scheiden. Denn irgendwie muss sie das ja rechtfertigen, nicht wahr. Ich fege die Veranda und mähe den Rasen. Ich räume die Sitzplätze draußen auf. Ich wische den Kacheltisch gründlich mit Seifenlauge ab, das ist jetzt nach dem Winter sowieso gut. Und die Stühle gleich dazu. Ich müsste eigentlich auch ein neues Dach für den Platz nähen, aber das werde ich wohl nicht mehr schaffen.
Ich treffe mich mit Clara im Eispalast und wir gehen bei H&M shoppen. Ich überprüfe jedes Kleidungsstück darauf, wie alt es wirkt. Das ist doch krank. Diese ganze Paul-Aktion ist völlig daneben und ich bereue jetzt, dass ich mich überhaupt darauf eingelassen habe. Aber auf der anderen Seite, ich freue mich auch so, ich freue mich so drauf, ich freue mich darauf, wie ich mich schon lange nicht mehr auf irgendwas gefreut habe. Das merkt auch Dona Ermelinda, aber sie versucht nicht mich auszufragen, denn sie denkt bestimmt, es hat mit Miguel Moreira zu tun. Und da werde ich jetzt auch nichts durcheinanderbringen und was anderes erzählen, nicht wahr.
Und dann ist es so weit. Morgen kommt Paul. Jetzt stellt sich plötzlich eine Frage, die ich bisher völlig vergessen habe. Nämlich die Frage: vorsorgen oder nicht vorsorgen. Ich meine: Was da haben oder lieber nichts da haben. Und woher was kriegen, wenn ich was da haben will? Na die Apotheken hier in der Gegend scheiden doch wohl aus, da kann ich es ja gleich Dona Ermelinda und dem ganzen Dorf erzählen. Also Viseu. Wieder hin zum Eispalast. Dieses Mal nicht zu H&M, sondern in die Apotheke. Und damit ist wirklich alles komplett. Paul kann kommen.
Am Abend ist eine Nachricht von Paul in meiner Facebook-Fangbox. Das wundert mich, was kann er jetzt noch wollen, und überhaupt, wieso ist der noch online, müsste der nicht längst schon im Flugzeug sitzen und über die Hudson Bay fliegen, wenn er in weniger als vierundzwanzig Stunden hier sein will? Ich gehe zu der Nachricht. Ich lese sie dreimal. Ich denke, ich habe sie verstanden, ich meine, ich verstehe, was drin steht, was so richtig passiert, verstehe ich nicht.
Hi Anna. Kann leider nicht kommen, die Prinzessin ist krank. Vlg Paul
Zehn Worte und ein Kürzel und meine Welt bricht zusammen. Das spricht übrigens auch gegen junge Männer, die haben womöglich noch kleine Kinder, um die sie sich kümmern müssen, so wie Paul sich um das Prinzesschen kümmern muss, ich fasse es nicht, wieso ist das Kind nicht bei der Mutter, wo es doch sonst auch immer ist. Oder doch jedenfalls meistens. Und wieso sagt Paul erst jetzt ab und wieso in so kurzen Worten. Aber im Grunde weiß ich es, nicht wahr, ich weiß es, weil hier trifft die gleiche Regel wie beim Telefonieren zu, und die Regel heißt: Wenn ein Mann dich nicht besucht, dann besucht er dich nicht, weil er dich nicht besuchen will.
Ich lege mich einfach ins Bett. Ich putze nicht die Zähne und ich ziehe mich nicht aus. Ich befrage nicht Agathe, denn was soll Agathe dazu sagen. Ich krieche unter meine Decke und bleibe einfach liegen. Ich schlafe und döse und leide. Und als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich wenigstens einen Plan.
Ich brauche Klarheit, ich möchte wissen, was da los ist, was passiert ist, was mit Paul ist und was mit dem Prinzesschen, und warum die Göre nicht bei ihrer Mutter ist, und ich beschließe, das vor Ort zu recherchieren, indem ich einen Spion hinschicke. Vielmehr eine Spionin. Nicki. Von der 18. Straße in Dunbar zu Pauls Appartementblock in der zweiten Straße in Kitsilano ist es nicht weit, es ist Mai, da kann Nicki auf dem Weg zu ihrer Sprachenschule vorbeiradeln, das ist kaum ein Umweg.
Ich skype Nicki an und bitte sie, doch einfach mal bei Paul vorbeizuschauen, und zu gucken, was da los ist und rauszukriegen, weil – äh – also Paul hatte mal gesagt, dass er eventuell – also äh – nach Portugal, und eigentlich wollte er und jetzt ist er aber nicht und, ist jetzt nicht sooo wichtig, aber vielleicht könnte Nicki doch mal, also einfach mal – äh – naja vorbeifahren, wenn sie in der Gegend ist und klingeln und gucken, ob alles in Ordnung ist bei Paul. Ich gebe Nicki Pauls Adresse und Nicki sagt, sie will sich kümmern.
Wenn die globale Kontrolle nicht mehr online funktioniert, muss es eben anders gehen, nicht wahr.
Und dann fange ich einfach wieder mein normales Leben an. Ich reiße mich zusammen und am Riemen. Ich stehe auf und werfe meine Sachen in die Waschmaschine. Wenigstens ist das Haus sauber, weil ich dieses Jahr ja meinen Frühjahrsputz gemacht habe, nicht wahr. Das habe ich im Grunde Paul zu verdanken. Aber meine Dankbarkeit hält sich im Moment ziemlich in Grenzen. Ich setze mich an meinen Schreibtisch. Ich stelle Agathe keine Fragen, aber ich gehe schon noch kurz bei Facebook vorbei. Keine Nachrichten.
Ich nehme den Stapel Liebesbriefe in die Hand und sortiere sie nach Datum und fange an mit dem Übersetzen. Michaela aus München ist einem Mann namens Francisco aus Mangualde verfallen. Aber wie. Aber hallo. Sie versucht alles, um ihn zurückzubekommen. Sie wäre bereit alles dafür zu tun. Und dieses Alles schildert sie in bilderreichen Worten, damit dieser Francisco auch wirklich weiß, wie sie´s meint. Die Bilder sind so drastisch und so phantastisch, dass ich doch glatt immer und immer wieder zum Wörterbuch greifen muss, viel öfter als bei diesem Leisehäcksler, und schon beim Leisehäcksler dachte ich, das ist eine fremde Welt, aber diese Welt hier ist noch viel fremder, und das Wörterbuch ist da auch keine sehr große Hilfe.
