Kapitel 11
Aus Jennas Tagebuch:
2. Juni 2027
Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, dass
Felix oft wochenlang weg ist. Auch wenn es eine bittere Ironie ist,
dass die Tore überall auf der Welt Familien zusammenführen, während
sie die Familie der Torerfinder auseinanderreißen.
Natürlich kann Felix aus den torlosen Gegenden,
in denen er mit seinen Mitstreitern unterwegs ist, nicht abends mal
schnell nach Hause beamen, um seiner Tochter eine
Gutenachtgeschichte vorzulesen. Das habe ich mittlerweile
übernommen. Celie war zuerst nicht begeistert, aber ich habe so
lange nicht locker gelassen, bis sie es zunächst geduldet und
schließlich sogar ausdrücklich danach gefragt hat. Inzwischen ist
es ganz normal geworden, für uns beide. Es gefällt mir – auch
wenn es bedeutet, dass wir uns allmählich an ein Leben ohne Felix
gewöhnen.
Aber ich darf nicht undankbar sein: Wenn Felix
zu Hause ist, dann ist er fast der Alte. Nicht ganz so unbeschwert
wie früher, aber auch nicht ständig depressiv. Trotzdem gehen wir
anders miteinander um. Vorsichtiger, distanzierter.
Wenn Felix nicht da ist, verkrieche ich mich in
meine Arbeit. Nicht die Wissenschaft, sondern »der neue Job«, den
ich 2024 unfreiwillig übernommen habe: Zusammen mit Pierre muss ich
Tag und Nacht Scrambler herstellen, denn Millionen von Toren werden
noch überall auf der Welt gebraucht. Umso mehr, seit jedes Haus
mindestens ein eigenes Versorgungstor bekommt, durch das es direkt
an die Strom- und Wasserversorgung angebunden ist und durch das
zugleich Abwasser und Müll entsorgt werden. Und auf den Straßen der
angeschlossenen Länder steht heutzutage auch alle paar Meter ein
Tor.
Felix sieht auch dabei nur die Nachteile: dass
die alten Rohr- und Leitungssysteme nicht mehr gewartet werden und
verfallen, weil zum Beispiel die Wasserwerke das Wasser direkt in
jedes Haus beamen, statt es durch Rohre zu schicken. Oder dass es
Flugzeuge nur noch bei Hobbyfliegern gibt und fast alle Autos in
riesigen Verwertungsanlagen verschwunden sind. Doch diese Nachteile
existieren nur in Felix’ Fantasiewelt, wo das Tornetz labil ist. In
Wirklichkeit arbeitet es absolut zuverlässig, jeden Tag,
milliardenfach. Aber wenn ich das sage, lacht Felix nur.
Ich teile seine Ängste zwar nicht, bin aber
trotzdem überzeugt, dass die Entscheidung, den Kern der
Tor-Technologie geheim zu halten, richtig war. Auch wenn sie mich
zu einer stumpfsinnigen Fließbandarbeiterin gemacht hat, die sich
nach ihrer eigentlichen Arbeit zurücksehnt.
Darum stehle ich mir manchmal eine Stunde, wenn
Celie schläft und ich nicht vor Müdigkeit umfalle. Denn wenn wir in
Sonnennähe Tore stationieren könnten, wäre die Energieversorgung
auch angesichts der rasant steigenden Bevölkerungszahlen kein
Problem mehr. Vielleicht können wir Satelliten zwischenschalten, um
die exakte Lokalisierung sicherzustellen, die die Tore zum Beamen
brauchen?
Dank der Gravitation funktionieren die Tore
wenigstens auf dem Merkur. Und natürlich auf dem Mond, sodass wir
seine Rohstoffe nutzen können. Aber mit mobilen Toren wären wir
einen riesigen Schritt weiter … Eventuell müssen wir die Tore,
um die Sonnenenergie direkt nutzen zu können, auf einem Körper mit
hoher Schwerkraft installieren, einer Art künstlichem Mond?
Irland, Mobilen-Kommune
Draußen war es längst dunkel. Celie lief
in ihrer Wohnung herum wie ein Tiger im Käfig. Egal, wie sehr sie
sich anstrengte, sie fand keinen Ausweg. Jason hatte sie für seine
Zwecke eingespannt, hatte ihre Naivität und ihr Vertrauen
missbraucht. Aber das würde niemanden interessieren, denn nun war
es zu spät. Sie war nichts anderes mehr als eine Spielfigur in
seinem Plan. Ein »Engel«, den er aus dem Hut gezaubert hatte und
der das tat, was er wollte.
Mom, was soll ich nur tun? Was kann ich
überhaupt tun?
Nein. An Jenna zu denken, half ihr nicht
weiter. Ihre Mom war nicht mehr da und auch niemand sonst: Alex,
Karen … Ja, Olle würde weiterkämpfen. Aber wer weiß, wie lange
er durchhielt. Und den Schaden, den der Bericht über Celie
angerichtet hatte, konnte er nicht ungeschehen machen.
Die Einsamkeit überfiel Celie wie ein hungriger
Wolf. Panisch riss sie die Tür auf. Verschwendete keinen Gedanken
an die Ausgangssperre. Musste weg, nur weg. Raus aus der Falle.
Raus aus der Stadt.
Sie dachte über nichts mehr nach. Nicht
darüber, wo sie hinwollte. Nicht darüber, was sie tun wollte, wenn
sie dort war. Auch nicht darüber, wie viel Glück sie hatte, dass
kein Polizist sie entdeckte, während sie herumlief.
Und dann stand sie vor dem Elektrozaun. Schlich
zu einer Stelle, wo keine Wachen patrouillierten. Suchte nach einer
Lücke, einer Schwachstelle. Fand sie. Und sah draußen auf der
anderen Seite Brigid stehen.
»Ich … Dawn …«
Celie begriff nicht, warum Brigid sie so
entsetzt ansah.
»Dawn, bitte, du darfst mich nicht verraten!«
Brigids Stimme klang schrill.
»Sei leise!«, fuhr Celie sie an. Eine Wache
näherte sich von links. Celie kletterte zu Brigid nach draußen und
sie hockten sich ein Stück weiter hinter einem Kran auf die
Erde.
»Was ist los, Brigid? Was machst du hier
draußen?«
»Eliza ist verschwunden«, sagte Brigid.
