Kapitel 6

Aus Jennas Tagebuch:
7. Februar 2023
In den letzten Monaten ist so unglaublich viel passiert, dass ich gar nicht mehr dazu gekommen bin, Tagebuch zu schreiben.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit, hat die UNO es geschafft, eine kleine Stadt im Himalaja flächendeckend mit Transtorqs auszustatten. Felix und ich konnten nicht vor Ort sein, weil die mittlerweile vierhundert Mitarbeiter von T. O. R. Tag und Nacht mit der Produktion von Transtorq-Kabinen beschäftigt sind – ohne zu wissen, was sie da eigentlich herstellen. (Die Scrambler bauen Felix und ich mit einem Ingenieur namens Pierre Weiß, der über die UNO zu uns gekommen ist, immer noch im Alleingang zusammen. Die einzelnen Bestandteile lassen wir anfertigen und glücklicherweise laufen die letzten Produktionsschritte, die wir selbst ausführen, mittlerweile vollautomatisch ab, sodass wir pro Tag mehrere Tausend Scrambler bauen können.) Ich habe wirklich keine Ahnung, wie Gaia Tremante es geschafft hat, dass die UNO T. O. R. voll finanziert! Aber seit die Tore auf dem Merkur installiert sind und gewaltige Energiemengen zur Erde schicken, sind vermutlich auch die letzten Skeptiker überzeugt. Außerdem hat Tremante erreicht, dass wir zum Schutz unserer Scrambler-Produktion ein riesiges Anwesen bekommen, in dem wir seit zwei Monaten leben und arbeiten. Horden von Arbeitern haben es in Rekordzeit auf dem Land, nicht weit von Dublin entfernt, aus dem Boden gestampft.
Im Himalaja wurden in den ersten Tagen nur unbelebte Dinge gebeamt, aber eben haben wir erfahren, dass jetzt auch Menschen die Transtorqs benutzen. Offenbar läuft alles ohne Störungen. Es ist also höchstens noch eine Frage von Wochen, bis die UNO die Bombe platzen lässt – oder bis etwas durchsickert. Wir werden in der nächsten Zeit jedenfalls – genau wie in den letzten Monaten – kaum zum Schlafen kommen, weil wir für den großen Run, der dann zweifellos einsetzen wird, so viel wie möglich vorproduzieren müssen.
Dass Felix immer nervöser wird und sich ein Katastrophenszenario nach dem anderen ausmalt, macht es nicht gerade einfacher. Und mit Celie habe ich schon wochenlang kaum noch Zeit verbracht. Ich beruhige mein Gewissen damit, dass sie ein so enges Verhältnis zu ihrem Vater hat, dass sie ihre Mutter hoffentlich kaum vermisst.

Mecklenburgische Seenplatte

Bernie verlagerte das Gewicht auf sein linkes Bein. Ein Zweig knackte und sofort waren die Hasen zwischen den Bäumen verschwunden.
Tamade! Bernie lief dorthin, wo vor zwei Sekunden noch die Hasen gehockt und gegrast hatten. Oder wie man das bei Hasen nannte. Unschlüssig betrachtete er die Pflanzen, die dort wuchsen. Da war eine, die die Hasen angeknabbert hatten. Die hatte Bernie schon mal in einem Garten gesehen, da war er ziemlich sicher. Und wenn die Hasen sie fraßen, konnte sie ja kaum giftig sein.
Mit dieser Taktik – beobachten, was die Tiere des Waldes fraßen und was nicht – hatte Bernie sich in den letzten Tagen schon einige neue Nahrungsquellen erschlossen. Da waren diese großblättrigen Kräuter, die die Rehe so gern mochten; kleine blaue Beeren und harte Dinger, die Bernie für Eicheln hielt und die er Eichhörnchen hatte fressen sehen (die Tiere hießen ja sicher nicht umsonst so).
Bernie pflückte das Hasenkraut und steckte sich erst mal nur ein Blättchen in den Mund.
»Schmeckt’s?«
Bernie fuhr herum. Der Mann, bei dem Bernie sofort an diesen alten Filmhelden Indiana Jones denken musste, hatte sich lautlos angeschlichen. Bernie hatte keine Zeit mehr, sein Messer zu ziehen, denn der Mann stand keinen Meter von ihm entfernt. Wenigstens hielt auch er keine Waffe in der Hand. Aber an seinem Gürtel hingen Unmengen davon.
