23

 

Ich blick­te ihn über die Di­stanz von drei oder vier Me­tern hin­weg an, die uns trenn­te. Der Grup­pen­füh­rer der Quä­ker, der auf Neu­er­de die Ge­fan­ge­nen um­ge­bracht hat­te, hat­te eben­falls von Got­tes Aus­er­wähl­ten ge­spro­chen.

„Wenn Sie die Pa­pie­re durch­se­hen, die an Sie adres­siert sind“, sag­te ich, „dann fin­den Sie sie. Die Nach­rich­ten­diens­te und ih­re Mit­ar­bei­ter sind ob­jek­tiv. Wir er­grei­fen nicht Par­tei.“

„Das Recht“, sag­te das dunkle und jun­ge Ge­sicht mir ge­gen­über, „ist par­tei­lich.“

„Ja, Kom­man­deur“, er­wi­der­te ich. „Das stimmt. Doch manch­mal kann man sich dar­über strei­ten, wo das Recht liegt. Sie und Ih­re Trup­pen hier sind jetzt Ein­dring­lin­ge auf der Welt ei­nes Son­nen­sys­tems, das von Ih­ren Vor­fah­ren nie ko­lo­ni­siert wur­de. Und Ih­nen ge­gen­über ste­hen die Streit­kräf­te von Söld­nern, die von zwei Pla­ne­ten ge­mie­tet wur­den, die nicht nur Kin­der Pro­ky­ons sind, son­dern auch die Ver­pflich­tung ha­ben, die klei­ne­ren Wel­ten ih­res Son­nen­sys­tems zu be­schüt­zen – und San­ta Ma­ria ist ei­ne da­von. Ich bin nicht si­cher, ob das Recht auf Ih­rer Sei­te ist.“

Er schüt­tel­te an­deu­tungs­wei­se den Kopf und sag­te: „Wir er­war­ten kaum, daß uns die nicht Aus­er­wähl­ten ver­ste­hen.“ Er wand­te sei­nen Blick von mir ab und be­trach­te­te die Pa­pie­re, die er in Hän­den hielt.

„Ha­ben Sie et­was da­ge­gen, wenn ich Platz neh­me?“ frag­te ich. „Mein ei­nes Bein ist nicht ganz in Ord­nung.“

„Selbst­ver­ständ­lich.“ Er nick­te in Rich­tung ei­nes Stuhls ne­ben dem Tisch, und als ich mich setz­te, ließ er sich eben­falls nie­der. Ich blick­te auf die Pa­pie­re auf dem Tisch vor ihm. Auf der einen Sei­te stand das Mas­siv­bild ei­ner der fens­ter­lo­sen, ho­hen und nach oben spitz zu­lau­fen­den Kir­chen, die die Quä­ker bau­ten. Es war ei­ne re­li­gi­öse Auf­nah­me und Aus­druck sei­nes Be­kennt­nis­ses. Doch wie es der Zu­fall woll­te, wa­ren im Vor­der­grund des Bil­des drei Men­schen zu se­hen: ein äl­te­rer Mann, ei­ne et­wa gleich­alt­ri­ge Frau und ein jun­ges Mäd­chen von et­wa vier­zehn Jah­ren. Al­le drei wa­ren Ja­me­thon so ähn­lich, daß man auf ei­ne Ver­wandt­schaft schlie­ßen konn­te. Als er von mei­nen Be­glau­bi­gun­gen auf­sah, be­merk­te er mei­nen Blick. Und für einen Mo­ment rich­te­te er sei­ne Auf­merk­sam­keit eben­falls auf das Bild; dann sah er wie­der mich an, und es war, als müs­se er die Auf­nah­me vor mir schüt­zen.

