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„Sie kommen mit der besonderen Empfehlung von Truppenkommandeur Wassel“, sagte er, nachdem er mir die Hand geschüttelt hatte. „Für einen Berichterstatter ist das sehr ungewöhnlich.“ Es war eine Feststellung, kein Spott. Und ich folgte seiner Einladung – es war beinah eher ein Befehl als eine Einladung –, mich zu setzen, als er sich wieder abwandte und hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, über den hinweg er mich musterte.
Macht schlummerte in diesem Mann, die Hitze einer schwarzen Flamme. Wie die Hitze – das kam mir plötzlich in den Sinn – der schlafenden Flamme des Schießpulvers, das 1687 von den Türken im Parthenon gelagert worden war: Eine von den Venezianern unter Morosini abgefeuerte Granate hatte die schwarzen Körner explodieren lassen und das Zentrum jenes weißen Tempels in die Luft gejagt. In meinem Innern hatte immer eine besonders finstere Ecke aus Abscheu dieser Granate und dieser Armee gegenüber existiert – denn für mich als Junge war das Parthenon das helle Licht gewesen, das Mathias’ Dunkelheit erleuchtete, und die von der Granate verursachte Zerstörung hatte Zeugnis davon abgelegt, wie jene Dunkelheit zu siegen vermochte, selbst im Zentrum des Lichts.
Als ich den Ältesten Strahlenden beobachtete, brachte ich ihn in meinen Gedanken in Verbindung mit diesem alten Haß, achtete aber darauf, diese Empfindung vor seinen sezierenden Blicken zu verbergen. Nur bei Padma hatte ich bisher einen so durchdringenden und fesselnden Blick bemerkt – und auch hier stand ein analytischer Geist dahinter.
Denn die Augen glichen denen eines Torquemada{3}, dem Antreiber der Inquisition im mittelalterlichen Spanien – wie bereits andere vor mir festgestellt hatten. Auch die Quäker-Kirchen hatten ihre speziellen Beauftragten, die sich um Unterdrückung und Auslöschung von Ketzerei kümmerten. Aber hinter diesen Augen arbeitete die politische Intelligenz eines Verstandes, der wußte, wann er die Zügel lockern oder straffer anziehen mußte, mit denen er zwei Planeten kontrollierte. Zum erstenmal in meinem Leben konnte ich mich in die Lage von jemandem versetzen, der allein in einen Löwenkäfig tritt und hört, wie sich das stählerne Gitter hinter ihm schließt.
Und es war auch das erstemal, daß mir die Knie weich wurden, seit ich damals im Registerzimmer der Letzten Enzyklopädie gestanden hatte. Denn – was war, wenn dieser Mann keinen schwachen Punkt besaß und ich meine Pläne vereitelte, indem ich versuchte, ihn zu beeinflussen?
Aber die Erfahrungen von Tausenden von Interviews kamen mir zu Hilfe, und selbst als ich von Zweifeln geplagt und gequält wurde, arbeitete meine Zunge ganz automatisch.
„… Truppenkommandeur Wassel und seine Männer auf Neuerde haben mich auf jede nur denkbare Weise unterstützt“, sagte ich. „Ich weiß das sehr zu schätzen.“
„Auch ich“, sagte der Strahlende scharf, und sein Blick brannte sich in meine Augen, „weiß einen unvoreingenommenen Berichterstatter zu schätzen. Sonst wären Sie nicht hier in meinem Büro und könnten mich interviewen. Da es meine Aufgabe ist, dem Willen des Herrn zwischen den Sternen Geltung zu verschaffen, bleibt mir nur wenig Zeit, zum Amüsement der Gottlosen von sieben Welten beizutragen. Nun, was ist der Grund für dieses Interview?“
„Ich trage mich mit dem Gedanken“, sagte ich, „ein Projekt zu entwerfen, das die Quäker in den Augen der Menschen auf den anderen Planeten in einem besseren Licht darstellt …“
„Um Ihre Loyalität gegenüber Ihrem Berufsbekenntnis zu beweisen … wie Wassel sagte?“ unterbrach mich der Strahlende.
