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Es war ihre Idee – die Idee meiner Schwester Eileen –, die Enzyklopädie an diesem Tag zu besuchen, wobei ich mich meines neuen Reiseausweises als Mitarbeiter des Nachrichtendienstes bediente.
Normalerweise hätte ich mich vielleicht gefragt, warum sie ausgerechnet dorthin fahren wollte. Doch in diesem Fall wurde bereits bei ihrem Vorschlag ein Gefühl in mir geweckt, tief und schwer, wie ein Gongschlag – ein Gefühl, das ich noch nie vorher empfunden hatte –, eine Resonanz, die nahendes Unheil verkündete.
Es war aber nicht nur eine Drohung, nein, so einfach war das nicht. Eigentlich war es gar kein unangenehmes Gefühl, eher eine große Leere, eine gewisse erwartungsvolle Spannung, wie die vor einer großen, wichtigen Prüfung. Trotzdem anders und mehr – als würde ein Drache meine Wege kreuzen.
Es war nur ein flüchtiger Augenblick, während dieser Todesengel durch den Raum schwebte, dennoch war es mehr als genug. Und da die Enzyklopädie theoretisch alle Hoffnungen für die Erdgeborenen darstellte und mein Onkel Mathias für uns alle Hoffnungslosigkeit auf Erden symbolisierte, brachte ich diese Empfindung mit ihm in Verbindung, mit der Herausforderung, die all unsere gemeinsamen Jahre überschattete. Dies war dann der Anstoß, der mich bewog hinzugehen, wobei ich jeden auch noch so geringen Einwand beiseite schob.
Obendrein paßte diese Reise genau in meine Pläne und hatte gleichzeitig etwas Feierliches an sich. Normalerweise pflegte ich mit Eileen keine Reisen zu unternehmen. Aber ich hatte erst kürzlich einen Ausbildungsvertrag mit dem Interstellaren Nachrichtendienst für ihr Hauptquartier auf Alterde unterzeichnet und dies nur zwei Wochen nach meiner Prüfung an der Universität für das Nachrichtenwesen in Genf. Sicher galt diese Hochschule als eine der besten auf allen vierzehn Welten der Menschheit einschließlich Alterdes, und meine Leistungen waren wohl die besten in ihrer Geschichte. Aber solche Angebote bekam ein junger Mann, der direkt von der Schulbank kam, äußerst selten, vielleicht nur alle zwanzig Jahre, wenn überhaupt.
Also fragte ich meine siebzehnjährige Schwester immer wieder, was sie dazu gebracht hatte, ausgerechnet die Enzyklopädie zu besuchen, und das an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Stunde. Wenn ich jetzt zurückblicke, glaube ich, daß sie lediglich jenem finsteren Haus unseres Onkels entfliehen wollte, und das allein war für mich Grund genug, ihrem Wunsch entgegenzukommen.
Mathias, der Bruder meines Vaters, war es gewesen, der uns Waisenkinder bei sich aufgenommen hatte, nachdem unsere Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Er war es aber auch, der uns in unseren Entwicklungsjahren nach seinen Vorstellungen zurechtgebogen hatte. Nicht daß er jemals Hand an uns gelegt oder uns körperlich gezüchtigt hätte, auch konnten wir ihm keinerlei Willkür oder irgendwelche Grausamkeiten zur Last legen. So was hatte er gar nicht nötig.
Er hatte nichts weiter zu tun, als uns die vornehmste Umgebung zu bieten, das Beste vom Besten an Unterkunft, Speisen und Kleidung und die größtmögliche Sorgfalt – und dabei darauf zu achten, daß wir all dies mit ihm teilten, dessen Herz ebenso finster war wie sein gewaltiges, dunkles Haus, finster wie eine Höhle tief unter der Erde, wohin nie ein Sonnenstrahl drang, dessen Seele so kalt war wie der Stein in einer solchen Höhle.
