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Sie erwarteten mich. Sie traten auf den Luftwagen zu, als ich mit ihm im Innenkarree des Quäkerlagers landete: vier Soldaten mit ihren schwarzen Suchgeschoß-Schleudern im Anschlag.
Offenbar waren sie als einzige noch hier. Alle anderen Männer seiner zusammengeschmolzenen Streitmacht schien Jamethon zu einer neuen Kampfgruppe formiert und ins Feld geführt zu haben. Und ich kannte diese vier Soldaten: Es waren erfahrene und im Einsatz gehärtete Veteranen. Bei dem einen handelte es sich um den Gruppenführer, den ich an jenem ersten Abend im Büro angetroffen hatte, als ich nach meiner Rückkehr vom exotischen Lager eingetreten war, um Jamethon zu sprechen und ihn zu fragen, ob er jemals die Erschießung von Gefangenen befohlen hatte. Ein anderer war ein rund vierzig Jahre alter Soldat, der im niedrigsten Offiziersrang stand, dem eines Truppenführers, jetzt aber als Major fungierte – ähnlich wie Jamethon, der Kommandeur war, hier aber die Position eines Expeditionskorps-Truppenkommandeurs einnahm und damit im gleichen Rang wie Kensie Graeme stand. Die beiden anderen waren zwar Unteroffiziere, aber doch vom gleichen Typ. Und den kannte ich ganz genau: Ultrafanatiker.
Und sie kannten mich.
Wir verstanden uns.
Ich stieg aus. „Ich muß den Kommandeur sprechen“, sagte ich rasch, bevor sie mir Fragen stellen konnten.
„In welcher Angelegenheit?“ gab der Truppenführer zurück. „Dieser Luftwagen hat hier nichts zu suchen. Und Sie ebenfalls nicht.“
„Ich muß den Kommandeur sofort sprechen“, sagte ich. „Ich wäre nicht mit einem Luftwagen hier, der die Flagge der exotischen Botschaft trägt, wenn es nicht wirklich dringend wäre.“
Sie durften kein Risiko eingehen. Sie mußten damit rechnen, daß ich Jamethon tatsächlich etwas Wichtiges mitzuteilen hatte, und ich wußte das. Sie zögerten ein wenig, aber ich bestand weiterhin darauf, daß ich den Kommandeur sprechen mußte. Schließlich führte mich der Truppenführer wieder in das Außenbüro, in dem ich immer gewartet hatte, um zu Jamethon vorgelassen zu werden.
Ich traf Jamethon allein in seinem Zimmer an.
Er zog seinen Kampfanzug an, und ich erinnerte mich an Graeme, den ich zuvor dabei beobachtete hatte. Bei Graeme hatten sowohl Kampfanzug als auch die dazugehörigen Waffen wie Spielzeuge gewirkt. An Jamethons schlanker Statur sahen sie beinahe so aus, als seien sie zu schwer für ihn.
„Mr. Olyn“, sagte er.
Ich durchquerte den Raum, trat auf ihn zu und zog dabei die Notiz aus der Tasche. Er wandte sich mir halb zu, um mich anzusehen. Seine Finger knöpften die Kampfjacke zu, und sein Waffenharnisch klirrte leicht, als er sich umdrehte.
„Sie treten gegen die Exoten an“, stellte ich fest.
Er nickte. Ich hatte ihm noch nie so nahe gegenübergestanden. Vom anderen Ende des Zimmers aus hätte ich angenommen, daß sein Gesichtsausdruck so steinern und undurchdringlich wie üblich war. Doch jetzt, da nur eine Armeslänge zwischen uns lag, sah ich etwas anderes: die Andeutung eines müden und erschöpften Lächelns, das in seinem dunklen und jungen Gesicht für einen Augenblick die Winkel seines geraden Mundes umspielte.