„Wie ich se­he“, sag­te er, und sei­ne Au­gen fin­gen mei­nen Blick ein, „ver­langt man von mir, mit Ih­nen zu­sam­men­zu­ar­bei­ten und Ih­nen Un­ter­stüt­zung zu ge­wäh­ren. Wir wer­den Ih­nen hier ei­ne Un­ter­kunft be­sor­gen. Brau­chen Sie einen Wa­gen mit Fah­rer?“

„Dan­ke“, sag­te ich. „Der Miet­wa­gen drau­ßen wird aus­rei­chen. Und fah­ren kann ich selbst.“

„Wie Sie wol­len.“ Er leg­te die an ihn adres­sier­ten Un­ter­la­gen bei­sei­te, reich­te mir die rest­li­chen Pa­pie­re zu­rück und beug­te sich zu ei­nem in die Ti­scho­ber­flä­che ein­ge­las­se­nen Git­ter vor. „Grup­pen­füh­rer.“

„Sir“, ant­wor­te­te das Git­ter so­fort.

„Ei­ne Un­ter­kunft für einen ein­zel­nen männ­li­chen Zi­vi­lis­ten. Park­zu­wei­sung für ein zi­vi­les Pri­vat­fahr­zeug.“

„Ja­wohl, Sir.“

Die Stim­me aus dem Git­ter ver­stumm­te. Über sei­nen Schreib­tisch hin­weg sah mich Ja­me­thon Black an. Ich hat­te den Ein­druck, er war­te­te dar­auf, daß ich ging.

„Kom­man­deur“, sag­te ich und leg­te mei­ne Be­glau­bi­gun­gen in den Kof­fer zu­rück, „vor zwei Jah­ren stell­ten die Äl­tes­ten Ih­rer Ver­ei­nig­ten Kir­chen von Har­mo­nie und Ein­tracht fest, daß die pla­ne­ta­re Re­gie­rung von San­ta Ma­ria mit ei­nem ge­wis­sen strit­ti­gen Zah­lungs­aus­gleich in Ver­zug ge­ra­ten war. Des­halb ent­sand­ten sie ein Ex­pe­di­ti­ons­korps als Be­sat­zungs­trup­pe hier­her, um so die Be­zah­lung zu er­zwin­gen. Was ist von die­sem Ex­pe­di­ti­ons­korps noch üb­rig­ge­blie­ben in Hin­sicht auf Män­ner und Aus­rüs­tung?“

„Das, Mr. Olyn“, gab er zu­rück, „ist ei­ne mi­li­tä­risch re­le­van­te In­for­ma­ti­on, die der Ge­heim­hal­tung un­ter­liegt.“

„Wie dem auch sei“, sag­te ich und schloß den Kof­fer, „Sie ste­hen im re­gu­lä­ren Rang ei­nes Kom­man­deurs, doch für die Über­bleib­sel Ih­res Ex­pe­di­ti­ons­korps fun­gie­ren Sie als Trup­pen-Kom­man­deur. Ei­ne sol­che Po­si­ti­on er­for­dert einen Of­fi­zier, der et­wa fünf Rän­ge über Ih­nen steht. Er­war­ten Sie, daß ein sol­cher Of­fi­zier hier an­kommt und das Kom­man­do über­nimmt?“

„Es tut mir leid, Mr. Olyn, aber die­se Fra­ge müs­sen Sie im Haupt­quar­tier auf Har­mo­nie stel­len.“

„Er­war­ten Sie die Ent­sen­dung von Ver­stär­kungs­trup­pen und den Nach­schub von Ma­te­ri­al?“

„Selbst wenn das der Fall wä­re“, sag­te er, und sei­ne Stim­me war ganz ru­hig, „so müß­te ich be­rück­sich­ti­gen, daß auch die­se In­for­ma­ti­on der Ge­heim­hal­tung un­ter­liegt.“

„Sie ken­nen si­cher das Ge­rücht, das so ziem­lich in al­ler Mun­de ist: Da­nach hat Ihr Ge­ne­ral­stab auf Har­mo­nie ent­schie­den, die­sen Feld­zug auf San­ta Ma­ria als ver­lo­re­ne Sa­che auf­zu­ge­ben. Doch um nicht das Ge­sicht zu ver­lie­ren, zie­hen die Her­ren es vor, daß man Sie hier fer­tig­macht, an­statt Sie und Ih­re Män­ner ab­zu­zie­hen.“

„Ich ver­ste­he“, sag­te er.