Seine Bibel waren die Schriften jenes alten Heiligen oder Teufels aus dem 21. Jahrhundert, die Werke jenes Walter Blunt, dessen Motto ZERSTÖRUNG war – und aus dessen religiöser Sekte jene exotische Kultur hervorging, die auf den Welten von Mara und Kultis herrschte. Es muß nicht besonders erwähnt werden, daß die Exoten Blunts Schriften bereits kannten und auf ihre Weise ausgelegt hatten, indem sie nämlich die Botschaft erkannten, das Unkraut unserer Zeit zu jäten, damit die Blüten der Zukunft wachsen und gedeihen konnten. Mathias, mein Onkel, war aber über das Jäten und Vernichten nicht hinausgekommen, eine Idee, die er uns in seinem finsteren Haus Tag für Tag einbleute.
Soviel über Mathias. Er war perfekt in seiner Lehre und seinem fanatischen Glauben, daß die Neuen Welten uns Erdenmenschen schon lange im Stich gelassen hätten, um uns dem Untergang und dem Tod preiszugeben, so wie man ein abgestorbenes Glied abstößt. Doch weder ich noch Eileen konnten uns für diese eiskalte Philosophie begeistern, so sehr wir es als Kinder auch versuchten. So versuchte jeder von uns auf seine Weise, ihm und seiner Gedankenwelt zu entfliehen. Und einer unserer Fluchtwege führte uns an einem bestimmten Tag zu der Enklave von St. Louis und zur Enzyklopädie.
Wir nahmen eine Raumfähre von Athen nach St. Louis und stiegen dann in die U-Bahn, die uns zur Enklave brachte. Ein Luftbus brachte uns zum Hof der Enzyklopädie, und urplötzlich war ich aus dem Bus, ohne zu wissen, wie mir geschah. Als mein Fuß den Asphalt berührte, war es plötzlich wieder da, dieses Gefühl, das mich wie ein tiefer Gongton berührte. Ich hielt an, wie ein Mensch, der in Trance fallt.
„Verzeihung“, sagte eine Stimme hinter mir. „Sie gehören doch mit zu der Gruppe? Würden Sie sich bitte anschließen? Ich bin Ihr Fremdenführer.“
Ich drehte mich auf dem Absatz um und stand Auge in Auge mit einem jungen Mädchen, das die blaue Robe einer Exotin trug. Sie stand da, so frisch wie die Sonne über ihr – doch an ihr war etwas Fremdes, etwas, das nicht zu ihrer Erscheinung paßte.
„Sie sind keine Exotin!“ sagte ich unvermittelt. Anscheinend war sie es wirklich nicht. Ein geborener Exote sieht ganz anders aus. Ihr Gesichtsausdruck ist gefaßter als der anderer Menschen, ihre Augen, ihre Blicke sind durchdringender als die unseren. Sie sind wie die Friedensgötter, deren Hände auf einem Blitz ruhen, ohne sich dessen Gegenwart bewußt zu werden, ohne zu wissen, welchen Donnerschlag sie mit einer einzigen Bewegung auslösen können.
„Ich bin nur eine Mitarbeiterin“, erwiderte sie. „Ich heiße Lisa Kent. Und Sie haben absolut recht. Ich bin keine geborene Exotin.“ Sie schien sich nicht daran zu stören, daß ich festgestellt hatte, wie sich ihr Körper unter der Robe abzeichnete, die sie trug. Sie war kleiner und zierlicher als meine Schwester, die ebenso hochgewachsen war wie ich – fast zu zierlich für einen Erdenmenschen. Eileen war silberblond, während mein Haar zu jener Zeit bereits nachgedunkelt war. Als meine Eltern starben, war ich genauso ein Blondkopf gewesen. Aber meine Haare waren mit den Jahren in Mathias1 Haus dunkel geworden. Doch dieses Mädchen Lisa hatte braunes Haar, war hübsch und lächelte verbindlich – es war ein fröhliches Lächeln. Ihre hübsche Erscheinung gefiel mir, so wie sie in ihrem exotischen Gewand vor mir stand – und gleichzeitig ärgerte sie mich, weil sie mir zu selbstsicher vorkam.