„Das ist meine Pflicht, Mr. Olyn.“
„Eine seltsame Pflicht“, gab ich zurück. „Wenn man bedenkt, daß Sie von Ihren Vorgesetzten auf Harmonie längst abgeschrieben worden sind.“
„Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt“, erwiderte er ruhig. „Die Auserwählten des Herrn lassen sich nicht gegenseitig im Stich.“
„Sind Sie sich dessen sicher?“ fragte ich.
Erneut sah ich den geisterhaften Hauch eines schwachen und müden Lächelns.
„Das ist ein Fachgebiet, Mr. Olyn, auf dem ich bewanderter bin als Sie.“
Ich sah in seine Augen. Sein Blick war erschöpft, aber dennoch ruhig und gelassen.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit kurz dem Schreibtisch zu, auf dem noch immer das Bild mit dem älteren Mann, der Frau und dem jungen Mädchen vor der Kirche stand.
„Ihre Familie?“ fragte ich.
„Ja“, sagte er.
„Sicher denken Sie in Augenblicken wie diesem an sie.“
„Ich denke ziemlich oft an sie.“
„Aber trotzdem ziehen Sie hinaus ins Feld und damit dem sicheren Tod entgegen.“
„Ja“, sagte er. „Trotzdem.“
„Selbstverständlich!“ sagte ich. „Natürlich tun Sie das!“ Ich war ihm ruhig und selbstbeherrscht gegenübergetreten. Jetzt aber war es, als stürzten die Mauern ein, die all das zurückhielten, was in meinem Innern seit Daves Tod brodelte und schäumte. Ich begann zu beben. „Denn genau so scheinheilig und heuchlerisch sind Sie auch – seid ihr Quäker alle. Eure eigenen Lügen haben euch innerlich so verrotten und verfaulen lassen, daß nichts von euch übrigbliebe, nähme man sie euch fort. Nicht wahr? Deshalb würden Sie nun eher sterben als zuzugeben, daß Sie hiermit Selbstmord begehen und dies nicht die glorreichste Sache des ganzen Universums ist. Sie würden eher sterben als zuzugeben, genauso voller Zweifel wie alle anderen zu sein – und genauso viel Angst zu haben.“
Ich trat ganz nahe an ihn heran. Er rührte sich nicht.
„Wen wollen Sie hier zum Narren halten?“ fragte ich. „Wen? Ich durchschaue Sie, genau wie die Menschen aller anderen Welten auch! Ich bin davon überzeugt, Sie wissen ebenfalls, was für ein Popanz Ihre Vereinigte Kirche ist, was für ein fauler Zauber. Ich bin davon überzeugt, Sie wissen ebenfalls, daß der von euch so schrill besungene Ruhm des Lebens nicht das ist, was ihr behauptet. Ich weiß, daß euer Ältester Strahlende und seine Clique aus engstirnigen alten Männern nur eine Bande machthungriger Tyrannen ist, die sich einen Dreck um Religion oder sonst etwas schert, solange sie erreicht, was sie will. Ich weiß, daß Sie das ebenfalls wissen – und ich werde dafür sorgen, daß Sie es sich eingestehen!“
Und ich hielt ihm die Notiz vor die Nase.
„Lesen Sie das!“
Er nahm sie mir aus der Hand.
Ich trat von ihm zurück und bebte vor Zorn, während ich ihn beobachtete.
Er betrachtete die Nachricht eine ganze Weile, und ich hielt den Atem an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Dann reichte er mir die Notiz zurück.
„Soll ich Sie zu Graeme mitnehmen?“ fragte ich. „Wir können die Stellungen mit dem Luftwagen des Außenbürgen überqueren, und Sie können die Kapitulation hinter sich bringen, bevor es zu irgendwelchen Gefechten kommt.“
Er schüttelte den Kopf. Er sah mich ganz gelassen an, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht verstehen konnte.
„Was meinen Sie damit … nein?“
„Sie bleiben besser hier“, sagte er. „Der Luftwagen könnte unter Feuer genommen werden, trotz der Botschaftsflagge.“ Und er wandte sich um, als sei das Gespräch damit beendet und als wollte er das Büro verlassen.