Celie fühlte sich wie auf einer
Achterbahnfahrt. Eben noch waren Jasons Pläne und ihre ausweglose
Situation das Einzige gewesen, woran sie denken konnte. Und nun war
das alles plötzlich nebensächlich geworden.
»Und du glaubst, sie ist hier?«
Brigid musterte Celie scheu von der Seite. »Ja.
Sie hat die ganze Zeit von ihren Freunden da draußen gesprochen und
dass sie nicht genug zu essen haben.« Brigid sah zu Boden. »Und ich
hab ihr gesagt, dass man schon für sie sorgen wird. Dass wir selbst
kaum noch genug haben.«
»Stimmt ja auch«, sagte Celie und fragte sich
im nächsten Moment, woher sie die Kraft nahm, Brigid zu trösten.
Sie stand auf. »Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.«
Nachts kamen keine Versorgungslieferungen
herein. Darum gab es jetzt außerhalb der Stadt sehr viel weniger
Patrouillen als am Zaun und so kamen Celie und Brigid gut voran.
Sie passierten eine Ansammlung von Armee-Cubes, vor denen Menschen
über Campingkocher gebeugt saßen, deren Licht ihre erschöpften
Gesichter nur notdürftig erhellte. Celie erkannte den alten Mann
mit der Angel vom Strand wieder und fragte ihn nach dem Weg zu
Timothys Familie. Im staubigen Ackersand malte er ihnen den Weg
auf.
»Warum tust du das?«, fragte Brigid, als sie im
Dunkeln vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzten, um nicht in
Löcher auf dem Acker oder in unbeleuchtete Baugruben zu
fallen.
Celie blieb stehen. »Verdammt noch mal, Brigid,
was denkst du denn, was ich bin? Ein Monster? Ich …«
Brigid riss erschrocken die Augen auf. »Nein,
nein, bitte, sei nicht böse …«
»Hör auf damit!«, schrie Celie.
Sie gingen schweigend weiter, bis Celie sagte:
»Ich hab gehört, wie er dir gedroht hat.«
Brigid blieb abrupt stehen, sagte aber kein
Wort.
»Ich hab nichts damit zu tun«, sagte Celie.
»Ich weiß überhaupt nicht, worum es geht.«
Plötzlich lachte Brigid. Erst war es nur ein
Schnauben, aber dann prustete sie los, lachte und lachte.
»Du hast gar nichts mit Jason, oder?«, rief sie
mit erstickter Stimme.
»Um Gottes willen!«, entfuhr es Celie.
Da ließ Brigid sich neben ihr auf den Boden
sinken. »Also, dann ist dies jetzt die Stunde der Wahrheit.« Und
dann erzählte sie.
Dass ihr Mann sie betrogen hatte. Dass er sie
geschlagen und gedemütigt hatte. Dass er gesagt hatte, die andere
sei viel schöner, interessanter und klüger als Brigid. Dass sie das
alles ertragen hatte. Bis zu dem Abend, als er sich zum ersten Mal
auch an Eliza vergreifen wollte. Dass sie nicht anders konnte, als
ihn umzubringen. Dass sie ihr zwar nichts nachweisen konnten, die
Indizien aber als ausreichend betrachteten, um sie zumindest zu
sperren. Und dass sie keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als mit
ihrer Tochter in eine Mobilen-Kommune zu gehen.
Bis dahin kannte Celie die Geschichte mehr oder
weniger schon, aber Brigid war noch nicht am Ende angekommen.
»Seine Geliebte war dir wie aus dem Gesicht
geschnitten, Dawn. Rote Locken, niedliche Sommersprossen …
Jedes Mal, wenn ich dich ansah, musste ich an sie denken und auch
an ihn. – Ich weiß, dafür kannst du nichts«, fügte sie nach
einem Seitenblick zu Celie hinzu. »Aber als Jason mich dann auch
noch fallen gelassen hat, nur um mit dir zusammen zu sein, da war
das, als würde alles noch mal von vorne …«
Celie sprang auf.
»Du und Jason?! Ich hatte jedenfalls nie
was mit ihm! Lieber wäre ich tot!«
Brigid sah sie so verblüfft an, dass Celie
beinahe gelacht hätte.
»Es tut mir leid«, flüsterte Brigid. »Ich war
eine totale Murkha.«
»Und ich erst …«, sagte Celie, mehr zu
sich selbst.
Sie sah sich um. »Und wie es aussieht, haben
wir zwei Murkhas uns jetzt auch noch verlaufen.«
Eine halbe Stunde später erreichten sie
doch noch Timothys Cube und wie erwartet war Eliza dort. Timothys
Mutter entschuldigte sich unentwegt und beteuerte, sie habe Eliza
längst zurückbringen wollen, sei aber von den Security-Kräften
daran gehindert worden, die gesagt hatten, sie müssten bis zum Ende
der Ausgangssperre am nächsten Morgen warten. Sie lud Brigid, Eliza
und Celie ein, über Nacht zu bleiben. Das Frühstück würde zwar
etwas spärlich ausfallen, aber man werde schon zurechtkommen.
Als alle um das Kartoffelfeuer vor dem Cube
zusammensaßen, herrschte verlegenes Schweigen. Celie dachte zuerst,
das läge an ihr, nach allem, was man über sie auf den Screens
verbreitet hatte. Plötzlich brach eine Frau am Feuer in Tränen aus
und lief weg.
Celie blickte ihr so erschrocken hinterher,
dass Timothys Mutter sie sofort beruhigte: »Das hat nichts mit dir
zu tun, Dawn. Sie hat … ihr Junge ist einer von den ermordeten
Jungs gewesen.«
»Ein guter Junge, der Curly!«, sagte ein
drahtiger Mann heftig. Er sah Celie finster an. »Er war in keiner
Gang, wie es eure Propaganda überall rumposaunt. Keiner von den
Jungs! Vielleicht haben sie beim alten Bergwerk rumgeschnüffelt,
aber das ist doch kein Verbrechen!«
Die anderen am Feuer nickten. Timothys Mutter
legte dem Mann eine Hand auf den Arm, aber er stieß sie beiseite.
»Das soll sie ruhig hören! Ist mir doch egal, ob sie mich beim
Bürgermeister anschwärzt!«
Celie wollte sich verteidigen, aber sie brachte
kein Wort heraus. All das, was sie beiseitegeschoben hatte, um erst
einmal Eliza zu finden, kam angesichts der Beschuldigung des Mannes
wieder hoch. Sie stand auf, stammelte, dass sie noch etwas
erledigen müsse, und rannte dann weg, einfach weg in die
Dunkelheit.