Ich beobachtete sie, während sie sich um die anderen Besucher kümmerte, die darauf warteten, durch die Enzyklopädie geführt zu werden. Und sobald sich die Gruppe in Bewegung gesetzt hatte, gesellte ich mich zu ihr und verwickelte sie immer wieder in ein Gespräch, wenn sie der Besuchergruppe nicht gerade etwas erklären mußte.
Sie zögerte nicht, über sich selbst zu sprechen. Sie war im nordamerikanischen Mittelwesten zur Welt gekommen, direkt vor den Toren von St. Louis, wie sie mir erzählte. Sie hatte die Grundschule und die höhere Schule in der Enklave besucht, war von den exotischen Philosophen überzeugt und hatte deren Werke und Methoden übernommen. Eigentlich schade bei einem Mädchen ihresgleichen, so hübsch und so attraktiv – und das sagte ich ihr frei heraus.
„Wieso könnte ich mich da verschwenden“, sagte sie und schenkte mir ein Lächeln, „wenn ich meine Kräfte auf diese Weise voll ausschöpfen kann – und dies zum bestmöglichen Zweck?“
Vielleicht lacht sie dich aus, dachte ich. So was konnte ich schon damals nicht vertragen – ich gehörte nicht zu jenen, die man einfach auslacht.
„Und wie, bitte, sehen diese bestmöglichen Ziele oder Zwecke aus?“ fragte ich so barsch, wie ich nur konnte. „Indem Sie vielleicht Ihren Nabel betrachten?“
Ihr Lächeln war plötzlich verschwunden, und sie sah mich so betroffen an, daß ich mich auch noch später an ihren Blick erinnerte.
Es war, als hätte sie mich ganz plötzlich erblickt – wie einen, der auf der nächtlichen See dahintreibt unter jenem festen Felsen, auf dem sie steht. Sie streckte die Hand aus, als wollte sie mich berühren, dann ließ sie ihre Hand wieder sinken, als hätte sie sich auf einmal daran erinnert, wo sie stand.
„Wir sind stets da“, erwiderte sie. „Wir sind immer da. Vergessen Sie das nicht.“
Sie wandte sich ab und führte uns weiter durch die verschiedenen Aufbauten, welche die Enzyklopädie bildeten. All diese Baulichkeiten, sagte sie, indem sie sich jetzt an alle wandte, sollten einst in den Weltraum getragen und dort zu einer nahezu kreisförmigen Struktur zusammengefaltet werden, und dies auf einer Umlaufbahn etwa hundertfünfzig Meilen über der Erdoberfläche. Sie erzählte, welch ein riesiger Aufwand nötig sei, um eine solche Struktur als Einheit auf eine Umlaufbahn zu bringen. Sie erklärte aber auch, daß die Kosten, wie teuer ein solches Unternehmen auch zu stehen käme, durch die Einsparungen der ersten hundert Jahre gerechtfertigt seien, da der erste Bauabschnitt sowie die Speicherung der Informationen sich auf der Erde weitaus kostengünstiger durchführen ließen.
Denn die Enzyklopädie, meinte sie, sollte nicht lediglich so etwas wie ein Lagerhaus für Fakten werden. Natürlich würden Fakten gespeichert, allerdings nur zu einem bestimmten Zweck – nämlich zur Herstellung und Entdeckung von Beziehungen zwischen diesen Fakten. Jedes Wissensgebiet sollte mit anderen Gebieten durch Energie-Impulse verknüpft werden, die den Beziehungscode enthielten, bis diese Verknüpfungen so weitgehend wie möglich hergestellt wären, bis schließlich dieses gewaltige Informationsnetz des Menschen über sich selbst und sein Universum Gestalt annähme und sich auf eine Weise präsentierte, wie es der Mensch bisher noch nie beobachten konnte.