„Nun, ja“, antwortete ich. Ich versteifte mich ein wenig auf meinem Stuhl. „Ich wurde in jungen Jahren zur Waise. Und während all der Jahre, in denen ich aufwuchs, war es immer mein Traum, für einen Nachrichtendienst zu arbeiten, und …“
„Verschwenden Sie nicht meine Zeit, Berichterstatter!“ Wie eine Axt hackte die barsche Stimme des Strahlenden den unausgesprochenen Rest meines Satzes ab. Er erhob sich erneut, plötzlich und abrupt, als verlange die in ihm schlummernde Energie nach einem Bewegungsventil. Er schlich um seinen Schreibtisch herum, blieb vor mir stehen und sah zu mir herab, die Daumen hinter den Gürtel an seiner schmalen Hüfte gehakt. Sein hageres, knochiges und gut fünfzig Jahre altes Gesicht beugte sich über mich. „Welche Bedeutung kann Ihr Bekenntnis schon für jemanden wie mich haben, dessen Weg vom Wort Gottes erleuchtet wird?“
„Wir alle werden von unseren eigenen Lichtern erleuchtet, jeder von seinem eigenen“, sagte ich. Er war mir so nahe, daß ich meinem drängenden Bedürfnis nicht nachgeben und aufstehen konnte, um ihm gegenüberzutreten. Es war, als hätte er mich physisch an meinen Stuhl unter ihm gefesselt. „Wenn es nicht um mein Bekenntnis ginge, dann wäre ich jetzt nicht hier. Vielleicht wissen Sie nicht, was mir und meinem Schwager zugestoßen ist, als wir auf Neuerde einem Ihrer Gruppenführer ausgeliefert waren …“
„Ich weiß Bescheid.“ Die drei Worte waren mitleidslos. „Und sicher hat man sich dafür vor einiger Zeit bei Ihnen entschuldigt. Hören Sie, Berichterstatter.“ Seine dünnen Lippen verzogen sich ein wenig, um ein verärgertes und mißmutiges Lächeln anzudeuten. „Sie sind kein Geweihter des Herrn.“
„Nein“, sagte ich.
„Jene, die Gottes Wort folgen, haben vielleicht Anlaß genug anzunehmen, daß sie im Glauben an etwas Bedeutsameres als nur ihre eigenen selbstsüchtigen Interessen handeln. Aber was ist mit denen, die nicht erleuchtet sind – können sie andere Motive haben als pure Eigensucht?“ Das schiefe Lächeln auf seinen Lippen sprach seinen eigenen Worten Hohn, verspottete die scheinheiligen Phrasen, mit denen er mich einen Lügner genannt hatte – und sollte mich verleiten, die analytische Fähigkeit in ihm nicht zu beachten, die es ihm erlaubte, in mich hineinzublicken.
Ich versteifte mich erneut, diesmal mit einem beleidigten Gesichtsausdruck.
„Sie spotten nur deshalb über mein Bekenntnis als Berichterstatter, weil es nicht Ihr eigenes ist!“ antwortete ich ihm barsch.
Meine erregten Worte konnten ihn weder beeindrucken noch das Lächeln auf seinen Lippen auflösen.
„Der Herr würde keinen Narren zum Ältesten des Konzils unserer Kirchen erwählen“, sagte er – und wandte mir den Rücken zu und schritt erneut um den Schreibtisch herum, um dahinter Platz zu nehmen. „Das hätten Sie rechtzeitig bedenken sollen, bevor Sie nach Harmonie kamen, Berichterstatter. Aber jetzt wissen Sie jedenfalls darüber Bescheid.“
Ich starrte ihn an, fast geblendet von dem plötzlichen Glanz meines eigenen Begreifens. Ja, jetzt wußte ich Bescheid – und mit diesem Wissen verstand ich plötzlich, daß er sich mir mit seinen eigenen Worten ausgeliefert hatte.
Ich hatte gefürchtet, er könnte vielleicht keinen schwachen Punkt aufweisen, an dem ich einen Hebel ansetzen und ihn beeinflussen konnte, so wie ich geringere Männer und Frauen mit meinen Worten beeinflußt hatte. Und es stimmte: Er hatte keine gewöhnliche Schwäche. Aber genau aus diesem Grund besaß er eine außergewöhnliche. Denn seine Schwäche war seine Stärke, die gleiche Klugheit, die ihn zum Herrscher und Führer seiner Anhänger gemacht hatte. Seine Schwäche sah so aus: Um das zu werden, was er geworden war, mußte er so fanatisch sein wie die Schlimmsten unter den Quäkern – und noch etwas mehr als das. Er mußte die Extrakraft besitzen, die es ihm gestattete, seinen Fanatismus abzulegen, wenn er sich als störend erwies bei den Verhandlungen mit den Führern anderer Planeten – mit seinen gleichrangigen Kollegen und Widersachern zwischen den Sternen. Das war es. Das hatte er mir gerade eben unabsichtlich offenbart.