Anhand der Daten kann ich ziemlich genau den Ablauf dieser Liebesgeschichte verfolgen. Michaela hat Francisco kennengelernt, als er in München auf einem Mediziner-Kongress war. Auf einem Kardiologen-Kongress. Francisco ist also offensichtlich Kardiologe. Da hat er tagsüber auf seinem Kongress gelernt, wie man Herzen repariert und dann abends in seiner Freizeit Michaelas Herz gebrochen. Und dann ist er wieder ab nach Mangualde. Zu seiner Frau. Michaela ist also genauso ein Globalisierungsopfer wie ich gewissermaßen, denn jetzt brechen wir unsere Herzen weltweit.
Ich finde, Kardiologen dürften eigentlich gar keine Herzen brechen, das sollte gegen ihre Berufsehre gehen. Eigentlich sollte keiner Herzen brechen. Auch nicht Klempner oder Postboten oder Übersetzer. Und schon sind meine Gedanken wieder bei Paul. Paul, der mir keine Nachrichten in meine Facebook-Fangbox schickt und sich nicht über Skype meldet, obwohl er ziemlich oft online ist, denn das kann ich ja hier sehen. Und Nicki scheint da auch nichts rauszukriegen, denn sonst hätte sie sich doch gemeldet, nicht wahr. Meine Hände sind auf der Tastatur, und mein Körper ist hier in Monsanto, aber mein Herz ist in Vancouver und meine Seele leidet. Verdammt noch mal, Nicki, warum meldest du dich nicht? Nicki ist nicht mal online.
*
Skypen braucht Geduld, hat Paul mir mal geschrieben, ganz besonders mit den verschiedenen Zeitzonen, aber nach drei Tagen ist meine Geduld dann doch erschöpft. Und als ich sehe, dass Nicki online ist, skype ich sie an. Und damit sie auch antwortet, und nicht meine Meldung einfach virtuell in der Luft hängen lässt, mache ich einen Videocall. Und siehe da – sie antwortet sofort.
Ich sitze gespannt vor dem Bildschirm, da erscheint das Gesicht vom Prinzesschen. Ich habe sie noch nie getroffen, aber ich erkenne sie sofort. Von den Fotos ins Pauls Wohnung. Ich frage mich, was die Prinzessin in Nickis Wohnung macht, denn da gehört sie doch überhaupt nicht hin, nicht wahr. Ich brauche einen Moment, bis mir der bürgerliche Name vom Prinzesschen einfällt.
„Hallo Lena“, sage ich.
„Halloo?“, sagt Lena.
„Ich würde gerne die Nicki sprechen“, sage ich.
„Die ist mit Paul einkaufen“, sagt Lena.
„Und da lassen die dich ganz alleine?“, frage ich.
„Ich bin fast vierzehn“, sagt Lena. Ja, in neun Monaten, soviel ich weiß, aber gut.
„Ja, aber du bist doch krank“, sage ich.
„Nee, bin ich nicht“, sagt Lena.
„Also geht´s dir wieder besser“, sage ich.
Und da macht Lena eins von diesen Gesichtern, wie es in der Tat nur dreizehnjährige Mädchen so richtig können, diese Mischung aus: Diese Erwachsenen sind manchmal sooo doooof, kombiniert mit einem gekonnten Augenverdrehen. Und da wird mir klar: Das Prinzesschen war überhaupt nicht krank und Paul hat mich angelogen.
In dem Moment geht hinten die Tür auf und Paul und Nicki kommen rein. Sie kommen ganz offensichtlich vom Einkaufen, sie tragen diese großen gut gefüllten Papiertüten, die man hier nur aus den Filmen kennt und die sie da drüben wirklich benutzen, und sie sind offensichtlich ziemlich verliebt, denn gerade gibt Paul Nicki einen gutgelaunten Kuss.
„Du sollst doch nicht den ganzen Tag chatten“, sagt Paul zur Prinzessin.
„Ist nicht für mich“, sagt Lena. „Ist für Nicki.“
Nicki kommt näher und jetzt sieht sie mich. Und mein fassungsloses Gesicht und ich höre, wie sie sagt, ach du Scheiße.
„Hör mal, Anna“, sagt Nicki und stellt die Papiertüte neben dem Laptop ab und ihren Kaffeebecher daneben. Ganz in die Nähe der Tastatur und ich hoffe, dass dieser Kaffeebecher umfällt, jetzt sofort und in die Tastatur, denn das ist doch das Mindeste, was Nicki verdient hat.
„Okay“, sagt Nicki. „Es ist, wonach es aussieht, und ich möchte es auch irgendwie lieber nicht erklären.“
Ich sage nichts. Ich versuche den Kaffeebecher zu hypnotisieren, er soll umfallen, umfallen, umfallen.
„Hör mal, Anna“, sagt Nicki jetzt noch mal und jetzt kommt Paul an den Bildschirm und sieht mich und sagt: ach du Scheiße.
„Hör mal, Anna“, sagt jetzt Paul und da reicht´s mir aber und ich schalte meinen Laptop ab. Das war´s.
*
Am nächsten Morgen schalte ich meinen Laptop wieder an, aber das Internet aus. Ich will keinen hören und keinen sehen. Ich fahre nicht ins Café. Ich bleibe einfach zu Hause. Der Riesenvorteil: Ich komme supergut mit meinen Übersetzungen voran. Die Gebrauchsanleitung für den Leisehäcksler ist fertig und Michaelas Liebesbriefe sind via Sprachenschule auf dem Weg zu Franciscos Frau. Vermutlich wird Francisco eine Menge Ärger bekommen, aber ist nicht meine Schuld, ich war nur ein Handlanger des Schicksals, sozusagen. Ich frage mich, wer die Handlanger meines Schicksals sind, das ist doch unglaublich. Ich glaube, ich gebe auf. Ab jetzt wird mein Leben nur noch aus Arbeit bestehen, aus Arbeit und Arbeit und Arbeit. Ich nehme die nächste Übersetzung vom Stapel. Ein Buch. Die kanadischen Tagebücher von Else Seel. Eine literarische Übersetzung, eine schöne Abwechslung zu Leisehäcksler und Liebesbriefen.
