Kapitel 10
Aus Jennas Tagebuch:
15. Januar 2025
Felix ist aus seiner monatelangen Depression
aufgetaucht. Aber nur, um eine Entscheidung zu treffen, gegen die
ich Sturm laufe, seit er sie mir heute früh mitgeteilt hat.
Vergeblich. Er ist fest entschlossen, sich »Tore ohne Grenzen«
anschließen.
Natürlich ist es eine gute Sache, dafür zu
kämpfen, dass alle Länder ans Tornetz angeschlossen werden. Auch
die, in denen Diktatoren das bislang noch erfolgreich verhindern.
Aber es ist auch einer der gefährlichsten Jobs, die es in dieser
neuen Zeit gibt. Jeden Tag sterben Mitglieder von »Tore ohne
Grenzen«, weil sie – völlig auf sich gestellt, ohne
Rückendeckung und ohne ein rettendes Tor in der Nähe – in
Gebiete vordringen, in denen allzu oft die Truppen der Machthaber
schon mit Gewehren auf sie warten.
Ist es egoistisch von mir, dass ich meinen Mann
nicht so sterben sehen will? Und dass ich möchte, dass Celie ihren
Vater behält?
Irland, Mobilen-Kommune
»Im Zusammenhang mit den
Unregelmäßigkeiten bei der Zuteilung der Nahrungsmittelrationen ist
heute Morgen Stadtrat Paki Adam verhaftet worden. Adam bestreitet
sämtliche Vorwürfe. – Die Auswertung der Spuren vom Fundort
der vier Leichen und Hinweise aus der Bevölkerung haben neue
Erkenntnisse gebracht. Offenbar stehen die Morde in Zusammenhang
mit einer Fehde zwischen zwei Gangs, die aus der Gegend von Dublin
stammen. Ein sechzehn- und ein siebzehnjähriges Mitglied der
gegnerischen Gang wurden bereits festgenommen. – Bürgermeister
Chambers hat für 16 Uhr eine Grundsatzerklärung zur
Sicherheitspolitik angekündigt und für heute Abend eine
Sondersitzung des Rates einberufen.«
Olle sah aus, als hätte er ewig nicht
geschlafen, als er bei Celie klopfte.
»Hast du das gehört?« Sie deutete auf ihre
Screen.
Olle ließ sich schwer auf ihr Bett fallen. »Mir
graust’s jetzt schon vor seiner Rede«, sagte er mit geschlossenen
Augen.
Celie reichte ihm eine Tasse Pfefferminztee.
»Und, hast du was rausgefunden?«
Olle richtete sich auf. »Ja und nein.«
Wie es aussah, gab es auf den internen Rechnern
durchaus eine Menge Informationen über alle möglichen Bewohner der
Kommune. Nichts Offizielles, aber jeder Bewohner der Stadt hatte
früher nach Anmeldung über die Rechner ins Internet gehen können.
Und viele hatten das unter anderem dazu genutzt, sich über ihre
Nachbarn kundig zu machen. Natürlich war nur das auf den Servern
geblieben, was gespeichert worden war, aber das war schon eine
ganze Menge.
»Sogar über mich habe ich was gefunden«, sagte
Olle unbehaglich. »Aber mit einer guten Bilderkennung ist das bei
mir auch nicht so schwer.« Er fasste sich in die blonden
Dreadlocks.
Celie atmete tief durch.
»Über dich stand da auch so einiges.« Er
grinste. »Also, über Dawn. Erstaunlich viel, mehr als bei den
meisten. Wie es aussieht, hat Dawn absolut nichts zu
verbergen.«
Celie räusperte sich. Olle wusste genau, dass
sie nicht Dawn war. Schließlich hatte er mitbekommen, wie sie mit
Pierre über ihre falsche Identität gesprochen hatte.
»Danke«, sagte sie.
»Nichts zu danken. Aber jetzt zu unserem
Bürgermeister.« Er runzelte die Stirn. »Jason Chambers existiert
erst seit dem 14. April 2029. Das ist der Tag, an dem er hier
in der Kommune angekommen ist. Über seine Vergangenheit gibt es
außer einem vermutlich falschen Geburtsdatum, dem 21. Mai
2011, nichts. Gar nichts. Keine Daten, keine Bilder, keine Fotos.
Das Einzige, was ich habe, ist das hier.«
Er holte drei Fotos auf sein PaintPad. Als
Mitarbeiter der Computerzentrale war er einer der wenigen, die noch
einen dieser »Energiefresser« bei sich führen durften.
»Ich hab aus lauter Verzweiflung am Ende eine
spezielle Bilderkennung benutzt, die mir ein Freund aus Taiwan vor
einer Weile geschickt hat. Total packy, das Ding, aber auch extrem
fehleranfällig. Wollte es immer mal überarbeiten, aber … Du
weißt schon. Jedenfalls hat mir dieses Programm als Analogie zu
Jasons heutigem Erscheinungsbild diese drei Fotos
ausgespuckt.«
Olle deutete auf das erste. Es zeigte einen
dicken Jungen mit Brille von vielleicht dreizehn Jahren, der stolz
vor einer riesigen Urkunde stand, die er offenbar bei einem
Wissenschaftswettbewerb bekommen hatte.
»Der sieht überhaupt nicht aus wie Jason«,
sagte Celie. »Und das Alter stimmt auch nicht: Das Foto ist von
2016.« Sie deutete auf das Datum auf der Urkunde.
»Die anderen sind leider auch nicht besser«,
sagte Olle.
Celie nickte. Der junge Mann im Rollstuhl auf
dem Gipfel des Kilimandscharo war viel zu klein und bei dem
Fünfzehnjährigen in Handschellen – er hatte seine Eltern
ermordet, stand unter dem Bild – war es ein Wunder, dass die
Bilderkennung überhaupt etwas angezeigt hatte: Man sah nur eine
Hälfte des Gesichts und das so verschwommen, dass es genauso gut
ein Foto von Olle hätte sein können oder von irgendjemandem
sonst.
»Tja, bei diesen beiden stimmt zwar das Alter,
aber sonst wohl nichts«, sagte Olle. »Tut mir leid, mehr hab ich
nicht.«
Entweder war da wirklich nichts zu finden, oder
Jason hatte ebenso gute Möglichkeiten gehabt wie Celie, um seine
Identität zu verschleiern. Beides beunruhigte Celie.
»Wenn von jemandem so gar keine Spuren im Netz
zu finden sind – also, in den Daten, die wir hier noch
haben –, das ist schon sehr ungewöhnlich«, sagte Olle
nachdenklich. »Entweder hat er sehr viel getan, um sich zu
verstecken«, er sah hoch, »oder, und das würde ich mal annehmen, er
ist gesperrt gewesen.«
Celie blickte erschrocken auf.
»Nur so eine Idee«, sagte Olle, als er ihr
Gesicht sah. »Wahrscheinlich Blödsinn. Schließlich war er erst
achtzehn, als er hier ankam. Warum sollte man ein Kind
sperren?«
Ja, warum?