Irgendwo im Hinterkopf wusste sie, dass es
nicht besonders klug war, wenn sie so kopflos umherrannte. Im
Dunkeln konnte sie hier draußen jederzeit stolpern und sich den Fuß
verstauchen oder sogar ein Bein brechen oder jemand könnte sie
überfallen oder … Aber das war ihr egal. Sie wollte nur
laufen. Laufen, bis sie nichts mehr spürte als die Stiche in den
Seiten. Laufen, bis sie keine Luft mehr bekam. Laufen bis ans Ende
der Welt.
Plötzlich war da das Meer. Nicht blau,
sondern schwarz-grau lag es vor ihr ausgebreitet. Wie ein
Versprechen. Celie zog sich bis auf die Unterwäsche aus und lief
ins Wasser. Dann schwamm sie erst einmal wie wild gegen die Kälte
an, die sofort bis in ihr Innerstes kroch. Nach einer Weile wurde
ihr wärmer und sie ging zu kräftig ausholenden Schwimmbewegungen
über. Hier war die Welt noch so, wie sie immer gewesen war. Nur
Wasser, Wellen, der Mond am Nachthimmel und die Sterne. Keine
Boote, keine Menschen weit und breit.
Celie schaute nicht zum Ufer zurück. Sie konnte
ewig so weiterschwimmen. Sie wollte ewig so weiterschwimmen. Hinaus
aufs Meer. Wo es keinen Jason gab, kein Elend, nichts außer dem
Wasser und dem Himmel.
Vielleicht war das die beste Lösung. Für alle.
Wenn sie weiterschwamm, konnte Jason sie nicht mehr für seine
Zwecke einspannen. Konnte nicht mehr ausnutzen, dass sie Jenna
Kranens Tochter war. Wenn sie weiterschwamm, würde es endlich
aufhören. Alles. Auch das Rad, das sich in ihrem Kopf drehte, seit
Mom gestorben war. Alex, ihr bester Freund Alex, der nicht da
gewesen war. Auf den sie jedes Mal wütend wurde, wenn sie nur an
ihn dachte, und den sie zugleich so sehr vermisste, dass es wehtat.
Aber da war noch mehr, und hier, auf dem ewigen Meer, ließ sie
endlich zu, dass es hinter ihrer Wut hervorkam und sich im
Mondlicht zeigte. Die verzweifelte Gewissheit, dass es ihre Schuld
gewesen war. Weil sie diesen verdammten Akku aus Jennas Testtor
genommen hatte und dabei an irgendeinen Hebel oder Knopf gekommen
sein musste. Und das war der Grund gewesen, nicht Alex, nicht
irgendein unerklärlicher Unfall, dass ihre Mom gestorben war. Und
es war ihre Schuld, ganz allein ihre Schuld.
Mit dieser Schuld kann man nicht leben, nur
sterben, dachte sie, aber während sie das dachte, bewegten sich
ihre Arme und Beine weiter, hielten sie über Wasser und trugen sie
vorwärts, obwohl sie ihnen befahl, aufzuhören, sie untergehen zu
lassen, damit es endlich vorbei war.
Mit einem Mal spürte sie alles intensiver: die
Kälte des Meeres, das Wasser auf ihrer Haut, das Mondlicht in ihren
Augen, das Salz auf ihren Lippen, die Schwere in ihren Beinen, die
Weite vor und hinter ihr. Der Krampf kam ganz plötzlich, sie trat
wild um sich, Wasser in ihrem Mund, in ihrer Kehle, sie hustete,
fasste den Fuß mit einer Hand und drückte die Zehen nach oben,
schluckte Wasser, hustete.
Als der Krampf vorbei war und sie wieder zu
Atem gekommen war, schloss sie die Augen und lauschte auf ihre
innere Stimme, die ihr sagen würde, dass es an der Zeit war,
loszulassen. Aber es war nicht ihre Stimme, sondern die von Alex,
und wie immer, wenn sie ganz tief in der Scheiße steckte, sagte er:
»Komm.«
Sie sah das Ufer vor lauter Tränen nicht,
aber sie spürte den Sand unter ihren Füßen, stolperte an Land, ließ
sich zitternd zu Boden fallen und stand sofort wieder auf, um ihre
Kleidung anzuziehen.
Na gut, Alex, hier bin ich. Und was
jetzt?
Was sie morgen früh tun würde, war ihr schnell
klar. Erst einmal würde sie Brigid und Eliza zurück zur Stadt
begleiten. Ihr »Engel«-Bonus würde hoffentlich verhindern, dass sie
Ärger bekamen. Und dann würde sie mit Olle und seinen Freunden
sprechen. Egal, welche Propaganda Jason auffuhr: Sie würde gegen
ihn kämpfen, würde seine Pläne durchkreuzen, mit allen Mitteln.
Sein »Engel« würde ihm das Leben zur Hölle machen.
Okay, das war alles andere als ein Plan. Aber
es war genug, um weiterzumachen. Einen Tag. Und dann noch
einen.
Aber irgendetwas nagte da immer noch an
ihr … Ja, die toten Jungen. Die angeblich in einer Gang
gewesen waren. Was die Menschen, die sie gekannt hatten, allerdings
für völlig absurd hielten. Aber wenn es kein Gang-Krieg gewesen
war, was dann? Hatte der Mann am Lagerfeuer recht, dass die Jungen
beim Bergwerk rumgeschnüffelt hatten? Vielleicht hatten sie dort ja
etwas gefunden, was sie nicht finden sollten. Hatten sie deshalb
sterben müssen?
Das Bergwerk war nicht weit von hier. Sie würde
sich dort mal umsehen.
Als Celie das Bergwerk erreicht hatte,
hörte sie Stimmen. Sie duckte sich hinter einer Bretterwand vor dem
alten Schacht.
»Scheißspiel«, fluchte eine männliche Stimme.