„Sie möch­ten kei­nen Kom­men­tar da­zu ab­ge­ben?“

Sein dunkles und jun­ges und aus­drucks­lo­ses Ge­sicht ver­än­der­te sich nicht. „Ich pfle­ge kei­ne Ge­rüch­te zu kom­men­tie­ren, Mr. Olyn.“

„Dann noch ei­ne letz­te Fra­ge. Ha­ben Sie vor, sich nach Wes­ten zu­rück­zu­zie­hen oder zu ka­pi­tu­lie­ren, wenn die Früh­jahr­sof­fen­si­ve der exo­ti­schen Söld­ner­trup­pen ge­gen Sie be­ginnt?“

„Die Aus­er­wähl­ten des Hei­li­gen Krie­ges zie­hen sich nie­mals zu­rück“, sag­te er. „Sie er­ge­ben sich nicht und las­sen auch nicht zu, daß ih­re Brü­der die Pein der Ka­pi­tu­la­ti­on er­lei­den.“ Er er­hob sich. „Ich ha­be Ar­beit, an die ich zu­rück­keh­ren muß, Mr. Olyn.“

Ich stand eben­falls auf. Ich war grö­ßer als er, äl­ter und von grö­be­rer Sta­tur. Es war nur sei­ne fast un­na­tür­li­che Ru­he, die es ihm mög­lich mach­te, den äu­ße­ren Ein­druck zu be­haup­ten, mir gleich­wer­tig oder gar über­le­gen zu sein.

„Viel­leicht kön­nen wir uns spä­ter noch ein­mal un­ter­hal­ten, wenn Sie mehr Zeit ha­ben“, sag­te ich.

„Selbst­ver­ständ­lich.“ Ich hör­te, wie sich die Bü­ro­tür hin­ter mir öff­ne­te. „Grup­pen­füh­rer“, sag­te Ja­me­thon und blick­te an mir vor­bei, „Sie küm­mern sich um Mr. Olyn.“

Der Grup­pen­füh­rer, dem er mich an­ver­traut hat­te, wies mir ei­ne klei­ne Be­ton­kam­mer mit ei­nem ein­zel­nen, ho­hen Fens­ter, ei­nem Feld­bett und ei­nem Spind zu. Er ließ mich einen Au­gen­blick al­lein und kehr­te dann mit ei­nem Pas­sier­schein zu­rück.

„Dan­ke“, sag­te ich, als ich ihn ent­ge­gen­nahm. „Wo fin­de ich das Haupt­quar­tier der exo­ti­schen Streit­kräf­te?“

„Nach den letz­ten In­for­ma­tio­nen un­se­rer Auf­klä­rer, Sir“, sag­te er, „lie­gen sie neun­zig Ki­lo­me­ter öst­lich von hier. Bei Neu Sankt Mar­kus.“ Er war so groß wie ich, doch, wie die meis­ten von ih­nen, ein hal­b­es Dut­zend Jah­re jün­ger als ich. Und sei­ne un­schul­di­ge und schlich­te Er­schei­nung stand in ei­nem kras­sen Ge­gen­satz zu der ei­ser­nen Selbst­be­herr­schung, die sie al­le hat­ten.

„Sankt Mar­kus.“ Ich blick­te ihn an. „Ich neh­me an, ihr Sol­da­ten wißt, daß sich eu­er Großes Haupt­quar­tier auf Har­mo­nie da­ge­gen ent­schie­den hat, Ver­stär­kung für euch zu ver­schwen­den?“

„Nein, Sir“, er­wi­der­te er. Er zeig­te so we­nig Re­ak­ti­on, als hät­te ich zu den fal­len­den Re­gen­trop­fen ge­spro­chen. Selbst die jun­gen Män­ner der un­te­ren Rän­ge wa­ren noch im­mer zu­ver­sicht­lich und un­ge­bro­chen. „Ist sonst noch et­was?“

„Nein“, sag­te ich. „Dan­ke.“

Er ging hin­aus. Und ich eben­falls … um in mei­nen Wa­gen zu stei­gen und neun­zig Ki­lo­me­ter nach Os­ten zu fah­ren, nach Neu Sankt Mar­kus. Ich leg­te die Stre­cke in ei­ner knap­pen Drei­vier­tel­stun­de zu­rück. Aber ich such­te nicht so­fort das Haupt­quar­tier des exo­ti­schen Mi­li­tär­la­gers auf. Zu­nächst hat­te ich wich­ti­ge­re Din­ge zu er­le­di­gen.