Olle rief eine andere Datei auf. »Wo ich
übrigens gerade beim Spionieren war, hab ich mir die Sache mit den
vier toten Jungen mal angesehen. Kam mir komisch vor, was die
Polizeichefin da gesagt hat. Dass es zuerst nicht die geringsten
Spuren gab, und dann sagen sie plötzlich, es wäre eine Gang
gewesen.« Er schüttelte den Kopf. »Hätte aber trotzdem nicht
gedacht, dass die Nachrichten bei uns schon so manipuliert
werden … Jedenfalls hab ich rausgefunden, dass es in den
offiziellen Polizeidateien nicht die geringsten Hinweise auf
Gangaktivitäten am Tatort gibt. Und Zeugenaussagen in dieser
Richtung hat’s auch nicht gegeben. Tatsächlich ist da nichts, was
auf einen Krieg zwischen Gangs hindeutet. Das Einzige, was am
Tatort gefunden wurde, war offenbar eine leere Dose Cola und ein
halber Riegel Schokolade.«
Celie stutzte. »Cola und Schokolade? Ich hätte
nicht gedacht, dass es so was hier noch irgendwo gibt.«
»Tja, man weiß nie, welche Vorräte die Leute
mitgebracht haben«, sagte Olle.
»Vielleicht steht hier ganz in der Nähe eine
Cola-Fabrik und wir wissen nur nichts davon«, überlegte Celie
laut.
Möglich war das schon. Selbst die Mobilen
kannten ihre weitere Umgebung nicht immer sehr gut. Abgesehen davon
wussten seit Einführung des Tornetzes die Unternehmen oft selbst
kaum noch, in welchen entlegenen Winkeln sie überall Fabriken
gebaut hatten.
Olle klickte eine andere Datei an. »Nein, das
glaub ich nicht. Ich hab mir die Pläne der Umgebung mal angesehen,
die sind ziemlich aktuell. Da ist keine Cola-Fabrik. Wenn sie sie
nicht in dem alten Bergwerk versteckt haben.« Er lachte.
»Bergwerk?«
Olle deutete auf den Plan auf seinem PaintPad.
»Wo man die Jungs gefunden hat, da wurde ganz in der Nähe bis vor
etwa fünfzig Jahren Kupfer abgebaut.«
»Und was ist da jetzt?«
»Nichts, den Plänen nach.«
Celie bedankte sich bei Olle, der sie für den
Abend zu einem Treffen von »besorgten Demokraten« einlud, wie er
das selbstironisch nannte. Sie versprach, zu kommen. Dann ging sie
zur Musikschule, packte dort ein Transport-Bike mit zwei
Klarinetten, einer Gitarre, einer Blockflöte, einem kleinen
Schlagzeug und drei Glockenspielen voll und machte sich auf den Weg
in die Neustadt.
Aber die ganze Zeit über ging ihr nicht aus dem
Kopf, was Olle gesagt hatte. Cola und Schokolade hatte man bei den
toten Jungen gefunden. Cola und Schokolade … Der Einzige, bei
dem sie solche Leckereien in der letzten Zeit gesehen hatte, war
Jason gewesen.
Gedankenverloren fuhr sie durch die Felder. Im
ersten Moment schien es total loco, dass Jason für den Tod der
Jungen verantwortlich sein könnte. Aber wenn man alle Puzzleteile
zusammennahm … Celies Gefahren-Sensor, der noch nie versagt
hatte. Die Software, die das Bild des Jungen gefunden hatte, der
seine Eltern umgebracht hatte. Die Tatsache, dass Jasons offizielle
Biographie erst begann, als er achtzehn war, und Olles Vermutung,
dass er als Jugendlicher gesperrt worden war. Cola und
Schokolade – Luxusgüter, die kaum noch jemand besaß, die Celie
aber bei Jason gesehen hatte.
Das waren schon viele Indizien, aber mehr auch
nicht. Wenn Jason die Jungs wirklich ermordet hatte: Wie hatte er
das angestellt? Und warum? Wie konnte ihm das nützen?
Eines war jedenfalls klar: Wenn Jason so
gefährlich war, wie Celie inzwischen annahm, dann musste er
aufgehalten werden. Aber die überwältigende Mehrheit der Mobilen
vertraute ihrem charismatischen Bürgermeister. Sie würden sich nur
durch eindeutige Beweise überzeugen lassen.
Na gut, dann mussten eben Beweise beschafft
werden. Und diesmal würde sie das selbst in die Hand nehmen. Es
wurde Zeit, dass sie nicht nur zusah, wie andere etwas unternahmen,
sondern selbst etwas tat. Auch wenn für sie besonders viel auf dem
Spiel stand, weil man sie sofort ausschließen würde, wenn sie
erwischt wurde. Aber andererseits: Wenn alles so weiterging, dann
wollte sie sowieso kein Mitglied dieser Kommune mehr sein. Dann
würde sie eben ihre Sachen packen und gehen.
Nur für einen Moment dachte sie an Alex und
Gefühle überrollten sie. Aber das war kein Zorn. Nein, sie war
nicht mehr wütend auf ihn. Es war … Sehnsucht? Ja. Und
zugleich viel mehr, als ein Wort ausdrücken konnte. Celie hatte
schon eine ganze Weile nicht an Sex gedacht, und im Zusammenhang
mit Alex schon gar nicht. Schließlich waren sie nur Freunde.
Trotzdem spürte sie nun, wie ihr Unterleib warm wurde. Sie stellte
das Bike ab, setzte sich auf eine halbfertige Mauer, schloss die
Augen und stellte sich vor, Alex wäre da. Jetzt. Sie sehnte sich
danach, ihn zu berühren, überall, ihn zu riechen, zu schmecken, sie
wünschte sich so sehr, dass er sie küsste, ihre Brüste streichelte,
sie wollte mit ihm schlafen …
»Hey, ist dir nicht gut? Du siehst fiebrig
aus.« Celie sah zu der alten Frau auf, die sich besorgt zu ihr
hinunterbeugte. Schnell erhob sie sich. »Alles okay, ich bin nur
müde.«
Celie trat in die Pedale, ohne sich noch einmal
umzudrehen. Der Fahrtwind fühlte sich kalt an auf ihrem erhitzten
Gesicht. Bestimmt leuchteten ihre Sommersprossen wie Feuer. Alex
hatte …
Energisch wischte sie den Gedanken an ihn
beiseite. Sie musste sich jetzt auf Jason konzentrieren.
Als sie den Strand erreichte, wo die Kinder sie
erwarteten, hatte sie bereits einen groben Plan. Er war so einfach,
dass er eigentlich nur schiefgehen konnte. Aber die Ratssitzung am
Abend bot ihr eine günstige Gelegenheit und die würde sie nicht
verstreichen lassen.
Kurz dachte Celie daran, Olle einzuweihen. Doch
diesen Gedanken verwarf sie schnell wieder. Nein. Sie würde das
allein erledigen. Diesmal würde sie niemanden in Gefahr bringen
außer sich selbst.
Außerdem konnte sie, falls sie es zu dem
Treffen der besorgten Demokraten am Abend schaffte, dann direkt mit
Ergebnissen aufwarten. Falls nicht … Dann spielte sowieso
nichts mehr eine Rolle.
Um 16 Uhr am Nachmittag wurden sämtliche
Arbeiten eingestellt. Alle in der Stadt hatten sich vor den Screens
versammelt, um die Rede des Bürgermeisters zu hören. Auch Celie war
aus der Neustadt zurück und sie hatte den ganzen Morgen an ihrem
Plan gearbeitet.
Ein Raunen ging durch die Menge, als Jason auf
den Screens erschien – diesmal wurde die Rede aus dem großen
Rathaussaal übertragen. Er stand an einem Pult vor der Wand mit dem
Logo der Mobilen-Bewegung.
»Was für ein Mann!«, entfuhr es einer Frau
neben Celie und einige lachten. Dann hob Jason den Blick und alles
wurde still.
