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Es war ih­re Idee – die Idee mei­ner Schwes­ter Ei­leen –, die En­zy­klo­pä­die an die­sem Tag zu be­su­chen, wo­bei ich mich mei­nes neu­en Rei­se­aus­wei­ses als Mit­ar­bei­ter des Nach­rich­ten­diens­tes be­dien­te.

Nor­ma­ler­wei­se hät­te ich mich viel­leicht ge­fragt, warum sie aus­ge­rech­net dort­hin fah­ren woll­te. Doch in die­sem Fall wur­de be­reits bei ih­rem Vor­schlag ein Ge­fühl in mir ge­weckt, tief und schwer, wie ein Gong­schlag – ein Ge­fühl, das ich noch nie vor­her emp­fun­den hat­te –, ei­ne Re­so­nanz, die na­hen­des Un­heil ver­kün­de­te.

Es war aber nicht nur ei­ne Dro­hung, nein, so ein­fach war das nicht. Ei­gent­lich war es gar kein un­an­ge­neh­mes Ge­fühl, eher ei­ne große Lee­re, ei­ne ge­wis­se er­war­tungs­vol­le Span­nung, wie die vor ei­ner großen, wich­ti­gen Prü­fung. Trotz­dem an­ders und mehr – als wür­de ein Dra­che mei­ne We­ge kreu­zen.

Es war nur ein flüch­ti­ger Au­gen­blick, wäh­rend die­ser To­desen­gel durch den Raum schweb­te, den­noch war es mehr als ge­nug. Und da die En­zy­klo­pä­die theo­re­tisch al­le Hoff­nun­gen für die Erd­ge­bo­re­nen dar­stell­te und mein On­kel Ma­thi­as für uns al­le Hoff­nungs­lo­sig­keit auf Er­den sym­bo­li­sier­te, brach­te ich die­se Emp­fin­dung mit ihm in Ver­bin­dung, mit der Her­aus­for­de­rung, die all un­se­re ge­mein­sa­men Jah­re über­schat­te­te. Dies war dann der An­stoß, der mich be­wog hin­zu­ge­hen, wo­bei ich je­den auch noch so ge­rin­gen Ein­wand bei­sei­te schob.

Oben­drein paß­te die­se Rei­se ge­nau in mei­ne Plä­ne und hat­te gleich­zei­tig et­was Fei­er­li­ches an sich. Nor­ma­ler­wei­se pfleg­te ich mit Ei­leen kei­ne Rei­sen zu un­ter­neh­men. Aber ich hat­te erst kürz­lich einen Aus­bil­dungs­ver­trag mit dem In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten­dienst für ihr Haupt­quar­tier auf Al­t­er­de un­ter­zeich­net und dies nur zwei Wo­chen nach mei­ner Prü­fung an der Uni­ver­si­tät für das Nach­rich­ten­we­sen in Genf. Si­cher galt die­se Hoch­schu­le als ei­ne der bes­ten auf al­len vier­zehn Wel­ten der Mensch­heit ein­schließ­lich Al­ter­des, und mei­ne Leis­tun­gen wa­ren wohl die bes­ten in ih­rer Ge­schich­te. Aber sol­che An­ge­bo­te be­kam ein jun­ger Mann, der di­rekt von der Schul­bank kam, äu­ßerst sel­ten, viel­leicht nur al­le zwan­zig Jah­re, wenn über­haupt.

Al­so frag­te ich mei­ne sieb­zehn­jäh­ri­ge Schwes­ter im­mer wie­der, was sie da­zu ge­bracht hat­te, aus­ge­rech­net die En­zy­klo­pä­die zu be­su­chen, und das an ei­nem be­stimm­ten Tag und zu ei­ner be­stimm­ten Stun­de. Wenn ich jetzt zu­rück­bli­cke, glau­be ich, daß sie le­dig­lich je­nem fins­te­ren Haus un­se­res On­kels ent­flie­hen woll­te, und das al­lein war für mich Grund ge­nug, ih­rem Wunsch ent­ge­gen­zu­kom­men.