Und die führ­ten mich zum Ju­we­lier der Wal­lace-Stra­ße. Dort, drei fla­che Stu­fen un­ter dem Stra­ßen­ni­veau, ge­lang­te ich durch ei­ne mil­chi­ge Tür in einen großen, matt be­leuch­te­ten und mit Glas­vi­tri­nen aus­ge­stat­te­ten Raum. Im Hin­ter­grund des La­dens, hin­ter der letz­ten Vi­tri­ne, stand ein äl­te­rer Mann. Er schiel­te auf mein Be­richt­er­stat­ter-Ca­pe und das Ab­zei­chen, wäh­rend ich nä­her kam.

„Sir?“ frag­te er, als ich vor der Vi­tri­ne ver­harr­te, hin­ter der er stand. Er hat­te ein son­der­bar wei­ches Ge­sicht, und als er sei­nen Blick zu mir hob, sah ich in graue und schma­le und vom Al­ter ge­trüb­te Au­gen.

„Ich glau­be, Sie wis­sen, was ich re­prä­sen­tie­re“, sag­te ich. „Die Nach­rich­ten­diens­te sind auf al­len Wel­ten be­kannt. Wir sind nicht in die lo­ka­le Po­li­tik ver­wi­ckelt.“

„Sir?“

„Sie wer­den oh­ne­hin her­aus­fin­den, wie ich zu Ih­rer Adres­se ge­lang­te.“ Ich lä­chel­te ihn wei­ter­hin an. „Des­halb will ich Ih­nen sa­gen, daß ich sie von ei­nem Au­to­ver­mie­ter am Raum­ha­fen ha­be, ei­nem Mann na­mens Ime­ra. Ich ha­be ihm ver­spro­chen, daß ihm auf­grund sei­ner Aus­kunft kein Leid ge­schieht. Wir wür­den es sehr zu schät­zen wis­sen, wenn er heil und ge­sund blie­be.“

„Ich fürch­te …“ Er leg­te sei­ne Hän­de auf die Glas­flä­che der Vi­tri­ne. Sie wa­ren vom Al­ter ge­zeich­net. „Sie möch­ten et­was kau­fen?“

„Ich bin be­reit“, sag­te ich, „für In­for­ma­tio­nen mit Wohl­wol­len zu be­zah­len.“

Sei­ne Hän­de glit­ten von der Schei­be her­un­ter.

„Sir.“ Er seufz­te schwach. „Ich fürch­te, Sie be­fin­den sich im falschen Ge­schäft.“

„Ganz be­stimmt“, sag­te ich. „Aber ich wer­de hier den­noch fin­den müs­sen, was ich su­che. Ich be­haup­te so­gar, daß dies der rich­ti­ge La­den ist und ich mit je­man­dem spre­che, der der Blau­en Front an­ge­hört.“

Er schüt­tel­te lang­sam den Kopf und trat von der Vi­tri­ne zu­rück.

„Die Blaue Front ist ver­bo­ten“, sag­te er. „Auf Wie­der­se­hen, Sir.“

„Einen Au­gen­blick. Zu­nächst ha­be ich Ih­nen noch ei­ni­ge Din­ge zu sa­gen.“

„Dann tut es mir leid.“ Er zog sich in Rich­tung ei­nes Vor­hangs zu­rück, der einen in einen an­de­ren Raum füh­ren­den Zu­gang ver­deck­te. „Ich kann Ih­nen nicht zu­hö­ren. Und Sie wer­den hier in die­sem Raum al­lein blei­ben, Sir, wenn Sie wei­ter­hin von sol­chen Din­gen spre­chen.“

Er schob sich durch den Vor­hang hin­durch und war ver­schwun­den. Ich sah mich in dem großen, lee­ren Raum um.