Ja, was für ein Mann. Noch bevor er ein Wort
gesagt hatte, sandten seine Körpersprache, sein Blick, seine ganze
Ausstrahlung mehrere deutliche Botschaften: Ich verstehe euch.
Die Zeiten sind schwer, aber wir werden es schaffen. Und ich bin
der Fels, auf den ihr bauen könnt.
Celie spürte die fast religiöse Verzückung, die
die Umstehenden ergriff. Und auch sie, die wusste, wie gefährlich
dieser Mann war, konnte sich seinem Charisma kaum entziehen.
»Der hält sich wohl für Jesus«, raunte Olle ihr
ins Ohr, und das brach den Bann. Celie versuchte mitzubekommen, was
Jason sagte, während ihr Plan in ihrem Kopf herumschwirrte.
»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe
Mobile. Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit. Einer Zeit, in der
die Welt neu geordnet wird.
Viele von euch haben schon einmal einen
weltweiten Zusammenbruch erlebt. 2024, als das Tornetz erbaut
wurde, haben sie mit ansehen müssen, wie Mord und Totschlag um sich
griffen, wie Verbrechen und Seuchen das Land verheerten, wie die
Wirtschaft und ganze Staaten zusammenbrachen – bevor sich ein
neues politisches System etablierte. Doch dieses System war keins,
mit dem wir leben konnten. Es verriet alle zwischenmenschlichen
Ideale, an die wir glauben!«
Viele applaudierten, sogar einige von denen,
die erst vor Kurzem als Flüchtlinge in die Kommune gekommen
waren.
»Und ihr, die ihr diesen Zusammenbruch erlebt
und überlebt habt, werdet nun denken: Warum muss ich das noch
einmal durchleiden? Was habe ich getan, dass ich so gestraft
werde?«
Das Licht im Rathaussaal veränderte sich, bis
nur noch ein Spot auf Jasons leuchtendes Gesicht gerichtet
war.
»Der arbeitet aber wirklich mit allen Tricks«,
murmelte Olle fast bewundernd.
»Ich sage euch: Dieser neue Zusammenbruch ist
keine Strafe – er ist eine Chance! Ja, auch dieser Sturm
wirbelt unsere Welt durcheinander, lässt keinen Stein auf dem
anderen. Aber was er zerstört, ist eine Welt, die unmenschlich war,
eine Welt, die wir nie wollten! Und wir, wir Mobile zuallererst,
haben es jetzt in der Hand, daraus eine Welt zu machen, die endlich
wieder lebenswert ist!«
In den Applaus hinein hob Jason den Blick nach
oben, als könne er die neue Welt dort schon sehen.
»Wir Mobilen sind die Baumeister dieser neuen
Welt! Denn nur wir haben bewahrt, was die Welt jetzt retten kann.
Und mithilfe derjenigen, die zu uns kommen und sich uns mit voller
Überzeugung und ihrer ganzen Kraft anschließen, werden wir dafür
sorgen, dass wieder neue Straßen gebaut werden, die die Menschen
zueinanderführen, dass jede Gemeinschaft Energie, Nahrung und alles
andere produzieren kann, was sie braucht, ohne von irgendjemandem
abhängig zu sein, der Tausende Kilometer entfernt die Fäden zieht,
und dafür, dass jedes Kind seine Nachbarn kennt und sich jeder um
den anderen sorgt.«
Diesmal dauerte der Applaus lange.
»Das dicke Ende kommt noch«, flüsterte Olle
Celie zu. Sie nickte düster.
»Aber um diese neue Welt zu bauen, müssen wir
uns aktiv vor dem schützen, was uns in der Vergangenheit zugrunde
gerichtet hat. Wir sagen Nein zu allen schlechten Einflüssen, die
von außen an uns herantreten.«
Er hob auffordernd die Hände.
»Nein«, schallte es durch die Menge.
»Wir sagen Nein zu allen, die sich uns in den
Weg stellen.«
»Nein!«, riefen nun mehr Menschen.
»Und wir sagen Nein zu denen, die unsere Ziele
verraten!«
»Nein!«
»Shit!«, sagte Olle.
Jason ließ die Hände sinken. Die Menge
beruhigte sich. Er rückte seine Brille zurecht. »In der letzten
Zeit hat es einige Vorfälle gegeben, die uns gezeigt haben, dass
nicht alle unsere Ideale teilen. Manche scheinen zu glauben, dass
sie uns daran hindern können, eine bessere Welt zu errichten. Aber
das werden wir nicht zulassen. Wir werden jeden beschützen, der für
uns ist. Aber wir werden auch jeden, der gegen uns ist, gnadenlos
verfolgen. Dazu gehören die Mörder der vier Jungen ebenso wie
Diebe, die sich an den Ressourcen der Gemeinschaft vergreifen. Und
dazu gehören auch …«, er verzog das Gesicht, als hätte er
Schmerzen, »… Verräter, die in diesen Zeiten, die so schwer für uns
alle sind, mit unseren Feinden kollaborieren und sich unlautere
Vorteile verschaffen.«
Panik kroch in Celie hoch. Von wem sprach Jason
da?
Jason stützte die Hände auf dem Pult ab. »Es
schmerzt mich besonders, dass unter den Verrätern Menschen sind,
denen ich – denen wir alle vertraut haben. Gewählte Vertreter
unserer Gemeinschaft!« Die letzten Worte spie er regelrecht aus.
Die Menge buhte.
»Ihr habt alle mitbekommen, dass gestern
Stadtrat Paki Adam verhaftet wurde, weil er für Unregelmäßigkeiten
bei der Nahrungsmittelverteilung verantwortlich ist. Heute hatten
wir die traurige Pflicht, auch Stadträtin Magda Henderson zu
inhaftieren, die dringend benötigte Ressourcen für den Bau der
Infrastruktur der Neustadt für ihre eigenen Zwecke veruntreut
hat.«
»Das klingt alles ziemlich vage«, sagte Olle,
aber Celie hörte ihn nicht. Sie fühlte sich wie damals, als sie mit
dem Grassboard auf den Zaun zugerast war. Nur dass kein Slide sie
diesmal retten würde. Und dann sagte Jason: »Außerdem wird nach
Stadträtin Karen van Aelst gefahndet, die illegal Passierscheine
ausgestellt und damit die Sicherheit unserer Stadt gefährdet
hat.«
Celie atmete hörbar aus. Gott sei Dank. Sie
hatten sie noch nicht gefunden. Weil Karen es hatte kommen sehen.
Hoffentlich war sie ganz weit weg und in Sicherheit.
Jason faltete die Hände und blickte erneut
ernst, aber zuversichtlich in die Kamera. »Die Lage ist ernst, sehr
ernst. Darum werden wir unsere Sicherheitsbemühungen noch weiter
verstärken. Die gnadenlose Verfolgung jedes Fehlverhaltens, egal,
wer es begeht, ist der wichtigste Baustein für eine sichere
Zukunft. Der Zaun, den wir zum Schutz unserer Gemeinschaft zu bauen
begonnen haben, ist ein weiterer. Wir schützen, was uns wichtig
ist, mit allen nötigen Mitteln. Für unsere Zukunft! Für unsere neue
Welt!«
Die Rede war zu Ende. Die Menge tobte. Nur ganz
vereinzelt sah Celie betroffene Mienen.
»Bullshit, bullshit, bullshit …« Olle
konnte gar nicht mehr aufhören zu fluchen.
»Sei leise!«, ermahnte Celie ihn und deutete
auf die Kameradrohnen über ihnen.