Am Nachmittag fängt das Telefon an zu klingeln. Ich sehe auf den Display. Es ist Nicki aus Vancouver. Na, die kann mich mal. Ich weiß gar nicht, was sie von mir will - und will es auch gar nicht wissen und ich will da auch keine Erklärungen hören. Ich nehme nicht ab, aber Nicki gibt nicht auf. Das Telefon klingelt und klingelt und mir wird irgendwann klar: Auch dafür gibt es eine Lösung, und ich ziehe den Stecker raus. Denn soviel habe ich mittlerweile gelernt aus meinen Gebrauchsanleitungen, die ich hier ständig übersetze, sozusagen als eine Art Sekundärgewinn neben meinem Honorar: Geräte, die nicht ordnungsgemäß angeschlossen sind, können nicht funktionieren. Das ist nämlich das Erste, was man immer überprüfen soll, ob das Gerät angeschlossen ist. Und wenn es nicht angeschlossen ist, ist es nicht betriebsbereit. So einfach ist das.
Ich lese das Buch von Else Seel in wunderbarer Stille. Keine Unterbrechungen durch Telefon oder E-Mails, kein Skype, kein Kontrollieren der Facebook-Fangbox. Es ist fast so still wie in Else Seels Hütte oben im Norden Britisch Kolumbiens vor achtzig Jahren. Diese Frau hat diesen Mann geheiratet, ohne ihn zu kennen. Hatte den Kontakt nur durch Briefe. Und dann gleich geheiratet. Und sie leben da in dieser Wildnis und die Ehe geht anscheinend gut. Irgendwann schreibt Else Seel: Mein lieber Mann wird mir lieber und lieber. Vielleicht kommt es gar nicht darauf an, wen wir heiraten, sondern was wir daraus machen. Es würde mich ja schon interessieren, wieso sie diesen Mann geheiratet hat. Wie hat sie ihn bloß kennengelernt? Eine Journalistin aus Berlin heiratet einen Trapper bei Bella Coola. Das ist doch merkwürdig, da muss doch was dahinterstecken, das Buch verrät es nicht, ich könnte es natürlich googeln, heutzutage kann man ja alles googeln, aber für Googeln müsste ich ins Internet und dazu müsste ich online gehen. Und online gehen will ich nicht.
Ich bin gerade so richtig schön im Buch drin, in einer Welt der Fallensteller und harten Winter, da klopft es vorne. Ich sehe auf. Es ist Dona Ermelinda, ich gehe an die Tür.
„Geht´s Ihnen gut?“, sagt Dona Ermelinda. „Alles in Ordnung?“
„Aber ja“, lüge ich. „Alles gut.“
„Na dann melden Sie sich doch mal bei Nicki und Paul“, sagt Dona Ermelinda. „Die machen sich nämlich Sorgen.“
Jetzt schlägt´s aber dreizehn. Ich fasse es nicht. Ich kann überhaupt nicht glauben, was ich da höre. Mir fällt sofort der kleine Junge auf You Tube ein, der Junge, der vom Zahnarzt kommt, und ist noch halb betäubt. Und er sitzt da und sagt: Is this real life? Und dann gleich hinterher: Why me? Eine Frage, die wir uns ja alle immer wieder mal stellen. Und ich verstehe jetzt total, wie er sich fühlt, der arme kleine Junge, denn ich fühle mich genauso.
„Aber ...“, sage ich. „Wieso, ich meine, wie ...“
„Sie kennen doch meinen Schwager in Porto“, sagt Dona Ermelinda.
Ich nicke.
„Und der“, sie macht eine Pause und überlegt. „Der hat eine Schwägerin in Kanada, irgendwo im Westen, in dieser Stadt mit V ...“, sagt sie.
„Vancouver?“, sage ich.
„Nein, eine andere“, sagt Dona Ermelinda.
„Victoria?“, frage ich.
„Ja genau, das war´s. Victoria. Und die Tochter von dieser Schwägerin lebt in dieser anderen Stadt.“
„Vancouver“, sage ich.
„Und die hat sich im Urlaub in Mexiko in einen Deutschen verliebt, den will sie im Oktober heiraten.“
Ich nicke wieder. Ich meine, was soll ich sagen. Noch ein Globalisierungsopfer, sozusagen. Außerdem hat´s mir sowieso die Sprache verschlagen, irgendwie.
„In Deutschland. Mit allen deutschen Verwandten. In einer Stadt im Norden irgendwo. Fängt mit H an.“
„Hamburg?“, sage ich.
„Nein“, sagt Dona Ermelinda.
„Hannover?“, sage ich.
„Ja“, sagt Dona Ermelinda. „Das könnte die Stadt sein. Und deswegen lernt sie deutsch. Bei Ihrer Freundin Nicki.“
Nicki ist nicht mehr meine Freundin, finde ich, und wenn sie das Dona Ermelindas Schwager oder Nichte oder wem auch immer erzählt hat, dann war das eine Lüge.
„Aber wie kommt Nicki dazu, mit ihr über mich zu reden?“, sage ich.
„Ach mein Gott“, sagt Dona Ermelinda. „Wie man eben so redet, Sie wissen ja, wie das ist. Jedenfalls macht Nicki sich Sorgen. Und Paul auch. Und die Frage ist, melden Sie sich bei ihr oder soll ich meinen Schwager in Porto anrufen?“
„Nein, nicht nötig“, sage ich.
Soweit kommt´s noch. Dass hier fünf oder wieviel Leute über zwei Kontinente telefonieren, nur weil Paul mich nicht besucht. Das werde ich selber regeln. Und zwar gleich.
“Ich melde mich bei Nicki“, sage ich.
„Noch heute?“, sagt Dona Ermelinda.
„Jetzt sofort“, sage ich.
Dona Ermelinda geht und ich gehe in mein Arbeitszimmer. Ich denke an den kleinen Jungen bei You Tube. Ja, so fühlt sich das an. Ich kann seine Fragen völlig verstehen. Ich frage mich genau das Gleiche. Is this real life? Und vor allen Dingen: Why me?
„Passiert das wirklich?“, frage ich Agathe.
Agathe nickt.
„Warum ich?“, sage ich.
Agathe schweigt, was soll sie auch dazu sagen.
Ich stelle mein Modem an und gehe zu Skype. Und sofort purzeln diese ganzen kleinen orangen Punkte auf meinen Bildschirm. Die ganzen aufgestauten Nachrichten der letzten Tage. Geradezu wie ein kleiner oranger Kometenhagel, ein kosmischer Sternenhagel aus dem virtuellen Postlager.
Paul schreibt fünfmal, ich soll mich melden und es tut ihm leid und er konnte ja nicht wissen, er hatte ja keine Ahnung, und ich möchte mich bitte bei ihm melden.
Nicki schreibt siebenmal, ich soll mich melden und es tut ihr leid und sie konnte ja nicht wissen, und sie hatte ja keine Ahnung, und ich möchte mich bitte bei ihr melden.
Meine Mutter schreibt ein paar Mal: Bist du da?