„Nun gut“, sag­te ich et­was lau­ter. „Ich den­ke, dann muß ich zu den Wän­den spre­chen. Ich bin si­cher, die Wän­de wer­den mir zu­hö­ren.“

Ich hielt in­ne. Es war voll­kom­men still.

„Al­so gut“, sag­te ich. „Ich bin Be­richt­er­stat­ter. Und ich bin an nichts wei­ter als an In­for­ma­tio­nen in­ter­es­siert. Nach un­se­rer Ein­schät­zung der mi­li­tä­ri­schen La­ge hier auf San­ta Ma­ria …“ – und da­mit sag­te ich die Wahr­heit – „… wird das Ex­pe­di­ti­ons­korps der Quä­ker von sei­nem Haupt­quar­tier da­heim sich selbst über­las­sen. Und so­mit steht fest, daß es von den Streit­kräf­ten der Exo­ten auf­ge­rie­ben wird, so­bald der Bo­den tro­cken und fest ge­nug ist, um den Stel­lungs­wech­sel schwe­rer Waf­fen zu er­mög­li­chen.“

Ich er­hielt noch im­mer kei­ne Ant­wort, doch mein Nacken wuß­te, daß sie mir zu­hör­ten und mich be­ob­ach­te­ten.

„Und da­her“, fuhr ich fort – und hier log ich, ob­wohl sie kei­ne Mög­lich­kei­ten ha­ben wür­den, das zu er­ken­nen –, „hal­ten wir es für ziem­lich si­cher, daß das hie­si­ge Kom­man­do der Quä­ker Kon­takt mit der Blau­en Front auf­neh­men wird. Die Er­mor­dung von geg­ne­ri­schen Be­fehls­ha­bern ist ein ganz kla­rer Ver­stoß ge­gen den Söld­ner­ko­dex und die Ar­ti­kel der Zi­vi­li­sier­ten Kriegs­füh­rung – aber Zi­vi­lis­ten kön­nen das be­werk­stel­li­gen, was Sol­da­ten ver­wehrt ist.“

Hin­ter dem Vor­hang war noch im­mer al­les still; nichts rühr­te sich.

„Ein Re­prä­sen­tant der Gil­de“, sag­te ich, „un­ter­liegt dem Grund­satz der Un­par­tei­lich­keit. Sie wis­sen, wel­che große Be­deu­tung die­ses Prin­zip für uns hat. Ich möch­te Ih­nen nur ei­ni­ge Fra­gen stel­len. Und die Ant­wor­ten wer­den ver­trau­lich be­han­delt.“

Ich war­te­te zum letz­ten­mal … und es gab noch im­mer kei­ne Ant­wort. Ich wand­te mich um, schritt durch den großen Raum und trat hin­aus. Erst als ich ganz drau­ßen und auf der Stra­ße war, ließ ich zu, daß sich das Ge­fühl des Tri­um­phes in mir aus­brei­te­te und mein In­ners­tes wärm­te.

Sie wür­den den Kö­der schlu­cken. Das war bei Leu­ten ih­res Schla­ges im­mer der Fall. Ich stieg in mei­nen Wa­gen und fuhr zum Haupt­quar­tier der Exo­ten.

Es be­fand sich au­ßer­halb der Stadt. Dort half mir ein Söld­ner im Kom­man­deurs-Rang na­mens Ja­nol Ma­rat wei­ter. Er führ­te mich zu den Bla­sen­ge­bäu­den ih­res Haupt­quar­tiers. Hier im La­ger herrsch­te un­ter­schwel­li­ge Sie­ges­zu­ver­sicht, ein an­re­gen­der und auf­mun­tern­der Hauch von Ak­ti­vi­tät. Die Sol­da­ten wa­ren gut be­waff­net und aus­ge­bil­det. Es be­ein­druck­te mich nach dem eher düs­te­ren Bild, das sich mir bei den Quä­kern dar­ge­bo­ten hat­te. Ich sag­te das Ja­nol auch.