»Keine Angst.« Der Mann lächelte und entblößte eine Reihe makellose Zähne. Das deutete darauf hin, dass er kein Outlaw war, sondern regelmäßig einen Zahnarzt aufsuchte. Vielleicht ein Biologe oder ein Survivalist.
Bernie entspannte sich ein wenig.
»Ich hab keine Angst. Nur Hunger.«
Der Mann lachte schallend. »Na, von dem Waldsauerklee wirst du aber nicht satt werden! Jedenfalls solltest du nicht so viel essen, bis du satt bist. Waldsauerklee ist giftig, wenn man größere Mengen davon zu sich nimmt.«
»Oh.« Bernie ließ die Blätter fallen, die er noch in der Hand hielt.
Der Mann hockte sich auf den Boden und grub mit einem Messer in der Erde. Dann hielt er Bernie eine schmutzige Wurzel hin. »Da würde ich eher was hiervon essen.«
Bernie wischte die Erde ab, so gut es ging, und biss hinein. »Igitt!«
Der Mann lachte wieder und stand auf. »Tja, Löwenzahn ist bitter, aber nahrhaft.« Er streckte eine schwielige Hand aus. »Ich bin übrigens Karl.«
Wie sich herausstellte, war Karl tatsächlich Biologe und Survivalist. Er lebte den größten Teil des Jahres abseits der Tore in der Wildnis und kehrte nur hin und wieder in die Zivilisation zurück, um Vorträge zu halten und Kleidung zu kaufen. Und zum Zahnarzt zu gehen, ergänzte Bernie stumm. Normalerweise hielt Karl sich von Menschen fern, aber Bernie hatte die für sein Ego recht zweifelhafte Ehre, dass Karl ihn unter seine Fittiche nahm. Bernie sah wohl so hilflos aus, dass Karl ihm allein kaum Überlebenschancen einräumte.
An diesem Tag lernte Bernie mehr über die Natur, als er je hatte wissen wollen. Karl zeigte ihm essbare Kräuter wie die Knoblauchsrauke und die Brennnessel – Brennnesseln konnte man essen?! – und Baumfrüchte wie Kastanien und Bucheckern, die gerade heranzureifen begannen. Wenn Bernie ans Wasser kam, konnte er auch Schilf und Teichlinsen essen. Karl wollte Bernie außerdem beibringen, wie man mit Schlingen Hasen und Rehe fing, aber das lehnte Bernie so vehement ab, dass Karl es schließlich aufgab.
»Ist vielleicht auch besser so«, meinte er. »Hier hat es in letzter Zeit einige Fälle von Tollwut gegeben.« Er grinste. »Und wir wollen ja nicht, dass du von einem tollwütigen Hasen angegriffen wirst.«
Karls Vorschlag, sich zur Deckung seines Proteinbedarfs an Insekten zu halten, begeisterte Bernie auch nicht gerade. Aber das konnte er sich noch eher vorstellen, als große Tiere zu töten. Na ja, vielleicht kam es ja gar nicht so weit.
Karl zeigte Bernie außerdem, wie er die Fährten von verschiedenen Tieren und von Menschen erkennen konnte und wie man Wasser fand. Es war so einfach, dass Bernie nun wirklich auch selbst darauf hätte kommen können: Tiere strebten irgendwann alle zum Wasser. Fährten von mehreren Tieren neben- und übereinander wiesen darum auf einen Weg zum Wasser hin – wo sie sich gabelten, ging es vom Wasser weg.
Bernie hatte das Thema »Tore« den ganzen Tag über vermieden, aber als sie am frühen Abend an einem Lagerfeuer kochten, das Karl entfacht hatte, fragte er ihn doch danach. Karl runzelte die ledrige Stirn und rührte schweigend in dem Hasen-Brennnessel-Eintopf. Schließlich sagte er: »Wie es aussieht, funktionieren die Tore nicht mehr.« Er machte eine Pause, doch Bernie sagte nichts. »Ich selbst habe in den letzten Tagen drei Tore besucht – alle tot. Außerdem habe ich wegen meiner Forschungen immer ein MoPad dabei und auch das bekommt keine Verbindung mehr zum Netz. – Du wirkst gar nicht überrascht«, fügte er hinzu.