Und dann: Nimm doch mal ab. Was ist denn mit diesem Skype los? Habe ich hier einen falschen Knopf gedrückt? Na ja, ist ja auch weit.
Clara schreibt: Rate mal, wer heute mit mir essen geht? Er will mir was Wichtiges sagen. Heute Abend. Beim Essen. Drück mir die Daumen.
Ich schicke an meine Mutter, Nicki und Paul eine nette Nachricht, und zwar mit dem gleichen Inhalt: Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde, aber mein Internet war kaputt. Es geht mir gut, bin in Eile, hab viel zu tun, wir reden demnächst.
Nur an Clara schreibe ich was Anderes: Paul hat mich versetzt. Paul ist nicht gekommen. Paul hat mich angelogen und mit Nicki betrogen. Und Dona Ermelinda hat Spione in Vancouver. Mein interner Schutzleiter ist für eine Zeit ausgefallen. Aber jetzt geht´s wieder, glaube ich.
Clara skypt zurück: El mundo todo es máscara. Todo el año es carneval. Und damit du´s auch verstehst: Die ganze Welt ist eine Maskerade. Das ganze Jahr ist Karneval. Ist nicht von mir, sondern von Mariano José de Larra. Kopf hoch, ich weiß, eines Tages kannst du drüber lachen. Clara.
Bei dieser ganzen Skyperei fällt mein Blick auf mein Skype-Motto und da steht doch in der Tat, was da schon die ganze Zeit stand und was ich in einem munteren Moment da mal reingesetzt habe, in einem Moment voller Hoffnung: Alles, was vorstellbar ist, ist auch möglich.
Ich bin also vermutlich selber schuld an all dem Schlamassel, wenn ich solche Sachen oben neben meinen Namen schreibe, nicht wahr, und damit die Handlanger des Schicksals herausfordere. Clara meint, eines Tages kann ich vielleicht über all das lachen. Tja ich weiß nicht so recht.
Ich lösche mein Herausforderndes: Alles, was vorstellbar ist, ist auch möglich, und schreibe stattdessen: comedy is tragedy plus time.
Das ist aus einem meiner schlauen Bücher und bedeutet so viel wie: Eines Tages kann ich drüber lachen.
*
Und weil ich nicht mehr ständig meine Nachrichten kontrolliere und im Skype rumhänge, komme ich gut voran und schon ist das Buch übersetzt und in trockenen Tüchern, wie es so schön heißt, oder anders ausgedrückt: im angemessenen pdf-Format auf einer CD. Die muss jetzt nur noch an den Verlag in Porto, und ich denke Porto, in Porto wohnt doch Miguel Moreira, den wollte ich doch schon lange mal besuchen und Else Seel ist schließlich mit ihrem Georg sehr glücklich geworden und vielleicht ist das die Lösung. Man entscheidet sich einfach und man versucht es und gibt sich ein bisschen Mühe und dann klappt es auch. Und ehe ich mich versehe, sitze ich im Bus nach Porto.
Miguel holt mich vom Busbahnhof ab und fährt mit mir durch die Stadt und zeigt mir Porto und dann bin ich zum ersten Mal in seiner Wohnung. Es ist eine Wohnung in einem ganz normalen Appartementblock. Es gibt ein Wohnzimmer und sein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und ein Gästezimmer. Die Küche hat einen Balkon und Blick über die Stadt. Und es gibt zwei Bäder. Es ist gemütlich. An den Wänden Bücher, im Regal viele Musik-CDs. Ziemlich viel, was ich kenne und gerne höre, wie K. D. Lang und Nina Simone. Und sehr viel Fado, auch neuer Fado mit Ana Moura und Camané, für den ich schwärme. Er hat Tito Paris und Sara Tavares, Musik von den Kapverdischen Inseln. Und natürlich hat er Cesária Evora komplett.
Wir sind beide ein bisschen verlegen, jetzt so da alleine in der Wohnung, wenn er bei mir ist, ist es einfacher, da wohnt er im Gästehäuschen. Da ist es irgendwie getrennter. Mehr Abstand. Das ist ein anderes Gefühl. Aber hier – so zusammen. Wir überspielen die Verlegenheit mit Höflichkeit und kommen uns nicht zu nahe, und das Ganze fühlt sich schon ein bisschen komisch an. Ich stehe vor seinen Büchern, er hat ziemlich viele Bildbände, viel über Architektur natürlich und einige Kunstbände, auch ausgefallene Sachen und hier sonst unbekannte Künstler wie Tom Thomson. Ich merke: Ich kontrolliere. Aber hallo. Ich checke ab. Ich habe Miguel auf dem Prüfstand. Das ist unfair, irgendwie, finde ich, aber ich kann nicht anders. Er hat ein paar sehr schöne Kunstfotos an den Wänden, aber es gibt nur ein persönliches Foto, ein sehr altes Foto, das Hochzeitsfoto seiner Großeltern.
„Na“, sagt Miguel. „Hab ich bestanden?“
Und ich weiß gar nicht, was ich antworten soll.
Wir gehen an dem Abend nicht essen, sondern sind bei Freunden eingeladen. Tiago und Vanessa, er Architekt bei der Stadt und sie Dozentin an der Uni von Porto, Tiago ist supernett, er und Miguel haben mal zusammen gearbeitet, und Vanessa sie ist eine klasse Frau und wir verstehen uns sofort. Nach dem Abendessen gehen wir runter ins Café.
Es ist laut und voll, wir trinken unseren Espresso und genießen den Lärm und den Trubel und ich merke plötzlich: Das alles hat in meinem Leben die letzten zwei Jahre gefehlt, das hat es einfach überhaupt nicht mehr gegeben. Es war ein Leben, in dem man nicht mehr planen konnte, ein Leben auf Abruf, ein Leben, wo man jederzeit bereit sein musste für die Notaufnahme. Ich genieße die Unterhaltung, heute ist alles auf Portugiesisch, natürlich, wegen Tiago und Vanessa. Sonst sprechen Miguel und ich eher deutsch. Meistens jedenfalls. Danach gehen wir zu ihm nach Hause und ich denke, was jetzt, was passiert jetzt.
Aber dann ist es irgendwie ganz einfach. Miguel zeigt mir das Gästezimmer und das Bad und er sagt, wenn ich noch was brauche, soll ich es sagen. Und morgen gehen wir in die Stadt, wenn ich dazu Lust habe.
Ich habe Mühe zu schlafen. Ich denke: Miguel ist im Nebenzimmer, also in seinem Schlafzimmer. Ob ich da jetzt einfach rübergehen soll?
