Kapitel 6
Aus Jennas Tagebuch:
7. Februar 2023
In den letzten Monaten ist so unglaublich
viel passiert, dass ich gar nicht mehr dazu gekommen bin, Tagebuch
zu schreiben.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit, hat die UNO
es geschafft, eine kleine Stadt im Himalaja flächendeckend mit
Transtorqs auszustatten. Felix und ich konnten nicht vor Ort sein,
weil die mittlerweile vierhundert Mitarbeiter von T. O. R. Tag und
Nacht mit der Produktion von Transtorq-Kabinen beschäftigt
sind – ohne zu wissen, was sie da eigentlich herstellen. (Die
Scrambler bauen Felix und ich mit einem Ingenieur namens Pierre
Weiß, der über die UNO zu uns gekommen ist, immer noch im
Alleingang zusammen. Die einzelnen Bestandteile lassen wir
anfertigen und glücklicherweise laufen die letzten
Produktionsschritte, die wir selbst ausführen, mittlerweile
vollautomatisch ab, sodass wir pro Tag mehrere Tausend Scrambler
bauen können.) Ich habe wirklich keine Ahnung, wie Gaia Tremante es
geschafft hat, dass die UNO T. O. R. voll finanziert! Aber seit die
Tore auf dem Merkur installiert sind und gewaltige Energiemengen
zur Erde schicken, sind vermutlich auch die letzten Skeptiker
überzeugt. Außerdem hat Tremante erreicht, dass wir zum Schutz
unserer Scrambler-Produktion ein riesiges Anwesen bekommen, in dem
wir seit zwei Monaten leben und arbeiten. Horden von Arbeitern
haben es in Rekordzeit auf dem Land, nicht weit von Dublin
entfernt, aus dem Boden gestampft.
Im Himalaja wurden in den ersten Tagen nur
unbelebte Dinge gebeamt, aber eben haben wir erfahren, dass jetzt
auch Menschen die Transtorqs benutzen. Offenbar läuft alles ohne
Störungen. Es ist also höchstens noch eine Frage von Wochen, bis
die UNO die Bombe platzen lässt – oder bis etwas durchsickert.
Wir werden in der nächsten Zeit jedenfalls – genau wie in den
letzten Monaten – kaum zum Schlafen kommen, weil wir für den
großen Run, der dann zweifellos einsetzen wird, so viel wie möglich
vorproduzieren müssen.
Dass Felix immer nervöser wird und sich ein
Katastrophenszenario nach dem anderen ausmalt, macht es nicht
gerade einfacher. Und mit Celie habe ich schon wochenlang kaum noch
Zeit verbracht. Ich beruhige mein Gewissen damit, dass sie ein so
enges Verhältnis zu ihrem Vater hat, dass sie ihre Mutter
hoffentlich kaum vermisst.
Mecklenburgische Seenplatte
Bernie verlagerte das Gewicht auf sein
linkes Bein. Ein Zweig knackte und sofort waren die Hasen zwischen
den Bäumen verschwunden.
Tamade! Bernie lief dorthin, wo vor zwei
Sekunden noch die Hasen gehockt und gegrast hatten. Oder wie man
das bei Hasen nannte. Unschlüssig betrachtete er die Pflanzen, die
dort wuchsen. Da war eine, die die Hasen angeknabbert hatten. Die
hatte Bernie schon mal in einem Garten gesehen, da war er ziemlich
sicher. Und wenn die Hasen sie fraßen, konnte sie ja kaum giftig
sein.
Mit dieser Taktik – beobachten, was die
Tiere des Waldes fraßen und was nicht – hatte Bernie sich in
den letzten Tagen schon einige neue Nahrungsquellen erschlossen. Da
waren diese großblättrigen Kräuter, die die Rehe so gern mochten;
kleine blaue Beeren und harte Dinger, die Bernie für Eicheln hielt
und die er Eichhörnchen hatte fressen sehen (die Tiere hießen ja
sicher nicht umsonst so).
Bernie pflückte das Hasenkraut und steckte sich
erst mal nur ein Blättchen in den Mund.
»Schmeckt’s?«
Bernie fuhr herum. Der Mann, bei dem Bernie
sofort an diesen alten Filmhelden Indiana Jones denken musste,
hatte sich lautlos angeschlichen. Bernie hatte keine Zeit mehr,
sein Messer zu ziehen, denn der Mann stand keinen Meter von ihm
entfernt. Wenigstens hielt auch er keine Waffe in der Hand. Aber an
seinem Gürtel hingen Unmengen davon.
»Keine Angst.« Der Mann lächelte und entblößte
eine Reihe makellose Zähne. Das deutete darauf hin, dass er kein
Outlaw war, sondern regelmäßig einen Zahnarzt aufsuchte. Vielleicht
ein Biologe oder ein Survivalist.
Bernie entspannte sich ein wenig.
»Ich hab keine Angst. Nur Hunger.«
Der Mann lachte schallend. »Na, von dem
Waldsauerklee wirst du aber nicht satt werden! Jedenfalls solltest
du nicht so viel essen, bis du satt bist. Waldsauerklee ist giftig,
wenn man größere Mengen davon zu sich nimmt.«
»Oh.« Bernie ließ die Blätter fallen, die er
noch in der Hand hielt.
Der Mann hockte sich auf den Boden und grub mit
einem Messer in der Erde. Dann hielt er Bernie eine schmutzige
Wurzel hin. »Da würde ich eher was hiervon essen.«
Bernie wischte die Erde ab, so gut es ging, und
biss hinein. »Igitt!«
Der Mann lachte wieder und stand auf. »Tja,
Löwenzahn ist bitter, aber nahrhaft.« Er streckte eine schwielige
Hand aus. »Ich bin übrigens Karl.«
Wie sich herausstellte, war Karl tatsächlich
Biologe und Survivalist. Er lebte den größten Teil des Jahres
abseits der Tore in der Wildnis und kehrte nur hin und wieder in
die Zivilisation zurück, um Vorträge zu halten und Kleidung zu
kaufen. Und zum Zahnarzt zu gehen, ergänzte Bernie stumm.
Normalerweise hielt Karl sich von Menschen fern, aber Bernie hatte
die für sein Ego recht zweifelhafte Ehre, dass Karl ihn unter seine
Fittiche nahm. Bernie sah wohl so hilflos aus, dass Karl ihm allein
kaum Überlebenschancen einräumte.
An diesem Tag lernte Bernie mehr über die
Natur, als er je hatte wissen wollen. Karl zeigte ihm essbare
Kräuter wie die Knoblauchsrauke und die Brennnessel –
Brennnesseln konnte man essen?! – und Baumfrüchte wie
Kastanien und Bucheckern, die gerade heranzureifen begannen. Wenn
Bernie ans Wasser kam, konnte er auch Schilf und Teichlinsen essen.
Karl wollte Bernie außerdem beibringen, wie man mit Schlingen Hasen
und Rehe fing, aber das lehnte Bernie so vehement ab, dass Karl es
schließlich aufgab.
»Ist vielleicht auch besser so«, meinte er.
»Hier hat es in letzter Zeit einige Fälle von Tollwut gegeben.« Er
grinste. »Und wir wollen ja nicht, dass du von einem tollwütigen
Hasen angegriffen wirst.«
Karls Vorschlag, sich zur Deckung seines
Proteinbedarfs an Insekten zu halten, begeisterte Bernie auch nicht
gerade. Aber das konnte er sich noch eher vorstellen, als große
Tiere zu töten. Na ja, vielleicht kam es ja gar nicht so
weit.
Karl zeigte Bernie außerdem, wie er die Fährten
von verschiedenen Tieren und von Menschen erkennen konnte und wie
man Wasser fand. Es war so einfach, dass Bernie nun wirklich auch
selbst darauf hätte kommen können: Tiere strebten irgendwann alle
zum Wasser. Fährten von mehreren Tieren neben- und übereinander
wiesen darum auf einen Weg zum Wasser hin – wo sie sich
gabelten, ging es vom Wasser weg.
Bernie hatte das Thema »Tore« den ganzen Tag
über vermieden, aber als sie am frühen Abend an einem Lagerfeuer
kochten, das Karl entfacht hatte, fragte er ihn doch danach. Karl
runzelte die ledrige Stirn und rührte schweigend in dem
Hasen-Brennnessel-Eintopf. Schließlich sagte er: »Wie es aussieht,
funktionieren die Tore nicht mehr.« Er machte eine Pause, doch
Bernie sagte nichts. »Ich selbst habe in den letzten Tagen drei
Tore besucht – alle tot. Außerdem habe ich wegen meiner
Forschungen immer ein MoPad dabei und auch das bekommt keine
Verbindung mehr zum Netz. – Du wirkst gar nicht überrascht«,
fügte er hinzu.
»Mmm«, sagte Bernie nur. Er war wirklich nicht
so überrascht, wie er es erwartet hätte. In den letzten Tagen hatte
er sich zwar selbst ständig davon zu überzeugen versucht, dass es
keinen weltweiten Tor-Ausfall gab – aber der Sherlock Holmes
in seinem Kopf hatte nicht lockergelassen und lautstark
widersprochen.
Bernie schob den Schock über diese Nachricht
beiseite, dahin, wo die Bilder von Camille und dem Bären lagen. Was
sollte er nun tun? Schwierig.