Er war nicht auf die einseitige Betrachtungsweise des Universums beschränkt wie seine schwarzgekleideten Anhänger, deren Augen vor Fanatismus glühten und alles nur entweder ganz in Schwarz oder ganz in Weiß sahen. Er war in der Lage, dazwischen liegende Schattierungen wahrzunehmen und sich mit ihnen zu befassen – auch graue Schattierungen. Kurz gesagt: Er konnte ein Politiker sein, wenn er wollte – und als Politiker konnte ich mit ihm fertig werden.
Als Politiker konnte ich ihn zu einem politischen Fehler verleiten.
Ich sackte in mich zusammen. Ich streifte die Anspannung ganz plötzlich von mir ab, als ich dasaß und seinen Blick erneut auf mir spürte. Und ich gab einen tiefen, bebenden Seufzer von mir.
„Sie haben recht“, sagte ich mit tonloser Stimme. Ich erhob mich. „Nun, es hat also keinen Zweck. Ich gehe besser …“
„Gehen?“ Seine Stimme knallte wie der Schuß eines Gewehrs und hielt mich zurück. „Habe ich gesagt, das Interview sei beendet? Setzen Sie sich!“
Hastig nahm ich wieder Platz. Ich versuchte, blaß auszusehen, und ich glaube, das gelang mir. Doch obwohl ich ihn plötzlich durchschaut hatte: Ich befand mich noch immer im Käfig des Löwen, und er war noch immer der Löwe.
„Nun“, sagte er und starrte mich an, „was haben Sie wirklich gehofft, von mir zu erhalten – und von uns allen, den Auserwählten Gottes auf diesen beiden Welten?“
Ich befeuchtete mir die Lippen.
„Sprechen Sie“, sagte er. Er hob seine Stimme nicht, doch sein gesetzter, dunkler Tonfall drohte mir mit Vergeltung, wenn ich nicht gehorchte.
„Der Rat …“ murmelte ich.
„Rat? Der Rat von uns Ältesten? Was ist damit?“
„Der nicht“, sagte ich und blickte auf den Boden. „Der Rat der Berichterstatter-Gilde. Ich möchte einen Sitz darin. Ihr Quäker könntet mir dabei helfen, ihn zu erlangen. Nach der Sache mit Dave – nach dem, was meinem Schwager zugestoßen ist – habe ich mit Wassel den Nachweis geliefert, daß ich meine Arbeit ohne Voreingenommenheit selbst Ihnen gegenüber erledigen kann. Dadurch habe ich Aufmerksamkeit erregt, selbst in der Gilde. Wenn ich damit fortfahren könnte … wenn es mir gelingt, die öffentliche Meinung der anderen Welten zu Ihren Gunsten aufzubauen, dann baue ich mich damit selbst auf, in den Augen der Öffentlichkeit. Und in denen der Gilde.“
Er starrte mich mit finsterer Belustigung an.
„Die Beichte läutert selbst eine Seele wie die Ihre“, sagte er streng. „Nun, Sie haben sich also Gedanken über die Möglichkeit gemacht, wie man unseren Ruf bei den Ausgestoßenen des Herrn auf den anderen Welten verbessern kann. Was für welche?“
„Äh, das kommt darauf an“, sagte ich. „Ich muß mich hier nach Material für eine Story umsehen. Zuerst …“
„Das ist im Augenblick nicht weiter von Bedeutung!“
Er erhob sich erneut hinter seinem Schreibtisch, und seine Augen befahlen mir, ebenfalls aufzustehen. Also gehorchte ich.
„Darüber werden wir uns in ein paar Tagen unterhalten“, sagte er. Sein Torquemada-Lächeln verabschiedete mich. „Bis dahin wünsche ich Ihnen einen guten Tag, Berichterstatter!“
„Guten … Tag“, brachte ich mühsam hervor. Ich wandte mich um und ging mit unsicheren Schritten hinaus.