„Wir ha­ben einen Dor­sai-Kom­man­deur, und wir sind un­se­rem Geg­ner zah­len­mä­ßig über­le­gen.“ Er lä­chel­te mich an. Er hat­te ein tief ge­bräun­tes, lan­ges Ge­sicht, in dem sich vie­le Fal­ten zei­gen, als er die Lip­pen ver­zog. „Da­durch sind wir al­le ziem­lich op­ti­mis­tisch. Au­ßer­dem wird un­ser Kom­man­deur be­för­dert, wenn er ge­winnt. Dann kehrt er mit ei­nem Stabs­rang zu den Exo­ten zu­rück – von sei­nem al­ler­letz­ten ak­ti­ven Kampfein­satz. Sie se­hen al­so, uns bleibt gar nichts an­de­res üb­rig, als zu ge­win­nen.“

Ich lach­te und er eben­falls.

„Doch er­zäh­len Sie mir noch mehr“, sag­te ich. „Ich brau­che et­was Hin­ter­grund­ma­te­ri­al, das ich für die Be­rich­te ver­wen­den kann, die ich an die Nach­rich­ten­diens­te wei­ter­lei­te.“

„Nun …“ – er er­wi­der­te den za­cki­gen Gruß ei­nes vor­bei­kom­men­den Grup­pen­füh­rers, ei­nes Cas­si­da­ners, wie es schi­en – „… ich den­ke, Sie könn­ten das Üb­li­che er­wäh­nen: die Tat­sa­che, daß un­se­re exo­ti­schen Auf­trag­ge­ber für sich selbst je­de Ge­walt­an­wen­dung ab­leh­nen und sich in­fol­ge­des­sen im­mer weitaus groß­zü­gi­ger als an­de­re ge­zeigt ha­ben, wenn es so­weit war, für Män­ner und Aus­rüs­tung zu be­zah­len. Und daß der Au­ßen­bür­ge … das ist der Bot­schaf­ter der Exo­ten hier auf San­ta Ma­ria, wis­sen Sie …“

„Ja, ich weiß.“

„Er hat den frü­he­ren Au­ßen­bür­gen hier vor drei Jah­ren ab­ge­löst. Nun ja, er ist au­ßer­ge­wöhn­lich, selbst für je­man­den von Ma­ra oder Kul­tis. Er ist ein Ex­per­te in on­to­ge­ne­ti­scher Kal­ku­la­ti­on. Wenn Ih­nen das et­was sagt. Mir ist das zu hoch.“ Ja­nol deu­te­te vor­aus. „Hier ist das Bü­ro des Trup­pen-Kom­man­deurs. Sein Na­me ist Ken­sie Grae­me.“

„Grae­me?“ sag­te ich und run­zel­te die Stirn. Ich hät­te zu­ge­ben kön­nen, Ken­sie Grae­me zu ken­nen, aber ich woll­te Ja­nols un­be­ein­fluß­te Stel­lung­nah­me. „Kommt mir be­kannt vor.“ Wir nä­her­ten uns dem Bü­ro­ge­bäu­de. „Grae­me …“

„Wahr­schein­lich den­ken Sie an einen an­de­ren An­ge­hö­ri­gen der glei­chen Fa­mi­lie.“ Ja­nol schluck­te den Kö­der. „Do­nal Grae­me. Ein Nef­fe. Ken­sie ist Do­nais On­kel. Er ist nicht durch so spek­ta­ku­lä­re Ak­tio­nen her­vor­ge­tre­ten wie der jun­ge Grae­me, aber ich wet­te, Sie fin­den ihn sym­pa­thi­scher, als das bei sei­nem Nef­fen der Fall wä­re. Ken­sie be­sitzt die Lie­bens­wür­dig­keit zwei­er Män­ner.“ Er sah mich an, und er­neut grins­te er an­deu­tungs­wei­se.