Was wollte er tun? Das war einfacher: Er
wollte so schnell wie möglich in eine große Stadt. Köln war zu weit
weg, aber Berlin bot sich an. Das war die größte Stadt in der Nähe,
außerdem fand er vielleicht sogar Alex dort. Bevor Bernie
hierhergebeamt war, hatte er sich eine Karte angesehen, und darum
wusste er, dass die Havel nach Süden fast bis zur A10 führte, auf
der er dann direkt nach Berlin gelangen konnte. Bernie war zwar
noch nie gepaddelt, aber das würde er schon lernen. Und auf dem
Wasser würde er sich erheblich sicherer fühlen als an Land, wo
jederzeit ein Bär aus dem Gebüsch brechen konnte.
»Karl, wie komme ich am schnellsten zur
Havel?«
»Muss das sofort sein, oder essen wir vorher
noch was?«, erwiderte Karl.
Beim Essen erzählte er, dass er Gerüchte über
den Ausfall der Tore bei den Outlaws aufgeschnappt hatte. Von
metallzersetzenden Bakterien, die in geheimen Forschungslabors
gezüchtet worden waren, bis zu einem Meteoriteneinschlag in Kanada
reichten die Vermutungen. Aber da es nur wenige Informationen gab,
wusste niemand etwas Genaues.
»Die Outlaws in der Siedlung da hinten«, Karl
deutete nach Osten, »haben zwar ein altes Radio, das noch läuft,
aber im Rundfunk bringen sie auch nicht viel anderes als Aufrufe
und Warnhinweise der offiziellen Stellen und natürlich
Suchmeldungen. – Über die Suchmeldungen finden sich
erstaunlich viele Leute. Wahrscheinlich wegen der CB-Funker. Die
können sich als Einzige noch über größere Entfernungen
unterhalten.«
CB-Funker. Radios. In Bernie begann es zu
arbeiten. Und als sie den Eintopf aufgegessen hatten, wusste er,
was er zu tun hatte. Dafür brauchte er allerdings das Radio der
Outlaws. Und das würden sie ihm nicht so einfach überlassen …
Aber wenn er zum Wasser wollte, kam er sowieso an ihrer Siedlung
vorbei. Da konnte er sich ja mal umschauen.
In dieser Nacht schlief Bernie zum ersten Mal
wieder gut, seit Camille … seit er hier war. Denn Karl hatte
sich gleich neben dem Roachy in eine Mulde gelegt und Bernie war
sicher, dass er wach werden würde, wenn Gefahr drohte.
Als Bernie am nächsten Morgen aufwachte,
war Karl schon weg. In einer »Hand« des Roachys fand Bernie eine
Skizze mit der Siedlung der Outlaws, der Havel, Berlin und der A
10. Denk dran: Nicht zu viel Waldsauerklee essen, hatte Karl
darunter geschrieben.
Bernie konzentrierte sich auf seinen Plan. Als
Erstes musste er das Radio der Outlaws stehlen. War bestimmt auch
nicht schwieriger, als Ameisen zu essen. Er brauchte das Radio, und
er würde es bekommen, irgendwie. Dann würde er es zu einem
Empfänger für CB-Funk umbauen – wenn es ihm gelang, den
Frequenzbereich entsprechend zu verändern – und sein MoPad zum
Sender machen. Vor allem das mit der Hochfrequenztechnik war
knifflig, aber es war seine einzige Chance.
Denn er konnte nicht in die Zivilisation
zurückkehren, ohne zu wissen, was ihn da erwartete. Eines war klar:
Die Welt, wie er sie kannte, existierte nicht mehr. Und mit jedem
weiteren Tag veränderte sie sich dramatisch. Das konnte sich jeder
mit ein bisschen gesundem Menschenverstand ausrechnen.
Mit dem Zusammenbruch des Tornetzes waren die
Menschen an dem Ort gefangen, an dem sie sich gerade
aufhielten – wer wusste das besser als Bernie! Aber viel
problematischer war, dass damit auch das Internet ausgefallen war.
Das ließ sich auch nicht einfach wieder auf die alten Leitungen
umstellen – nicht nur die anfälligen Seekabel waren mit
Sicherheit defekt, auch alle anderen Leitungen waren seit über zehn
Jahren nicht gewartet worden. Und so war es nur eine Frage von
Tagen, bis die Wirtschaft zusammenbrach. Einen Internetausfall
hatte es in der Zeit vor den Toren ein paarmal gegeben, mit
unzähligen Toten im Luft- und Straßenverkehr und vielen Milliarden
Euro Schaden innerhalb weniger Stunden.
Noch schneller würde sich der Wegfall des
Stroms bemerkbar machen. Bernie hatte in Geschichte mal eine
Vid-Präsentation über den großen Stromausfall von 2018 geschrieben,
darum wusste er, dass zwei Tage die kritische Grenze für fast alles
waren. Die meisten Einrichtungen mit Notaggregaten –
Krankenhäuser, Wasserwerke – hatten für nicht mehr als
vierundzwanzig Stunden Treibstoff. Kühlanlagen,
Industrieproduktion … all das fiel dann aus. Städte wie
Manhattan, die unter dem Meeresspiegel lagen, würden versinken,
weil sie ohne die strombetriebenen Pumpen überschwemmt wurden. Und
all das, weil der Strom in den letzten Jahren ausschließlich in den
Wüsten, an den Küsten und vor allem auf dem Merkur produziert und
durch die Tore transportiert worden war. Sogar die Solaranlagen,
die nach der Energiewende um 2013 an jeder Ecke gebaut worden
waren, hatte man verfallen lassen oder sogar abgebaut, weil man sie
nach der Erfindung der Tore nicht mehr brauchte. Das rächte sich
jetzt, und nur die, die direkt in der Wüste oder an der Küste
lebten – und natürlich die Mobilen-Kommunen, die die
dezentrale Stromerzeugung nie aufgegeben hatten –, hatten
jetzt noch direkten Zugang zur Energie.
Bernie konnte sich gut vorstellen, was alles
wenige Kilometer von ihm entfernt geschah, auch wenn er es lieber
nicht gewusst hätte. Städte ohne Strom und Wasser, die zu
Todesfallen geworden waren, steigende Abwasserfluten, Gebiete ohne
Nahrung und vergammelnde Nahrungsberge an Orten, wo kein Mensch sie
fand, Krankheiten, für die es keine Medizin mehr gab, Hunger,
Gewalt und Tod …
Nur gut, dass es auf der Erde seit der
Einführung der Tore wenigstens keine Kernkraftwerke und kaum noch
chemische Industrie gab. Sonst wäre der GAU wohl kaum noch zu
verhindern gewesen. All das, was die Menschen nicht in ihrer Nähe
haben wollten, war auf den Mond oder – wenn es nicht gleich
den ganzen Planeten gefährdete – in die gesperrte Zone oben in
Kanada verlegt worden.
Wenn man das alles bedachte, war Bernie hier in
der Wildnis vermutlich noch am besten dran. Aber vielleicht machte
er sich auch zu viele Gedanken. Vielleicht war alles gar nicht so
schlimm. Vielleicht hatten die Rettungsdienste und Hilfswerke alles
im Griff und die Menschen passten sich schnell an die neue
Situation an. Wie auch immer: »Vielleicht« war kein Wort, mit dem
Bernie viel anfangen konnte. Spekulieren war leicht, aber das
Einzige, was zählte, waren Fakten. Und die würde er nur kennen,
wenn er sich selbst ein Bild machte. Was er auf jeden Fall tun
würde. Denn Bernie war einfach nicht geschaffen für die
Wildnis – auch wenn er dank Karl inzwischen einen
Johannisbeerstrauch von Christophskraut unterscheiden konnte.
Es wurde Zeit, aufzubrechen.
Aber wie sollte er bloß ein Radio aus einer
Siedlung voller Outlaws klauen? Er musste sich etwas einfallen
lassen, etwas unglaublich Cleveres und …
Hinter ihm raschelte es und Bernie wäre fast
gestorben vor Schreck. Er fuhr herum, in der Erwartung, den Bären
zu sehen. Aber es war nur der Roachy. Doch irgendetwas stimmte
nicht mit ihm.
Bernie hatte jede der essbaren Pflanzen, die
Karl ihm gezeigt hatte, holografiert und den Roachy am Morgen mit
dem Auftrag losgeschickt, diese Pflanzen zu suchen, sie mit den
fingerähnlichen Gliedern an seinen »Händen« auszugraben oder zu
pflücken und sie in einer Tasche zu sammeln, die Bernie unter den
vorderen Teil des dreigliedrigen Körpers gehängt hatte.
Der Roachy hatte auch ganze Arbeit geleistet:
Die Tasche war voll. Doch dafür hatte er einen hohen Preis bezahlt:
Das hintere linke Bein war am zweiten Gelenk abgetrennt. Der Roachy
konnte noch gehen, aber er bewegte sich langsam und unsicher.
War das ein Bär gewesen oder ein Mensch? Oder
irgendwas noch Gefährlicheres?
Es machte keinen Sinn, darüber nachzudenken.
Damit machte Bernie sich nur verrückt. Also konzentrierte er sich
auf den beschädigten Roachy.
Eine Weile ging es wahrscheinlich gut –
der Roachy hatte ja noch drei funktionierende Beine. Aber wenn
Bernie das kaputte Bein nicht ersetzen konnte, würde jede weitere
Beschädigung an einem der übrigen Beine dazu führen, dass Bernie
den Roboter zurücklassen musste. Zusammen mit einem Großteil des
Werkzeugs und der anderen Dinge, die der Roachy transportierte. Und
das kam nicht infrage. Denn der Roachy und das, was er trug, war
vielleicht alles, was Bernie in der Welt ohne Tore noch besaß. Hier
in der Wildnis half ihm das beim Überleben. Und draußen in der
Zivilisation auch: Dort konnte jedes Stück Elektronik aus dem Tor
und auch jeder Teil des Roachys selbst von unschätzbarem Wert
sein.