Und die Unsicherheit war auch nicht gänzlich gespielt. Meine Knie waren so weich wie nach einem angestrengten Balanceakt am Rande eines Abgrunds, und eine trockene Zunge klebte am Gaumen meines trockenen Mundes.
Während der nächsten paar Tage bummelte ich in der Stadt herum und gab vor, Hintergrundmaterial zu sammeln. Dann, am vierten Tag nach meiner Zusammenkunft mit dem Ältesten Strahlenden, wurde ich erneut in sein Büro bestellt. Er erwartete mich im Stehen, als ich herantrat, und er blieb auch weiterhin stehen, auf halbem Wege zwischen der Tür und seinem Schreibtisch.
„Berichterstatter“, sagte er unvermittelt, als ich hereinkam, „ich habe die Befürchtung, daß Sie uns in Ihren Nachrichtenberichten nicht begünstigen können, ohne daß die anderen Gildemitglieder diese Begünstigung bemerken. Wenn das der Fall ist, welchen Nutzen haben Sie dann für mich?“
„Ich habe nicht gesagt, daß ich Sie begünstigen will“, antwortete ich ihm entrüstet. „Aber wenn Sie mir etwas Vorteilhaftes zeigen, über das ich berichten kann, dann werde ich darüber berichten.“
„Ja.“ Er sah mich durchdringend an. „Dann kommen Sie mit mir und sehen Sie sich unsere Menschen an.“
Er führte mich aus seinem Büro und dann in eine Liftkapsel, durch die wir zu einer Garage gelangten, wo ein Stabswagen auf uns wartete. Wir stiegen ein, und der Fahrer brachte uns aus Konzilstadt heraus. Wir fuhren durch eine karge und steinige Landschaft, die aber säuberlich aufgeteilt war in einzelne Bewirtschaftungsflächen.
„Sehen Sie“, sagte der Strahlende trocken, als wir durch eine kleine Stadt kamen, die kaum mehr als ein Dorf war. „Auf unseren armen Welten wächst nur eine große Frucht – und das sind die Körper unserer jungen Männer, die als Soldaten vermietet werden, damit unsere Bevölkerung hier nicht Hunger leidet und unser Glaube Bestand hat. Was entstellt diese jungen Männer und die anderen Menschen, die wir gesehen haben, daß die Bevölkerungen der anderen Welten sie so heftig verabscheuen, obwohl wir sie an sie vermieten, auf daß sie in ihren uns fremden Kriegen kämpfen und sterben?“
Ich drehte mich um und bemerkte, daß mich seine Augen erneut mit finsterer Belustigung betrachteten.
„Ihre … Einstellungen“, sagte ich vorsichtig.
Der Strahlende lachte. Es war ein kurzes und knappes Auflachen, das tief aus seiner Kehle kam, wie das Grollen eines Löwen.
„Einstellungen!“ sagte er barsch. „Nennen Sie es ruhig beim Namen, Berichterstatter! Keine Einstellungen – Stolz! Stolz! Diese Menschen sind, wie Sie gesehen haben, bettelarm, und sie haben nur gelernt, mit ihren eigenen Händen zu schuften oder mit Waffen umzugehen. Und doch blicken sie wie von hohen Berggipfeln auf den von Schmutz geborenen Abschaum herab, der sie gemietet hat. Sie wissen, diese ihre Auftraggeber mögen in weltlichem und materiellem Reichtum schwelgen, fett geworden sein von Delikatessen und gehüllt in weiche und kostbare Gewänder. Doch sie wissen auch dies: Wenn all diese Leute in den Schatten des Grabes eintreten, dann werden jene, die sich in Macht und Wohlstand gesuhlt haben, nicht einmal die Kraft besitzen, aufrecht und demütig vor jenen Toren aus Silber und aus Gold zu stehen, die wir singend durchschreiten – wir, die von unseren Leiden Gesalbten.“
Durch die Breite des Stabswagens sah er mich mit seinem unbarmherzigen Löwenlächeln an.
„Was können Sie aus alldem hier ersehen“, sagte er, „um diejenigen, die die Erleuchteten Gottes mieten, zu lehren, sie willkommen zu heißen und ihnen mit der angebrachten Demut gegenüberzutreten?“
Er verspottete mich wieder. Aber ich hatte ihn während des ersten Besuchs in seinem Büro durchschaut, und ich sah den Weg aus subtilen Beeinflussungsmöglichkeiten deutlich vor mir, als wir uns unterhielten. Deshalb machte mir sein Spott immer weniger aus.