„Wohin gehen Sie?“ schrie ich ihm nach. Ich drängte mich vor ihn und hielt ihm erneut die Notiz vors Gesicht. „Das hier ist eine Tatsache. Davor können Sie Ihre Augen nicht verschließen!“
Er verharrte und sah mich an. Dann umfaßte er mein Handgelenk und schob Arm samt Notiz beiseite. Seine Finger waren dünn, aber viel kräftiger, als ich gedacht hatte. So zwang er mich, den Arm gegen meinen Willen vor ihm sinken zu lassen.
„Ich weiß, daß es eine Tatsache ist. Und nun rate ich Ihnen gut, sich nicht länger in meine Angelegenheiten einzumischen. Ich muß jetzt gehen.“ Er schritt an mir vorbei und hielt auf die Tür zu.
„Sie sind ein Lügner!“ rief ich ihm nach. Er ging weiter. Ich mußte ihn aufhalten. Ich packte das Massivbild auf dem Schreibtisch und warf es zu Boden.
Wie eine Katze wirbelte er herum und blickte auf die zerbrochenen Einzelteile zu meinen Füßen.
„Das ist es, was Sie fertigbringen!“ schrie ich und deutete auf die Bruchstücke.
Er kehrte wortlos zurück, hockte sich nieder und sammelte die Einzelteile sorgfältig auf, Stück für Stück. Er steckte sie in die Tasche, erhob sich wieder und wandte mir dann schließlich das Gesicht zu.
Und als ich seine Augen sah, stockte mir der Atem.
„Wenn meine Pflicht“, sagte er in einem leisen und beherrschten Tonfall, „nicht gerade in diesem Augenblick von mir verlangte …“
Seine Stimme verklang. Ich bemerkte, wie er mich anstarrte. Und ich sah, wie sich sein Blick langsam veränderte, wie die darin liegende Wut sich allmählich in so etwas wie Erstaunen verwandelte.
„Du“, sagte er weich, „du hast keinen Glauben?“
Ich hatte den Mund geöffnet, um ihm etwas zu sagen. Doch seine Worte unterbrachen mich bereits im Ansatz. Ich stand vor ihm, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube erhalten. Mir fehlte der Atem, um zu sprechen. Er starrte mich an.
„Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen“, fragte er, „diese Notiz würde meine Meinung ändern?“
„Sie haben sie gelesen!“ sagte ich. „Der Strahlende schreibt, Ihre Sache hier sei verloren, und deshalb sollen Sie keine Unterstützung mehr erhalten. Und man soll Sie nicht davon unterrichten, aus Angst, Sie könnten sich ergeben, falls Sie Bescheid wüßten.“
„Auf diese Weise haben Sie die Notiz verstanden?“ fragte er. „Auf diese Weise?“
„Wie sonst? Wie sonst könnten Sie sie denn verstehen?“
„Wie sie niedergeschrieben ist.“ Er stand mir nun aufrecht und gerade gegenüber, und sein Blick löste sich nicht eine Sekunde von meinen Augen. „Sie haben sie ohne Glauben gelesen und den Namen und Willen des Herrn außer acht gelassen. Der Älteste Strahlende schreibt nicht, daß wir hier im Stich gelassen werden sollen. Da unsere Lage hier so schwer und betrüblich ist, sollen wir allein auf den Beistand unseres Kriegsherrn und Gottes vertrauen. Und er schreibt weiter, man solle uns deshalb nicht unterrichten, damit niemand hier versucht sei, sich am Willen des Herrn zu versündigen und damit die goldene Krone des Märtyrers zu verlieren. Sehen Sie, Mr. Olyn. Hier steht es, schwarz auf weiß.“
„Aber das ist es nicht, was er gemeint hat! Das ist es nicht, was er gemeint hat!“
Er schüttelte den Kopf.