Bislang hatte Bernie vorgehabt, den Roboter in
der Nähe der Outlaw-Siedlung zu verstecken und sich auf seiner
Flucht von ihm tragen zu lassen. Der Roachy war in der Lage, bis zu
vierzig Stundenkilometer schnell zu laufen, schneller als jeder
Verfolger.
Vielmehr: Er war dazu in der Lage gewesen. Wenn
er jetzt fünf Kilometer in der Stunde schaffte, war das vermutlich
schon gut.
Okay, dann kam jetzt Plan B zum Einsatz. Mal
überlegen …
Er würde den Roachy am Fluss verstecken (wenn
er den Fluss fand), sich ins Lager der Outlaws schleichen (wenn er
es fand), das Radio stehlen (wenn er es fand) und unentdeckt wieder
abhauen, am Fluss (wenn er ihn wiederfand) den Roachy in ein Kajak
laden, selbst ins Kajak springen und nach Süden paddeln (wenn er
das mit dem Paddeln schnell genug raushatte, bevor ihn die wütenden
Outlaws fanden und zu Hackfleisch verarbeiteten).
Ein packy Plan, das musste man schon sagen. Der
alte Bernie hätte schon bei Punkt 2 des Plans entsetzt abgewunken
und sich hinter seinem Computer verkrochen. Aber hier gab es keinen
Computer und sein entsetztes Winken konnte auch niemand sehen.
Deshalb sparte Bernie sich das alles und kam direkt zur
Sache.
»Dann wollen wir mal das Wasser suchen«, sagte
Bernie zu dem Roachy. Er holte Karls gezeichnete Karte hervor und
ging los. Der Roachy humpelte hinter ihm her.
Es war schon früher Abend, als Bernie endlich
den Fluss erreichte. Aber natürlich lag kein Kajak da und wartete
auf ihn. Das wäre ja auch zu einfach gewesen.
Bernie trat ans Ufer und schaute den Fluss
hinauf. Er entdeckte zwei Lagerfeuer. Aber wer wusste schon, was
für Menschen das waren, die sie entzündet hatten? Sicher keine, die
ihm ein Boot schenken wollten. Er blickte in die andere Richtung.
Nicht weit entfernt war ein Steg, daneben sah Bernie noch zwei
weitere und etwas vom Ufer entfernt eine Holzhütte. Zu sehen war
niemand. Vielleicht hatte er Glück und fand dort ein Boot.
Er führte den Roachy ein Stück zurück in den
Wald. Vorsichtig gingen sie in Richtung der Stege. Kurz bevor sie
sie erreicht hatten, wurde Bernie klar, dass sich ein silbern
glänzender Roachy nicht zum unbemerkten Anschleichen eignete. Er
wollte ihn schon zurücklassen, als ihm die Tarnplane wieder
einfiel.
Ja, sie passten beide darunter. Zwar bewegten
sie sich nun alles andere als lautlos. Aber Bernie konnte nur
hoffen, dass, wer immer sie hörte, seinen Ohren nicht trauen würde,
weil er sie im Dämmerlicht nicht sehen konnte.
Als sie die Holzhütte erreichten, wurde klar,
dass Bernie sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Die Hütte war in der
Zeit vor den Toren das Empfangshäuschen eines Campingplatzes
gewesen. Doch nun war sie verfallen und ebenso verwaist wie der
Rest des Geländes. Zuerst hatte man den Platz aber noch
ausgeschlachtet. Jedes Stück Metall und Holz hatte man
weggeschleppt.
Und sicher auch alle Boote, dachte
Bernie. Trotzdem ging er am Ufer entlang, suchte im dämmrigen
Abendlicht jede Bucht ab, spähte hinter jeden Baum und unter jeden
Steg.
Und am dritten Steg entdeckte er es. Gut
verborgen unter einer grün-braunen Plane, halb im Wasser unter
einer gewaltigen teilweise freigelegten Baumwurzel. Kein Wunder,
dass es bisher niemand gefunden hatte. Auch Bernie hätte es
übersehen, wenn er nicht auf einen losen Ast getreten wäre, wodurch
er den kleinen Abhang zum Wasser hinunterrutschte. Bei dem Versuch,
sich abzufangen, trat er mit einem Bein in das versteckte
Boot.
Schlammverschmiert krabbelte er wieder heraus.
Der Roachy stand oben neben dem Baum.
»Du brauchst gar nicht so zu gucken«, sagte
Bernie. »Komm lieber runter.«
Als der Roachy im Boot war, ließ Bernie ihn die
verbliebenen Beine einklappen und deckte ihn mit einer Plastikplane
zu. »Ich bin bald zurück«, sagte er.
Es wurde Zeit, dass er wieder unter Menschen
kam. Sonst sang er dem Roachy demnächst noch Gutenachtlieder
vor.
Kurz dachte er daran, sich einfach neben den
Roboter zu legen und zu schlafen. Er war teraerschöpft und bis zur
Outlaw-Siedlung war es mindestens eine halbe Stunde zu laufen. Aber
Bernie wollte auf keinen Fall im Dunkeln im Wald unterwegs sein.
Die Gefahr, dass er sich verletzte, wenn er über einen umgestürzten
Baum stolperte oder in ein Erdloch trat, war einfach zu hoch. Ganz
zu schweigen von den nachtaktiven Tieren, an die Bernie gar nicht
erst denken wollte (waren Bären eigentlich nachtaktiv?). Also
kletterte er den Abhang wieder hoch und lief, so schnell er konnte,
in die Richtung, in der laut Karls Plan die Siedlung der Outlaws
lag.
Alles ging gut. Bernie verlief sich nicht, er
traf weder auf Bären noch auf Menschen und er brach sich auch kein
Bein. Nach einer guten halben Stunde erreichte er die Siedlung der
Outlaws, die genau dort lag, wo Karl sie eingezeichnet hatte. So
lautlos wie möglich schlich er sich an das kleine Dorf der
Ausgestoßenen an.
Die mecklenburgische Wildnis war eine
Schutzzone, deshalb durften sich bis auf Wissenschaftler und
manchmal einen Reporter keine Menschen hier aufhalten. Häuser zu
bauen war generell verboten. Trotzdem standen hier acht Häuser um
einen Platz herum. Nur zwei bestanden allerdings aus Holz, die
anderen waren aufblasbare Armee-Cubes. Wenn eine Kontrolle kam,
konnte man damit ohne großen Aufwand umziehen.
Bernie zählte zwölf Erwachsene, die es sich auf
den Bänken unter einem gewaltigen Baum bequem gemacht hatten.
Manche von ihnen aßen, einige waren mit Nähen oder Stricken
beschäftigt. Und alle lauschten dem Radio, das auf dem Tisch in der
Mitte stand. Nur die beiden Kinder, die auf dem Waldboden »Himmel
und Hölle« spielten, ließen sich von dem Radio nicht stören, obwohl
es so laut war, dass sogar Bernie, gut fünfzig Meter entfernt,
jedes Wort verstehen konnte.
»Unbestätigten Meldungen zufolge sollen
kanadische Mobile für den Torausfall verantwortlich sein. Nach wie
vor ist jedoch ungeklärt, wie das Tornetz, das sich in der
Vergangenheit als so zuverlässig erwiesen hat, sabotiert werden
konnte. Unsere Korrespondenten gehen davon aus, dass jemand aus dem
innersten Kreis von T. O. R. daran beteiligt gewesen sein muss. Es
kursieren sogar Gerüchte, dass die kürzlich unter mysteriösen
Umständen verstorbene Schöpferin der Tore, Jenna Kranen,
verantwortlich für die Katastrophe sein soll. Noch liegen uns keine
Beweise für diese These vor und Kranens mögliches Motiv liegt
ebenfalls noch im Dunkeln. Allerdings haben wir aus gut
unterrichteten Kreisen erfahren, dass Jenna Kranen sich wegen ihres
Verrats das Leben genommen haben soll.«
Bernie wäre beinahe aufgesprungen und hätte
geschrien: »So ein Blödsinn! Und diese Murkhas schimpfen sich
Journalisten?!« Aber er riss sich zusammen. Jenna war tot und
konnte diese loco Anschuldigungen nicht mehr hören. Er hoffte nur,
dass Celie in ihrer Kommune nichts von diesem Quatsch
mitbekam.
Langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder.
Auf dem Platz vor ihm begannen die Solarlampen zu leuchten. Es sah
nicht so aus, als wollten die Outlaws bald ins Bett gehen. Bernie
hatte zwar die Tarnplane dabei, doch auf dem freien Platz nutzte
ihm die gar nichts. Er würde warten müssen, bis alle schliefen.
Bernie gähnte, hockte sich hinter ein Gebüsch und richtete sich auf
eine lange Nacht ein.
Da fasste ihn jemand so fest an der Schulter,
dass er aufschrie.
»Na, wen haben wir denn da?«, knurrte eine
tiefe Stimme. Dann packten ihn vier kräftige Arme und Bernie wurde
weggezerrt.