»Deshalb hab ich mich nicht für den Job gemeldet, damit ich mir vor
’nem verlassenen Bergwerk die Beine in den Bauch steh.«
Zustimmendes Gemurmel, dann sagte ein anderer:
»Exacto. Keine Action hier, nicht mal ’ne kleine Schlägerei. Weiß
sowieso nicht, warum wir hier sind. Seit den Morden kommt hier doch
eh kein Schwein mehr vorbei!«
Celie duckte sich und schlich von den
Security-Leuten weg, wurde aber gleich von einer Mauer gestoppt,
die zwar verfallen, aber trotzdem unüberwindlich für sie war, wenn
sie keinen Lärm machen wollte. Celie sah sich um. Es schien kein
Weg an den Männern vorbeizuführen, auf dem sie sie nicht entdecken
würden. Aber sie konnte auch nicht ewig hier ausharren. Sie war
durchgefroren bis auf die Knochen und die Nacht war kühl.
Vielleicht zogen sie ja bald ab. Celie ging zur Bretterwand zurück,
um sich dahinter für eine ungemütliche Nacht einzurichten. Da
bemerkte sie ein dunkles Loch neben der Wand. Sie trat näher. Das
Loch war so groß, dass man auf allen vieren hineinkriechen
konnte.
Celie zögerte nur einen Moment, während sie
sich fragte, ob die vier Jungen dieses Loch wohl auch entdeckt
hatten. Dann ließ sie sich auf die Knie hinunter und robbte
hindurch.
Hier drin war es noch kälter als draußen
und es roch …
Im ersten Moment dachte Celie an den Geschmack
von Blut, wenn man sich auf die Zunge gebissen hat. So roch es.
Metallisch. Und muffig, wie in einem Haus, in dem hundert Jahre
lang die Fenster nicht mehr geöffnet worden waren. Hinzu kam, dass
es stockdunkel war.
Celie blieb auf den Knien und tastete sich
vorwärts. Sie kroch über Steine und Holzstücke, hin und wieder
passierte sie irgendein Werkzeug, dann patschte sie mit den Händen
in eine Pfütze, die nach Öl roch. Ihr war kalt und sie war
hundemüde, und alles, was sie wollte, war, eine alte Decke zu
finden, in die sie sich für die Nacht einwickeln konnte. Was sie
stattdessen fand, war fast ebenso gut: Ihre klammen Finger
umfassten mit einem Mal ein Feuerzeug. Aus einem Stück, nicht fürs
Recycling gebaut. Es musste uralt sein. Sicher funktionierte es
nicht mehr … Mit einem satten Schnarren entzündete sich das
Gas und Celie musste vor der hellen Flamme die Augen
zusammenkneifen. Sie sah sich schnell um und ließ die Flamme dann
wieder ersterben. Atemlos lauschte sie. War etwas von dem Licht
nach draußen zu den Security-Leuten gedrungen?
Endlose Sekunden später war sie sicher, dass
man sie nicht gesehen hatte. Sie rief sich das Bild vor Augen, das
sie kurz im Licht des Feuerzeugs gesehen hatte.
Direkt neben ihr war ein eingestürzter Stollen
gewesen, dort ging es nicht weiter. Aber schräg links vor sich
hatte sie eine Tür gesehen …
Celie tastete sich in ihre Richtung. Sie löste
den Riegel der Tür und drückte dagegen. Sie war verschlossen. Was
jetzt?
Celie war nicht bereit, aufzugeben. Sie tastete
sich an der Tür entlang, bis sie ein Astloch fand, so dick wie ihr
Daumen. Sie drehte sich um, ging ein Stück zurück und tastete auf
dem Boden nach der Eisenstange, die sie dort hatte liegen sehen. Es
dauerte eine Weile, dann umschlossen ihre Finger das kalte Metall.
Zurück zur Tür, und nun, leise, vorsichtig …
Es knarrte, als Celie die Stange in das Astloch
bohrte. Ganz leicht ruckelte sie mit der Stange hin und her.
Vergebens. Sie konnte die Männer draußen lachen hören, aber obwohl
sie laut lachten, klang es nur sehr gedämpft. Also riskierte sie
es: Sie drückte mit aller Kraft gegen die Stange und wie ein
Brecheisen löste sie mit einem viel zu lauten Krachen das Brett aus
der Tür.
Celie wusste nicht, ob die Männer sie gehört
hatten, aber jetzt konnte sie es sowieso nicht mehr ändern. Sie
konnte nur vorwärtsgehen und genau das tat sie. Auch hier war es
stockdunkel. Sie hob ihr Feuerzeug und drückte das Rädchen. Zwei,
drei, vier Sekunden. Sie ließ das Rädchen wieder los. Machte das
Feuerzeug noch einmal an. Ließ es wieder verlöschen. Nein, sie
hatte sich nicht geirrt. Das hier war keine Fata Morgana. Das war
ein Lager. Randvoll mit Konserven, Säcken voller Reis, Nudeln und
Kartoffeln, Körben mit Ananas und Melonen, Kisten voller
Schokolade, Fässern mit Olivenöl, Kästen mit Bier, Wein, Cola,
Whiskey …
Jetzt wusste sie, woher Jason die Schokoriegel
gehabt hatte. Und die Erdnüsse. Celie dachte an Timothys Familie
und all die anderen da draußen, die kaum genug zum Überleben
hatten, und Wut stieg in ihr hoch.
Sie machte das Feuerzeug wieder an und bemerkte
aus dem Augenwinkel eine winzige Bewegung. Dann starrte sie den
beiden Kameradrohnen ins Auge, die – nicht größer als
Hummeln – über ihr in der Luft schwebten. Wenn das Jasons
Spezialdrohnen waren, dann war Celie vermutlich gleich tot. Sie
starrte die Drohnen regungslos an. Minutenlang, wie es ihr schien.
Aber nichts geschah. Offenbar zeichneten diese Drohnen nur
auf.
Mit einem Mal sah sie wieder die
Nachrichtenbilder der ermordeten Jungen vor sich. Sie waren hier,
in der Nähe des Bergwerks gefunden worden. Neben sich die
Verpackung eines Schokoriegels und eine leere Flasche Cola.
Sie hatten das Lager vor Celie entdeckt und
dafür hatten sie sterben müssen.
Celie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie ging
zurück zu der Bretterwand, durch die sie ins Bergwerk gelangt
war.
Die Kameradrohnen folgten ihr. Sollten sie nur
alles aufzeichnen, Celie konnte es sowieso nicht verhindern.