Zu diesem Zeitpunkt würde dann die Erde in der Enzyklopädie über einen mächtigen, direkt zugänglichen Speicher von miteinander verknüpften Informationen über die menschliche Rasse und ihre Geschichte verfügen. Diese Informationen ließen sich gegen das exakte Wissen von Welten wie Venus und Newton, gegen das psychologische Wissen der Exotischen Welten und gegen sonstige spezialisierte Informationen der Neuen Welten eintauschen, die auf der Erde benötigt würden. Allein dadurch würde sich die Enzyklopädie am Ende in einer Welt verschiedener Rassen und Kulturen bezahlt machen, in denen der Austausch von Wissen als internationale Währung gilt.
Doch die Hoffnung, die die Erde hegte und die schließlich dazu führte, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, ging weit über solche Überlegungen hinaus. Es war die Hoffnung dieser Erde – die Hoffnung aller Menschen auf Erden, ausgenommen solcher Menschen wie Mathias, der alle Hoffnung hatte fahren lassen –, der ideelle Wert der Enzyklopädie liege in der Tatsache, daß sich dieses Werk als Werkzeug für die Erforschung der Theorie des Mark Torre verwenden ließe.
Torres Theorie aber, wie wir alle wissen, postuliert den Umstand, daß es im Wissen des Menschen über sich selbst einen dunklen Punkt gibt, einen Bereich, wo die Sehkraft des Menschen stets versagt hat, wie jedes perzeptorische Gerät in einem toten Winkel versagt. In diesem Dunkelbereich des Menschen, so lautet Torres Theorie, könnte man mit Hilfe der Enzyklopädie forschen und aus Form und Gestalt des Gesamtwissens auf gewisse Vorgänge schließen. In diesem Bereich – so Torre – würde man auf etwas stoßen, auf eine Qualität, eine Fähigkeit oder eine Kraft. Man würde in den tiefsten und verborgensten Gründen des Erdenmenschen, in seinem Grundstock, etwas finden, was diesem Menschen ganz allein gehört, etwas, das den zersplitterten Menschentypen der Neuen Welten entweder verlorengegangen oder nicht mehr greifbar war, obwohl sie dennoch drauf und dran waren, ihre Vorfahren körperlich und geistig zu überrunden.
Indem ich all dies vernahm, erinnerte ich mich an das merkwürdige Aussehen und an die ebenso merkwürdigen Worte Lisas, die sie vorher an mich gerichtet hatte. Ich schaute mich im Vorübergehen in all den überfüllten Räumen um, die mir seltsam vorkamen und wo sowohl Bauarbeiten als auch die subtilsten Laborversuche in vollem Gang waren. Und wieder tauchte dieses merkwürdige, fast unangenehme Gefühl in mir auf. Doch nicht nur, daß es mich unvermutet überkam, es blieb und gedieh und weitete sich aus und wurde zu einer Art Bewußtsein, als wäre die ganze Enzyklopädie zu einem gewaltigen lebenden Organismus geworden, in dessen Mittelpunkt ich stand.
Instinktiv kämpfte ich gegen dieses Gefühl an. Denn alles, was ich mir in meinem bisherigen Leben gewünscht hatte, war Freiheit – ich wollte frei sein, ohne jede menschliche oder mechanische Einwirkung irgendwelcher Art. Doch das Gefühl in mir wuchs weiter, und es hörte nicht auf, selbst dann nicht, als wir schließlich das Indexzimmer betraten, das im Weltraum eines Tages genau im Mittelpunkt der Enzyklopädie liegen würde.