Er sah sie mit wildem Blick an. »Wir müssen was
unternehmen! Bevor Jason den Rat auflöst und wir alle in den Knast
wandern!«
»Ja«, sagte Celie. »Aber lass uns nicht hier
darüber reden!«
Olle schnaubte. »Hast ja recht. – Kommst
du nachher zu unserem Treffen?«
»Klar«, sagte Celie. »Aber mach keinen Blödsinn
bis dahin, okay?«
Plötzlich grinste Olle. »Du machst dir Sorgen
um mich, was?«
»Und wovon träumst du nachts?«, fragte Celie
und gab ihm einen Schubs.
Celie wartete, bis die abendliche
Sondersitzung des Rates begonnen hatte. Dann lief sie zu Jasons
Haus, umrundete es, sah sich nach allen Seiten um, hob einen Stein
auf und wollte das Wohnzimmerfenster einschlagen … als ihr
auffiel, dass das kleine Toilettenfenster einen Spalt offen stand.
Sie schob es auf und quetschte sich hindurch. Danach ging sie ins
Wohnzimmer und sah die Schale mit der Schokolade und den Nüssen auf
dem Couchtisch, und erst da wurde ihr klar, was sie hier tat.
Ihre Knie gaben nach, sie ließ sich auf das
Sofa fallen. Was dachte sie denn, was sie hier finden würde? Einen
Bekennerbrief, in dem Jason zugab, die vier Jungen eigenhändig
umgebracht zu haben? Oder ein Nähkästchen voller blutiger
Nadeln?
Egal. Sie würde sich jetzt gründlich umsehen.
Deswegen war sie schließlich hier. Vielleicht fand sie ja keinen
großartigen Beweis. Aber etwas, irgendetwas, eine Kleinigkeit, die
ihren ungeheuerlichen Verdacht bestätigte, wäre auch schon
viel.
So schnell, wie es ging, durchsuchte sie das
Wohnzimmer und die Toilette im Erdgeschoss und danach das
Schlafzimmer, das karge Arbeitszimmer und das Bad im ersten Stock,
bevor sie sich dem Keller zuwandte. »Mal sehen, welche Leichen du
im Keller hast«, murmelte sie. Ihre Stimme zitterte ebenso wie ihre
Hände, als sie die Taschenlampe anknipste, die sie mitgebracht
hatte, bevor sie die Treppe hinunterging. Sie hatte ebenso viel
Angst davor, nichts zu finden, wie davor, tatsächlich auf einen
Hinweis auf ein Verbrechen zu stoßen.
Aber auch im Keller sah alles unverdächtig aus.
Celie öffnete eine Kleidertruhe, in der alte Kissen und ein
Stoffhase lagen, und bekam fast ein schlechtes Gewissen. Hastig
durchkämmte sie den Rest des Raumes, bevor sie zu dem Einbauschrank
kam. Auch dort nichts als Hosen, Jacken und Hemden. Sie schob
lustlos die Kleiderbügel zur Seite, während sie Jasons Garderobe
durchging, als ihr plötzlich etwas an der Rückwand des Schranks
auffiel.
Es sah wie ein dunkler Riss im Holz aus, doch
als Celie darüberstrich, fühlte sie Metall. Sie hielt die
Taschenlampe direkt darauf. Das war ein Griff – ein
eingelassener Türgriff! Celie zog den Griff heraus und drückte ihn
hinunter.
Sofort schalteten sich Lampen ein, und Celie
sah, dass hinter dem Einbauschrank ein großer Raum lag. Das Erste,
was ihr darin auffiel, war eine riesige Screen, die die Wand vor
ihr fast vollständig bedeckte. Dann kamen die Computer auf dem
Schreibtisch, der Schraubenzieher auf dem Boden und der gewaltige
Metallschrank in der Ecke. Celie schloss die Tür hinter sich, ging
zu dem Schrank hinüber und öffnete die oberste Schublade. Sie wurde
fast vollständig von einem stabilen Metallkasten ohne Aufschrift
ausgefüllt. Darin lagen … Kameradrohnen. Sie waren nicht
größer als dicke Hummeln und es mussten an die hundert sein.
Celie sah zur Screen hinüber. Hatte Jason sich
hier ein eigenes geheimes Überwachungssystem aufgebaut? Das würde
erklären, warum er Dinge wusste, die er eigentlich gar nicht wissen
konnte.
Als Celie den Kasten schließen wollte, kam sie
mit einem Finger an eine Drohne. Mit einem Schrei zog sie die Hand
zurück, der Kasten polterte auf den Boden. Sie beeilte sich, alle
Drohnen einzusammeln, und dabei stach sie sich noch einmal. Was
waren das nur für Dinger? Sie nahm die Drohne, an der sie sich
gestochen hatte, vorsichtig in die Hand. Da, sie hatte einen
nadelspitzen Stachel an einer Seite! Sachte drückte Celie dagegen
und der Stachel verschwand im Innern der Drohne. Schnell
kontrollierte sie die übrigen Drohnen. Ja, sie hatten alle so einen
Stachel. Und er ließ sich offenbar ein- und ausfahren.
Celie stockte der Atem. Sie hatte die Waffe
gefunden, mit der die vier Jungen ermordet worden waren.
Sie sammelte alle Drohnen zusammen und
verstaute sie in dem Kasten. Kurz überlegte sie, ob sie eine Drohne
als Beweis mitnehmen sollte. Aber die Drohne konnte vermutlich
überall lokalisiert werden, das konnte sie nicht riskieren. Sie
ging die Treppe hoch und war schon beinahe wieder durch das
Toilettenfenster hinausgeklettert, als sie eine Bewegung im Garten
nebenan bemerkte. Schnell zog sie sich zurück und lauschte. Ihr
Herz raste und in ihren Ohren rauschte es so laut, dass sie kein
Geräusch draußen mehr hören konnte. Sie musste ausharren, bis sie
sicher sein konnte, dass niemand sie aus dem Fenster steigen
sah … Und dann trieb sie plötzlich doch etwas hinaus: ein
Knacken im Flur! Sie kletterte durch das Fenster, schaute nicht
mehr links und nicht rechts, sondern rannte durch den Garten,
sprang über einen Zaun, dann noch einen, bis sie sich wieder auf
die Straße traute.
Nein, niemand war ihr gefolgt. Aber erst jetzt
wurde ihr klar, wie loco ihr Plan gewesen war. Nur gut, dass sie
das offene Toilettenfenster entdeckt hatte, bevor sie das
Wohnzimmerfenster zerbrochen hatte! Sonst hätte es klare Beweise
für einen Einbruch gegeben. Aber auch so konnte sie nicht sicher
sein.
Was, wenn Jason wusste, dass er das
Toilettenfenster nicht so sperrangelweit aufgelassen hatte?
Was, wenn er entdeckte, dass jemand im Haus
gewesen war?
Was, wenn sie jemand gesehen hatte, als sie
weggerannt war?
Sie konnte nur darauf bauen, dass Jason keine
polizeiliche Untersuchung durchführen lassen würde, um
herauszufinden, wer bei ihm eingestiegen war. Weil er mehr zu
verbergen hatte als jeder andere hier. Er war ein Mörder.
Und er würde sicher nicht vor einem weiteren
Mord zurückschrecken.
Bei dem Treffen mit Olle und seinen
Mitstreitern versuchte Celie, sich darauf zu konzentrieren, was
besprochen wurde, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.
Sollte sie den Leuten hier sagen, was sie gefunden hatte –
oder war das zu gefährlich? Sie war sich nicht sicher und so
beschränkte sie sich erst einmal auf die Rolle der Zuhörerin.