Die beiden Männer brachten Bernie nicht
zu dem Dorfplatz, sondern schleppten ihn außen um die Siedlung
herum in eine etwas abseits gelegene Hütte. Dort warfen sie Bernie
zu Boden und der eine fesselte ihn.
»Lohnt die Mühe nicht«, knurrte der andere.
Bernie sank das Herz in die Hose. In der Hütte war es schummrig,
trotzdem konnte er sehen, dass der Mann, der fast ebenso breit wie
groß war, eine lange Narbe am Unterarm hatte. Sein grimmig
verzerrtes Gesicht konnte er ebenfalls gut erkennen. Bernie
zweifelte nicht daran, dass dieser Mann ihn, ohne zu zögern,
umbringen würde.
»Äh …« Das war kein guter Beginn. Bernie
versuchte es noch mal: »Ich bin nur ein Outlaw, der sich hier noch
nicht auskennt«, sagte er. »Warum lassen Sie mich nicht einfach
gehen?«
Die Miene des Mannes hellte sich auf. Dann
brach er in ein dröhnendes Lachen aus. »Guter Witz!«, rief er.
»Dafür könnte ich dich fast verschonen.«
»Wir können ihm doch einfach seine Sachen
abnehmen und ihn laufen lassen.« Der Mann, der Bernie die Hände
gefesselt hatte, kam hinter seinem Rücken hervor. »Selbst wenn er
kein Outlaw ist, kann er uns nicht verraten, Jake. Er kann ja
nirgendwohin, genau wie wir.«
Bernie hörte kaum, was der Mann sagte. Denn im
selben Moment, als er sein Gesicht gesehen hatte, hatte er ihn
erkannt: Elias. Er war mit der stahlharten Frau zusammen gewesen,
die Bernie und Camille beobachtet hatten.
Jakes Lachen ließ seinen gewaltigen Körper
beben. »Laufen lassen? Seh ich vielleicht aus wie Jesus?«
Bernie überlegte fieberhaft. Es nützte ihm gar
nichts, dass Elias sich für ihn einsetzte. Elias hatte hier
offensichtlich nichts zu sagen. Aber was konnte Bernie sonst tun?
Irgendwas im Tausch gegen sein Leben anbieten? Klar, er hatte die
Tarnplane im Rucksack. Aber die konnten sie ihm auch einfach so
wegnehmen.
Als hätte Jake seine Gedanken gelesen,
schnappte er sich Bernies Rucksack und wühlte darin herum.
»Ein Messer und eine alte Plane, das ist
alles.« Jake spuckte auf den Boden. »Schon allein für diese miese
Ausbeute sollte ich dich umbringen.«
Bernie konnte sich nicht so recht darüber
freuen, dass Jake die erstaunlichen Fähigkeiten der Tarnplane nicht
erkannt hatte. Wenn er tot war, war es sowieso völlig egal, wer die
Tarnplane bekam.
Mit einem Schlag begriff Bernie, dass es hier
um sein Leben ging. Er begann zu zittern.
»Du passt auf ihn auf, ich hol einen Strick«,
hörte er Jake durch das Rauschen in seinen Ohren. Die Tür klappte.
Bernie war mit Elias allein.
Er versuchte, im Dämmerlicht etwas zu erkennen.
Die Hütte wurde offenbar für Handwerksarbeiten und als Lager für
Gartengeräte benutzt. Bernie sah eine Werkbank aus Holz, eine
Leiste, an der Hämmer, Sägen, Schraubenzieher und andere Werkzeuge
hingen, und an einer Wand lehnten Schaufeln und ein Rechen. Alles
sehr praktisch, um zu kämpfen, aber leider völlig unerreichbar für
Bernie.
Plötzlich war da Camilles Stimme in seinem
Kopf. »Wenn es knifflig wird, kommt es nicht so sehr auf dein
technisches Wissen an, sondern darauf, die beteiligten Menschen
richtig einzuschätzen.« Ja, das hatte sie zu ihm gesagt. Vor einer
Ewigkeit, als die Welt noch in Ordnung und er ein angehender
Tortechniker gewesen war. Die Welt war seitdem zusammengebrochen,
aber Camilles Rat galt immer noch.
Dumm nur, dass Leute einzuschätzen nicht gerade
zu Bernies hervorstechenden Fähigkeiten gehörte. Doch er musste es
versuchen, sonst war er bald tot.
Er schaute zu Elias hoch, der mit betrübter
Miene vor ihm stand. »Ich will nicht sterben«, sagte er und
fixierte den Mann, bis der ihm nicht mehr in die Augen sehen
konnte.
»Ich kann nichts dagegen machen«, flüsterte
Elias. »Jake bringt mich um …«
So wurde das nichts. Der Typ hatte viel zu viel
Angst, als dass Bernie mit der Mitleidstour etwas hätte ausrichten
können. Dann musste es eben anders gehen.
»Au, tamade, tut das weh!« Er krümmte sich
zusammen und stöhnte. Elias kam näher. Bernie stöhnte noch
heftiger. »Meine Hand, o Gott, ich spüre sie nicht mehr!« Er sah
flehentlich zu Elias hoch, der ganz offensichtlich nicht wusste,
was er tun sollte. »Mach die Fesseln nur ein bisschen lockerer,
Mann, bitte!«, rief Bernie. Zögernd ging Elias in die Hocke, um
sich Bernies Hände anzusehen – als Bernie den Oberkörper
ruckartig nach vorn beugte und die hinter seinem Rücken gefesselten
Arme dabei nach oben schleuderte. Mit einer Faust traf er Elias am
Kopf, der benommen zu Boden ging. Alle Muskeln angespannt, sah
Bernie auf Elias hinunter. Noch einmal würde er, gefesselt wie er
war, sicher nicht so gut treffen …
Aber Elias stöhnte nur noch leise und rührte
sich nicht mehr.
Bernie fühlte etwas Nasses an seiner Hand.
Blut. Hoffentlich hatte er Elias nicht ernsthaft verletzt … Er
robbte über den Boden der Hütte bis zu der Ecke mit der Werkbank.
Er lehnte sich an die Wand und schob sich hoch, bis er stand. Ja,
da war ein Schraubstock, wie er auf keiner Werkbank fehlen durfte.
Und etwas weiter hinten lag ein Meißel.
Bernie sprang und warf sich nach vorne auf die
Werkbank. Er schlug mit dem Kiefer auf das Holz und biss sich auf
die Zunge. Aber der Meißel war nun direkt neben seiner Wange. Mit
den Zähnen bekam Bernie den Griff zu fassen und ließ sich mit dem
Meißel im Mund wieder von der Bank gleiten.
Elias stöhnte und Bernie hörte, wie er sich
bewegte. Er musste sich beeilen!
Er bugsierte den Meißel zwischen die
Klemmbacken des Schraubstocks, aber da er ihn nicht festhalten
konnte, fiel er immer wieder nach unten durch. Bernie überlegte
fieberhaft. Er konnte einen Computer im Schlaf zerlegen und wieder
zusammenbauen, da würde er doch wohl dieses lächerliche Problem
lösen können!
Wieder fiel der Meißel, aber diesmal blieb er
an einer Klemmbacke hängen. Das war es! Schnell platzierte Bernie
den Meißel mit dem Mund so, dass er schief in dem Schraubstock
stand. Der Griff lag unten im Schraubstock auf, das obere Ende
ragte oben heraus. Mit einer Schulter hielt Bernie den Meißel in
dieser Position, während er mit dem Mund den Griff des
Schraubstocks packte und ihn zu drehen begann.
Als der Meißel endlich fest im Schraubstock
saß, drehte Bernie sich um und begann hastig, die Fesseln auf
seinem Rücken mit dem Meißel durchzusägen. Er hatte keine Ahnung,
wie lange seine wacklige Konstruktion halten würde, aber er musste
sich beeilen. Elias kam wieder zu sich und Jake würde auch bald
zurück sein. Immer wieder zerrte Bernie an seinen Fesseln, um zu
prüfen, ob er sie schon zerreißen konnte.
Gerade kam Elias langsam auf die Füße, als die
Fesseln endlich nachgaben. Bernie schnappte sich einen Hammer von
der Werkzeugleiste und sagte: »Lass mich vorbei. Ich will dir nicht
noch mehr wehtun.« Und Elias, der sich den Kopf hielt, machte einen
Schritt zur Seite und ließ ihn durch. Einfach so.
»Danke«, stieß Bernie überrascht hervor.
Er rannte aus der Hütte, in Richtung Wald. Aber
da kam ihm Jake entgegen, einen Strick in der Hand! Hinter ihm
liefen mindestens zehn Erwachsene und mehrere Kinder her. Ob sie
Jake helfen wollten, Bernie aufzuhängen, oder ob sie versuchten,
ihn davon abzuhalten, war Bernie in diesem Moment teraegal. Er
drehte sich um und lief auf den Platz zu, auf dem der Tisch mit dem
Radio stand, der jetzt fast leer war, bis auf zwei alte Frauen und
drei Kinder.
Bernie wagte es, sich noch einmal kurz
umzusehen. Hinter ihm wurde heftig diskutiert, darum hatte Bernie
immer noch einen guten Vorsprung. Und so rannte er über den Platz,
während er in seiner Hosentasche nach etwas kramte, griff sich im
Laufen das Radio und war in der Dunkelheit verschwunden, bevor
irgendeiner der Outlaws auch nur bemerkte, dass er sie bestohlen
hatte.
Noch länger dauerte es, bis jemand das
Medaillon entdeckte, dass Bernie dagelassen hatte.