Und vielleicht liegt er in seinem Zimmer und denkt das Gleiche? Ich weiß nicht ein noch aus, und irgendwie ist das Leben schwierig und die Liebe anscheinend noch viel schwieriger, als ich dachte. Ich habe das alles vergessen in diesen langen Ehejahren, wo man es hinnimmt, dass da jemand ist, ständig ist, und manchmal ist man dankbar und manchmal ist man genervt. Aber im Großen und Ganzen denkt man einfach nicht drüber nach.
*
Am nächsten Morgen frühstücken wir in einem Café in Miguels Straße. Wie fast alle Portugiesen frühstückt Miguel nicht richtig. Ein Milchkaffee, ein trockener Kuchen, das ist es schon. Manchmal noch ein Glas Orangensaft. Nach dem Frühstück gehen wir los und es ist ein tolles Gefühl mit einem Architekten durch die Stadt zu gehen, er kennt die Stadt wie seine Westentasche und macht mich auf Kleinigkeiten aufmerksam, die mir sonst nie auffallen würden, da würde ich glatt dran vorbeigehen. Ich bin überhaupt noch nie so richtig in der Altstadt von Porto gewesen. Miguel zeigt mir den alten Bahnhof mit den riesigen Kachelbildern an den Wänden. Blaue Kacheln mit Schlachtengetümmel auf einem Bild und Ochsenkarren und Getreideernte auf einem anderen. Ein Bahnhof wie ein Museum und noch in Betrieb. Von hier aus kann man nach Braga und Guimarães fahren, nach Aveiro und nach Ovar.
Dann fahren wir mit der Zahnradbahn nach unten an den Douro. Es geht steil abwärts wie bei einer Achterbahn, aber zum Glück oder vielleicht auch leider ist die Gondel waagerecht. Wir laufen ein Stück am Cais da Ribeira entlang und trinken dann in einem der Restaurants Kaffee. Wir genießen den Ausblick auf den Fluss und kartenlesende Touristen. Dann geht es weiter durch die Stadt, durch kleine Gassen und vorbei an alten Häusern mit Wäsche auf dem Balkon. Miguel zeigt mir die Buchhandlung Lello, es heißt, es sei die drittschönste Buchhandlung der Welt und ich frage, welche Buchhandlungen sind da bloß auf Platz eins und zwei? Welche Buchhandlung soll das denn toppen? Diese holzgeschnitzten Decken, die verzierten Säulen, das riesige Buntglasdach, einfach die ganze wunderbare Atmosphäre einer so alten und so schönen Buchhandlung. Miguel sagt, den ersten Platz hat eine Buchhandlung in einer alten Kirche in Maastricht und den zweiten Platz eine Buchhandlung in Buenos Aires, in einem alten Theater. Mag sein, aber für mich ist jetzt Lello die schönste Buchhandlung der Welt, schon weil ich ja die anderen gar nicht kenne.
Wir schlendern über den Kunsthandwerksmarkt in der Rua das Carmelitas. Es gibt Bilderrahmen, die mit alten Comic-Heften beklebt sind und Broschen aus Stoff, es gibt handgenähte Taschen und Windspiele aus Bambus. An einem Stand gibt es für zwei Euro ein kleines Heft über die Kunst des Kartenlegens: A sorte pelas cartas. Ein ganz einfacher Druck, vom Aussehen her aus den sechziger Jahren und ich bin natürlich in Versuchung das Heft zu kaufen, aber erstens habe ich ja schon Agathe und zweitens steht Miguel direkt neben mir. Und was soll er da von mir denken. Also lieber nicht. Am Ende der Straße steht ein Puppenspieler. Aus dem Kassettenrecorder kommt Geigenmusik. Die Marionette bewegt sich in einer kleinen Bühne und spielt auf der Geige.
Mittags essen wir in einem kleinen Restaurant und abends gehen wir zum Fado.
Und weil dieser Fado nur von Herzschmerz und Sehnsucht handelt, und weil diese Guitarras lange verstummte Saiten in mir zum Klingen gebracht haben, und weil Miguel so nett und so nah ist und weil Else Seel mit ihrem Georg so glücklich geworden ist und weil ich schon so lange alleine bin und weil Dona Ermelinda im Grunde Recht hat und man sich wirklich irgendwann wieder nach einer Schulter zum Anlehnen sehnt, stehe ich doch plötzlich mitten in der Nacht vor Miguels Schlafzimmertür, statt brav in meinem Gästezimmer zu schlafen. Ich öffne die Tür und sehe Miguel im Bett liegen. Ich gehe zum Bett. Miguel schläft auch noch nicht. Er sieht mich an.
„Irgendwas nicht in Ordnung?“, sagt er. „Brauchst du was? Bist du krank?“
Das ist nicht gerade die romantische Eröffnung, die mir das jetzt hier irgendwie leicht macht. Aber ich nehme nochmal meinen ganzen Mut zusammen.
„Ich würde gerne“, sage ich. „Also ich – also ich würde sehr gerne mit dir schlafen.“
Jetzt ist es raus.
„Ich würde auch sehr gerne mit dir schlafen“, sagt Miguel und mein Herz macht einen Sprung. Jetzt ist es so weit.
„Aber es geht nicht“, sagt Miguel.
Es geht nicht, es geht nicht, was passiert hier? Ich stehe sprachlos vor Miguels Bett. Was soll das denn heißen? Ich muss raus hier. Ich drehe mich um und will das Zimmer verlassen, da sagt Miguel: Anna komm zurück, bitte, und er schlägt die Bettdecke auf und rückt ein Stückchen zur Seite und ich drehe mich wieder zu ihm und lege mich in sein Bett.
„Ich würde auch sehr gerne mit dir schlafen“, sagt Miguel. „Aber ich mag dich unglaublich gerne, das musst du doch gemerkt haben.“
Ich liege im Bett und spüre seine Wärme und sage nichts, denn manchmal bewährt sich das, einfach nichts sagen. Habe ich das richtig verstanden? Er schläft nicht mit mir, weil er mich gerne mag und wenn er mich nicht mögen würde, würde er jetzt mit mir schlafen?
„Wenn wir zusammen schlafen, dann möchte ich, dass wir auch zusammen sind. Richtig zusammen. Ich möchte nicht einfach so mit dir schlafen und das war´s, dazu bist du mir zu wichtig“, sagt Miguel.
Das ist ja hier fast wie in einem von Claras Kitschromanen. Und nun? Nun liege ich hier. Das kann doch nicht sein. Vielleicht ist es einfach eine gut getarnte Abfuhr, eines von diesen: Wir müssen uns trennen, du bist zu gut für mich. Aber irgendwie klang es eher nach dem Gegenteil. Was war denn mit diesen anderen Frauen, er kann mir doch nicht erzählen, dass das jedes Mal was total Ernstes war.