Es gab viel Wut und Hilflosigkeit nach Jasons
letzter Rede, aber nach und nach besannen sie sich darauf, was
jeder dort, wo er arbeitete, unternehmen konnte. Olle zum Beispiel,
der an der Programmierung des Elektrozauns beteiligt war, würde das
System so zu manipulieren versuchen, dass die Überwachung Lücken
aufwies. Ein Redakteur des Senders, der beklagte, dass viele seiner
Kollegen nur noch als Sprachrohr des Rates fungierten, wollte im
Sender heimlich Kameradrohnen abzweigen und sie einsetzen, um Jason
zu überwachen. Und eine Polizistin würde bei Kollegen, die ihr
zuverlässig erschienen, dafür werben, in ihrer Freizeit
Kontrollgänge außerhalb der Stadt durchzuführen, um sich
Informationen abseits der offiziellen Kanäle zu besorgen.
Irgendwann fiel es aber doch auf, dass Celie
noch kein Wort gesagt hatte.
»Tut mir leid, ich habe keine Ahnung, was ich
dazu beitragen kann«, gab Celie zu.
»Ich find’s packy, dass du mit den Kindern
draußen arbeitest«, meinte die Polizistin. »Das ist total wichtig,
dass wir die Verbindung zwischen drinnen und draußen
stärken.«
»Genau«, sagte Olle, »damit kämpfst du aktiv
gegen die Zwei-Klassen-Gesellschaft – die im Grunde ja schon
Realität ist.«
»Und das sollten auch alle sehen.« Der
Redakteur, Martin Kleib, zwinkerte Celie zu. »Wir sollten deine
Arbeit mit den Kindern gleich morgen mit Kameradrohnen aufzeichnen
und ausstrahlen.«
In diesem Moment begriff Celie: Das hier
funktionierte nur, wenn alle einander vertrauten. Jetzt war es an
der Zeit, dass sie auch jemandem vertraute. Und so erzählte sie,
was sie in Jasons Keller entdeckt hatte.
Als sie fertig war, sagte niemand etwas, und
Celie glaubte schon, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte.
Aber dann bedankte Martin Kleib sich bei Celie für ihren Mut, Olle
schlug ihr anerkennend auf den Rücken und alle begannen
durcheinanderzureden. Schnell kamen sie zu der Frage, die Celie
auch schon beschäftigt hatte: Warum hatte Jason diese Jungen
ermordet?
»Das liegt doch auf der Hand.« Die Polizistin
seufzte. »Weil diese Morde und die damit zusammenhängenden
Falschinformationen die Stimmung gegen die Flüchtlinge noch weiter
anheizen. Und das braucht Jason, um die Diktatur zu errichten, die
ihm offenbar vorschwebt.«
Nicht alle waren mit dieser Erklärung
zufrieden, aber im Moment was das auch nicht die wichtigste Frage.
Vielmehr ging es darum, Jason zu stoppen. Schnell.
Als Celie nach dem Treffen nach Hause ging,
verschwand endlich das innere Zittern, das sie seit ihrem Fund in
Jasons Keller nicht mehr losgeworden war. Sie war nicht mehr allein
mit ihrem Wissen. Und vielleicht war es ja noch nicht zu spät.
Vielleicht konnten sie Jason noch aufhalten.
Am nächsten Morgen stand Celie vor dem
Tor an. Sie hatte in der letzten Nacht kein Auge zugemacht. Sie und
die anderen, die Jason stoppen wollten, hatten nun
Gewissheit – aber Beweise hatten sie immer noch nicht. Und
niemand würde auf einen bloßen Verdacht hin eine Durchsuchung von
Jasons Haus anordnen, da machte sie sich nichts vor.
Celies Schlange bewegte sich nur langsam
vorwärts. In der Gegenrichtung tat sich allerdings noch weniger,
weil viele Passierscheine von inzwischen inhaftierten Stadträten
ausgestellt worden und darum nicht mehr gültig waren.
»Dann baut eure Scheißtanks doch alleine!«,
rief ein Arbeiter von draußen, als sein Passierschein eingezogen
wurde.
»Die sind so undankbar!«, zischte jemand hinter
Celie.
Jetzt war sie an der Reihe! Am liebsten hätte
sie kehrtgemacht. Karen hatte ihr doch gesagt, sie würde wissen,
wann sie die Passierscheine nicht mehr benutzen konnte! Und nach
Jasons Rede gestern Nachmittag war klar gewesen, dass es so weit
war. Aber Celie konnte jetzt nicht aufgeben. Nicht nach dem, was
sie entdeckt hatte. Und erst recht nicht nach dem Treffen mit Olle
und seinen Freunden gestern Abend. Denn jetzt ging es nicht mehr
nur um sie.
Und vielleicht würde es in dem Chaos am Tor ja
auch gar nicht auffallen, wer Celies Passierscheine ausgestellt
hatte. Jedenfalls hatte sie das gerade noch gedacht. Jetzt, mit dem
Polizisten vor sich, der ihre Dokumente musterte, kam es ihr
plötzlich total loco vor. Wie hatte sie nur glauben können …
Der Polizist runzelte die Stirn, sah sie noch einmal prüfend
an – und lächelte dann. »Ach, Sie sind’s«, meinte er und
winkte sie durch.
Celie war einen Moment lang zu verblüfft, um
sich zu bewegen. Doch dann schob sie ihr Transport-Bike mit den
Instrumenten umso schneller durchs Tor.
Jason musste ihre Passierscheine bestätigt
haben. Gab es eigentlich irgendetwas, das er in dieser Stadt nicht
mitbekam? Sie konnte es nur hoffen. Denn wenn er herausfand, dass
sie in seinem Keller gewesen war …
Die Arbeit mit den Kindern war eine
willkommene Ablenkung für Celie und der Tag verging wie im Flug.
Die Kinder waren mit Feuereifer bei der Sache, als sie die Lieder
probten, die Celie für das Konzert vorgesehen hatte. Selbst die
Kleinsten bearbeiteten ihre Glockenspiele mit Inbrunst. Der zum
Teil ohrenbetäubende Lärm, der dabei entstand, störte Celie
überhaupt nicht. Er brachte ihre düsteren Gedanken wenigstens für
kurze Zeit zum Schweigen.
In der Mittagspause, als sie sich den
Kartoffelbrei der Kinder und die Birnen teilten, die Celie aus den
in der Musikschule gesammelten Rationen mitgebracht hatte, setzte
sich Timothy neben sie. »Darf ich dich was fragen?«, flüsterte
er.
»Klar«, flüsterte Celie zurück. »Ist es was
Geheimes?«
Timothy sah zu den anderen Kindern hinüber und
nickte. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Mir kannst du ruhig die
Wahrheit sagen, ich bin schon groß. Das mit dem Konzert in der
Stadt … Das wird nichts, oder?« Als Celie nicht antwortete,
fuhr er fort: »Ist schon gut. Wir wissen ja, dass ihr uns in der
Stadt nicht wollt …«
Plötzlich war Celie so wütend, wie sie es seit
dem Tod ihrer Mom nicht mehr gewesen war. Auf Jason, auf die ganze
Stadt, auf sich selbst.
»Wir werden ein Konzert geben!«, sagte sie so
laut, dass Timothy sie erschrocken ansah. Celie riss sich zusammen
und stand auf. »Hört mal alle her!«, rief sie. »Ihr wisst ja, dass
wir hier für ein Konzert üben. Aber das Konzert in der Stadt am
Sonntag, habe ich mir überlegt, das ist nicht das Richtige für uns.