Ma­thi­as, der Bru­der mei­nes Va­ters, war es ge­we­sen, der uns Wai­sen­kin­der bei sich auf­ge­nom­men hat­te, nach­dem un­se­re El­tern bei ei­nem Ver­kehrs­un­fall ums Le­ben ge­kom­men wa­ren. Er war es aber auch, der uns in un­se­ren Ent­wick­lungs­jah­ren nach sei­nen Vor­stel­lun­gen zu­recht­ge­bo­gen hat­te. Nicht daß er je­mals Hand an uns ge­legt oder uns kör­per­lich ge­züch­tigt hät­te, auch konn­ten wir ihm kei­ner­lei Will­kür oder ir­gend­wel­che Grau­sam­kei­ten zur Last le­gen. So was hat­te er gar nicht nö­tig.

Er hat­te nichts wei­ter zu tun, als uns die vor­nehms­te Um­ge­bung zu bie­ten, das Bes­te vom Bes­ten an Un­ter­kunft, Spei­sen und Klei­dung und die größt­mög­li­che Sorg­falt – und da­bei dar­auf zu ach­ten, daß wir all dies mit ihm teil­ten, des­sen Herz eben­so fins­ter war wie sein ge­wal­ti­ges, dunkles Haus, fins­ter wie ei­ne Höh­le tief un­ter der Er­de, wo­hin nie ein Son­nen­strahl drang, des­sen See­le so kalt war wie der Stein in ei­ner sol­chen Höh­le.

Sei­ne Bi­bel wa­ren die Schrif­ten je­nes al­ten Hei­li­gen oder Teu­fels aus dem 21. Jahr­hun­dert, die Wer­ke je­nes Wal­ter Blunt, des­sen Mot­to ZER­STÖ­RUNG war – und aus des­sen re­li­gi­öser Sek­te je­ne exo­ti­sche Kul­tur her­vor­ging, die auf den Wel­ten von Ma­ra und Kul­tis herrsch­te. Es muß nicht be­son­ders er­wähnt wer­den, daß die Exo­ten Blunts Schrif­ten be­reits kann­ten und auf ih­re Wei­se aus­ge­legt hat­ten, in­dem sie näm­lich die Bot­schaft er­kann­ten, das Un­kraut un­se­rer Zeit zu jä­ten, da­mit die Blü­ten der Zu­kunft wach­sen und ge­dei­hen konn­ten. Ma­thi­as, mein On­kel, war aber über das Jä­ten und Ver­nich­ten nicht hin­aus­ge­kom­men, ei­ne Idee, die er uns in sei­nem fins­te­ren Haus Tag für Tag ein­bleu­te.

So­viel über Ma­thi­as. Er war per­fekt in sei­ner Leh­re und sei­nem fa­na­ti­schen Glau­ben, daß die Neu­en Wel­ten uns Er­den­menschen schon lan­ge im Stich ge­las­sen hät­ten, um uns dem Un­ter­gang und dem Tod preis­zu­ge­ben, so wie man ein ab­ge­stor­be­nes Glied ab­stößt. Doch we­der ich noch Ei­leen konn­ten uns für die­se eis­kal­te Phi­lo­so­phie be­geis­tern, so sehr wir es als Kin­der auch ver­such­ten. So ver­such­te je­der von uns auf sei­ne Wei­se, ihm und sei­ner Ge­dan­ken­welt zu ent­flie­hen. Und ei­ner un­se­rer Flucht­we­ge führ­te uns an ei­nem be­stimm­ten Tag zu der En­kla­ve von St. Louis und zur En­zy­klo­pä­die.

Wir nah­men ei­ne Raum­fäh­re von Athen nach St. Louis und stie­gen dann in die U-Bahn, die uns zur En­kla­ve brach­te. Ein Luft­bus brach­te uns zum Hof der En­zy­klo­pä­die, und ur­plötz­lich war ich aus dem Bus, oh­ne zu wis­sen, wie mir ge­sch­ah. Als mein Fuß den As­phalt be­rühr­te, war es plötz­lich wie­der da, die­ses Ge­fühl, das mich wie ein tiefer Gong­ton be­rühr­te. Ich hielt an, wie ein Mensch, der in Tran­ce fallt.