„Das hat ver­mut­lich et­was Be­son­de­res zu be­deu­ten?“ frag­te ich.

„Das stimmt“, gab Ja­nol zu­rück. „Er be­sitzt nicht nur sei­ne ei­ge­ne Lie­bens­wür­dig­keit, son­dern auch die sei­nes Zwil­lings­bru­ders. Su­chen Sie ein­mal Ian Grae­me auf, wenn Sie in Blau­vain sind. Das ist der Ort, wo sich die exo­ti­sche Bot­schaft be­fin­det; er liegt öst­lich von hier. Ian ist ein düs­te­rer Mann.“

Wir be­tra­ten das Bü­ro.

„Ich kann mich ein­fach nicht an die Vor­stel­lung ge­wöh­nen“, sag­te ich, „daß so vie­le Dor­sai mit­ein­an­der ver­wandt zu sein schei­nen.“

„Ich auch nicht. Aber ich neh­me an, die­ser Ein­druck ent­steht da­durch, weil sie in Wirk­lich­keit gar nicht so vie­le sind. Dor­sai ist ei­ne klei­ne Welt, und je­ne, die län­ger als ein paar Jah­re le­ben …“ Ja­nol blieb vor ei­nem Kom­man­deur ste­hen, der an ei­nem Tisch saß. „Kön­nen wir den al­ten Herrn spre­chen, Ha­ri? Dies hier ist ein Be­richt­er­stat­ter von den In­ter­stel­la­ren Nach­rich­ten­diens­ten.“

„Nun, ich den­ke schon.“ Er warf einen Blick auf die Si­gnal­ta­fel des Ti­sches. „Der Au­ßen­bür­ge ist bei ihm, aber er ver­ab­schie­det sich ge­ra­de. Ge­hen Sie nur rein.“

Ja­nol führ­te mich zwi­schen den Ti­schen hin­durch. An der Rück­wand des Bü­ros öff­ne­te sich ei­ne Tür, be­vor wir sie er­reich­ten, und ein Mann mitt­le­ren Al­ters mit ei­nem ru­hi­gen und wei­chen Ge­sicht trat her­vor. Er trug ei­ne blaue Exo­ten­ro­be, und sein wei­ßes Haar war kurz­ge­schnit­ten.

Es war Pad­ma.

„Sir“, sag­te Ja­nol zu Pad­ma, „dies ist …“

„Tam Olyn, ich weiß“, sag­te Pad­ma weich. Er lä­chel­te mir ent­ge­gen, und sei­ne Au­gen schie­nen für einen Au­gen­blick auf­zu­glü­hen und mich zu blen­den. „Es tat mir sehr leid, als ich das von Ih­rem Schwa­ger hör­te, Tam.“

Ein ei­si­ger Schau­er er­faß­te mei­nen gan­zen Kör­per. Ich woll­te in Grae­mes Bü­ro hin­ein­ge­hen, doch nun stand ich reg­los wie ein Fels­block und sah ihn an.

„Mein Schwa­ger?“ sag­te ich.

„Der jun­ge Mann, der in der Nä­he von Haupt­burg starb, auf Neu­er­de.“

„Ach ja“, sag­te ich, und mei­ne Lip­pen wa­ren taub. „Es über­rascht mich, daß Sie da­von wis­sen.“

„Ich weiß da­von, weil ich Sie ken­ne, Tam.“ Er­neut schie­nen die nuß­far­be­nen Au­gen Pad­mas zu er­glü­hen. „Er­in­nern Sie sich nicht mehr? Ich ha­be Ih­nen ein­mal er­zählt, daß wir ei­ne Wis­sen­schaft na­mens On­to­ge­ne­tik ha­ben, mit der wir die Wahr­schein­lich­kei­ten mensch­li­cher Hand­lun­gen in ge­gen­wär­ti­gen und zu­künf­ti­gen Si­tua­tio­nen be­rech­nen kön­nen. Ei­ne Zeit­lang sind Sie ein be­deu­ten­der Fak­tor in die­sen Kal­ku­la­tio­nen ge­we­sen.“ Er lä­chel­te. „Aus die­sem Grund ha­be ich er­war­tet, Ih­nen hier und jetzt zu be­geg­nen. Wir ha­ben Ih­re An­we­sen­heit in der ge­gen­wär­ti­gen La­ge hier auf San­ta Ma­ria vor­aus­be­rech­net, Tam.“