„An dem Stolz oder der Demut auf beiden Seiten kann ich nicht viel ausrichten“, sagte ich. „Und das ist es außerdem auch nicht, was Sie brauchen. Solange sie gemietet werden, kann es Ihnen gleich sein, was die Auftraggeber von Ihren Truppen denken. Und sie werden auch weiterhin von Auftraggebern angemietet werden, vorausgesetzt, Sie können dafür sorgen, daß sie erträglich werden – nur erträglich, nicht unbedingt liebenswert.“
„Halt hier an, Fahrer!“ unterbrach der Strahlende meine Antwort. Der Wagen bremste ab und blieb stehen.
Wir befanden uns in einer kleinen Ortschaft. Ernste, schwarzgekleidete Menschen waren zwischen den Gebäuden aus Plastikblasen unterwegs – provisorische Unterkünfte, die auf anderen Welten schon längst durch bessere und attraktivere Bauten ersetzt worden wären.
„Wo sind wir?“ fragte ich.
„In einer unbedeutenden Stadt namens Eingedenk-des-Herrn“, antwortete er und ließ das Fenster an seiner Wagenseite herunter. „Und hier kommt jemand, den Sie kennen.“
Tatsächlich kam eine schlanke Gestalt in der Uniform eines Truppenführers unserem Wagen entgegen. Sie trat heran, deutete eine Verbeugung an, und dann blickte uns das ruhige Gesicht von Jamethon Black entgegen.
„Sir?“ sprach er den Strahlenden an.
„Dieser Offizier“, erklärte mir der Strahlende, „schien einmal für einen hohen Rang in jenen unseren Streitkräften qualifiziert zu sein, die dem Willen Gottes dienen. Doch vor fünf Jahren erlag er der Schönheit einer Außenwelttochter, die ihn nicht erhörte. Und seit dieser Zeit scheint er allen Ehrgeiz verloren zu haben, es bei uns zu etwas zu bringen.“ Er wandte sich an Jamethon. „Truppenführer“, sagte er, „du hast diesen Mann zweimal gesehen. Einmal bei ihm zu Hause auf Alterde, vor fünf Jahren, als du seine Schwester gebeten hast, deine Frau zu werden. Und dann wieder letztes Jahr auf Neuerde, als er dich um einen Passierschein bat, um seinen Mitarbeiter angesichts der näher rückenden Fronten in Sicherheit zu bringen. Sag mir, was weißt du über ihn?“
Jamethons Augen sahen ins Innere des Wagens und begegneten meinem Blick.
„Nur, daß er seine Schwester liebte und ihr ein besseres Leben wünschte, als ich ihr möglicherweise bieten konnte“, sagte Jamethon, und seine Stimme war so ruhig und gelassen wie sein Gesichtsausdruck. „Und daß er um das Wohlergehen seines Schwagers besorgt war und ihn zu schützen versuchte.“ Er wandte sich zur Seite, um direkt in die Augen des Strahlenden blicken zu können. „Ich glaube, er ist ein ehrlicher und tugendhafter Mann, Ältester.“
„Ich habe dich nicht danach gefragt, was du glaubst!“ schnappte der Strahlende.
„Wie Sie wünschen“, gab Jamethon zurück und sah den älteren Mann noch immer ganz ruhig an. Ich spürte, wie Wut in mir emporstieg und so intensiv wurde, daß ich fürchtete, sie könnte aus mir herausbrechen, ungeachtet aller Konsequenzen.
Es war Wut auf Jamethon. Denn er war nicht nur so unverfroren, mich dem Strahlenden als ehrlichen und tugendhaften Man zu empfehlen, sondern da war auch noch etwas anderes an ihm, etwas, das einer Ohrfeige gleichkam. Einen Augenblick lang konnte ich es nicht erfassen. Und dann begriff ich plötzlich. Er fürchtete sich nicht vor dem Strahlenden. Und ich hatte mich gefürchtet während jenes ersten Interviews.