„Ver­zei­hung“, sag­te ei­ne Stim­me hin­ter mir. „Sie ge­hö­ren doch mit zu der Grup­pe? Wür­den Sie sich bit­te an­schlie­ßen? Ich bin Ihr Frem­den­füh­rer.“

Ich dreh­te mich auf dem Ab­satz um und stand Au­ge in Au­ge mit ei­nem jun­gen Mäd­chen, das die blaue Ro­be ei­ner Exo­tin trug. Sie stand da, so frisch wie die Son­ne über ihr – doch an ihr war et­was Frem­des, et­was, das nicht zu ih­rer Er­schei­nung paß­te.

„Sie sind kei­ne Exo­tin!“ sag­te ich un­ver­mit­telt. An­schei­nend war sie es wirk­lich nicht. Ein ge­bo­re­ner Exo­te sieht ganz an­ders aus. Ihr Ge­sichts­aus­druck ist ge­faß­ter als der an­de­rer Men­schen, ih­re Au­gen, ih­re Bli­cke sind durch­drin­gen­der als die un­se­ren. Sie sind wie die Frie­dens­göt­ter, de­ren Hän­de auf ei­nem Blitz ru­hen, oh­ne sich des­sen Ge­gen­wart be­wußt zu wer­den, oh­ne zu wis­sen, wel­chen Don­ner­schlag sie mit ei­ner ein­zi­gen Be­we­gung aus­lö­sen kön­nen.

„Ich bin nur ei­ne Mit­ar­bei­te­rin“, er­wi­der­te sie. „Ich hei­ße Li­sa Kent. Und Sie ha­ben ab­so­lut recht. Ich bin kei­ne ge­bo­re­ne Exo­tin.“ Sie schi­en sich nicht dar­an zu stö­ren, daß ich fest­ge­stellt hat­te, wie sich ihr Kör­per un­ter der Ro­be ab­zeich­ne­te, die sie trug. Sie war klei­ner und zier­li­cher als mei­ne Schwes­ter, die eben­so hoch­ge­wach­sen war wie ich – fast zu zier­lich für einen Er­den­menschen. Ei­leen war sil­ber­blond, wäh­rend mein Haar zu je­ner Zeit be­reits nach­ge­dun­kelt war. Als mei­ne El­tern star­ben, war ich ge­nau­so ein Blond­kopf ge­we­sen. Aber mei­ne Haa­re wa­ren mit den Jah­ren in Ma­thi­as1 Haus dun­kel ge­wor­den. Doch die­ses Mäd­chen Li­sa hat­te brau­nes Haar, war hübsch und lä­chel­te ver­bind­lich – es war ein fröh­li­ches Lä­cheln. Ih­re hüb­sche Er­schei­nung ge­fiel mir, so wie sie in ih­rem exo­ti­schen Ge­wand vor mir stand – und gleich­zei­tig är­ger­te sie mich, weil sie mir zu selbst­si­cher vor­kam.

Ich be­ob­ach­te­te sie, wäh­rend sie sich um die an­de­ren Be­su­cher küm­mer­te, die dar­auf war­te­ten, durch die En­zy­klo­pä­die ge­führt zu wer­den. Und so­bald sich die Grup­pe in Be­we­gung ge­setzt hat­te, ge­sell­te ich mich zu ihr und ver­wi­ckel­te sie im­mer wie­der in ein Ge­spräch, wenn sie der Be­su­cher­grup­pe nicht ge­ra­de et­was er­klä­ren muß­te.

Sie zö­ger­te nicht, über sich selbst zu spre­chen. Sie war im nord­ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­wes­ten zur Welt ge­kom­men, di­rekt vor den To­ren von St. Louis, wie sie mir er­zähl­te. Sie hat­te die Grund­schu­le und die hö­he­re Schu­le in der En­kla­ve be­sucht, war von den exo­ti­schen Phi­lo­so­phen über­zeugt und hat­te de­ren Wer­ke und Me­tho­den über­nom­men. Ei­gent­lich scha­de bei ei­nem Mäd­chen ih­res­glei­chen, so hübsch und so at­trak­tiv – und das sag­te ich ihr frei her­aus.