Der Raum erwies sich als eine riesige Kugel, so gewaltig, daß die gegenüberliegende Wand in nebelhafter Ferne lag, als wir eintraten, bis auf all die blinkenden Lichter, die wie Glühwürmchen in einer Sommernacht leuchteten und das Erstellen neuer Fakten im empfindlichen Aufzeichnungsmaterial der Innenfläche signalisierten, jener endlosen Fläche, die sich über uns wölbte und die gleichzeitig Wand, Decke und Boden darstellte.
Der ganze Innenraum dieser gewaltigen Kugel war leer, doch gingen Rampen von allen Eingängen aus und führten in den Raum hinein und hinauf, Rampen die sich in graziösen Kurven bis zu einer kreisförmigen Plattform schwangen, die inmitten des sonst leeren Raumes genau im Mittelpunkt stand.
Über eine dieser Rampen führte uns jetzt Lisa nach oben, bis wir die Plattform erreichten, deren Durchmesser etwa zehn Meter betrug.
„… Hier, wo wir jetzt stehen“, sagte Lisa, als wir auf der Plattform anhielten, „befindet sich jener Punkt, der später als Transitpunkt bezeichnet wird. Im Weltraum erfolgen sämtliche Verbindungen nicht nur um die Wände des Indexraums herum, sie werden auch durch diesen zentralen Punkt gelegt. Und von diesem zentralen Punkt aus wird man einst versuchen, die Enzyklopädie nach der Theorie von Mark Torre einzusetzen, um das geheime Wissen unseres erdhumanen Geistes zu entschleiern.“
Sie hielt inne und drehte sich um, wobei sie jeden einzelnen der Gruppe fixierte.
„Schließen Sie bitte dicht auf“, sagte sie. Für einen Moment streifte ihr Blick den meinen – und ganz plötzlich und unerwartet schlug das Gefühl, das ich der Enzyklopädie gegenüber empfand, wieder hohe Wellen. Mich überlief es kalt, wie eine Art Angstgefühl, und ich erstarrte.
„Nun“, fuhr sie fort, als wir alle dicht beieinander standen, „möchte ich Sie bitten, etwa sechzig Sekunden lang absolut still zu sein und zu horchen. Spitzen Sie einfach die Ohren und achten Sie darauf, ob Sie etwas hören können.“
Alles schwieg, und die große, unberührbare Stille dieses gewaltigen Raumes umfing uns alle. Sie hüllte uns ein, und jenes merkwürdige Gefühl in mir schoß urplötzlich hoch und gipfelte in einer namenlosen Angst. Höhen oder Entfernungen hatten mir noch nie etwas ausgemacht, ich hatte nie Höhenangst gekannt, doch plötzlich wurde mir jene bodenlose Leere bewußt, die mir unterhalb der Plattform entgegengähnte, all jener Raum, der mich umschloß. Mir wurde schwindlig, mein Herz schlug wie rasend, und ich war einer Ohnmacht nahe.
„Und was sollen wir nun hören, wenn ich fragen darf?“ warf ich überlaut ein, nicht so sehr wegen der Frage an sich, sondern um diesem Gefühl zu entkommen, das mich mitzureißen und meiner Sinne zu berauben drohte. Ich stand dicht hinter Lisa, als ich diese Frage stellte. Sie drehte sich um und schaute mich an, und wieder war dieser Schatten da, der Schatten in ihren Augen und dieser merkwürdige Blick, mit dem sie mich schon vorher bedacht hatte.
„Nichts“, sagte sie. Doch dann zögerte sie, indem sie mich immer noch unverwandt anschaute. „Oder vielleicht – etwas, obwohl die Chance eins zu einer Milliarde steht. Sie werden es wissen, sobald Sie etwas gehört haben, und ich werde es Ihnen erklären, sobald die sechzig Sekunden verstrichen sind.“ Dabei berührte sie vorsichtig und wie fragend meinen Arm. „Jetzt seien Sie aber bitte still – wegen der anderen, selbst wenn Sie nicht hinhören wollen.“
„Oh, ich werde schon die Ohren spitzen“, meinte ich.