Ein Bär mit Schaum vor dem Mund schrie:
»Hängt ihn auf!«, und aus dem Radio plärrte eine Roboterstimme:
»Countdown zur Sprengung der Erde läuft: Zehn, neun,
acht …«
Bernie schreckte aus dem Schlaf hoch, warf die
Tarnplane zur Seite und holte tief Luft. Angewidert schnippte er
einen dicken braunen Käfer von seinem Bein, dann schaute er sich
um.
Er lebte noch, das war die wichtigste
Erkenntnis des frühen Morgens. Nach dem, was gestern passiert war,
war das schon ein kleines Wunder. Als Bernie noch einmal darüber
nachdachte, dass Elias am Ende nicht mehr versucht hatte, ihn
aufzuhalten, wurde ihm plötzlich klar: Elias hatte ihn von Anfang
an gehen lassen wollen. Und auch, nachdem Bernie ihn angegriffen
hatte, hatte Elias nicht gewollt, dass Jake Bernie umbrachte. Seine
Verletzungen hatten ihm die Gelegenheit gegeben, Bernie die Flucht
zu ermöglichen, ohne dass Jake Elias für einen Verräter
hielt.
Bernie stand auf. Es sah ziemlich düster
aus – meteorologisch gesprochen. Zwar regnete es nicht mehr,
doch es hingen dicke Wolken am Himmel. Die Sonne spendete schon
dämmriges Licht, war aber noch nicht aufgegangen.
Bernie wischte den Tau von der Plane, packte
sie zusammen und ging los. Die Spuren, die er in der Nacht zuvor
hinterlassen hatte, waren deutlich zu sehen.
Noch vor einer Woche hätte er sie überhaupt
nicht bemerkt.
Das Boot war noch da und der Roachy
ebenfalls. Bernie wollte einsteigen – aber das ging nicht.
»Tamade!«, schimpfte er. Wie es aussah, passte entweder der Roachy
oder Bernie in das Boot – aber nicht beide zusammen.
Bernie kletterte einige Schritte den Abhang
hoch. Der Roachy, dessen visuelle Sensoren jetzt nicht mehr von der
Bootsplane verdeckt waren, kam hinter ihm her. Bernie sah ihn
vorwurfsvoll an, auch wenn er wusste, dass der Roboter nichts dafür
konnte, dass er so groß war.
Es half nichts: Er musste ihn
zurücklassen.
Schweren Herzens durchsuchte er sämtliche
Koffer und Fächer des Roachys und nahm alles heraus, worauf er
nicht verzichten konnte. Das Werkzeug, das er brauchte, um das
Radio umzubauen; Nahrung und Wasser; und dann noch so viele Teile
des auseinandergebauten Tors, wie ins Boot passten.
Als er das Wasser mithilfe eines Stücks Torwand
aus dem Boot geschöpft hatte und mit dem Doppelpaddel in der Hand
darin saß, schaute Bernie zu dem Roachy zurück, der auf seinen
dreieinhalb Beinen am Ufer stand. Herrje, es war nur ein Roboter,
kein bedauernswerter Hund oder so was! Trotzdem fiel es Bernie
schwer, ihn zu verlassen.
»Pass auf dich auf«, sagte er, auch wenn das
total tonto war. Aber hier hörte ihn ja niemand.
(Außer dem Roachy. Der hatte schließlich auch
akustische Sensoren.)
Es dauerte einige Zeit, bis Bernie nicht mehr
Gefahr lief, sich mit dem Paddel selbst k. o. zu schlagen. Danach
klappte es zwar mit dem wechselseitigen Eintauchen des Paddels,
aber trotzdem hatte Bernie den Eindruck, dass sich das Boot nur
schwerfällig bewegen ließ. Na ja, vielleicht gab es hier
irgendwelche Strömungen, die ihn bremsten.
Als er sich umschaute, sah er, dass es keine
Strömungen waren – es war der Roachy! Mit den fingerartigen
Greifgliedern seiner Vorderbeine hing er hinten am Boot. Sein
Körper schwebte über dem Wasser. Das lag an dem aufblasbaren
Kissen – noch so eine Sonderausstattung –, von dem Bernie
bislang nichts gewusst hatte. Es hielt die dreigliedrige Plattform
über Wasser, die den Körper des Roboters bildete. Die verbliebenen
Beine hatte der Roachy um das Kissen herumgeklappt, sodass er jetzt
aussah wie ein kleines schwimmendes Ufo mit Armen.
»Packy«, sagte Bernie.
Da das GPS nicht funktionierte, wusste
Bernie nicht, wie weit er schon gekommen war, als er gegen Mittag
eine Pause machte. Er legte auf einer winzigen Insel auf dem See
an, den er gerade durchquerte. Hier gab es Himbeeren und Bernie
stürzte sich darauf. Nachdem er seinen Hunger fürs Erste gestillt
hatte, pflückte er so lange weiter, bis das eimerartige Gefäß, zu
dem er einen Teil einer Torwand gebogen hatte, gut gefüllt war.
Dann nahm er sich das Radio vor.
So vergingen die nächsten Tage: paddeln,
essen, Wasser suchen, an dem Radio und am MoPad herumbasteln, im
Fluss baden, anderen Booten so gut wie möglich ausweichen, abends
eine geschützte Stelle suchen und – zusammen mit dem
Roachy – unter die Tarnplane kriechen, um ein paar Stunden zu
schlafen.
Manchmal dachte Bernie, er würde das Radio
niemals zu einem CB-Sender umbauen können. Manchmal dachte er, das
Boot würde nicht mehr lange durchhalten, und manchmal dachte er,
seine Arme würden nicht mehr lange durchhalten. Aber dann ging es
doch weiter, Stück für Stück.
Und schließlich war das CB-Funkgerät
einsatzbereit.
Zumindest glaubte Bernie das. Sicher würde er
es erst wissen, wenn er es ausprobiert hatte. Unschlüssig sah er
auf das Durcheinander aus Drähten, Lautsprechern, Bauteilen und
Antennen, zu dem das Radio und das MoPad in den letzten Tagen
geworden waren.
»Was meinst du, funktioniert es?«, fragte er
den Roachy, der tropfend neben dem Boot stand. Der Roachy schwieg,
wie immer.
»Hast recht.« Bernie nickte. »Ich werd’s
ausprobieren müssen. Also los.«
In Gedanken ging er noch mal die einzelnen
Schritte durch, dann nahm er das Radio in die linke und das MoPad
in die rechte Hand. Er drückte eine Taste am MoPad und sagte:
»Hallo. Kann mich irgendjemand hören?«
Rauschen. Noch mehr Rauschen. Aber keine
Antwort. Bernie war kurz davor, zu schreien, als ihm auffiel, dass
er etwas vergessen hatte.
Er ließ die Taste des Senders los und schaltete
mit dem Touch-Pen zwischen den Kanälen auf dem MoPad hin und her.
Und endlich hörte er eine Stimme:
»Hallo. Hier ist Station Gemeinschwein.
QRZ5)?«
5) Q R Z: Von wem
werde ich gerufen? (CB-Funk-Jargon)
Da nichts mehr kam, drückte Bernie die Taste an
seinem Sender. »Hallo, was heißt denn QRZ?«
Durch das Rauschen war ein leises Lachen zu
hören. Dann sagte die Stimme: »Wie heißt du?«
»Hier ist Bernard … Bernie Sigmarek. Und
wie heißt du?«
»Ich bin Kalle. Bist wohl kein CB-Funker,
was?«
Bernie erklärte Kalle, wie er sein CB-Funkgerät
zusammengebaut hatte, und erzählte ihm, dass er mit einem Boot in
der mecklenburgischen Wildnis unterwegs war. Kalle wollte wissen,
wovon Bernie in der Wildnis so lebte, und Bernie wollte wissen, wie
es in der Zivilisation aussah. Im Wesentlichen bestätigte Kalle
das, was Bernie schon vermutet hatte.
Als Kalle sich verabschieden wollte, bat Bernie
ihn, ihn mit seinen Eltern in Indien zu verbinden. Kalle kriegte
sich nicht mehr ein vor Lachen. »So weit kommen wir mit unserem
CB-Funk leider nicht«, sagte er.
Bernie hätte sich in den Hintern treten können.
Natürlich – die Reichweite des CB-Funks war ja auf wenige
Kilometer begrenzt.
Kalle wünschte ihm alles Gute, dann beendeten
sie das Gespräch. Und obwohl Kalle nichts Gutes über den Zustand
der Welt hatte berichten können, war Bernie glücklich und
aufgeregt. Bis jetzt hatte er nicht gewusst, wie sehr es ihm
gefehlt hatte, einfach mit jemandem zu reden, der ihn weder
umbringen noch bestehlen wollte.
Obwohl es ihm natürlich hätte zu denken geben
müssen, dass er sich inzwischen regelmäßig mit einem Roachy
unterhielt.
Auf der A10
»Bitte, lassen Sie uns vor, meine Kleine
hat furchtbaren Durchfall.«
Der hagere Mann schob seine Tochter in der
Schlange nach vorn, bis sie vor Alex standen. Alex nahm einige
getrocknete Salbeiblätter aus einer der vielen Schüsseln vor ihm
auf dem Tisch.
»Machen Sie ihr Salbeitee – heißes Wasser
bekommen Sie da hinten – und geben Sie ihr genug zu trinken.