Vielleicht würden die Leute vom Widerstand eine Möglichkeit finden,
an die Aufzeichnungen zu kommen und sie öffentlich zu machen. Das
würde Jason wahrscheinlich nicht das Genick brechen, aber es würde
sein Image empfindlich beschädigen. Und vielleicht war es dann auch
möglich, eine polizeiliche Untersuchung durchzuführen, die Jasons
Beteiligung an den Morden offenlegte …
Sie kroch nach draußen und lauschte auf die
Security-Männer. Sie unterhielten sich nur noch leise. Celie konnte
das Flackern eines Feuers sehen. Wahrscheinlich hatten die Männer
sich dort für die Nacht eingerichtet. Vorsichtig spähte sie um die
Ecke. Ja, dort lagen sie, in Schlafsäcke gehüllt. Einer schlief
offenbar schon, die anderen starrten Löcher in die Luft, ab und zu
sagte einer etwas.
Celie konnte nicht warten, bis sie
eingeschlafen waren. Sie wusste nicht, ob die Kameradrohnen dem
Sender, der Polizei oder Jason selbst gehörten. Vielleicht hatte er
die Aufzeichnungen schon gesehen und schickte in diesem Moment
seine Todesdrohnen los! Sie wartete einen günstigen Moment ab und
schlich dann mit wild klopfendem Herzen keine fünf Meter an den
Männern vorbei ins schützende Dunkel der Nacht.
* * *
Wenn Jason von der neuen Welt träumte, sah
er zuallererst die Tore vor sich. Seine Tore. Seinen Weg zur
unbegrenzten Macht. Sobald alles andere erledigt war, würde das
Tornetz wiedererstehen. Und dann würde der ehemals gesperrte Junge
der Einzige sein, der über die Erde wandelte, wo immer es ihm
gefiel. Wie ein Gott.
Einigen besonders treuen Gefolgsleuten würde er
erlauben, die Tore ebenfalls zu benutzen. Und natürlich seiner
Königin. Solange sie sich an seine Regeln hielt, würde er ihr die
Welt zu Füßen legen, und sie würde ihn dafür ebenso anbeten wie
alle anderen.
Wenn Jason von der neuen Welt träumte, sah er
als Nächstes die Menschen vor sich. In der neuen Welt würden sie
für ihre Sünden büßen, für alles, was sie ihm angetan hatten. In
ständiger Angst würden sie leben, ums nackte Überleben würden sie
kämpfen. Sie würden weder Zeit noch Mut haben, sich gegen ihn zu
erheben. Ihr Leben lang würden sie sich genauso fühlen, wie er sich
damals gefühlt hatte. Hilflos, verzweifelt, in die Enge
getrieben.
Drei Jahre lang war er für alle der letzte
Dreck gewesen. Der jüngste Mensch, den man je gesperrt hatte –
verdammt, er war erst fünfzehn gewesen! Unter Abschaum hatte er um
sein Leben kämpfen müssen, Tag für Tag und – schlimmer
noch – Nacht für Nacht. Und all die Versager um ihn herum
hatten sich auch noch für etwas Besseres gehalten!
Dabei hatte er nur getan, was er tun musste.
Sicher, er hatte sich ein paar nicht ganz legale Sachen geleistet.
Ein paar Drogen, ein paar Mädchen, die man zu ihrem Glück zwingen
musste … Und das mit dem toten Mädchen im Fluss war ein Unfall
gewesen. War es von seinen Eltern denn zu viel verlangt gewesen,
ihm das zu glauben?
Als sie dachten, er schliefe, sprachen sie
darüber, ihn anzuzeigen. Um ihn vor sich selbst zu schützen.
Wenn er gewusst hätte, dass sie ihn schon
gemeldet hatten … Sie umzubringen war völlig unnötig gewesen.
Das hatte er vor Gericht auch zugegeben, aber der Richter hatte ihn
in einem Sicherheitsknast in der Wildnis einschließen lassen und
eine Sperrung auf Lebenszeit angeordnet.
Er schüttelte die Bilder ab, die sich in seinen
Kopf drängten, und spulte innerlich zwei Jahre vor. Zu dem Tag, an
dem er von einem gesperrten Nachrichtentechniker einen Schwarm
Kameradrohnen gekauft hatte. Es hatte ihn alles gekostet, was er
besaß, und danach hatte er noch drei Monate hungern müssen, um sich
die tödliche Zusatzausstattung seiner Drohnen leisten zu können.
Aber von dem Tag an, an dem der »Bee Man« geboren wurde, hatte
niemand mehr etwas gegen ihn ausrichten können. Wie ein Todesgott
hatte er alle verfolgt, die ihn gequält hatten. Ja, viele hatte er
schon vernichtet, aber manche waren ihm in der alten Welt
entkommen. Doch in der neuen Welt, seiner Welt, würden sie sich
nicht mehr verstecken können. Er würde sie alle finden. Seine Rache
würde entsetzlich sein.
Er hatte nicht erwartet, Aufnahmen von seiner
Göttin zu sehen, als er vor dem Schlafen aus alter Gewohnheit noch
einmal die Screen einschaltete. Aber da war sie. Draußen. In seinem
Lager! Er sprang auf, riss den Schrank auf und holte den Kasten mit
seinem tödlichen Schwarm heraus.
Ihr Blick verfolgte ihn von der Screen aus die
Treppe hinauf. Sie sah die Drohnen jetzt direkt an. Und sie
lächelte.
* * *
Als Celie den Cube von Timothys Familie
erreichte, schliefen alle schon. Sie entschied sich, nur Brigid
aufzuwecken und alles mit ihr zu besprechen. Celie betrat den Cube
und schloss die Tür so schnell hinter sich, dass die Kameradrohnen
wie verirrte Hummeln gegen die Tür flogen. Hoffentlich war keine
unbemerkt mit hineingeschlüpft! Celie wollte auf keinen Fall, dass
Brigid mit in das hineingezogen wurde, was sie vorhatte. Sie hatte
kaum Zeit zum Überlegen gehabt, und es war weniger ein Plan als
eine Verzweiflungsaktion, was sie sich ausgedacht hatte. Aber es
würde reichen müssen. Und wenn alles lief, wie sie es sich überlegt
hatte, hatte sie sogar eine kleine Chance.
Als Brigid verschlafen die Augen öffnete, legte
Celie einen Finger an die Lippen und setzte sich neben sie. Brigid
beobachtete mit gerunzelter Stirn, wie Celie zu ihr unter die Decke
kroch und die Decke über ihnen zu einem Minizelt
zusammenschlug.