Damit wandte ich mich von ihr ab. Und plötzlich, über die Schulter, hinter uns und unter mir, klein und verloren und entfernt, erblickte ich meine Schwester am Eingang zum Indexraum, durch den wir hereingekommen waren. Eileen hatte sich von ihrer Gruppe abgesetzt. Auf diese Entfernung konnte ich sie nur durch ihr helles Haar und ihre Gestalt erkennen. Sie sprach mit einem dunkelhaarigen, schlanken Mann, ganz in Schwarz, der dicht bei ihr stand, dessen Gesicht ich aber auf diese Entfernung nicht erkennen konnte.
Ich war verblüfft und gleichzeitig verärgert. Der Anblick dieses schwarzgekleideten Mannes traf mich wie eine Herausforderung oder wie ein Keulenschlag. Allein der Gedanke, daß meine Schwester sich von der Gruppe lösen würde, um sich mit einem Fremden zu unterhalten, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, nachdem sie mich immer wieder bestürmt hatte, sie endlich hierherzubringen – mit einem Fremden zu sprechen, den ich nicht kannte, und das auf eine eingehende und ernste Weise, wie ich selbst aus dieser Entfernung aus ihrer Haltung und ihren Handbewegungen entnehmen konnte –, war für mich eine Unhöflichkeit, die schier an Verrat grenzte. Schließlich war sie es doch gewesen, die mich zu diesem Besuch überredet hatte.
Mir sträubten sich die Haare im Nacken, und eine kalte Angstwelle stieg in mir hoch. Es war einfach lächerlich. Auf diese Entfernung wäre keines Menschen Ohr imstande gewesen, ihr Gespräch zu belauschen, ich aber kämpfte verzweifelt gegen die Stille, die mich umgab und die in diesem gewaltigen Raum herrschte, und versuchte herauszufinden, was sich die beiden wohl zu sagen hatten.
Und dann – zunächst kaum wahrnehmbar, dann aber immer lauter – drangen Stimmen an mein Ohr, und ich begann etwas zu hören, etwas Undefinierbares.
Es war nicht die Stimme meiner Schwester oder die Stimme des Fremden, wer auch immer er sein mochte, sondern die ferne, rauhe Stimme eines Mannes in einer Sprache, die an Latein erinnerte, doch mit verschluckten Vokalen und rollenden R, die der Sprache einen murmelnden Tonfall verliehen, wie Donnergrollen bei einem Sommergewitter, das die lodernden Blitze begleitet. Und diese Stimme wurde immer intensiver, nicht lauter, aber dafür schien sie immer näher zu rücken – und dann hörte ich eine zweite Stimme, die der ersten antwortete.
Dann noch eine Stimme und noch eine und noch eine.
Röhrend und rufend drangen die Stimmen plötzlich von allen Seiten wie eine Lawine auf mich ein, von allen Seiten, schwollen an, wurden immer wilder und zahlreicher, ein gemischter Chor – alle Stimmen in allen Sprachen dieser Welt, alle Stimmen, die auf dieser Welt vorhanden waren – und mehr als das. Mehr … und mehr … und immer mehr.
Sie klangen in meinem Ohr, brabbelnd, schreiend, lachend, fluchend, befehlend, flehend – aber sie vereinigten sich nicht, wie es bei einer solchen Vielfalt zu erwarten gewesen wäre, zu einem einzigen, tonlosen, gewaltigen Donnergetöse wie das Toben eines Wasserfalls. Obwohl sie immer mehr anschwollen, blieben sie stets getrennt, so daß ich jede Stimme einzeln vernehmen konnte, jede von diesen Millionen, ja Milliarden männlichen und weiblichen Stimmen, die einzeln mein Ohr erreichten.
Und dieser Tumult hob mich hoch und trug mich davon wie eine Feder auf den Wogen eines Wirbelsturms, wirbelte mich hoch und begrub meine Sinne unter einem rasenden Katarakt der Bewußtlosigkeit.