»Mmm«, sagte Bernie nur. Er war wirklich nicht so überrascht, wie er es erwartet hätte. In den letzten Tagen hatte er sich zwar selbst ständig davon zu überzeugen versucht, dass es keinen weltweiten Tor-Ausfall gab – aber der Sherlock Holmes in seinem Kopf hatte nicht lockergelassen und lautstark widersprochen.
Bernie schob den Schock über diese Nachricht beiseite, dahin, wo die Bilder von Camille und dem Bären lagen. Was sollte er nun tun? Schwierig.
Was wollte er tun? Das war einfacher: Er wollte so schnell wie möglich in eine große Stadt. Köln war zu weit weg, aber Berlin bot sich an. Das war die größte Stadt in der Nähe, außerdem fand er vielleicht sogar Alex dort. Bevor Bernie hierhergebeamt war, hatte er sich eine Karte angesehen, und darum wusste er, dass die Havel nach Süden fast bis zur A10 führte, auf der er dann direkt nach Berlin gelangen konnte. Bernie war zwar noch nie gepaddelt, aber das würde er schon lernen. Und auf dem Wasser würde er sich erheblich sicherer fühlen als an Land, wo jederzeit ein Bär aus dem Gebüsch brechen konnte.
»Karl, wie komme ich am schnellsten zur Havel?«
»Muss das sofort sein, oder essen wir vorher noch was?«, erwiderte Karl.
Beim Essen erzählte er, dass er Gerüchte über den Ausfall der Tore bei den Outlaws aufgeschnappt hatte. Von metallzersetzenden Bakterien, die in geheimen Forschungslabors gezüchtet worden waren, bis zu einem Meteoriteneinschlag in Kanada reichten die Vermutungen. Aber da es nur wenige Informationen gab, wusste niemand etwas Genaues.
»Die Outlaws in der Siedlung da hinten«, Karl deutete nach Osten, »haben zwar ein altes Radio, das noch läuft, aber im Rundfunk bringen sie auch nicht viel anderes als Aufrufe und Warnhinweise der offiziellen Stellen und natürlich Suchmeldungen. – Über die Suchmeldungen finden sich erstaunlich viele Leute. Wahrscheinlich wegen der CB-Funker. Die können sich als Einzige noch über größere Entfernungen unterhalten.«
CB-Funker. Radios. In Bernie begann es zu arbeiten. Und als sie den Eintopf aufgegessen hatten, wusste er, was er zu tun hatte. Dafür brauchte er allerdings das Radio der Outlaws. Und das würden sie ihm nicht so einfach überlassen … Aber wenn er zum Wasser wollte, kam er sowieso an ihrer Siedlung vorbei. Da konnte er sich ja mal umschauen.
In dieser Nacht schlief Bernie zum ersten Mal wieder gut, seit Camille … seit er hier war. Denn Karl hatte sich gleich neben dem Roachy in eine Mulde gelegt und Bernie war sicher, dass er wach werden würde, wenn Gefahr drohte.
Als Bernie am nächsten Morgen aufwachte, war Karl schon weg. In einer »Hand« des Roachys fand Bernie eine Skizze mit der Siedlung der Outlaws, der Havel, Berlin und der A 10. Denk dran: Nicht zu viel Waldsauerklee essen, hatte Karl darunter geschrieben.
Bernie konzentrierte sich auf seinen Plan. Als Erstes musste er das Radio der Outlaws stehlen. War bestimmt auch nicht schwieriger, als Ameisen zu essen. Er brauchte das Radio, und er würde es bekommen, irgendwie. Dann würde er es zu einem Empfänger für CB-Funk umbauen – wenn es ihm gelang, den Frequenzbereich entsprechend zu verändern – und sein MoPad zum Sender machen. Vor allem das mit der Hochfrequenztechnik war knifflig, aber es war seine einzige Chance.
Denn er konnte nicht in die Zivilisation zurückkehren, ohne zu wissen, was ihn da erwartete. Eines war klar: Die Welt, wie er sie kannte, existierte nicht mehr. Und mit jedem weiteren Tag veränderte sie sich dramatisch. Das konnte sich jeder mit ein bisschen gesundem Menschenverstand ausrechnen.