Und dann erzählte Celie Brigid, was sie
entdeckt hatte. Im Bergwerk und in Jasons Keller.
»Dieses Schwein«, hauchte Brigid.
Celie berichtete ihr von den Kameradrohnen, die
sie verfolgten.
»Shit«, sagte Brigid.
»Ja«, sagte Celie. »Aber ich habe eine
Idee …«
Zehn Minuten später waren sie sich über alles
einig – abgesehen von einem Punkt.
»Nein«, sagte Brigid kategorisch und schlug die
Decke hoch, unter der sie allmählich keine Luft mehr bekamen. »Das
kommt nicht infrage. Du wirst ganz bestimmt nicht …«
Celie schüttelte den Kopf. »Es funktioniert nur
so. Oder hast du eine andere Idee?«
»Nein. Aber trotzdem …«, beharrte
Brigid.
»Wir brauchen ein MoPad mit einem
funktionierenden Akku«, sagte Celie. »Wir haben nicht mehr viel
Zeit.«
Sie brauchten niemanden zu wecken: Zwei MoPads
lagen neben den Schlafsäcken der Kinder und in einer Schublade
fanden sie einen geladenen Akku. Während sie in dem stickigen Cube
saßen – Celie vor dem MoPad, das ihre Mitteilung als Vid
aufzeichnete, während Brigid versuchte, durch die milchige
Kunststofftür hindurchzusehen, ob jemand kam –, warfen die
beiden sich immer wieder kurze Blicke zu. Brigid war ernsthaft
besorgt wegen ihr, das konnte Celie sehen.
Als Celie die Aufnahme beendete, stand Brigid
auf. »Ich werde dir jetzt ein paar Sachen besorgen, die du brauchen
wirst«, sagte sie. »Damit du überhaupt eine …« Sie brach ab,
aber Celie wusste auch so, was sie sagen wollte. Damit du
überhaupt eine Chance hast. Sie nickte, ohne von dem MoPad
aufzublicken. Brigid weckte die anderen Erwachsenen im Cube und
erklärte ihnen die Lage. Leise, um die Kinder nicht zu stören,
beratschlagten sie, was Celie brauchte und wie sie es ihr
beschaffen könnten. Außerdem überlegten sie, wen sie zum Lager im
Bergwerk schicken sollten, um es auszuräumen, bevor Jasons Leute
kamen. Brigid, Timothys Vater und sein Bruder brachen sofort
auf.
Als sie zurückkamen, war Celies Vid fertig. Im
Schein einer Taschenlampe, die sie für Celie organisiert hatten,
breiteten sie ihre Schätze aus.
Celie war sprachlos. Da lagen zwei Messer, jede
Menge Vorräte – Kartoffelbrei, Äpfel, Brot, sogar ein Stück
Käse und etwas Butter –, Wasserflaschen mit
Aufbereitungstabletten, ein Schlafsack, neue Nanokleidung, die sie
im Regen trocken und in der Kälte warm halten würde, ein Paar
Turnschuhe in ihrer Größe, vier Akkus, die außerhalb der Kommune
ein Vermögen wert waren – und ein kleines Gerät, das wie ein
Zigarettenpäckchen mit Antennen aussah.
»Ein Störsender«, sagte Timothys Onkel voller
Stolz, »gegen die Kameradrohnen.«
»Aber wo habt ihr den denn her?«, rief
Celie.
Timothys Onkel lächelte verschmitzt. »Wir hier
draußen sind nicht alle Bauern und Bauarbeiter. Zumindest waren wir
das nicht immer.«
»Was’n los?«, murmelte Eliza aus ihrer Ecke
verschlafen.
»Nichts, schlaf weiter«, sagte ihre
Mutter.
Eliza rieb sich die Augen und deutete zur
Tür.
»Da is’n Pferd«, verkündete sie, bevor sie sich
umdrehte und weiterschlief.
Celie lächelte. Aber dann sah sie den Umriss
auch. Ein Pferd?
»Du musst ja irgendwie vorwärtskommen«,
erklärte Brigid. »Und ein Pferd braucht keine Akkus. Ich hoffe, du
kannst reiten!«
»Ja, kann ich«, sagte Celie. »Danke, das
ist … ihr seid unglaublich.«
Timothys Vater legte ihr eine Hand auf die
Schulter. »Was du heute für uns tust, das können wir gar
nicht …«
Verlegenes Schweigen breitete sich aus, bis
Celie das MoPad holte. Sie gab es Brigid.
»Auf dem Vid ist alles, was ich über Jason
weiß. Ich habe erzählt, was es mit dem Lager auf sich hat und wie
Jason die Jungen ermordet hat. Gib das MoPad Olle, er wird wissen,
wie er es am besten nutzt. Er soll auf jeden Fall eine Kopie für
Stadträtin Suzanne Carlyle machen. Sie ist auf unserer Seite und
Jason hat sie noch nicht verhaften lassen. Vielleicht kann sie im
Rat noch etwas ausrichten. Und eine Kopie muss zum Sender, zu
Martin Kleib, wenn er noch da arbeitet. Aber das weiß Olle auch
alles.«
Brigid nickte stumm, während Timothys Vater das
Vid leise abspielte. Celie hielt Brigid den Brief hin, den sie
geschrieben hatte, nachdem das Vid fertig gewesen war.
»Und dieser Brief ist für Pietro Salano von der
Musikschule. Ich werde bei dem Konzert am Samstag ja nicht dabei
sein. Er muss dafür sorgen, dass es stattfindet.«
Brigid nickte wieder. Dann schaute sie kurz zum
Vid und schüttelte plötzlich heftig den Kopf. »Du sagst da, dass es
deine Entscheidung war, den Flüchtlingen den Standort des Lagers zu
verraten? Aber damit machst du dich zum Sündenbock! Alle in der
Stadt werden dich hassen!«
Aus einem plötzlichen Impuls heraus umarmte
Celie Brigid. »Immer noch besser, als wenn sie mich als Jasons
Helfershelferin betrachten. Oder den Flüchtlingen die Schuld
zuschieben«, sagte sie. »Irgendeinen Schuldigen müssen wir ihnen ja
bieten, und wenn ich eine Verräterin bin, dann fällt das jetzt ja
auch auf Jason zurück, nachdem er mich zum ›Engel‹ hochstilisiert
hat. – Außerdem können sie mir nichts mehr tun. Ich werde ja
nicht mehr hier sein.«
Brigid hielt Celie fest, bis Celie sich sanft
befreite.