Wenn Sie einen Apfel auftreiben können, soll sie auch geriebenen
Apfel essen. Und wenn sie Fieber bekommt, kommen Sie noch mal
wieder.«
Der Mann bedankte sich überschwänglich und
legte einen Müsliriegel in den Korb, der neben Alex’ Tisch auf dem
Boden stand. Darin hatten sich seit dem Morgen schon zwei kleine
Akkus, ein halber Laib Brot, ein kleines Küchenmesser, einige
Birnen, eine Schirmmütze und ein Modellflugzeug aus Holz
angesammelt. Nicht gerade eine tolle Ausbeute, zumal Alex mit Nuray
und Agathe halbe-halbe machte. Aber er behandelte jeden, egal ob er
etwas zum Tauschen hatte oder nicht. Und in den letzten beiden
Wochen hatte er genug eingenommen, um sich eine Weile durchschlagen
zu können.
Wenn er nur endlich wieder losziehen könnte!
Sein Knöchel heilte, aber solange er wehtat, konnte Alex nicht
aufbrechen. Und es machte ihn immer mehr verrückt, dass er nicht
mit Celie und seinen Eltern sprechen konnte, wie er es sonst jeden
Tag getan hatte. Er wusste ja nicht mal, ob sie noch lebten! Es
fühlte sich an, als würde ihm etwas Lebenswichtiges fehlen –
eine Hand oder so. Und er hatte noch nicht gelernt, ohne sie
auszukommen. Wenn das überhaupt möglich war.
Zumindest ging es ihm hier so gut, wie es einem
verletzten Jungen in einer auseinanderbrechenden Welt nur gehen
konnte. In der alten Raststätte wurde es immer voller, weil einige,
die nur hatten übernachten wollen, geblieben waren und halfen, den
Betrieb am Laufen zu halten. Und Agathe und Nuray konnten wirklich
jede Hilfe im Garten, in der Küche und beim Wasserholen brauchen.
Alex hatte Nuray geraten, bevorzugt kräftige Männer zum Bleiben zu
überreden. Denn je besser die alte Raststätte funktionierte, hatte
er argumentiert, desto größer wurde auch die Gefahr, dass eine
Bande sich hier einnistete und den Laden für sich beanspruchte.
Nuray hatte Alex angesehen, wie sie es immer tat, wenn er einen
Vorschlag machte: als wäre er eine Kakerlake mit einem besonders
kranken Sinn für Humor. Aber mittlerweile wohnten tatsächlich ein
paar starke Männer hier, die Wasser aus dem drei Kilometer
entfernten Karinchensee holten und nachts Wache hielten.
Das Wasserholen war dabei die gefährlichere
Aufgabe. Wasser war neben Akkus zum wichtigsten Gut in der Welt
ohne Tore geworden – zumindest in dem Teil der Welt, in dem
Alex jetzt lebte. Vor allem die Städter versuchten, irgendwie zum
Wasser zu kommen, weil sie nur dort überleben konnten. Und der
Karinchensee war klein, aber er lag keine drei Kilometer von der
Autobahn entfernt. Viele holten dort Wasser, bevor sie weiterzogen.
Und einige von denen hatten keine Skrupel, diejenigen zu überfallen
und zu berauben, die gerade Wasser geholt hatten.
Trotz allem war die Welt erstaunlicherweise
immer noch nicht völlig zusammengebrochen und das lag auch an den
vielen Flüchtlingen. Um sich Essen zu beschaffen, halfen manche den
Bauern bei der Ernte, die ihre Felder ohne die wartungsintensiven
Roachys sonst hätten verkommen lassen müssen, und ließen sich dafür
in Naturalien bezahlen.
Da rund um Berlin vor allem Getreide angebaut
wurde, standen Getreidemühlen für den Hausgebrauch hoch im Kurs.
Und gerade in der alten Raststätte hätte man gut eine brauchen
können. Aber in keiner der umliegenden Ortschaften war mehr eine zu
bekommen und die nächste große Mühle lag etwa vierzig Kilometer
entfernt.
Das über die Gewässer und Getreidemühlen wusste
Alex nur, weil jeden Tag neue Gäste kamen und Informationen
mitbrachten. Diese Informationen wurden nicht gehandelt, sondern
gratis weitergegeben. Zum einen, weil jeder im Gegenzug auf
Informationen hoffte, die ihm selbst weiterhalfen. Aber vor allem,
weil die Menschen ein unstillbares Bedürfnis nach Gesprächen
hatten. Wahrscheinlich, weil sie alle ihre Freunde und Verwandten
ebenso sehr vermissten wie Alex seine Eltern und Celie.
In den letzten Tagen hatte er auch viel an
Bernie gedacht. Verrückt, der war wahrscheinlich ganz in der Nähe,
ohne dass sie auch nur miteinander sprechen konnten! Ob Bernie wohl
zurechtkam in der Wildnis? Allein niemals. Er konnte ja nicht mal
eine runtergefallene Kastanie von einem Steinpilz unterscheiden.
Aber er hatte eine erfahrene Tortechnikerin an seiner Seite. Sie
war sicher oft in torlosen Gegenden unterwegs und wusste, wie man
sich da durchschlagen konnte.
»Mierda!«
Alex hatte Agathe noch nie fluchen hören. Doch
als er den Verletzten sah, den zwei Männer auf Agathes Anweisung zu
ihm brachten, entfuhr ihm auch ein »Shit«. Dann riss er sich
zusammen. »Zeig einem Patienten nie etwas anderes als Zuversicht
und Optimismus«, hatte Schwester Susmita ihm eingeschärft. »Angst,
Entsetzen und Ekel sind kontraproduktiv.«
»Legt ihn da auf die Bank.« Alex lächelte den
Mann an, obwohl sein Anblick ihm den Magen umdrehte. Aber der Mann
hätte ihn sowieso nicht sehen können durch all das Blut hindurch,
das ihm in die Augen lief – selbst wenn er nicht bewusstlos
gewesen wäre.
»Ich brauch einen Schwamm!«, rief er Agathe zu.
»Und koch mir ein Tuch ab!«
Er tupfte den Kopf des Mannes mit dem Schwamm
ab, bis er die Platzwunde knapp über dem Haaransatz fand. Kurz
darauf kam Agathe mit dem sterilisierten Tuch. Alex ließ sich noch
Honig zum Desinfizieren bringen und strich das sterilisierte Tuch
damit ein. Dann wickelte er dem Mann den Verband fest um den Kopf
und wandte sich seinen weniger dringenden Verletzungen zu.
Der Mann war offenbar zusammengeschlagen
worden. Mehrere Rippen waren gebrochen, er hatte zahlreiche
Schürfwunden im Gesicht und an den Händen und zwei Finger seiner
rechten Hand standen in einem übelkeiterregenden Winkel ab.
Während Alex die Wunden säuberte, die Finger
schiente und die Rippen verband, fragte er die beiden Männer, die
den Verletzten gebracht hatten, was passiert war.
Zuerst wollten sie nichts sagen, aber dann
beugte sich der Schmächtigere von ihnen vor und flüsterte: »So ’n
paar miese Typen haben spitzgekriegt, dass Kalle ’n CB-Funkgerät
hat. Das wollten se ihm abnehmen.« Er zog die Nase hoch und wollte
offenbar auf den Boden rotzen, überlegte es sich dann aber anders.
»Aber nich mit Kalle! Wer den von seiner Funke trennen will, der
muss ihn schon umbringen.«
»Na, das haben sie ja auch fast geschafft«,
sagte Alex.
Der Schmächtige sah ihn erschrocken an. »Aber
der wird doch wieder, oder?«
»Klar«, sagte Alex, aber er fühlte sich
teramies dabei. Er hatte es immer gehasst, wenn die richtigen Ärzte
das machten: einfach was behaupten, obwohl sie es gar nicht
wussten. Andererseits, wenn die Patienten oder ihre Angehörigen
sich dadurch besser fühlten …
»Lecker«, murmelte der Verletzte plötzlich.
Dann streckte er die Zunge noch weiter raus. »Hmm,
Honig …«
»Ganz ruhich, Kalle. Du wirs wieder, hatter
Doktor gesacht. Brauchs nur Ruhe.«
Kalle schlief den ganzen Tag und die
folgende Nacht durch. Alex sah immer wieder nach ihm, wechselte den
Kopfverband und lauschte auf Kalles Atem.
Alex sagte sich, dass er das tat, weil Kalle
von allen, die er bisher behandelt hatte, am schwersten verletzt
war. Aber das stimmte nur zum Teil. Der Gedanke an das CB-Funkgerät
ließ ihn nicht mehr los.
Die CB-Funker waren die Einzigen, die noch mit
jemandem Kontakt aufnehmen konnten, der weiter entfernt war, als
man rufen konnte. Kein Wunder, dass Kalle sein Funkgerät versteckt
hatte! Jeder hätte gern eines gehabt, um nach seinen Freunden und
Verwandten zu suchen. Aber vor dem Torausfall hatte es nur noch
sehr wenige CB-Funker gegeben und entsprechend selten traf man
einen von ihnen. Um sich zu schützen, zeigten sie ihre Funkgeräte
außerdem nicht herum, sondern hielten sie versteckt. An Kalle
konnte man ja sehen, was einen erwartete, wenn man das nicht
tat.
Aber vielleicht – nur vielleicht –
war Kalle dem Mann, der ihn verarztet hatte, so dankbar, dass er
ihn sein Funkgerät mal benutzen ließ? Und vielleicht – nur
vielleicht – konnte Alex dann irgendwie herausfinden, ob es
seinen Eltern gut ging. Und Celie. CB-Funk funktionierte ja ohne
die Tore, aber Alex wusste nicht, ob er bei den Mobilen erlaubt war
oder nicht.