„Mr. Olyn, einer solchen Verblendung darf ich Sie nicht überlassen.“
Ich starrte ihn verblüfft an, denn sein Gesicht drückte nun Sympathie aus. Für mich.
„Es ist Ihre eigene Blindheit, die Sie irreführt“, sagte er. „Sie sehen nichts, und deshalb glauben Sie, auch alle anderen könnten nichts sehen. Unser Herr ist nicht nur ein Name, sondern alles. Darum haben wir keine Ornamente in unseren Kirchen, darum verschmähen wir alle künstlichen Bildnisse zwischen uns und unserem Gott. Hören Sie, Mr. Olyn. Diese Kirchen selbst sind die Tabernakel auf Erden. Unsere Ältesten und Führer sind zwar Auserwählte und Geweihte, aber doch nur sterbliche Menschen. In unserem Glauben vertrauen wir nicht einem dieser Menschen oder Dinge, sondern der Einen Stimme Gottes, die in uns erklingt.“
Er hielt inne. Irgend etwas hinderte mich daran zu sprechen.
„Angenommen, es ist tatsächlich so, wie Sie denken“, fuhr er fort und wurde sogar noch freundlicher. „Angenommen, alles, was Sie sagten, ist wahr, und unsere Ältesten sind nichts weiter als machthungrige Tyrannen, die uns hier aus eigensüchtigen Motiven im Stich lassen und damit ein falsches und unaufrichtiges Ziel verfolgen. Nein.“ Jamethons Stimme hob sich. „Ich schwöre Ihnen dies, als beträfe es nur mich selbst. Angenommen, Sie könnten mir beweisen, daß alle unsere Ältesten gelogen haben und unser ganzes Gelöbnis falsch ist. Angenommen, Sie könnten mir beweisen“, sein Gesicht hob sich zu meinem, und seine Stimme zerrte an mir wie eine Orkanbö, „daß alles nur Verderbtheit und Unaufrichtigkeit war und es nirgends bei den Auserwählten – nicht einmal im Hause meines Vaters – die Hoffnung des Glaubens gab! Wenn Sie mir beweisen könnten, daß mich kein Wunder Gottes erretten kann, ich keine unsterbliche Seele habe und mir alle Legionen des Universums gegenüberstehen … dann würde ich allein, Mr. Olyn, trotzdem vorwärts marschieren, so wie es mir befohlen wurde. Bis zum Ende des Universums, bis zum Gipfel der Ewigkeit. Denn ohne meinen Glauben bin ich nur der Staub, aus dem ich erschaffen wurde. Doch mit ihm gibt es keine Kraft, die mir widerstehen kann!“
Er hörte auf zu sprechen und drehte sich um. Ich beobachtete ihn, als er durch den Raum schritt und dann hinausging.
Ich stand noch immer so reglos, als sei ich gelähmt – bis ich draußen, auf dem Karree des Lagers, das Geräusch eines startenden Militär-Luftwagens vernahm.
Ich überwand meine Stasis und stürzte aus dem Büro hinaus.
Als ich auf das Karree lief, hob der militärische Luftwagen gerade ab. Im Innern konnte ich Jamethon und seine vier gestrengen Untergebenen erkennen. Und ich schrie dem Fahrzeug nach:
„Das mag für Sie in Ordnung sein, doch was ist mit Ihren Männern?“
Sie konnten mich nicht hören. Das wußte ich. Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte, rannen mir über die Wangen. Meine Stimme überschlug sich, als ich ihm weiter hinterherschrie:
„Sie schicken Ihre Männer in den Tod, um Ihren Standpunkt zu beweisen! Hören Sie nicht? Sie ermorden unschuldige und hilflose Menschen!“
Ungeachtet meiner Worte verschwand der Militär-Luftwagen rasch nach Südwesten, wo die aufeinander zustrebenden Streitkräfte warteten.
Und die hohen Betonwälle und Gebäude des verlassenen Lagers warfen meine Anklage mit einem hohlen und schrillen und gespenstischen Echo zurück.