»Ich muss euch um noch etwas bitten«, sagte sie
in die Runde. »Es geht um eine Information, die nur für Jason
bestimmt ist. Sollte er irgendjemanden von euch – oder von
Olle und seinen Verbündeten – wegen mir befragen, dann sagt
ihm bitte, möglichst widerwillig, das Folgende …«
Sie war kaum fertig, als jemand an die Tür
klopfte. »Sie kommen!«
Hektisch wurden Celies Vorräte in einen
Rucksack verpackt. Von dem Lärm wurden nun auch die Kinder wach.
Schnell verabschiedete Celie sich von allen und drückte auch Eliza
noch einmal fest an sich. Eliza fragte, wohin sie wollte. Das
Erste, was Celie einfiel, war … Alex. Wer sonst. »Ich suche
einen Freund«, stieß sie hervor. Dann umarmte sie Brigid, der
Tränen übers Gesicht liefen, stieg aufs Pferd und preschte davon,
während die anderen hinter ihr zurückblieben und sich Jasons
Kommando entgegenstellten.
Sie überlegte keine Sekunde, in welche Richtung
sie reiten wollte. Es gab nur einen Weg.
Nach Hause.
Und dann … zu ihm.
Irland, an der Küste
Seit er in Calais das Meer zum ersten Mal
gesehen hatte, fühlte Alex sich so gut wie lange nicht mehr. Auch
wenn ihm auf dem schnellen Rennboot der Regen ins Gesicht
peitschte, sie Piratenschiffen ausweichen mussten oder Bernie mal
wieder würgend über der Reling hing: Sie hatten fürs Erste genug zu
essen und zu trinken, sie näherten sich mit jeder Minute dem Ort,
an dem er Celie finden würde – und hier auf dem Wasser konnte
er sich manchmal sogar einbilden, es wäre alles noch so wie früher.
Bevor Jenna gestorben und das Tornetz zusammengebrochen war. Er
konnte sich sogar vorstellen, dass Celie ihm um den Hals fiel, wenn
sie ihn sah.
Aber diesen Traum schob er jedes Mal schnell
wieder beiseite, bevor die Realität über ihn hereinbrechen konnte.
Es war besser, sich mit aller Kraft auf das nächste Ziel zu
konzentrieren: die Fahrt auf der rauen See zu überleben.
Dafür musste Alex in jedem Moment hellwach
sein. Denn wenn er die Geschwindigkeit nicht immer wieder
sekundenschnell anpasste, würde das Boot sofort kentern. Und Bernie
war auch keine große Hilfe: Sobald die Wellen etwas höher schlugen,
musste er ohne Ende kotzen.
In den seltenen Momenten, wenn die See ruhig
und Bernie ansprechbar war, unterhielten sie sich. Über Gott und
die Welt. Alex konnte nur staunen, wie sehr sein Freund sich
verändert hatte. Nie hätte er ihm zugetraut, dass er sich allein in
der Wildnis durchschlagen könnte. Aber Bernie hatte es geschafft.
Obwohl er viel weniger Hilfe dabei gehabt hatte als Alex auf dem
ersten Teil seiner Reise.
Bernie war es auch, der darauf bestand, dass
sie sich vor ihrer Landung an der Küste auf jede mögliche Situation
vorbereiteten: eine Piratenflotte, hungernde Banden, die sie wegen
ihres Rennboots umbringen wollten, kranke Menschen, die sie mit
Pest und Cholera ansteckten, sobald sie einen Fuß auf den Strand
setzten … Alex wäre wohl einfach irgendwo an Land gegangen und
losgerannt, weil er es nicht erwarten konnte, zu Celie zu kommen.
Aber er sah ein, dass sie vorsichtig sein mussten. Und so fuhren
sie, als sie nach drei Tagen auf See die irische Küste bei Wexford
erreichten – etwa 120 Kilometer unterhalb von Dublin –,
erst einmal in größerer Entfernung an der Küste entlang.
Verlassene Küstenabschnitte wechselten sich mit
solchen ab, wo Massen von Menschen in Zelten hausten und Flammen
von brennenden Häusern und Schiffen hoch in den Himmel schlugen.
Sie waren sich einig, dass es zu gefährlich wäre, dort an Land zu
gehen. Aber sie konnten auch nicht an irgendeiner verlassenen
Stelle festmachen, wenn sie ihr Boot gegen E-Bikes oder ein anderes
Fahrzeug eintauschen wollten. So tuckerten sie langsam immer weiter
nach Norden und freundeten sich allmählich mit dem Gedanken an,
doch an einem einsamen Strand zu landen und das Boot einfach
zurückzulassen – als Bernie plötzlich aufgeregt in Richtung
Land deutete.
Ganz kurz dachte Alex, Aliens seien gelandet.
Sehr laute Aliens. Aber dann erkannte er, dass es eine Horde von
Roachys war, die am Ufer herumwuselten, und dahinter pflügte ein
lärmender Bagger durch den Sand.
»So viel Krach, wie der macht, läuft er mit
Diesel oder so«, sagte Bernie verblüfft. »Und ich hab seit
Ewigkeiten nicht so viele funktionstüchtige Roachys gesehen!
Vielleicht sollten wir hier …«
Aber Alex hatte schon das Steuerrad
herumgerissen und gab Gas, sodass das Boot aufs Ufer
zuschoss.
Dass sie die richtige Stelle zum Landen
gefunden hatten, merkten sie daran, dass sie weder ermordet noch
ausgeraubt wurden. Ja, die Leute am Ufer beachteten sie nicht mal!
Sie waren damit beschäftigt, zusammen mit den Roachys eine alte
Abwasserleitung freizulegen und auszubessern. Alex und Bernie
staunten nicht schlecht, als sie erfuhren, dass dadurch Meerwasser
in eine nahe gelegene Entsalzungsanlage geleitet werden sollte. Als
Bernie einen Mann, der gerade Pause machte, in ein Gespräch
verstrickte über speziell beschichtete Glasabsorber, die durch
Solarenergie erhitzt wurden und so das Wasser vom Salz trennten,
beschloss Alex, sich um den Verkauf des Bootes zu kümmern.