Da treten ja noch jede Menge andere Leute auf und ihr müsstet dazu
alle in die Stadt kommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Da ist es aber
nicht besonders schön, kann ich euch sagen. Überall Leute, laute
Baustellen und gefährlicher Verkehr.« Okay, sie übertrieb jetzt ein
bisschen, aber es diente einem guten Zweck.
»Und das Schlimmste: Eure Familien könnten euch
da wahrscheinlich gar nicht zuhören, weil sie ja hier draußen zu
tun haben.«
Betretene Gesichter überall, ein kleiner Junge
schluchzte. Schnell redete Celie weiter: »Aber ich habe eine viel
bessere Idee. Wir machen unser eigenes Konzert, hier draußen! Ihr
könnt jeden einladen, den ihr dabeihaben wollt, eure Eltern,
Freunde und jeden anderen auch.«
»Kann ich auch meine Tante Sue einladen?«,
fragte der Junge, der eben noch geschluchzt hatte.
»Aber klar!«, sagte Celie. »Wir machen das
Konzert am Samstagnachmittag, und zwar am Strand, da haben alle
Platz. Das wird ein Riesenfest!«
Es dauerte noch eine Weile, aber Celie schaffte
es, die Kinder zu überzeugen, dass es so viel besser war. Und dazu
brauchte sie sich nicht einmal anzustrengen. Sie war ja selbst
überzeugt davon. Diese Kinder brauchten die Anerkennung der Kommune
nicht. Sie lebten hier draußen, das war ihre neue Heimat. Hier
sollten sie sich einrichten und nicht ständig mit einem Auge zur
wunderbaren großen Stadt schielen. Je früher sie sich hier zu Hause
fühlten, desto besser.
Es war schon kurz vor der Ausgangssperre,
als Celie mit ihrem Bike wieder am Stadttor ankam.
Nach der Probe hatten die Kinder sie noch
überredet, mit ihnen zu kommen. Sie wollten auf der Stelle jeden,
den sie kannten, zum Konzert einladen. Und Celie sollte dabei sein,
damit man ihnen die unglaubliche Neuigkeit auch abnahm.
Celie war seit dem Ausfall der Tore nicht mehr
so lange draußen gewesen. Zum ersten Mal bekam sie hautnah mit, wie
die Menschen hier lebten. Celie war beeindruckt und beschämt
zugleich. Sie traf fast nur freundliche, schwer arbeitende
Menschen. Egal, woher sie kamen und was sie in ihrem früheren Leben
gewesen waren: Jetzt bauten sie unverdrossen an ihren Häusern,
Strom- und Wasserleitungen, bestellten die Felder – von deren
Früchten sie den größten Teil an die Kommune abgeben mussten –
und richteten sich in ihrem neuen Leben ein. Obwohl es jeden Tag
neue Beschränkungen und Anordnungen aus der Stadt gab, murrten die
meisten nicht, sondern waren dankbar für die Chance, die sie
bekamen.
Viele schienen gar nicht zu wissen, was in der
Stadt vor sich ging und dass die Stimmung sich dort immer mehr
gegen »die Schmarotzer da draußen« wandte. Oder sie wollten es
nicht wissen.
Tief in Gedanken, passierte Celie das Stadttor.
Darum fiel ihr zuerst gar nicht auf, dass die Menschen um sie herum
stehen blieben, auf sie zeigten und miteinander tuschelten. Erst
als ein bärtiger Mann direkt vor ihr brummte: »Weiter so, das
machen Sie ganz wunderbar!«, blickte sie auf. Mehrere Leute in der
Nähe nickten ihr lächelnd zu, als sie weiterfuhr.
Celie radelte schnell zur Musikschule.
»Ah, da ist ja unser Engel mit der Klarinette«,
rief Tamila. Pietro winkte aus dem Nebenzimmer und zeigte mit dem
Daumen nach oben.
»Engel?«, fragte Celie irritiert.
»Du weißt es noch gar nicht?« Tamila grinste.
»Seit der Sondersendung heute Morgen bist du eine Berühmtheit.« Sie
schaltete die Screen an der Wand ein. »Hier, sieh es dir selbst
an.«
Es begann wie ein Kriegsfilm. Celie sah eine
Schlägerei inmitten alter Armee-Cubes. Eine Karawane aus Bikes und
Wagen voller Kartoffeln, Äpfel und Fleisch aus den
Viehzuchtbetrieben im Umland, die von Flüchtlingen angegriffen,
aber von der allgegenwärtigen Security erfolgreich verteidigt
wurde. Eine Handvoll aufgebrachter Menschen, die Hassparolen gegen
Jason schrien. Dazu der Kommentar: »Sie sind zu uns gekommen und
wir haben ihnen ein neues Zuhause gegeben. Doch viele der
Flüchtlinge wollen mehr, als ihnen zusteht, und sie versuchen, es
sich mit Gewalt zu nehmen. Das werden wir nicht zulassen. Jede
Gewalttat, jeder Angriff auf die Versorgungslieferungen und jede
Anstiftung zum Aufruhr wird unerbittlich verfolgt und schonungslos
geahndet. Nur so können wir verhindern, dass unsere Welt im Chaos
versinkt. Nur so können wir unsere neue Welt in der Nach-Tor-Ära
aufbauen.«
Das klang haargenau wie eine von Jasons Reden.
Offenbar hatte man im Sender die unabhängige Berichterstattung
inzwischen völlig aufgegeben.
Das alles war schon gruselig genug, aber es
wurde noch schlimmer. Als sie die nächsten Bilder sah, ließ Celie
sich schwer auf einen Stuhl fallen. Das war sie! Mit ihrem
Transport-Bike voller Instrumente, auf dem Weg zum Unterricht
draußen. Ihre Fahrt durch die Felder und zum Strand war mit
fröhlicher Musik hinterlegt und eine Stimme aus dem Off sagte:
»Doch es gibt auch Hoffnung. Jeden Morgen packt Dawn Haversham ihre
Instrumente zusammen und macht sich auf den Weg in die Neustadt, wo
die Flüchtlingskinder sie schon ungeduldig erwarten.« Wie aufs
Stichwort tauchten nun Sean und Timothy hinter einem Hügel auf und
liefen ihr in Zeitlupe entgegen.
Celie schnaubte. So hatte sie sich das nicht
vorgestellt, als es gestern Abend bei dem Treffen darum gegangen
war, ihre Arbeit zu dokumentieren! Doch dann wurde ihr klar, dass
diese Aufnahmen nicht von heute stammen konnten. Sean war heute
später gekommen. Diese Aufnahmen hier mussten also schon einige
Tage alt sein. Was bedeutete, dass ihr Verbündeter im Sender sie
nicht gemacht hatte. Jemand anders hatte das aufgenommen und Celie
beobachtete mit wachsendem Grauen, was er damit angestellt
hatte.
Es war alles falsch. Die süßliche
Hintergrundmusik. Die wie in einem Werbefilm im Wind wehenden Haare
der lachenden Kinder vor den sanften Wellen des blauen Meeres, auf
denen Fischerboote dümpelten. Das Mittagsessen, von dem keiner
wusste, dass Celie es mitgebracht hatte, weil die Rationen der
Kinder nicht ausreichten. Aber das Schlimmste war der
Off-Kommentar: »Der ›Engel mit der Klarinette‹, so nennen sie die
Flüchtlinge. Sie hilft, wo sie kann. Sie hält das Schöne und
Erhabene unserer Kultur lebendig. Und sie symbolisiert wie kaum
eine andere die Vision, die uns Mobile antreibt. Dawn Haversham
lebt die Ideale der Mobilen aus ganzem Herzen. Doch sie glaubt
nicht nur an eine bessere Welt, in der jeder seinen Platz finden
wird: Sie arbeitet aktiv daran mit, dass diese Vision Wirklichkeit
wird. Allen Schwierigkeiten und Anfeindungen zum Trotz.«
Jetzt wurde ein Mann eingeblendet, der eine
Schaufel schwang und Celie bedrohte. Aber sie hatte den Mann noch
nie gesehen. Das war eine Montage!