Obgleich ich ein Berichterstatter war, mit der Immunität der Gilde, die mich schützte. Und er nur ein Truppenführer, der seinem eigenen Oberbefehlshaber gegenüberstand, dem Kriegsherrn zweier Welten, von der Jamethons nur die eine war. Wie war er dazu fähig …? Und dann fiel es mir ein, und vor Wut und Enttäuschung knirschte ich beinahe mit den Zähnen. Denn mit Jamethon war es nicht anders als mit dem Gruppenführer auf Neuerde, der mir keinen Passierschein hatte geben wollen, mit dem ich Dave in Sicherheit hätte bringen können. Jener Gruppenführer hätte ohne zu zögern dem Strahlenden gehorcht, der der Älteste war, aber keine Veranlassung gesehen, sich vor dem anderen Strahlenden zu verneigen, der nur der Mensch war.
Auf die gleiche Weise hatte der Strahlende nun das Leben Jamethons in der Hand. Doch anders als bei mir hatte er in diesem Fall nur den geringerwertigeren und nicht den wichtigeren Teil des Lebens des vor ihm stehenden jungen Mannes in der Hand.
„Dein Heimaturlaub hier ist beendet, Truppenführer“, sagte der Strahlende scharf. „Unterrichte deine Familie, damit deine Habe nach Konzilstadt geschickt wird, und steig dann zu uns ein. Ich ernenne dich hiermit bis auf weiteres zum Adjutanten und Assistenten dieses Berichterstatters. Und wir werden dich zum Kommandeur befördern, um diese Stellung mit einem angemessenen Rang zu versehen.“
„Sir“, sagte Jamethon unbewegt und neigte kurz den Kopf. Er schritt zu dem Gebäude zurück, das er gerade verlassen hatte, und einige Augenblicke später kam er wieder heraus und stieg zu uns. Der Strahlende befahl dem Fahrer, den Wagen zu wenden, und so kehrten wir zur Stadt und seinem Büro zurück.
Als wir dort anlangten, ließ mich der Strahlende mit Jamethon allein, damit ich mich mit der Situation der Quäker in und um Konzilstadt vertraut machen konnte. Folglich unternahmen wir beide, Jamethon und ich, einige Stadtrundfahrten. Sie dauerten aber nicht allzu lange, und ich kehrte früh in mein Hotel zurück.
Es erforderte nur sehr wenig Einblick in die Situation, um zu wissen, daß Jamethon den Auftrag hatte, mich zu überwachen, während er die Funktion eines Adjutanten ausübte. Ich verlor jedoch kein Wort darüber, und Jamethon sprach überhaupt nicht. In den folgenden Tagen durchstreiften wir Konzilstadt und die umliegende Gegend, fast wie Touristen – wie zwei stumme Gespenster oder wie zwei Männer, die ein Gelübde abgelegt hatten, nicht miteinander zu sprechen. Es war das eigentümliche Schweigen eines gegenseitigen Einverständnisses darüber daß wir nicht über die Dinge sprachen, die es wert waren, von uns besprochen zu werden: über Eileen und Dave und alles andere. Sie hätten jede Diskussion nur mit solchem Schmerz erfüllt, daß das Gespräch selbst unerträglich geworden wäre.
Während dieser Zeit wurde ich ab und zu ins Büro des Ältesten Strahlenden bestellt. Bei diesen Gelegenheiten traf ich nur mehr oder weniger kurz mit ihm zusammen, und er schnitt dabei kaum das Thema meines vorgegebenen Motivs an, warum ich für die Sache der Quäker eintrat und somit auf seiner Seite war. Es war, als wartete er darauf, daß irgend etwas geschah. Und schließlich begriff ich, worum es sich dabei handelte. Er hatte Jamethon dazu eingesetzt, mich zu überprüfen. Und währenddessen überprüfte er die interstellare politische Lage – eine Analyse, die ganz allein ihm, dem Ältesten der Quäkerwelten, oblag. Er suchte nach einer bestimmten Konstellation, dem richtigen Augenblick, in dem er diesen eigennützigen Berichterstatter, der angeboten hatte, den Ruf seiner Anhänger zu verbessern, am nutzbringendsten einsetzen konnte.
Als mir das bewußt geworden war, war ich beruhigt. Nun sah ich, wie er Interview für Interview und Tag für Tag dem Kern der Sache näher kam, auf den ich ihn zudirigieren wollte. Der Kern, das war der Augenblick, in dem er mich um Rat bitten mochte, in dem er mich bitten mußte ihm zu sagen, was er mit mir anfangen sollte.