Aber niemand war an ihrem Rennboot
interessiert. Eine Frau sagte etwas, das er so ähnlich immer wieder
hörte: Sie wolle nicht weg, denn woanders sei es ganz bestimmt auch
nicht besser als hier. Klar, in der Kommune selbst gehe es den
Leuten noch besser, aber dahin würde sie auch noch kommen, wenn sie
hart arbeitete und nicht gegen die Gesetze der Mobilen
verstieß.
Alex horchte auf. Er ließ seinen Charme spielen
und fragte nach. Wo lag die Kommune genau? Gab es noch andere in
der Nähe von Dublin?
Als klar war, dass dies die einzige
Mobilen-Kommune in diesem Teil des Landes war, rannte Alex zu
Bernie zurück und zog ihn mitten im Satz von seinem
Gesprächspartner weg. »Ich weiß, wo sie ist!«
Es sprach für Bernie, dass er nicht fragte, was
zum Teufel Alex meinte. Er fragte nur: »Welche Richtung?« Als Alex
loslief, stoppte er ihn dann aber doch. »Wir sind schneller, wenn
wir Bikes oder so was haben.«
»Aber niemand will unser Boot!« Alex hielt
weiter auf einen Weg zu, der vom Strand weg und durch die Dünen
führte. »Die wollen alle nicht weg hier. Kann ich auch verstehen.
Denen geht’s teragut.«
»Vielleicht finden wir ja einen Fischer,
der …«
»Wir kaufen euer Boot«, unterbrach ihn eine
verhärmt aussehende Frau, die hinter einer Düne hervorgekrochen
kam. Misstrauisch sah sie sich um. Dann winkte sie und ein Mann mit
zwei halbwüchsigen Jungen erschien. Alex griff nach seinem Messer,
ließ die Hand aber gleich wieder sinken. Keiner von ihnen trug eine
Waffe und sie sahen einfach nur verängstigt aus.
»Setzen wir uns«, sagte Bernie.
Es war nicht leicht, mit der Familie zu
verhandeln. Zuerst bestanden sie darauf, dass sie sich alle sechs
in einer winzigen Höhle auf der Landseite der Düne
zusammenkauerten. Der Roachy passte nicht mit hinein und so faltete
er sich vor dem Eingang zusammen wie ein silberner Wachhund und
behielt die Umgebung im Auge. Dann sollten Alex und Bernie ihre
Taschen ausleeren. Offenbar hielt die Familie sie für Spione oder
so was, denn sie wollten genau wissen, wer sie waren, wo sie
herkamen und was sie hier wollten. Irgendwann beruhigten sie sich
und ab da waren sie ziemlich zähe Verhandlungspartner. Das dachte
Alex zumindest, weil sie außer einem E-Bike nichts weiter zum
Tausch anboten. Aber dann sagte Mike, der jüngere der Brüder: »Das
ist alles, was wir haben. Na ja, außer unseren Klamotten, einer
Decke und ein bisschen was zu essen. Aber das brauchen wir ja, wenn
wir abhau...«
»Halt die Klappe, du Muppet«, unterbrach ihn
sein Bruder Jonah wütend.
Alex und Bernie sahen sich an, dann sagte Alex:
»Okay, das E-Bike reicht uns eigentlich auch.«
Er übergab Mike, der sich verplappert hatte,
den Schlüssel für das Boot. Der Junge starrte den Schlüssel an, als
wäre er aus Gold. Dann brach er in Tränen aus.
Jonah zog die Nase hoch und krabbelte aus der
Höhle. »Ich hol das Bike.«
Als er weg war, fragte Alex: »Warum wollt ihr
eigentlich weg? Die Leute arbeiten, und von hier aus sieht es aus,
als würden sie sogar die Felder bestellen. Da, wo wir herkommen,
ist es viel schlimmer.«
»So schlimm wie hier kann’s da gar nicht
sein!«, sagte der Vater heftig. »Wir schuften die ganze Zeit, damit
die in der Kommune ein schönes Leben haben. Klar, wir kriegen was
zu essen. Aber es ist immer zu wenig, und wenn der Winter
kommt …«
»Und alles ist verboten!«, platzte es aus Mike
heraus. »In die Stadt darf man nicht, abends rumlaufen auch
nicht – nicht mal Fußballspielen ist erlaubt! Jason sagt, dass
das so was wie ’ne Demo ist, die ganz schnell zu Gewalt führen
kann. Total tonto!«
»Und jetzt treiben sich hier auch noch
irgendwelche Irren rum und bringen Kinder um«, flüsterte die Frau.
»Curly, einen Freund von Jonah, haben sie schon ermordet. Wenn sie
meinen Jungen etwas antun würden … Deshalb müssen wir
weg.«
»Das mit Curly kannst du aber Jason nicht
anhängen«, meinte ihr Mann.
»Vielleicht nicht Jason selbst. Aber was ist
mit den Security-Kerlen, die überall rumlaufen? Ein Gang-Krieg war
es jedenfalls nicht, der Curly umgebracht hat!«
Alex sah zu Bernie hinüber, der es schaffte,
auf sein MoPad zu gucken, obwohl er seine eins neunzig in der
kleinen Höhle mehr schlecht als recht zusammengefaltet hatte.
»Dann gibt es bestimmt auch eine
Ausgangssperre, oder?«, fragte Bernie.
Der Mann nickte. »Wer nach fünf noch draußen
erwischt wird und keine Ausnahmegenehmigung hat, bekommt zwei Tage
keine Rationen.«
»Nee«, widersprach sein Sohn, »inzwischen
sind’s schon drei Tage. Wenn man Pech hat, wird man sogar
eingesperrt. Und im Gefängnis machen sie schreckliche Sachen mit
einem. – Hat Curlys Vater mir erzählt!«, betonte er, als er
Alex’ Miene sah.
»Dann bleiben wir am besten gleich hier.«
Bernie seufzte. »Obwohl mir jetzt schon alles einschläft …
Aber in zwei Stunden beginnt die Ausgangssperre.«
Er versuchte, ein Bein auszustrecken. Aber
nachdem jeder der Anwesenden sich mindestens einmal beschwert
hatte, weil sein Fuß einen Arm oder einen Kopf getroffen hatte, gab
er es auf.
Mike sagte: »Hoffentlich schafft Jonah es
rechtzeitig mit dem Bike hierher«, und danach schwiegen sie
alle.