»Dawn Haversham ist ein Vorbild für uns alle
und ein Leuchtfeuer der Hoffnung in den schwierigen Zeiten voller
Entbehrungen, die noch vor uns liegen, bevor unsere neue Welt
Wirklichkeit wird.«
Und dann erschienen zwei Bilder nebeneinander,
eines von Celie, eines von Jason.
»Eisernes Durchgreifen, wo es notwendig ist,
und großzügige Hilfe für alle, die mit uns zusammen eine neue
Zukunft aufbauen wollen: Dafür stehen wir.«
Celie hätte sich am liebsten übergeben. Das war
widerlich, pervers! Das war … Sie sprang auf. Das war Jason
gewesen. Er benutzte sie!
»Dawn, was ist denn?«, rief Tamila ihr nach.
Aber Celie stürmte wortlos hinaus. Sie rannte sich die Seele aus
dem Leib, während ein Puzzlestein nach dem anderen in ihrem Kopf an
seinen Platz fiel.
Jason wusste, wer sie war. Er musste es von
Anfang an gewusst haben. Inmitten ihrer Wut fühlte sie einen Stich
der Scham. Und sie hatte tatsächlich eine Zeit lang geglaubt, er
würde sich für sie interessieren … Dabei war sie für ihn
nichts anderes als ein Instrument gewesen. Ein Ass, das er aus dem
Ärmel ziehen konnte, wann immer es ihm passte.
Celie rannte und rannte. Ihre Beine wurden
schwer und sie bekam Seitenstechen, aber sie wurde nicht langsamer.
Wenn sie stehen blieb, würde sie explodieren.
Was hatte er vorgehabt mit der Tochter der
Mobilen-Feindin Nummer eins? Shit, das lag doch auf der Hand! Er
musste sich schon lange auf eine Situation wie diese vorbereitet
haben. Musste gehofft haben, dass die Tore irgendwann ausfallen
würden. Oder hatte er sogar selbst die Hände dabei im Spiel gehabt?
Er war jedenfalls bestens gerüstet gewesen – Celie erinnerte
sich, wie Karen davon gesprochen hatte. Und all das, was seither
passiert war, hatte er geplant. Er hatte seine Macht immer weiter
vergrößert, mit Conors Hilfe seine Gegner ausgeschaltet, die
Stimmung der Menschen gesteuert. Und sicher auch vorhergesehen,
dass irgendwann ein Zeitpunkt kommen würde, an dem es für ihn eng
wurde. An dem die Stimmung zu kippen drohte, weil die Menschen all
die Notmaßnahmen, Rationierungen und die drastischen
Einschränkungen ihrer Freiheit nicht mehr hinnehmen wollten.
Und da kam Celie ins Spiel. Er hatte ihr
erlaubt, die Musikschule wiederzueröffnen, er hatte ihre
Passierscheine nicht widerrufen, obwohl Karen geflohen war –
und jetzt baute er sie als Symbolfigur auf. Als Gegenpol zu den
harten Maßnahmen, die er mit eiserner Faust durchsetzte. Und wenn
er es an der Zeit fand, würde er der ganzen Stadt kundtun, wer der
»Engel mit der Klarinette« in Wirklichkeit war. Die Tochter des
Satans. Die er persönlich bekehrt hatte. Und die nun mit ganzem
Herzen seine Vision unterstützte.
Celie blieb keuchend stehen und stützte die
Arme auf die Oberschenkel. Warum war sie nur so blind
gewesen?
Weil sie einsam und verletzt gewesen war, als
sie hier angekommen war. Weil sie sich aus allem hatte heraushalten
wollen. Weil sie viel zu lange versucht hatte, Dawn zu sein. Und,
was sie sich am wenigsten verzeihen konnte: weil sie Jason
attraktiv gefunden hatte. Eine Zeit lang …
Dann wurde ihr noch etwas klar. Ihre Beine
gaben nach und sie sank auf den Asphalt. Ein Puzzlestein hatte noch
gefehlt und der fiel nun an seinen Platz.
Auch wenn Jason sie nach Strich und Faden
belogen hatte, bei einer Sache war er ehrlich gewesen: Er wollte
sie. Nicht, weil er sie begehrte. Sondern weil jeder grausame
Tyrann eine aufopferungsvolle, von allen geliebte Frau an seiner
Seite brauchen kann, die seine Position festigt.
Celie ließ sich gegen eine Hauswand sinken,
umschlang ihre Beine mit den Armen und machte sich ganz
klein.
Sie war allein auf der Straße. Die
Ausgangssperre hatte begonnen.
Calais
Bernie wachte zuerst auf. Während er durch
die Tarnplane das Licht der aufgehenden Sonne betrachtete,
analysierte er ihre Lage.
Sie hatten nichts zu essen und nichts zu
trinken. Eine Überfahrt mit einem der Schiffe im Hafen von Calais
kam aus hygienischen Gründen (Cholera) und finanziellen
Überlegungen (nur Alex’ Kette) kaum infrage. Der Roachy konnte es
vielleicht, mit viel Glück und Sonne, nach Irland schaffen –
aber nicht, wenn er zusätzlich Alex und Bernie tragen musste. Wenn
Bernie all diese Faktoren einbezog, gab es nur eine
Schlussfolgerung: Sie mussten ihren Plan, nach Irland zu gelangen,
aufgeben.
Neben Bernie bewegte sich etwas, dann tauchte
Alex aus seinem Schlafsack auf. »Puh, ist das kalt!«, sagte er und
rieb sich die Arme. Dann stupste er Bernie mit einer Faust an. »Na,
Alter, was gibt’s zum Frühstück?«
»Äh …«, sagte Bernie.
Alex prustete los. »Du solltest mal dein
Gesicht sehen! Klar weiß ich, dass wir nichts zu essen haben.
Aber …«, er klappte die Tarnplane zur Seite und krabbelte
unter dem Roachy hervor, »… neuer Tag, neues Glück. Oder so.« Und
schon lief er los.
Als Bernie ihn einholte, wollte er Alex mit den
Ergebnissen seiner Analyse vertraut machen. Aber er hatte kaum »Wir
haben kein …« gesagt, als Alex schon lächelnd abwinkte.
»Ich weiß, was du sagen willst. Wir haben
nichts zu essen, nichts zu trinken und kein Boot. Schlimmer kann’s
also nicht mehr werden und deshalb habe ich beschlossen, dass heute
unser Glückstag ist.« Er deutete aufs Meer hinaus. »Oder willst du
etwa aufgeben, so kurz vor dem Ziel?«
»Na ja«, sagte Bernie, »es sind 900 Kilometer
bis nach Dublin. Kurz vor dem Ziel würde ich das nicht
nennen …«
Aber Alex hörte ihm schon nicht mehr zu. Er
lief auf eine Ansammlung von verfallenen Hütten zu, die mitten auf
dem Strand stand, und verschwand in einer von ihnen.