„Wie­so könn­te ich mich da ver­schwen­den“, sag­te sie und schenk­te mir ein Lä­cheln, „wenn ich mei­ne Kräf­te auf die­se Wei­se voll aus­schöp­fen kann – und dies zum best­mög­li­chen Zweck?“

Viel­leicht lacht sie dich aus, dach­te ich. So was konn­te ich schon da­mals nicht ver­tra­gen – ich ge­hör­te nicht zu je­nen, die man ein­fach aus­lacht.

„Und wie, bit­te, se­hen die­se best­mög­li­chen Zie­le oder Zwe­cke aus?“ frag­te ich so barsch, wie ich nur konn­te. „In­dem Sie viel­leicht Ih­ren Na­bel be­trach­ten?“

Ihr Lä­cheln war plötz­lich ver­schwun­den, und sie sah mich so be­trof­fen an, daß ich mich auch noch spä­ter an ih­ren Blick er­in­ner­te.

Es war, als hät­te sie mich ganz plötz­lich er­blickt – wie einen, der auf der nächt­li­chen See da­hin­treibt un­ter je­nem fes­ten Fel­sen, auf dem sie steht. Sie streck­te die Hand aus, als woll­te sie mich be­rüh­ren, dann ließ sie ih­re Hand wie­der sin­ken, als hät­te sie sich auf ein­mal dar­an er­in­nert, wo sie stand.

„Wir sind stets da“, er­wi­der­te sie. „Wir sind im­mer da. Ver­ges­sen Sie das nicht.“

Sie wand­te sich ab und führ­te uns wei­ter durch die ver­schie­de­nen Auf­bau­ten, wel­che die En­zy­klo­pä­die bil­de­ten. All die­se Bau­lich­kei­ten, sag­te sie, in­dem sie sich jetzt an al­le wand­te, soll­ten einst in den Welt­raum ge­tra­gen und dort zu ei­ner na­he­zu kreis­för­mi­gen Struk­tur zu­sam­men­ge­fal­tet wer­den, und dies auf ei­ner Um­lauf­bahn et­wa hun­dert­fünf­zig Mei­len über der Erd­ober­flä­che. Sie er­zähl­te, welch ein rie­si­ger Auf­wand nö­tig sei, um ei­ne sol­che Struk­tur als Ein­heit auf ei­ne Um­lauf­bahn zu brin­gen. Sie er­klär­te aber auch, daß die Kos­ten, wie teu­er ein sol­ches Un­ter­neh­men auch zu ste­hen käme, durch die Ein­spa­run­gen der ers­ten hun­dert Jah­re ge­recht­fer­tigt sei­en, da der ers­te Bau­ab­schnitt so­wie die Spei­che­rung der In­for­ma­tio­nen sich auf der Er­de weitaus kos­ten­güns­ti­ger durch­füh­ren lie­ßen.

Denn die En­zy­klo­pä­die, mein­te sie, soll­te nicht le­dig­lich so et­was wie ein La­ger­haus für Fak­ten wer­den. Na­tür­lich wür­den Fak­ten ge­spei­chert, al­ler­dings nur zu ei­nem be­stimm­ten Zweck – näm­lich zur Her­stel­lung und Ent­de­ckung von Be­zie­hun­gen zwi­schen die­sen Fak­ten. Je­des Wis­sens­ge­biet soll­te mit an­de­ren Ge­bie­ten durch Ener­gie-Im­pul­se ver­knüpft wer­den, die den Be­zie­hungs­co­de ent­hiel­ten, bis die­se Ver­knüp­fun­gen so weit­ge­hend wie mög­lich her­ge­stellt wä­ren, bis schließ­lich die­ses ge­wal­ti­ge In­for­ma­ti­ons­netz des Men­schen über sich selbst und sein Uni­ver­sum Ge­stalt an­näh­me und sich auf ei­ne Wei­se prä­sen­tier­te, wie es der Mensch bis­her noch nie be­ob­ach­ten konn­te.