Mit dem Zusammenbruch des Tornetzes waren die Menschen an dem Ort gefangen, an dem sie sich gerade aufhielten – wer wusste das besser als Bernie! Aber viel problematischer war, dass damit auch das Internet ausgefallen war. Das ließ sich auch nicht einfach wieder auf die alten Leitungen umstellen – nicht nur die anfälligen Seekabel waren mit Sicherheit defekt, auch alle anderen Leitungen waren seit über zehn Jahren nicht gewartet worden. Und so war es nur eine Frage von Tagen, bis die Wirtschaft zusammenbrach. Einen Internetausfall hatte es in der Zeit vor den Toren ein paarmal gegeben, mit unzähligen Toten im Luft- und Straßenverkehr und vielen Milliarden Euro Schaden innerhalb weniger Stunden.
Noch schneller würde sich der Wegfall des Stroms bemerkbar machen. Bernie hatte in Geschichte mal eine Vid-Präsentation über den großen Stromausfall von 2018 geschrieben, darum wusste er, dass zwei Tage die kritische Grenze für fast alles waren. Die meisten Einrichtungen mit Notaggregaten – Krankenhäuser, Wasserwerke – hatten für nicht mehr als vierundzwanzig Stunden Treibstoff. Kühlanlagen, Industrieproduktion … all das fiel dann aus. Städte wie Manhattan, die unter dem Meeresspiegel lagen, würden versinken, weil sie ohne die strombetriebenen Pumpen überschwemmt wurden. Und all das, weil der Strom in den letzten Jahren ausschließlich in den Wüsten, an den Küsten und vor allem auf dem Merkur produziert und durch die Tore transportiert worden war. Sogar die Solaranlagen, die nach der Energiewende um 2013 an jeder Ecke gebaut worden waren, hatte man verfallen lassen oder sogar abgebaut, weil man sie nach der Erfindung der Tore nicht mehr brauchte. Das rächte sich jetzt, und nur die, die direkt in der Wüste oder an der Küste lebten – und natürlich die Mobilen-Kommunen, die die dezentrale Stromerzeugung nie aufgegeben hatten –, hatten jetzt noch direkten Zugang zur Energie.
Bernie konnte sich gut vorstellen, was alles wenige Kilometer von ihm entfernt geschah, auch wenn er es lieber nicht gewusst hätte. Städte ohne Strom und Wasser, die zu Todesfallen geworden waren, steigende Abwasserfluten, Gebiete ohne Nahrung und vergammelnde Nahrungsberge an Orten, wo kein Mensch sie fand, Krankheiten, für die es keine Medizin mehr gab, Hunger, Gewalt und Tod …
Nur gut, dass es auf der Erde seit der Einführung der Tore wenigstens keine Kernkraftwerke und kaum noch chemische Industrie gab. Sonst wäre der GAU wohl kaum noch zu verhindern gewesen. All das, was die Menschen nicht in ihrer Nähe haben wollten, war auf den Mond oder – wenn es nicht gleich den ganzen Planeten gefährdete – in die gesperrte Zone oben in Kanada verlegt worden.
Wenn man das alles bedachte, war Bernie hier in der Wildnis vermutlich noch am besten dran. Aber vielleicht machte er sich auch zu viele Gedanken. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm. Vielleicht hatten die Rettungsdienste und Hilfswerke alles im Griff und die Menschen passten sich schnell an die neue Situation an. Wie auch immer: »Vielleicht« war kein Wort, mit dem Bernie viel anfangen konnte. Spekulieren war leicht, aber das Einzige, was zählte, waren Fakten. Und die würde er nur kennen, wenn er sich selbst ein Bild machte. Was er auf jeden Fall tun würde. Denn Bernie war einfach nicht geschaffen für die Wildnis – auch wenn er dank Karl inzwischen einen Johannisbeerstrauch von Christophskraut unterscheiden konnte.
Es wurde Zeit, aufzubrechen.