„Was war denn mit den anderen Frauen“, frage ich. „Was das jedes Mal was Ernstes?“
„Das war was Anderes“, sagt Miguel.
„Okay“, sage ich. „Und was war anders?“
Immerhin liege ich jetzt hier schon in seinem Bett. Das kann ja vielleicht doch noch was werden. Wir liegen hier und reden und kommen uns näher und dann ...
„Isabel war verheiratet“, sagt Miguel. „Das war für uns beide einfach nur eine Affäre und eines Tages ist sie zu ihrem Mann zurückgegangen.“
„Und Maria da Luz?“, frage ich
„Mit Maria da Luz war´s toll”, sagt Miguel. „Aber du kennst die Maria da Luz, die wird sich nie binden. Das war uns beiden von Anfang an klar und wir hatten eine gute Zeit.“
„Und Mónica?“, frage ich.
„Mónica war meine große Liebe, meine Soulmate, wenn du so willst“, sagt Miguel. „Aber Mónica wollte Kinder und ich wollte keine. Ich wollte keine Kinder und ich will keine Kinder. Das ist einfach so.“
„Kein Kompromiss?“, frage ich. „Nicht mal für Mónica?“
„Was für ein Kompromiss?“, sagt Miguel Moreira. „Es gibt keine halben Kinder.“
Ich liege weiter mit Miguel unter einer Decke. Ich liege in seinem Arm und kann nicht verhindern, dass meine Hand ein bisschen nach unten gleitet und da kann er mir erzählen, was er will, er will mit mir schlafen, das ist offensichtlich. Miguel fängt meine Hand wieder ein und holt sie nach oben.
„Lass den Unsinn“, sagt er und küsst meine Hand. „Es sei denn, es ist dir ernst.“
Ich nehme meine Hand wieder zu mir und schlage die Bettdecke zurück. Ich stehe auf und gehe zur Tür. Ich bin auf dem Weg in mein Gästezimmer, wo ich ganz offensichtlich ja auch hingehöre.
„Weißt du Anna“, sagt Miguel jetzt. „Ich glaube, ihr Frauen vergesst das manchmal, aber Männer haben auch Gefühle.“
*
Als ich wieder zu Hause bin, brauche ich eine Weile, um das alles zu verdauen, und dann sage ich mir: Jetzt ist aber Schluss damit. Aber richtig. Aber hallo.
Kein Miguel mehr, kein Paul mehr. Und ein Hans-Dieter sowieso nicht, das ist ja eh klar. Ich werde ein ruhiges zurückgezogenes Leben führen. Das Schicksal hat mich zu einer Witwe gemacht, also werde ich eine würdige Witwe sein. Dona Ermelinda sagt, ich bin unabhängig und habe mein Auto und kann damit überall rumfahren und das werde ich jetzt auch tun. Ich werde Ausflüge machen und alleine in Restaurants essen. Ich werde ab jetzt meinen Weg alleine gehen. Erst dreißig Jahre zusammen und jetzt dreißig Jahre alleine. Das ist doch auch eine Balance, irgendwie. Und ich brauche auch nicht Agathe zu fragen, ob das die richtige Entscheidung ist, denn es ist die richtige Entscheidung. Das weiß ich einfach. Das spüre ich. Schluss jetzt mit diesem Chaos. Ich werde ab jetzt eine Frau sein, die ihre Frau steht, und zwar alleine.
Als Erstes werde ich einen Ausflug machen. Und zwar nach ... ich hole mir die Karte und schließe die Augen. Ich lasse den Finger fallen und der Finger fällt auf Coimbra. Ich werde einen Ausflug nach Coimbra machen. Ich akzeptiere die Wahl des Fingers, obwohl die Wahl schlecht ist. Seit dem Unfall bin ich nie wieder nach Coimbra gefahren, denn auf dem Weg nach Coimbra bin ich verunglückt. Aber das war das alte Leben und das hier ist das neue Leben und damit fange ich jetzt an.
Ich fahre auf der A 25 und alles scheint ganz gut zu gehen. Auf der A 25 bin ich neulich schon mal gefahren, nach Aveiro, als ich die Asche ins Meer gestreut habe. Die Panik hält sich eigentlich in Grenzen. Ich atme tief durch. Gibt es da nicht diese Verhaltenstherapie, wo man den Patienten dem aussetzt, was seine Panik verursacht und dann ist es irgendwann gut? Und bestätigt meine Fahrt auf der A 25 hier jetzt nicht diese Regel? Na bitte. Ich setze mich jetzt den Autobahnen aus bis irgendwann gut ist, bis ich wieder überholen kann und auf der linken Spur fahren und nicht mehr bei jedem Laster zusammenzucke. Ich schaffe die ganze A25 und biege auf die A 1 ein, Richtung Lissabon, Coimbra und habe damit schon die halbe Strecke geschafft. Mehr als die halbe Strecke, sogar. Da ist schon die Ausfahrt nach Cantanhede, bald bin ich in Coimbra. Na bitte.
Und dann geht es plötzlich los. Aber mit voller Wucht. Ich spüre es im Magen, ich spüre es überall. Mir bricht der Schweiß aus und mir wird schlecht. Die Panik hat mich jetzt voll im Griff. Ich bleibe auf der rechten Spur und fahre möglichst langsam. Die ersten Laster überholen mich. Die ersten Autos hupen. Ich bin ein Verkehrshindernis. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich möchte hier runter, bitte, runter, und zwar sofort. Aber da ist keine Ausfahrt. Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen, es regnet, es regnet so wie damals bei dem Unfall, ich werde verunglücken, ich werde die Autobahn nicht mehr lebend verlassen, die Bilder kommen wieder hoch und ich bin schweißgebadet, und mein Magen tut weh, aber Gott sei Dank, da vorne ist eine Raststätte, da vorne ist endlich eine Raststätte und da fahre ich jetzt hin und da werde ich für den Rest meines Lebens bleiben müssen, denn ich werde ja nie wieder runterfahren können, nicht wahr.
Ich suche mein Handy und rufe Clara an. Ich sage, Clara hilf mir, und Clara sagt, was ist denn los und wo bist du denn und bleib, wo du bist, ich komme, so schnell ich kann. Und dann steige ich aus und setze mich auf den Rasen, und bleibe da, wo ich bin, so wie Clara gesagt hat und es regnet auf mich herunter, der Regen kühlt mich ab. Meine Kleider werden nass und kleben an meiner Haut. Meine Haare werden nass und kleben an meinem Kopf. Ich bin nass, nass, nass, aber es macht mir nichts aus. Ich bin eine Statue, ich meditiere, ich will nicht mehr.