Als Kalle endlich aufwachte, war Alex zur
Stelle. Er gab Kalle etwas zu trinken und klärte ihn über das auf,
was mit ihm passiert war. Und als Kalle sagte: »Ich weiß gar nicht,
wie ich dir danken soll, Junge«, da fragte Alex ihn nach dem
Funkgerät. Kalles schmächtiger Freund Sunny sprang auf, aber Kalle
hielt ihn zurück.
»Der Junge hat so viel für mich getan, da
revanchier ich mich gerne. Sunny, du weißt ja, wo die Funke ist.
Hol sie, sobald’s dunkel wird, verzieh dich mit dem Jungen auf den
nächsten Hügel und zeig ihm, wie’s geht.« Kalle lächelte. »Junge,
lass dich bloß nicht verrückt machen. Da draußen sitzen ein paar
seltsame Gestalten an den Funkgeräten, aber die meisten sind ganz
okay.« Er nahm eine Birne von Sunny entgegen und verschlang sie mit
zwei Bissen. »Vor ’ner Weile hab ich mit ’nem ziemlich schrägen
Vogel gesprochen. Hat sein MoPad und ein Radio für CB-Funk
umgebaut, als die Tore ausfielen. Ein technischer Wunderknabe, aber
was Natur angeht, die totale Niete. Der irrte schon seit Tagen
durch die Wildnis da oben an der Mecklenburgischen Seenplatte,
wusste aber immer noch nicht, wie man ’nen Hasen fängt oder ’nen
anständigen Unterstand baut. Und vom Breaken6) hatte er auch keinen blassen Schimmer.
Wollte unbedingt, dass ich ihn mit seinen Eltern in Indien
verbinde.«
6) breaken:
Funkverkehr abwickeln (CB-Funk-Jargon)
Sunny kicherte. »Bei unseren Reichweiten würd
er dafür … na, jedenfalls total viele Stationen brauchen.
Dafür sin’ die Breaker jetz aber viel zu beschäftigt. Datt wird nie
watt. Der Jung …«
Alex unterbrach Sunny. »Wann war das? Wie hieß
er? Wo war er, als ihr gesprochen habt?«
»Ganz ruhig, Junge«, sagte Kalle.
Aber Alex konnte nicht ruhig bleiben. Nicht
wenn Bernie vielleicht ganz in der Nähe war! »Sag schon!«, rief
er.
»Is ja gut«, sagte Kalle erstaunt. »Also, das
war … ich denk mal, das ist vor zwei oder drei Tagen gewesen.
Der Junge hieß Wernie oder so …«
»Bernie?«, stieß Alex hervor.
Kalle grinste. »Ganz genau! Und er war wohl
gerade auf einem Fluss unterwegs, um aus der Wildnis rauszukommen.
Aber wo er genau war …« Kalle kniff die Augen zusammen, so
angestrengt dachte er nach. »Nee, keine Ahnung«, sagte er
dann.
Alex konnte es nicht erwarten,
loszuziehen und das Funkgerät auszuprobieren. Endlich wieder eine
vertraute Stimme hören! Endlich wieder mit jemandem sprechen, für
den er nicht »der Doktor«, sondern einfach nur »Alex« war!
Die Zeit zog sich endlos wie ein Kaugummi, das
in ein schwarzes Loch gesaugt wird. Aber irgendwann wurde es doch
noch dunkel und Sunny holte Kalles Funkgerät aus dem
Versteck.
Alex humpelte hinter Sunny her, einen Hügel
hinauf, der etwa hundert Meter hinter der Raststätte begann. Obwohl
er ununterbrochen an Bernie denken musste – hoffentlich lebte
er noch, immerhin war es ja schon ein paar Tage her, dass Kalle mit
ihm gesprochen hatte –, fiel ihm doch auf, dass sein Fuß kaum
noch wehtat. Wenn er diesen Test überstand, ohne dass die Schmerzen
wiederkamen, dann konnte er endlich darüber nachdenken, sich wieder
auf den Weg zu machen. Zuerst zu Bernie, wenn er ihn denn
tatsächlich erreichte. Und dann, so schnell es ging, zu
Celie.
Sunny stellte die Frequenz ein, auf der Kalle
mit Bernie gesprochen hatte, und drückte eine Taste. »Hier ist
Station Breitmaul, Bernie mit dem MoPad, bitte kommen.«
»Breitmaul?« Alex grinste.
»Willste jetzt mit deinem Freund sprechen oder
nich?«, fragte Sunny beleidigt.
»Klar. Sorry.«
Sie lauschten eine Weile. Dann versuchte Sunny
es noch mal. »Bernie mit dem MoPad, bitte kommen. Alex möchte mit
dir sprechen.«
Mecklenburgische Seenplatte
Am liebsten hätte Bernie immerzu über Funk
mit jemandem gesprochen. Aber er musste mit den Akkus haushalten.
Darum schaltete er das Gerät jeden Tag nur für eine halbe Stunde
ein. Nach drei Tagen erhöhte er auf eine Stunde, weil er seiner
Schätzung nach nicht mehr weit von Ferch entfernt war – dem
Ort, an dem laut Karls Skizze der Weg übers Wasser endete. Von dort
waren es nur wenige Kilometer bis zur A10 und danach würde er nur
noch wenige Tage nach Berlin brauchen.
Bernie schaltete sich durch die Kanäle. Doch
bevor er jemanden rufen konnte, hörte er plötzlich eine Stimme:
»Bernie mit dem MoPad, bitte kommen. Alex möchte mit dir
sprechen.«
Auf der A10
Es rauschte, dann kam tatsächlich eine
Antwort:
»Hier ist zwar nicht Bernie, aber …«
»99!«, brüllte Sunny. »Das heißt so viel wie
›Hau ab‹«, erklärte er Alex. »Tja, ich weiß nich, ob datt noch watt
wird. Hat bestimmt kein’ Akku mehr, dieser Bernie. Tut mir
echt …«
»Alex? Bist du’s wirklich? Hier ist Bernie. Sag
doch was!«
Alex drückte hektisch auf irgendwelche Knöpfe,
bis Sunny ihm das Gerät aus der Hand nahm. Er hantierte damit
herum, dann hielt er es Alex vor den Mund. »Jetz kannze
sprechen.«
»Bernie, ja, ich bin’s! Wo bist du?«
»Irgendwo an der Havel, wo genau, weiß ich
nicht. Ich fahr in Richtung Süden.«
»Du fährst? Womit denn?«
»Mit einem Boot, ein Kajak, glaube ich. –
Wo bist du?«
»Auf der A 10, fünfzehn oder zwanzig Kilometer
von der Avus entfernt Richtung Westen. Ich muss zu Celie.«
Bernie antwortete so lange nicht, dass Alex
schon dachte, die Verbindung sei abgerissen. Aber dann sagte
Bernie: »Wir treffen uns morgen in Ferch, okay? Das kann nicht
allzu weit von uns beiden entfernt sein, schätz ich.«
»Okay.«
»Alex, mein Akku hält nicht mehr lange. Also
sieh zu, dass du es nach Ferch schaffst, ja?«
Bernies Stimme hatte trotz des Rauschens etwas
so Dringliches, dass es Alex den Hals zuschnürte.
»Klar, ich werd da sein. Mach’s gut,
Bernie.«
»Mach’s gut, Alex.«
»Na«, sagte Sunny missbilligend, »datt war
alles total falsch, die Wörter und so. Die ganzen anderen Breaker
lachen jetz über uns.«
Aber als er sah, wie Alex strahlte, musste er
doch schmunzeln.
Alex wollte sofort los, aber Nuray und
Agathe bestanden darauf, dass er erst noch mal ein ordentliches
Mittagessen zu sich nahm. Während er Hühnertopf mit Korianderrahm
in sich hineinschlang, packten sie Alex den Rucksack so voll, dass
er ihn kaum noch tragen konnte. Dann erklärte Agathe ihm, wo Ferch
lag, und Nuray erneuerte Alex’ Bandage. Sie zurrte sie so fest,
dass er beinahe geschrien hätte. Aber so hielt sie sein Gelenk
stabil und verhinderte, dass er wieder umknickte. Die beiden
bestanden auch darauf, dass ihn zwei starke Männer begleiteten, die
eine Abkürzung abseits der Autobahn nach Ferch kannten.
Schließlich war nichts mehr zu tun. Agathe
umarmte Alex mit Tränen in den Augen und wünschte ihm viel Glück.
Nuray umarmte ihn nicht. Damit hatte Alex auch nicht gerechnet.
Aber kurz bevor er sich zur Tür umdrehte, nickte sie ihm doch
tatsächlich zu. Alex winkte den beiden, dann trat er hinaus auf die
A 10.
Der Weg querfeldein war kürzer, und der
Fuß fühlte sich besser an, als Alex befürchtet hatte, und so
erreichte er Ferch schon nach einem halben Tag. Seine Begleiter
verließen ihn, als sie das Ortseingangsschild sahen.
Doch als Alex in die Stadt gehen wollte, wurde
er von drei Männern aufgehalten, die ihm mitteilten, Ferch sei
wegen einer Epidemie gesperrt. Näheres wollten sie nicht dazu
sagen, aber diese Auskunft reichte Alex. Er umging die Stadt
weiträumig in Richtung Osten.