Tag für Tag und Interview für Interview wurde er immer entspannter und aufgeschlossener meinen Worten gegenüber – und neugieriger.
„Was ist es, Berichterstatter, worüber sie gerne lesen auf jenen anderen Welten?“ fragte er mich eines Tages. „Worüber erfahren sie eigentlich am liebsten etwas?“
„Über Helden natürlich“, antwortete ich im gleichen Plauderton, in dem er gefragt hatte. „Darum geben die Dorsai so guten Stoff ab – und in gewissem Maß auch die Exoten.“
Bei der Erwähnung der Exoten huschte ein absichtlicher oder unabsichtlicher Schatten über sein Gesicht.
„Die Gottlosen“, murmelte er. Und das war alles. Rund einen Tag später schnitt er erneut das Thema Helden an.
„Wodurch werden Menschen in den Augen der Öffentlichkeit zu Helden?“ fragte er.
„Für gewöhnlich“, gab ich zurück, „durch den Sieg über einen älteren, bereits bekannten starken Mann, einen Schurken oder Helden.“ Er sah mich freundlich an, und ich ging ein Risiko ein. „Wenn Ihre Quäkertruppen es zum Beispiel mit einer gleich starken Streitmacht der Dorsai aufnähmen und sie besiegten …“
Die Freundlichkeit wurde ganz plötzlich von einem Ausdruck beiseite gewischt, den ich nie zuvor in seinem Gesicht gesehen hatte. Eine Sekunde lang starrte er mich nur wortlos an. Dann warf er mir einen Blick zu, der genauso heiß und versengend war wie flüssiger Basalt aus dem Schlund eines Vulkans.
„Wollen Sie mich zum Narren halten?“ schnappte er. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er versah mich mit einem neugierigen Blick. „… oder sind Sie selbst nicht ganz bei Sinnen?“
Eine ganze lange Weile musterte er mich. Schließlich nickte er.
„Ja“, sagte er wie zu sich selbst. „Genau das … der Mann ist ein Narr. Ein auf der Erde geborener Narr.“
Er drehte sich auf dem Absatz um, und damit war unser heutiges Interview beendet.
Es machte mir nichts, daß er mich für einen Narren hielt. Im Gegenteil: Es war wie eine wertvolle Lebensversicherung, die in dem Augenblick wirksam wurde, in dem ich den entscheidenden Schritt unternahm, ihn zu narren. Aber ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, was ihn zu einer solch ungewöhnlichen Reaktion veranlaßt hatte. Und das machte mir Sorgen. Mein Vorschlag mit den Dorsai konnte doch nicht so weit hergeholt gewesen sein? Ich war versucht, Jamethon zu fragen, aber glücklicherweise hielt mich die Vorsicht als der bessere Teil der Tapferkeit zurück.
Unterdessen kam der Tag, als sich der Strahlende schließlich jener Frage näherte, von der ich wußte, daß er sie früher oder später stellen mußte.
„Berichterstatter“, sagte er. Er stand breitbeinig und mit auf den Rücken gelegten Händen vor dem vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster seines Büros und blickte hinunter auf das Regierungszentrum und Konzilstadt selbst.
„Ja, Ältester?“ antwortete ich. Er hatte mich ein weiteres Mal in sein Büro bestellt, und ich war gerade eingetreten. Als er meine Stimme vernahm, drehte er sich rasch um und starrte mich mit einem brennenden Blick an.
„Sie sagten neulich, Menschen würden dadurch zu Helden, indem sie ältere, bereits bekannte Helden besiegen. Als Beispiel für jene, die in den Augen der Öffentlichkeit als Helden gelten, erwähnten Sie die Dorsai – und die Exoten.“
„Das stimmt“, sagte ich und trat auf ihn zu.
„Die Gottlosen und die Exoten“, meinte er, als sei er ganz in Gedanken versunken. „Sie setzen Miettruppen ein. Was kann es uns nützen, Mietlinge zu besiegen – selbst wenn das möglich und leicht zu bewerkstelligen wäre?“
„Kommen Sie doch einfach jemandem zu Hilfe, der sich in einer Notlage befindet“, sagte ich leichthin. „So etwas würde Ihnen ein ganz neues und gutes öffentliches Image geben. Ihr Quäker seid nicht gerade bekannt für so etwas.“
Er warf mir einen durchdringenden Blick zu.