Zu die­sem Zeit­punkt wür­de dann die Er­de in der En­zy­klo­pä­die über einen mäch­ti­gen, di­rekt zu­gäng­li­chen Spei­cher von mit­ein­an­der ver­knüpf­ten In­for­ma­tio­nen über die mensch­li­che Ras­se und ih­re Ge­schich­te ver­fü­gen. Die­se In­for­ma­tio­nen lie­ßen sich ge­gen das ex­ak­te Wis­sen von Wel­ten wie Ve­nus und New­ton, ge­gen das psy­cho­lo­gi­sche Wis­sen der Exo­ti­schen Wel­ten und ge­gen sons­ti­ge spe­zia­li­sier­te In­for­ma­tio­nen der Neu­en Wel­ten ein­tau­schen, die auf der Er­de be­nö­tigt wür­den. Al­lein da­durch wür­de sich die En­zy­klo­pä­die am En­de in ei­ner Welt ver­schie­de­ner Ras­sen und Kul­tu­ren be­zahlt ma­chen, in de­nen der Aus­tausch von Wis­sen als in­ter­na­tio­na­le Wäh­rung gilt.

Doch die Hoff­nung, die die Er­de heg­te und die schließ­lich da­zu führ­te, die­ses Pro­jekt in An­griff zu neh­men, ging weit über sol­che Über­le­gun­gen hin­aus. Es war die Hoff­nung die­ser Er­de – die Hoff­nung al­ler Men­schen auf Er­den, aus­ge­nom­men sol­cher Men­schen wie Ma­thi­as, der al­le Hoff­nung hat­te fah­ren las­sen –, der ide­el­le Wert der En­zy­klo­pä­die lie­ge in der Tat­sa­che, daß sich die­ses Werk als Werk­zeug für die Er­for­schung der Theo­rie des Mark Tor­re ver­wen­den lie­ße.

Tor­res Theo­rie aber, wie wir al­le wis­sen, pos­tu­liert den Um­stand, daß es im Wis­sen des Men­schen über sich selbst einen dunklen Punkt gibt, einen Be­reich, wo die Seh­kraft des Men­schen stets ver­sagt hat, wie je­des per­zep­to­ri­sche Ge­rät in ei­nem to­ten Win­kel ver­sagt. In die­sem Dun­kel­be­reich des Men­schen, so lau­tet Tor­res Theo­rie, könn­te man mit Hil­fe der En­zy­klo­pä­die for­schen und aus Form und Ge­stalt des Ge­samt­wis­sens auf ge­wis­se Vor­gän­ge schlie­ßen. In die­sem Be­reich – so Tor­re – wür­de man auf et­was sto­ßen, auf ei­ne Qua­li­tät, ei­ne Fä­hig­keit oder ei­ne Kraft. Man wür­de in den tiefs­ten und ver­bor­gens­ten Grün­den des Er­den­menschen, in sei­nem Grund­stock, et­was fin­den, was die­sem Men­schen ganz al­lein ge­hört, et­was, das den zer­split­ter­ten Men­schen­ty­pen der Neu­en Wel­ten ent­we­der ver­lo­ren­ge­gan­gen oder nicht mehr greif­bar war, ob­wohl sie den­noch drauf und dran wa­ren, ih­re Vor­fah­ren kör­per­lich und geis­tig zu über­run­den.

In­dem ich all dies ver­nahm, er­in­ner­te ich mich an das merk­wür­di­ge Aus­se­hen und an die eben­so merk­wür­di­gen Wor­te Li­sas, die sie vor­her an mich ge­rich­tet hat­te. Ich schau­te mich im Vor­über­ge­hen in all den über­füll­ten Räu­men um, die mir selt­sam vor­ka­men und wo so­wohl Bau­ar­bei­ten als auch die sub­tils­ten La­bor­ver­su­che in vol­lem Gang wa­ren. Und wie­der tauch­te die­ses merk­wür­di­ge, fast un­an­ge­neh­me Ge­fühl in mir auf. Doch nicht nur, daß es mich un­ver­mu­tet über­kam, es blieb und ge­dieh und wei­te­te sich aus und wur­de zu ei­ner Art Be­wußt­sein, als wä­re die gan­ze En­zy­klo­pä­die zu ei­nem ge­wal­ti­gen le­ben­den Or­ga­nis­mus ge­wor­den, in des­sen Mit­tel­punkt ich stand.