Aber wie sollte er bloß ein Radio aus einer Siedlung voller Outlaws klauen? Er musste sich etwas einfallen lassen, etwas unglaublich Cleveres und …
Hinter ihm raschelte es und Bernie wäre fast gestorben vor Schreck. Er fuhr herum, in der Erwartung, den Bären zu sehen. Aber es war nur der Roachy. Doch irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
Bernie hatte jede der essbaren Pflanzen, die Karl ihm gezeigt hatte, holografiert und den Roachy am Morgen mit dem Auftrag losgeschickt, diese Pflanzen zu suchen, sie mit den fingerähnlichen Gliedern an seinen »Händen« auszugraben oder zu pflücken und sie in einer Tasche zu sammeln, die Bernie unter den vorderen Teil des dreigliedrigen Körpers gehängt hatte.
Der Roachy hatte auch ganze Arbeit geleistet: Die Tasche war voll. Doch dafür hatte er einen hohen Preis bezahlt: Das hintere linke Bein war am zweiten Gelenk abgetrennt. Der Roachy konnte noch gehen, aber er bewegte sich langsam und unsicher.
War das ein Bär gewesen oder ein Mensch? Oder irgendwas noch Gefährlicheres?
Es machte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Damit machte Bernie sich nur verrückt. Also konzentrierte er sich auf den beschädigten Roachy.
Eine Weile ging es wahrscheinlich gut – der Roachy hatte ja noch drei funktionierende Beine. Aber wenn Bernie das kaputte Bein nicht ersetzen konnte, würde jede weitere Beschädigung an einem der übrigen Beine dazu führen, dass Bernie den Roboter zurücklassen musste. Zusammen mit einem Großteil des Werkzeugs und der anderen Dinge, die der Roachy transportierte. Und das kam nicht infrage. Denn der Roachy und das, was er trug, war vielleicht alles, was Bernie in der Welt ohne Tore noch besaß. Hier in der Wildnis half ihm das beim Überleben. Und draußen in der Zivilisation auch: Dort konnte jedes Stück Elektronik aus dem Tor und auch jeder Teil des Roachys selbst von unschätzbarem Wert sein.
Bislang hatte Bernie vorgehabt, den Roboter in der Nähe der Outlaw-Siedlung zu verstecken und sich auf seiner Flucht von ihm tragen zu lassen. Der Roachy war in der Lage, bis zu vierzig Stundenkilometer schnell zu laufen, schneller als jeder Verfolger.
Vielmehr: Er war dazu in der Lage gewesen. Wenn er jetzt fünf Kilometer in der Stunde schaffte, war das vermutlich schon gut.
Okay, dann kam jetzt Plan B zum Einsatz. Mal überlegen …
Er würde den Roachy am Fluss verstecken (wenn er den Fluss fand), sich ins Lager der Outlaws schleichen (wenn er es fand), das Radio stehlen (wenn er es fand) und unentdeckt wieder abhauen, am Fluss (wenn er ihn wiederfand) den Roachy in ein Kajak laden, selbst ins Kajak springen und nach Süden paddeln (wenn er das mit dem Paddeln schnell genug raushatte, bevor ihn die wütenden Outlaws fanden und zu Hackfleisch verarbeiteten).
Ein packy Plan, das musste man schon sagen. Der alte Bernie hätte schon bei Punkt 2 des Plans entsetzt abgewunken und sich hinter seinem Computer verkrochen. Aber hier gab es keinen Computer und sein entsetztes Winken konnte auch niemand sehen. Deshalb sparte Bernie sich das alles und kam direkt zur Sache.
»Dann wollen wir mal das Wasser suchen«, sagte Bernie zu dem Roachy. Er holte Karls gezeichnete Karte hervor und ging los. Der Roachy humpelte hinter ihm her.
Es war schon früher Abend, als Bernie endlich den Fluss erreichte. Aber natürlich lag kein Kajak da und wartete auf ihn. Das wäre ja auch zu einfach gewesen.
Bernie trat ans Ufer und schaute den Fluss hinauf. Er entdeckte zwei Lagerfeuer. Aber wer wusste schon, was für Menschen das waren, die sie entzündet hatten? Sicher keine, die ihm ein Boot schenken wollten. Er blickte in die andere Richtung. Nicht weit entfernt war ein Steg, daneben sah Bernie noch zwei weitere und etwas vom Ufer entfernt eine Holzhütte. Zu sehen war niemand. Vielleicht hatte er Glück und fand dort ein Boot.