»Du weißt doch gar nicht …«, rief Bernie,
aber dann sparte er sich den Atem und rannte hinter seinem Freund
her, der über Nacht ganz offensichtlich den Verstand verloren
hatte. Bevor Bernie die Hütte erreicht hatte, kam Alex schon wieder
heraus. Er schwenkte einen blauen Plastikkanister, in dem
Flüssigkeit schwappte.
»Was hab ich dir gesagt? Unser
Glückstag!«
Die Flüssigkeit war tatsächlich Wasser und es
roch neutral. Sie hatten keine Tabletten mehr, um es zu
sterilisieren, aber Bernie war so durstig, dass er seine Bedenken,
was die Qualität des Wassers betraf, beiseiteschob und abwechselnd
mit Alex gierig trank, bis der Kanister leer war.
»So, und jetzt noch was zu essen, dann können
wir uns um ein Boot kümmern«, sagte Alex.
»Hier gibt’s nichts zu essen«, knurrte da eine
Stimme hinter ihnen.
Von wegen Glückstag, dachte Bernie, als sie
beide die Arme über den Kopf hoben, während der alte Mann mit
seinem Gewehr fuchtelte. »Verschwindet!«
»Wir wollten sowieso …«, begann Bernie,
aber anscheinend wollte ihn heute niemand ausreden lassen.
»Schnauze halten!«, knurrte der Mann. »Ich hab
gestern meinen letzten Scheißfisch gegessen und ganz bestimmt
nichts für zwei Plünderer übrig!«
»Sind Sie Fischer?«, fragte Alex.
Der Mann brummte nur etwas. Für Bernie klang
das nicht unbedingt wie ein Ja, aber Alex’ Optimismus war an diesem
Tag offenbar unerschütterlich. »Dann haben Sie doch sicher auch ein
Boot, oder?«
»Das geht euch einen Scheißdreck an!«, brüllte
der Mann und stieß Alex sein Gewehr in den Rücken. »Außerdem ist
der Scheißmotor kaputt, es gibt also sowieso nichts für euch zu
klauen!«
Bernie wollte seinen Augen nicht trauen, aber
Alex grinste. Dann drehte er sich langsam zu dem Mann um und sagte:
»Ich glaube, da können wir Ihnen helfen.«
Als Bernie das Fischerboot sah, verließ
ihn das letzte bisschen Zuversicht.
Das Boot war eigentlich in einem guten Zustand,
wenn man von dem kaputten Elektromotor absah. Aber es war eher eine
Badewanne als ein Boot. Damit mochte man Fische fangen können,
solange man nicht zu weit hinausfuhr und die Fische klein genug
waren. Aber Hunderte von Kilometern über den Ozean fahren?
Unmöglich.
Trotzdem nahm Bernie sich den Motor vor. Er
hatte versprochen, ihn sich anzusehen. Und außerdem wusste er
nicht, was er sonst tun sollte.
Während Bernie den Motor reparierte, unterhielt
Alex sich angeregt mit dem Fischer, der immer mehr auftaute. Bernie
sah, dass der alte Mann einen Ärmel hochkrempelte, woraufhin Alex
sein Erste-Hilfe-Paket aus dem Roachy holte.
Als Bernie fertig war, machte der Fischer eine
Testfahrt und kam mit einem großen, platten Fisch zurück, den er
für sie alle zum Frühstück briet.
»Danke, Jungs.« Der Fischer betrachtete
zufrieden den Verband an seinem Arm und zupfte sich eine Gräte aus
dem Mundwinkel. »Und was habt ihr jetzt vor?«
»Wir müssen nach Dublin«, sagte Alex. »Und
dafür brauchen wir ein Boot.«
Bevor der Fischer in Gelächter ausbrechen
konnte, ergänzte Bernie schnell: »Ein großes Boot. Oder ein Schiff.
Nicht so ein …« Er konnte nicht weitersprechen.
»Nicht so eine Scheiß-Nussschale, meinst du?«
Der Fischer schüttelte den Kopf. »Nein, mit meinem Boot ist so eine
Entfernung nicht zu schaffen. Auch nicht für einen erfahrenen
Seemann.«
Er musterte die beiden.
Bernie und Alex sahen sich niedergeschlagen an.
Dann stand Alex auf. »Jedenfalls, danke für das Frühstück.«
»Nicht so schnell«, sagte der Fischer und jetzt
lächelte er. »Mein Boot könnt ihr nicht brauchen, aber vielleicht
hab ich was anderes für euch.«
»Fast 900 Kilometer, Scheiße …« Der
Fischer schüttelte zweifelnd den Kopf, während Bernie und Alex auf
das glänzende Rennboot starrten, das in einer der Hütten unter
einem Haufen Planen und Taue versteckt gewesen war.
»Bei gutem Wetter und mit viel Sonne sollte das
zu schaffen sein«, sagte Alex zuversichtlich. Er war oft in den
Ferien mit seinem Dad an der französischen Mittelmeerküste
gesegelt. Und einen Motor hatte ihr Boot auch immer gehabt.
»Der Akku müsste voll sein. Ich fahr schon ’ne
ganze Weile nicht mehr mit dem Scheiß-Ding«, brummte der Fischer.
»Verscheucht nur die Fische.« Er legte Alex eine Hand auf die
Schulter. »Vielleicht kannst du deine Freundin damit ja
beeindrucken.«
»Sie ist nicht so leicht zu beeindrucken«,
sagte Alex. Er kramte in seiner Hosentasche, dann zog er die Kette
für Celie hervor und streckte sie dem Fischer entgegen, bevor
Bernie ihn daran hindern konnte. »Wir haben aber nur das hier, um
das Boot zu bezahlen.«
»Nein!«, rief Bernie. »Die Kette ist sowieso
nichts wert. Aber Sie können den Roachy haben.« Der Fischer winkte
ab.
»Ich hab auch noch eine Packung weißen Tee«,
sagte Bernie. »Sehr wertvoll.«
Doch der Fischer lachte nur.
Alex runzelte die Stirn und packte Bernie am
Arm. »Komm, lass uns hier verschwinden.«
»Ihr habt was vergessen, Jungs.«
Alex ging weiter, aber Bernie drehte sich um.
Und sah in das grinsende Gesicht des Fischers, der etwas zwischen
zwei Fingern schwenkte, bevor er es Bernie zuwarf.
Reflexartig fing Bernie das Ding auf.
»Ist verflucht schwer, euch was zu schenken,
Jungs«, sagte der Fischer, während Bernie auf den Schlüssel in
seiner Hand starrte.
Zwei Stunden später schien die
herbstliche Sonne auf zwei Kanister mit Wasser – der Fischer
hatte eine geheime Quelle in der Stadt, einen Algentank, der noch
nicht in Betrieb genommen worden war, als die Tore
ausfielen –, drei gebratene Fische, einen halben Laib Brot,
zwei Schlafsäcke und die Tarnplane, die in dem Rennboot verstaut
worden waren. Sie schien auf einen Kompass und eine Seekarte, die
der Fischer ihnen zusammen mit einem Stoßgebet vor ihrem Aufbruch
mitgegeben hatte. Sie schien auf den Roachy, der mit angezogenen
Beinen hinten am Boot hing wie eine silberne Riesenkrabbe. Sie
schien auf Alex, der am Steuer stand und sich die Haare vom Wind
zerzausen ließ. Und sie schien auf Bernie, der entgegen aller
Vernunft allmählich auch daran glaubte, dass sie ihre Reise
überleben und vielleicht sogar Celie finden konnten.