In­stink­tiv kämpf­te ich ge­gen die­ses Ge­fühl an. Denn al­les, was ich mir in mei­nem bis­he­ri­gen Le­ben ge­wünscht hat­te, war Frei­heit – ich woll­te frei sein, oh­ne je­de mensch­li­che oder me­cha­ni­sche Ein­wir­kung ir­gend­wel­cher Art. Doch das Ge­fühl in mir wuchs wei­ter, und es hör­te nicht auf, selbst dann nicht, als wir schließ­lich das In­dex­zim­mer be­tra­ten, das im Welt­raum ei­nes Ta­ges ge­nau im Mit­tel­punkt der En­zy­klo­pä­die lie­gen wür­de.

Der Raum er­wies sich als ei­ne rie­si­ge Ku­gel, so ge­wal­tig, daß die ge­gen­über­lie­gen­de Wand in ne­bel­haf­ter Fer­ne lag, als wir ein­tra­ten, bis auf all die blin­ken­den Lich­ter, die wie Glüh­würm­chen in ei­ner Som­mer­nacht leuch­te­ten und das Er­stel­len neu­er Fak­ten im emp­find­li­chen Auf­zeich­nungs­ma­te­ri­al der In­nen­flä­che si­gna­li­sier­ten, je­ner end­lo­sen Flä­che, die sich über uns wölb­te und die gleich­zei­tig Wand, De­cke und Bo­den dar­stell­te.

Der gan­ze In­nen­raum die­ser ge­wal­ti­gen Ku­gel war leer, doch gin­gen Ram­pen von al­len Ein­gän­gen aus und führ­ten in den Raum hin­ein und hin­auf, Ram­pen die sich in gra­zi­ösen Kur­ven bis zu ei­ner kreis­för­mi­gen Platt­form schwan­gen, die in­mit­ten des sonst lee­ren Raum­es ge­nau im Mit­tel­punkt stand.

Über ei­ne die­ser Ram­pen führ­te uns jetzt Li­sa nach oben, bis wir die Platt­form er­reich­ten, de­ren Durch­mes­ser et­wa zehn Me­ter be­trug.

„… Hier, wo wir jetzt ste­hen“, sag­te Li­sa, als wir auf der Platt­form an­hiel­ten, „be­fin­det sich je­ner Punkt, der spä­ter als Tran­sit­punkt be­zeich­net wird. Im Welt­raum er­fol­gen sämt­li­che Ver­bin­dun­gen nicht nur um die Wän­de des In­dex­raums her­um, sie wer­den auch durch die­sen zen­tra­len Punkt ge­legt. Und von die­sem zen­tra­len Punkt aus wird man einst ver­su­chen, die En­zy­klo­pä­die nach der Theo­rie von Mark Tor­re ein­zu­set­zen, um das ge­hei­me Wis­sen un­se­res erd­hu­ma­nen Geis­tes zu ent­schlei­ern.“

Sie hielt in­ne und dreh­te sich um, wo­bei sie je­den ein­zel­nen der Grup­pe fi­xier­te.

„Schlie­ßen Sie bit­te dicht auf“, sag­te sie. Für einen Mo­ment streif­te ihr Blick den mei­nen – und ganz plötz­lich und un­er­war­tet schlug das Ge­fühl, das ich der En­zy­klo­pä­die ge­gen­über emp­fand, wie­der ho­he Wel­len. Mich über­lief es kalt, wie ei­ne Art Angst­ge­fühl, und ich er­starr­te.