„Wem sollten wir zu Hilfe kommen?“ verlangte er zu wissen.
„Nun“, sagte ich, „es gibt immer kleine Gruppen von Menschen, die – zu recht oder zu unrecht – glauben, sie würden von den größeren Gruppen in ihrer Umgebung unterdrückt. Sagen Sie, sind denn nie kleine Dissidentengruppen mit dem Wunsch an Sie herangetreten, Ihre Soldaten spekulationsweise für den Umsturz ihrer bestehenden Regierung zu mieten und …“ Ich brach ab. „Nun, natürlich ist das der Fall gewesen. Ich habe Neuerde und die Nordparzelle von Altland ganz vergessen.“
„Durch die Sache mit der Nordparzelle haben wir in den Augen der anderen Welten kaum etwas gewonnen“, sagte der Strahlende barsch. „Und das wissen Sie ganz genau!“
„Oh, aber dort waren beide Seiten etwa gleich stark“, gab ich zurück. „Sie müssen folgendes tun: Kommen Sie einer wirklich winzigen Minorität zu Hilfe, die einer selbstsüchtigen und gewaltigen Majorität gegenübersteht … sagen wir, zum Beispiel den Bergbauarbeitern von Coby gegen die Grubensitzer.“
„Coby? Den Bergbauarbeitern?“ Er versah mich mit einem durchdringenden Blick, doch es war jener Blick, auf den ich die ganze Zeit über gewartet hatte, und so hielt ich ihm ganz gelassen stand. Er wandte sich um, schritt zu seinem Schreibtisch und blieb dahinter stehen. Er ließ die Hände sinken und hob ein Blatt Papier halb in die Höhe – es sah nach einem Brief aus –, das auf dem Tisch gelegen hatte. „Wie es der Zufall will, habe ich hier gerade ein Hilfeersuchen auf rein spekulativer Basis vorliegen, von einer Gruppe, die …“
Er brach ab, legte das Blatt Papier zurück und hob den Kopf, um mich anzusehen.
„Eine Gruppe wie die Bergbauarbeiter von Coby?“ fragte ich. „Aber es sind doch nicht tatsächlich die Bergbauarbeiter?“
„Nein“, sagte er. „Die Bergbauarbeiter sind es nicht.“ Einen Augenblick blieb er schweigend und regungslos stehen, dann kam er wieder um den Schreibtisch herum und streckte mir die Hand entgegen. „Aber ich will Sie nicht länger aufhalten.“
„Aufhalten?“ sagte ich.
„Bin ich falsch unterrichtet?“ fragte der Strahlende. Sein Blick brannte sich in meine Augen. „Wie ich hörte, wollen Sie heute abend mit einem Linienschiff zur Erde fliegen. Soweit ich weiß, haben Sie die Passage bereits gebucht.“
„Nun … ja“, sagte ich und verstand die Botschaft nun klar und deutlich, die in seinem Tonfall zum Ausdruck kam. „Das hätte ich beinahe ganz vergessen. Ja, ich fliege heute abend ab.“
„Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise“, sagte der Strahlende. „Ich freue mich, daß wir zu einer beiderseitig zufriedenstellenden Verständigung kommen konnten. Sie können in Zukunft auf uns zählen. Und wir nehmen uns andererseits die Freiheit, auch auf Sie zu zählen.“
„Ich bitte Sie darum“, entgegnete ich. „Und je eher, desto besser.“
„Vielleicht eher als Sie glauben“, sagte der Strahlende.
Wir verabschiedeten uns, und ich verließ sein Büro, um in mein Hotel zurückzukehren. Dort stellte ich fest, daß meine Koffer bereits gepackt waren. Und – wie der Strahlende gesagt hatte – an Bord des Linienschiffes, das an jenem Abend zur Erde startete, war schon eine Passage für mich gebucht. Jamethon war nirgends zu sehen.
Fünf Stunden später befand ich mich erneut zwischen den Sternen, und die Phasenverschiebungen markierten die Meilensteine auf meinem Rückweg zur Erde.
Fünf Wochen später erhob sich auf Santa Maria die Blaue Front, die von den Quäkerwelten heimlich mit Waffen und Soldaten unterstützt worden war, zu einer kurzen, aber sehr blutigen Revolte, die die gewählte Regierung stürzte und die Führer der Blauen Front an die Macht brachte.