„Ha­ben Sie?“ sag­te ich. „Tat­säch­lich? Das ist in­ter­essant.“

„Ich ha­be mir ge­dacht, daß es das ist“, sag­te Pad­ma weich. „Ganz be­son­ders für Sie. Ein Be­richt­er­stat­ter wie Sie muß es in­ter­essant fin­den.“

„Rich­tig“, gab ich zu­rück. „Es klingt so, als wüß­ten Sie mehr da­von als ich, was ich hier tun wer­de.“

„Zu die­sem Zweck“, sag­te Pad­ma mit sei­ner sanf­ten Stim­me, „ha­ben wir Kal­ku­la­tio­nen er­stellt. Kom­men Sie mich in Blau­vain be­su­chen, Tam, und ich zei­ge sie Ih­nen.“

„Das ma­che ich“, sag­te ich.

„Sie sind im­mer will­kom­men.“ Pad­ma neig­te den Kopf. Sei­ne blaue Ro­be strich flüs­ternd über den Bo­den, als er sich ab­wand­te und aus dem Raum schritt.

„Hier ent­lang“, sag­te Ja­nol und be­rühr­te mei­nen Ell­bo­gen. Ich fuhr hoch, als sei ich ge­ra­de aus ei­nem tie­fen Schlaf er­wacht. „Sie fin­den den Kom­man­deur dort drin­nen.“

Mit me­cha­ni­schen Be­we­gun­gen folg­te ich ihm in ein wei­ter im Ge­bäu­dein­nern lie­gen­des Bü­ro. Ken­sie Grae­me er­hob sich, als wir durch die Tür tra­ten. Zum ers­ten­mal stand ich die­sem großen, ha­ge­ren Mann nun von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ge­gen­über. Er trug ei­ne schlich­te Uni­form; sei­ne Haa­re wa­ren schwarz und leicht ge­lockt, und sein Ge­sicht war grob­kno­chig, aber of­fen. Er lä­chel­te. Die­se ein­zig­ar­ti­ge, gol­de­ne Wär­me sei­ner Per­sön­lich­keit – et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches für einen Dor­sai – schi­en aus ihm her­aus­zu­strö­men und mir ent­ge­gen­zu­flie­ßen, als er auf­stand, um mich zu be­grü­ßen. Sei­ne lang­glied­ri­ge, kräf­ti­ge Hand ver­schluck­te mei­ne, als wir uns die Hän­de schüt­tel­ten.

„Neh­men Sie Platz“, sag­te er. „Las­sen Sie mich Ih­nen einen Drink an­bie­ten. Ja­nol“, füg­te er an den Söld­ner-Kom­man­deur von Neu­er­de ge­rich­tet hin­zu, „es ist nicht nö­tig, daß Sie in der Nä­he blei­ben. Sie kön­nen Es­sen fas­sen. Und sa­gen Sie den an­de­ren drau­ßen im Bü­ro, daß sie für heu­te Fei­er­abend ma­chen sol­len.“

Ja­nol sa­lu­tier­te und ging. Ich setz­te mich, als sich Grae­me zu ei­nem klei­nen Bar­fach hin­ter sei­nem Schreib­tisch um­dreh­te. Und zum ers­ten­mal seit drei Jah­ren – un­ter dem ma­gi­schen Ein­fluß die­ses un­ge­wöhn­li­chen Front­sol­da­ten – tropf­te wie­der ein we­nig Frie­den in mei­ne See­le. Mit ei­nem sol­chen Mann auf mei­ner Sei­te konn­te ich nicht ver­lie­ren.