„Nun“, fuhr sie fort, als wir al­le dicht bei­ein­an­der stan­den, „möch­te ich Sie bit­ten, et­wa sech­zig Se­kun­den lang ab­so­lut still zu sein und zu hor­chen. Spit­zen Sie ein­fach die Oh­ren und ach­ten Sie dar­auf, ob Sie et­was hö­ren kön­nen.“

Al­les schwieg, und die große, un­be­rühr­ba­re Stil­le die­ses ge­wal­ti­gen Raum­es um­fing uns al­le. Sie hüll­te uns ein, und je­nes merk­wür­di­ge Ge­fühl in mir schoß ur­plötz­lich hoch und gip­fel­te in ei­ner na­men­lo­sen Angst. Hö­hen oder Ent­fer­nun­gen hat­ten mir noch nie et­was aus­ge­macht, ich hat­te nie Hö­hen­angst ge­kannt, doch plötz­lich wur­de mir je­ne bo­den­lo­se Lee­re be­wußt, die mir un­ter­halb der Platt­form ent­ge­gen­gähn­te, all je­ner Raum, der mich um­schloß. Mir wur­de schwind­lig, mein Herz schlug wie ra­send, und ich war ei­ner Ohn­macht na­he.

„Und was sol­len wir nun hö­ren, wenn ich fra­gen darf?“ warf ich über­laut ein, nicht so sehr we­gen der Fra­ge an sich, son­dern um die­sem Ge­fühl zu ent­kom­men, das mich mit­zu­rei­ßen und mei­ner Sin­ne zu be­rau­ben droh­te. Ich stand dicht hin­ter Li­sa, als ich die­se Fra­ge stell­te. Sie dreh­te sich um und schau­te mich an, und wie­der war die­ser Schat­ten da, der Schat­ten in ih­ren Au­gen und die­ser merk­wür­di­ge Blick, mit dem sie mich schon vor­her be­dacht hat­te.

„Nichts“, sag­te sie. Doch dann zö­ger­te sie, in­dem sie mich im­mer noch un­ver­wandt an­schau­te. „Oder viel­leicht – et­was, ob­wohl die Chan­ce eins zu ei­ner Mil­li­ar­de steht. Sie wer­den es wis­sen, so­bald Sie et­was ge­hört ha­ben, und ich wer­de es Ih­nen er­klä­ren, so­bald die sech­zig Se­kun­den ver­stri­chen sind.“ Da­bei be­rühr­te sie vor­sich­tig und wie fra­gend mei­nen Arm. „Jetzt sei­en Sie aber bit­te still – we­gen der an­de­ren, selbst wenn Sie nicht hin­hö­ren wol­len.“

„Oh, ich wer­de schon die Oh­ren spit­zen“, mein­te ich.

Da­mit wand­te ich mich von ihr ab. Und plötz­lich, über die Schul­ter, hin­ter uns und un­ter mir, klein und ver­lo­ren und ent­fernt, er­blick­te ich mei­ne Schwes­ter am Ein­gang zum In­dex­raum, durch den wir her­ein­ge­kom­men wa­ren. Ei­leen hat­te sich von ih­rer Grup­pe ab­ge­setzt. Auf die­se Ent­fer­nung konn­te ich sie nur durch ihr hel­les Haar und ih­re Ge­stalt er­ken­nen. Sie sprach mit ei­nem dun­kel­haa­ri­gen, schlan­ken Mann, ganz in Schwarz, der dicht bei ihr stand, des­sen Ge­sicht ich aber auf die­se Ent­fer­nung nicht er­ken­nen konn­te.