Da kommt Miguels dunkelblauer Octavia und Miguel und eine Frau steigen aus. Und da kommt Clara mit ihrem Mini und steigt aus. Ich bleibe einfach sitzen, ich bin eine Statue, ich meditiere mein Schicksal aus. Was immer kommt, ich nehme es hin, denn was anderes bleibt mir ja auch gar nicht übrig, denn so ist das mit dem Schicksal, nicht wahr. Miguel sagt zu Clara, danke, dass du mich angerufen hast, und ich denke, wieso hat Clara eigentlich Miguels Telefonnummer, aber dann fällt mir ein, sie haben sich ja bei mir getroffen, natürlich bei mir, und ich bin es ja auch, die Nicki zu Paul geschickt hat, und ich bin es, die dafür gesorgt hat, dass Franciscos Frau die volle Wahrheit erfährt, so ist es, egal was wir tun, es hat Folgen und ich will das nicht mehr, und deswegen tue ich nichts mehr, ich bleibe hier einfach sitzen, und dann kann auch nichts mehr passieren, nicht wahr.
„Hopp, komm hoch“, sagt Miguel und er und Clara ziehen mich hoch und bringen mich zu Miguels Auto. Sie legen mich auf die Rückbank und Miguel zieht mir meine nassen Sachen aus. Ist noch nicht lange her, da wollte ich, dass mir Miguel meine Sachen auszieht, aber doch nicht so, doch nicht so. Clara gibt ihm trockene Sachen, aus ihrem Kleiderschrank, ganz offensichtlich, denn es ist eine Streifenhose und ein überbunter Pulli. Und Helena, so heißt die andere Frau, macht ihre Arzttasche auf und hört mich ab und dann zieht Miguel mich an.
„Ich bringe Anna nach Hause“, sagt Miguel. „Helena fährt Annas Auto nach Hause und holt die Medikamente. Und dann treffen wir uns da, okay?“
Clara nickt und dann fahren wir los. Im Konvoi bis zur ersten Ausfahrt, wo wir wenden können und dann bin ich irgendwann zu Hause und im Bett und Helena, die Ärztin ist, sagt, es ist vermutlich eine ziemlich schlimme Erkältung und sie gibt mir Antibiotika, die muss ich regelmäßig nehmen, sonst wird´s womöglich noch eine Lungenentzündung. Und ich soll im Bett bleiben.
Aber das ist völlig okay, denn ich will auch nirgendwo mehr hin. Bett ist gut, finde ich.
*
Ich liege im Bett, ich denke, vielleicht sterbe ich jetzt doch einfach, ich folge Jan, dann sind wir wieder zusammen. Denn so, wie es jetzt ist, kann ich ja irgendwie auch nicht leben, mein Herz ist zerbrochen und zerstückelt, kein Wunder, dass die Lunge es nicht schafft, den Sauerstoff in alle zerstückelten Ecken zu transportieren und überfordert ist und ich immer husten muss.
Aber nach ein paar Tagen geht´s mir besser, das habe ich den Antibiotika zu verdanken und der guten Pflege. Dona Ermelinda bringt mir jeden Tag eine stärkende Suppe und hat sogar eins von ihren Hühnern umgebracht, damit die Suppen auch so richtig stärkend sind. Sie kocht mir Tee aus frischem Rosmarin, der riecht gut und schmeckt scheußlich, soll aber gut für die Lunge sein, also trinke ich ihn brav.
Meine Mutter ruft mich täglich per Videocall an und passt auf, dass ich auch meine Medikamente nehme, und sagt, na, was machst du denn für Sachen und wie kann man sich denn so erkälten im Mai? Aber das möchte ich lieber nicht so recht erklären. Ich sage: Sowas passiert eben, weiß auch nicht wieso.
Und als ich gerade mit meiner Mutter am Bildschirm rede, kommt Dona Ermelinda rein und dann reden sie zusammen, die beiden, mehr mit Zeichen als mit Sprache, aber immerhin.
Und mir wird klar: Diese Frauen, die haben wirklich was mitgemacht. Meine Mutter ist ein Flüchtling aus Schlesien, das war eine ganz andere Welt, damals, und dann sind sie drei Wochen in diesen Eisenbahnwaggons in ein neues Leben gefahren, mit nicht viel mehr als, was sie auf dem Leib trugen. Und Dona Ermelinda hat schon als Kind barfuß hier auf den Feldern gearbeitet und schon früh ihrer Mutter beim Sammeln fürs Feuerholz geholfen, denn nur so gab´s warmes Essen, indem man Feuerholz sammelte. Und wenn ihnen jemand damals erzählt hätte, dass man sich über ein kleines Gerät mit einem anderen Menschen unterhalten kann, über tausende von Kilometern, und das mit Bild und Ton, dann hätten sie das doch für eine von Münchhausens Lügengeschichten gehalten.
Miguel fährt nach drei Tagen, er muss zurück nach Hause, er fliegt morgen nach Vancouver.
„Was ist das bloß mit diesem Vancouver“, sage ich.
„Konferenz über Stadtplanung“, sagt Miguel. „Total interessant. Die Zukunft unserer Städte.“
„Versprichst du mir was?“, frage ich.
„Lass erst mal hören“, sagt Miguel.
„Wenn du in Vancouver bist“, sage ich. „Versprich mir, dass du mit keiner Frau namens Nicki schläfst.“
Denn Vancouver ist zwar groß, aber die Welt ist schließlich klein, nicht wahr.
„Anninha“, sagt Miguel. „Prometo. Versprochen.”
Nicki skypt mich an, sie hat von ihrer Schülerin gehört, dass ich krank bin, und wünscht mir gute Besserung. Wir vertragen uns wieder, irgendwie, ohne da jetzt groß drüber zu reden. Einfach Schwamm drüber und fertig.
Paul skypt mich an und wir flachsen ein bisschen hin und her, unsere normalen Skypes eben.
Nicki schickt täglich per Skype Blumen und Sonnen und Daumen nach oben Symbole und per Normalpost einen Kalender mit den Vancouver Fire Fighters. Ich blättere den Kalender durch, die Typen sind zwar nicht gerade meine Typen, aber ich weiß, Nicki hat es gut gemeint.
Paul schickt täglich per Skype ein besser dich und werd xund und per Normalpost eine Schneekugel mit einer Schneekönigin vor der Skyline Vancouvers.