Schon bevor er den Schwielowsee sah, an dem
Ferch lag, roch er es: Entweder leitete die Stadt seit dem
Torausfall ihre Abwässer einfach in den See – oder es waren
mittlerweile ziemlich viele Menschen hier am Wasser
versammelt.
Tatsächlich war es teravoll, schon hundert
Meter vor dem See. Überall standen Zelte, an offenen Feuern wurde
gekocht, und es gab auch ein Zelt der Bundeswehr, an dem irgendwas
ausgegeben wurde. Einige kleine, schmale Zelte waren am Rand der
provisorischen Siedlung verteilt. Alex zog aus Neugier eine Plane
beiseite. Shit, wie das stank! Kein Wunder, der Plastikbeutel auf
dem Gestell mit der Klobrille war fast voll.
Alex machte, dass er wegkam. Er schob sich
durch die Menge, bis er das Wasser erreichte, suchte sich ein
freies Plätzchen und schaute in seinem Rucksack nach, was Agathe
und Nuray ihm zu essen eingepackt hatten.
Kaum hatte er ein kaltes Kräuteromelett
ausgepackt, da ließ sich ein Junge, vielleicht zwölf Jahre alt,
neben ihm ins Gras fallen.
»Gibste mir was ab?«
Der Junge starrte das Omelett so hungrig an,
dass Alex nicht anders konnte, als ihm ein Stück zu geben. Sie
kauten und schauten dabei auf den See und die Segel- und
Ruderboote, die unentwegt an den Stegen an- und ablegten und immer
neue Menschen brachten.
Zum ersten Mal machte Alex sich Gedanken
darüber, wie er das Meer überqueren sollte, wenn er es denn
irgendwann erreichte. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Er
würde noch genug Zeit haben, darüber nachzudenken.
Alex bot dem Jungen einen halben Apfel
an.
»Danke, Mann! – Wo kommste denn so
her?«
»Berlin«, sagte Alex. »Ich wollte eigentlich in
Ferch jemanden treffen. Weißt du, was da los ist?«
»Tja, sie behaupten, dass da irgend so ’ne
Seuche wütet. Viele hier glauben das aber nicht. Na ja. Es gibt
Gerüchte.«
Der Junge machte eine Pause und schaute so
lange zu Alex’ Rucksack hinüber, bis Alex etwas Brot
hervorholte.
»Welche Gerüchte denn?«
»Dass es da in Ferch irgendwas gibt, von dem
sie niemandem was abgeben wollen. Ein Lager mit Millionen von
Konservendosen oder jeder Menge Cola oder so. Oder vielleicht ein
paar Autos von früher.«
Der Junge beugte sich verschwörerisch
vor.
»Ich glaub ja, dass sich in der Stadt
irgendwelche Oberbosse verkrochen haben, die es sich da gut gehen
lassen. Bestimmt haben die sogar Eiscreme und so was …«
»Ich hab jedenfalls keine«, stellte Alex klar,
weil der Junge schon wieder sehnsüchtig auf seinen Rucksack
blickte.
Der Junge stand auf. »Na dann, danke Mann. Und
pass gut auf deine Sachen auf. So ’n voller Rucksack, der zieht
Diebe an, weißte?«
In dieser Nacht schlief Alex so nah am
Bundeswehrzelt wie möglich. Er benutzte den Rucksack als Kissen und
hatte sich mehrere der Riemen um die Hand und den Körper
geschlungen. So würde er merken, wenn jemand sich daran zu schaffen
machte.
Vorher hatte er noch einiges aus dem Rucksack
in den Innentaschen seiner Jacke verteilt. Und dabei sah er zum
ersten Mal, was ihm die beiden alten Frauen alles mitgegeben
hatten. Neben den vielen leckeren Sachen hatten sie ihm auch von
allen Kräuterarzneien etwas eingepackt. Außer den Salben und
getrockneten Blättern und Wurzeln fand Alex noch einen Vorrat an
Öl, mit dem er weitere Salben anrühren konnte, außerdem meterweise
Bandagen aus Betttüchern und Hemden, die in Plastikbeutel verpackt
und mit der Aufschrift »abgekocht« versehen waren. Dazu gab es noch
zwei stabile scharfe Messer aus Agathes Küche und ein blaues Auge
aus Glas, wie es Nuray gegen den bösen Blick trug.
Alex lächelte, als er sich hinlegte. Zwar waren
seine Eltern und Celie weit weg und er kannte hier keinen Menschen,
aber er fühlte sich trotzdem nicht mehr ganz so allein. Und schon
morgen würde er Bernie wiedersehen. Inmitten all des Lärms und
Gestanks schlief Alex friedlich ein.
Am nächsten Morgen wachte er mit Hummeln im
Hintern auf. Er frühstückte und streifte eine Weile herum, aber er
wurde immer aufgeregter. Hoffentlich hatte Bernie es geschafft!
Hoffentlich kam er wirklich! Alex konnte einfach nicht still
sitzen. Und weil sein Fuß sich gut anfühlte, beschloss er gegen
Mittag, Bernie entgegenzugehen. Er vergewisserte sich bei mehreren
Bewohnern der Zeltstadt, wo Norden war, dann zog er los. Immer am
Ufer des Sees entlang, damit er Bernie auf keinen Fall
verpasste.
Zuerst hielt er sich an die alte Straße, die in
Sichtweite des Sees von Ferch aus nach Norden führte. Aber sie
entfernte sich immer weiter vom Wasser und so verließ er die Straße
wieder. Um auf direktem Weg zum See zu gelangen, musste er sich
durch einige Meter hohes Gras und Gestrüpp kämpfen. Kurz verlor er
dabei den See ganz aus den Augen. Wenn gerade jetzt Bernie
vorbeikam, würde er ihn verpassen! Alex sah sich nach einem
leichten Durchgang durch die Brombeersträucher um und nach einer
gefühlten Ewigkeit entdeckte er auch einen. Er kletterte hindurch,
den Blick immer in Richtung See gerichtet. Deshalb sah er die
umgestürzte Kiefer auch nicht. Alex fiel der Länge nach hin.
Er sog scharf die Luft ein, aber der erwartete
stechende Schmerz in seinem verletzten Fuß blieb aus. Vorsichtig
bewegte er ihn. Der Fuß tat ein bisschen weh, aber es war nicht
schlimmer als vorher. Erleichtert wollte Alex aufstehen, als er
hinter sich ein Knurren hörte. Langsam drehte er sich um.
Da stand ein großer grauer Hund und knurrte ihn
mit gefletschten Zähnen an. Und hinter ihm kamen noch mehr aus dem
Gebüsch. Zwei, drei, vier … Ein ganzes Rudel. Das waren keine
Hunde. Das waren Wölfe!
Ganz ruhig, sagte Alex zu sich selbst.
Wölfe griffen keine Menschen an, das hatte er mal in einem Holo-Vid
gesehen, nicht mal wenn sie hungrig waren. Außer sie hatten die
Tollwut.
Die Wölfe rückten näher. Und dann waren sie so
nah, dass Alex den weißen Schaum am Maul ihres Anführers sehen
konnte.
Mecklenburgische Seenplatte
Das Ufer bei Ferch wimmelte von Menschen,
das konnte Bernie schon von Weitem sehen. Wie sollte er Alex in
diesem Durcheinander bloß finden?
Wenn er Alex wäre, würde er versuchen, von der
Menschenmasse wegzukommen. Aber da sie hier verabredet waren, würde
er wohl in Sichtweite des Sees bleiben und hoffen, dass Bernie ihn
entdeckte.
Bernie paddelte näher ans Ufer und holte sein
MoPad hervor.
Die integrierte Kamera war nicht besonders gut,
aber er konnte damit die Uferstraße nah heranzoomen. Bernie ließ
den Blick langsam die Straße entlanggleiten. Wenn er Alex hier
nicht fand, würde er auch noch die andere Seite des Sees absuchen.
Jetzt schwenkte er erst einmal in Richtung der Stadt.
Rund um Ferch hatten unzählige Menschen ihr
Lager aufgeschlagen. Bernie sah viele Zelte und Armee-Cubes, aber
noch mehr Menschen, die unter freiem Himmel saßen und standen.
Überall brannten Feuer, an Ständen unter olivgrünen Planen gaben
Soldaten Essen aus, in einem großen weißen Zelt, das mit roten
Kreuzen markiert war, wurden offenbar Kranke behandelt.
Aber warum waren all diese Menschen hier am See
und nicht in der Stadt? Hoffentlich war dort keine Seuche
ausgebrochen! Dem Gestank nach zu urteilen, der über das Wasser
heranwehte, war das durchaus möglich.
Bernie wich einem Segelboot aus, dessen Kapitän
ihn wüst beschimpfte. Als er die Kamera wieder aufs Ufer richtete,
zeigte sie ihm einen Abschnitt, in dem weder die Zeltstadt noch die
Uferstraße zu sehen waren. Offenbar führte die Straße hier oben vom
See weg. Er wollte die Kamera gerade wieder in Richtung Ferch
schwenken, als er eine Bewegung zwischen den Bäumen am Ufer
wahrnahm. Bernie zoomte näher heran.
Da stand ein Mann zwischen den Bäumen, umringt
von mehreren Hunden. Der Mann wich zurück, doch die Hunde kamen
immer näher.
Noch mehr Zoom.
Das waren keine Hunde. Das waren Wölfe.
Und der Mann – war Alex!