Ich war ver­blüfft und gleich­zei­tig ver­är­gert. Der An­blick die­ses schwarz­ge­klei­de­ten Man­nes traf mich wie ei­ne Her­aus­for­de­rung oder wie ein Keu­len­schlag. Al­lein der Ge­dan­ke, daß mei­ne Schwes­ter sich von der Grup­pe lö­sen wür­de, um sich mit ei­nem Frem­den zu un­ter­hal­ten, oh­ne mich um Er­laub­nis zu fra­gen, nach­dem sie mich im­mer wie­der be­stürmt hat­te, sie end­lich hier­her­zu­brin­gen – mit ei­nem Frem­den zu spre­chen, den ich nicht kann­te, und das auf ei­ne ein­ge­hen­de und erns­te Wei­se, wie ich selbst aus die­ser Ent­fer­nung aus ih­rer Hal­tung und ih­ren Hand­be­we­gun­gen ent­neh­men konn­te –, war für mich ei­ne Un­höf­lich­keit, die schier an Ver­rat grenz­te. Schließ­lich war sie es doch ge­we­sen, die mich zu die­sem Be­such über­re­det hat­te.

Mir sträub­ten sich die Haa­re im Nacken, und ei­ne kal­te Angst­wel­le stieg in mir hoch. Es war ein­fach lä­cher­lich. Auf die­se Ent­fer­nung wä­re kei­nes Men­schen Ohr im­stan­de ge­we­sen, ihr Ge­spräch zu be­lau­schen, ich aber kämpf­te ver­zwei­felt ge­gen die Stil­le, die mich um­gab und die in die­sem ge­wal­ti­gen Raum herrsch­te, und ver­such­te her­aus­zu­fin­den, was sich die bei­den wohl zu sa­gen hat­ten.

Und dann – zu­nächst kaum wahr­nehm­bar, dann aber im­mer lau­ter – dran­gen Stim­men an mein Ohr, und ich be­gann et­was zu hö­ren, et­was Un­de­fi­nier­ba­res.

Es war nicht die Stim­me mei­ner Schwes­ter oder die Stim­me des Frem­den, wer auch im­mer er sein moch­te, son­dern die fer­ne, rau­he Stim­me ei­nes Man­nes in ei­ner Spra­che, die an La­tein er­in­ner­te, doch mit ver­schluck­ten Vo­ka­len und rol­len­den R, die der Spra­che einen mur­meln­den Ton­fall ver­lie­hen, wie Donner­grol­len bei ei­nem Som­mer­ge­wit­ter, das die lo­dern­den Blit­ze be­glei­tet. Und die­se Stim­me wur­de im­mer in­ten­si­ver, nicht lau­ter, aber da­für schi­en sie im­mer nä­her zu rücken – und dann hör­te ich ei­ne zwei­te Stim­me, die der ers­ten ant­wor­te­te.

Dann noch ei­ne Stim­me und noch ei­ne und noch ei­ne.

Röh­rend und ru­fend dran­gen die Stim­men plötz­lich von al­len Sei­ten wie ei­ne La­wi­ne auf mich ein, von al­len Sei­ten, schwol­len an, wur­den im­mer wil­der und zahl­rei­cher, ein ge­misch­ter Chor – al­le Stim­men in al­len Spra­chen die­ser Welt, al­le Stim­men, die auf die­ser Welt vor­han­den wa­ren – und mehr als das. Mehr … und mehr … und im­mer mehr.

Sie klan­gen in mei­nem Ohr, brab­belnd, schrei­end, la­chend, flu­chend, be­feh­lend, fle­hend – aber sie ver­ei­nig­ten sich nicht, wie es bei ei­ner sol­chen Viel­falt zu er­war­ten ge­we­sen wä­re, zu ei­nem ein­zi­gen, ton­lo­sen, ge­wal­ti­gen Donner­ge­tö­se wie das To­ben ei­nes Was­ser­falls. Ob­wohl sie im­mer mehr an­schwol­len, blie­ben sie stets ge­trennt, so daß ich je­de Stim­me ein­zeln ver­neh­men konn­te, je­de von die­sen Mil­lio­nen, ja Mil­li­ar­den männ­li­chen und weib­li­chen Stim­men, die ein­zeln mein Ohr er­reich­ten.

Und die­ser Tu­mult hob mich hoch und trug mich da­von wie ei­ne Fe­der auf den Wo­gen ei­nes Wir­bel­sturms, wir­bel­te mich hoch und be­grub mei­ne Sin­ne un­ter ei­nem ra­sen­den Ka­ta­rakt der Be­wußt­lo­sig­keit.