Ich schüttel die Schneekugel ein bisschen und ich blätter doch noch mal die Kalenderblätter von meinen Feuerwehrmännern und ihrem Equipment durch und schlafe ein. Als ich wieder aufwache, steht Hans-Dieter in meinem Schlafzimmer.
Ich hätte nie gedacht, dass es mal einen Tag gibt, an dem Hans-Dieter in meinem Schlafzimmer steht, und ich hoffe inständig und wünsche mir von ganzem Herzen, dass so ein Tag auch nie wieder vorkommt.
„Hab gehört, du bist krank“, sagt Hans-Dieter.
„Ja“, sage ich. „Sieht ganz so aus.“
„Sieht´s so aus oder bist du´s wirklich?“, sagt Hans-Dieter.
„Ganz in echt“, sage ich. „Richtig krank mit Medikamente nehmen und nicht aufstehen dürfen, die ganze Palette.“
„Dann muss ich mir das Wasser für meinen Tee wohl selber machen“, sagt Hans-Dieter und zieht einen Teebeutel aus der Jackentasche.
„Der Wasserkessel ist in der Küche“, sage ich, weil ich einfach nicht widerstehen kann.
Und Hans-Dieter steht doch wirklich auf und geht in die Küche. Jetzt ist der Mann nicht nur in meinem Schlafzimmer, sondern auch noch in meiner Küche. Nach einer Weile kommt er mit einem Becher Tee zurück.
„Wusste nicht, ob du auch Tee willst“, sagt Hans-Dieter. „Deswegen habe ich dir vorsichtshalber keinen gemacht.“
„Du bist ja so richtig umsichtig“, sage ich.
„Meinst du, du bist noch lange krank?“, sagt Hans-Dieter.
„Weiß nicht“, sage ich.
„Ich wollte nämlich noch mal mit dir reden“, sagt Hans-Dieter. „Wegen meinem Angebot.“
Angebot, was für ein Angebot? Ich überlege, aber mir fällt nichts ein.
„Du weißt schon“, sagt Hans-Dieter. „Dass es vernünftig wäre, wenn wir uns zusammentun. Dein Hof ist irgendwie schöner, und du hast auch Strom, wir könnten ja hier wohnen, das wäre okay für mich.“
Jetzt schlägt´s doch schon wieder dreizehn. Wie sagt der kleine Philosoph so treffend auf You Tube? Ist das das wirkliche Leben?? Und vor allen Dingen: Warum ich??? Ich überlege in der Tat, ob das nicht ein Fall für die 112 ist, für die nationale Notfallnummer. Denn das ist doch ein Notfall. Jemand soll kommen und Hans-Dieter aus meinem Schlafzimmer entfernen. Die Polizei oder die Feuerwehr vielleicht. Von mir aus auch die Vancouver Fire Fighters. Hauptsache jemand entfernt ihn.
„Was ist mit der Russin?“, sage ich. „Ich denke, du bist ein verheirateter Mann.“
„Mit der Russin ist nichts“, sagt Hans-Dieter. „Ich will die Ehe annullieren lassen. Ich habe schon die Botschaft angerufen.“
„Und?“, sage ich.
„Die sind irgendwie nicht zuständig“, sagt Hans-Dieter. „Wenn man sie schon mal braucht, ich meine, ich bin schließlich Deutscher, nicht wahr.“
Hans-Dieter schlürft seinen Tee aus und stellt den Becher auf meinen Nachttisch.
„Ich muss mal wieder“, sagt er. „Das Land ruft. Ist ja viel Arbeit. Ganz besonders so ohne Strom. Das wäre hier natürlich einfacher.“
Mir hat´s jetzt wirklich die Sprache verschlagen. Ich bin jetzt wirklich kurz davor die 112 anzurufen, aber da steht Hans-Dieter auf und geht. Freiwillig. Ich weiß gar nicht, was ich als Abschied sagen soll. Auf Wiedersehen passt hier auf keinen Fall, denn Wiedersehen möchte ich ihn lieber nicht.
„Machs gut“, sage ich. Das ist das Maximum, zu dem ich mich durchringen kann. Soll ihm ruhig gutgehen. Hauptsache, er ist dabei möglichst weit weg.
Hans-Dieter geht endlich. Und im Grunde hat er mir einen riesigen Gefallen getan. Mit seinem Gehen sowieso, aber auch mit seinem Kommen. Denn jetzt weiß ich, sollte ich je mit dem Alleinsein hadern, dann muss ich nur an Hans-Dieter denken und schon fühlt sich das Alleinsein richtig gut an.
*
Am nächsten Tag kommt Clara nachmittags. Sie hat ihr neues Buch dabei, Liebe mit Hindernissen ist gedruckt und erschienen. Das geht bei diesen Heftchenromanen schnell. Ich erzähle ihr von Hans-Dieters Besuch und wir gruseln uns noch mal so richtig. Wir finden: Der hat sie doch nicht mehr alle, nicht wahr. Dann erzählt sie mir, dass sie gestern mit Rui essen war. Das ist ihr verheirateter Lover. Und er hat jetzt wirklich vor, seine Frau zu verlassen, sagt er. Und dieses Mal, sagt Clara, meint er es wirklich ernst, wirkt zumindest so, sieht so aus, wirklich. Sie liest mir noch ein bisschen aus Liebe mit Hindernissen vor und drückt mir dann das Buch in die Hand.
„Hier“, sagt Clara. „Für dich. Mit Widmung.“
Ich schlage das Buch auf und sehe auf die erste Seite, da ist Claras Widmung für mich: Todo en amor es triste, mas, triste y todo, es lo mejor que existe. (Ramón Campoamor 1817 – 1901)
Alles in der Liebe ist traurig, aber auch wenn es traurig ist, ist es das Beste, was es gibt.
Werd schnell wieder gesund, in Liebe, Clara
„Danke“, sage ich.
„Gern geschehen“, sagt Clara.
„Schreibst du schon was Neues?“, frage ich.
„Aber ja“, sagt Clara. „Selbstverständlich.“
„Und wie heißt es“, frage ich.
„Liebe auf Umwegen“, sagt Clara.
„Und worum geht´s?“, frage ich.
„Also“, sagt Clara. „Also am Anfang des Buches lernt eine wunderschöne Frau einen wunderbaren Mann kennen und verliebt sich in ihn. Und am Ende des Buches kriegen sie sich dann.“
„Hallo die Enten“, sage ich. „Wer hätte das gedacht.“
„Ja“, sagt Clara. „Ist eben nicht das wirkliche Leben.“