Er führte den Roachy ein Stück zurück in den Wald. Vorsichtig gingen sie in Richtung der Stege. Kurz bevor sie sie erreicht hatten, wurde Bernie klar, dass sich ein silbern glänzender Roachy nicht zum unbemerkten Anschleichen eignete. Er wollte ihn schon zurücklassen, als ihm die Tarnplane wieder einfiel.
Ja, sie passten beide darunter. Zwar bewegten sie sich nun alles andere als lautlos. Aber Bernie konnte nur hoffen, dass, wer immer sie hörte, seinen Ohren nicht trauen würde, weil er sie im Dämmerlicht nicht sehen konnte.
Als sie die Holzhütte erreichten, wurde klar, dass Bernie sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Die Hütte war in der Zeit vor den Toren das Empfangshäuschen eines Campingplatzes gewesen. Doch nun war sie verfallen und ebenso verwaist wie der Rest des Geländes. Zuerst hatte man den Platz aber noch ausgeschlachtet. Jedes Stück Metall und Holz hatte man weggeschleppt.
Und sicher auch alle Boote, dachte Bernie. Trotzdem ging er am Ufer entlang, suchte im dämmrigen Abendlicht jede Bucht ab, spähte hinter jeden Baum und unter jeden Steg.
Und am dritten Steg entdeckte er es. Gut verborgen unter einer grün-braunen Plane, halb im Wasser unter einer gewaltigen teilweise freigelegten Baumwurzel. Kein Wunder, dass es bisher niemand gefunden hatte. Auch Bernie hätte es übersehen, wenn er nicht auf einen losen Ast getreten wäre, wodurch er den kleinen Abhang zum Wasser hinunterrutschte. Bei dem Versuch, sich abzufangen, trat er mit einem Bein in das versteckte Boot.
Schlammverschmiert krabbelte er wieder heraus. Der Roachy stand oben neben dem Baum.
»Du brauchst gar nicht so zu gucken«, sagte Bernie. »Komm lieber runter.«
Als der Roachy im Boot war, ließ Bernie ihn die verbliebenen Beine einklappen und deckte ihn mit einer Plastikplane zu. »Ich bin bald zurück«, sagte er.
Es wurde Zeit, dass er wieder unter Menschen kam. Sonst sang er dem Roachy demnächst noch Gutenachtlieder vor.
Kurz dachte er daran, sich einfach neben den Roboter zu legen und zu schlafen. Er war teraerschöpft und bis zur Outlaw-Siedlung war es mindestens eine halbe Stunde zu laufen. Aber Bernie wollte auf keinen Fall im Dunkeln im Wald unterwegs sein. Die Gefahr, dass er sich verletzte, wenn er über einen umgestürzten Baum stolperte oder in ein Erdloch trat, war einfach zu hoch. Ganz zu schweigen von den nachtaktiven Tieren, an die Bernie gar nicht erst denken wollte (waren Bären eigentlich nachtaktiv?). Also kletterte er den Abhang wieder hoch und lief, so schnell er konnte, in die Richtung, in der laut Karls Plan die Siedlung der Outlaws lag.
Alles ging gut. Bernie verlief sich nicht, er traf weder auf Bären noch auf Menschen und er brach sich auch kein Bein. Nach einer guten halben Stunde erreichte er die Siedlung der Outlaws, die genau dort lag, wo Karl sie eingezeichnet hatte. So lautlos wie möglich schlich er sich an das kleine Dorf der Ausgestoßenen an.
Die mecklenburgische Wildnis war eine Schutzzone, deshalb durften sich bis auf Wissenschaftler und manchmal einen Reporter keine Menschen hier aufhalten. Häuser zu bauen war generell verboten. Trotzdem standen hier acht Häuser um einen Platz herum. Nur zwei bestanden allerdings aus Holz, die anderen waren aufblasbare Armee-Cubes. Wenn eine Kontrolle kam, konnte man damit ohne großen Aufwand umziehen.
Bernie zählte zwölf Erwachsene, die es sich auf den Bänken unter einem gewaltigen Baum bequem gemacht hatten. Manche von ihnen aßen, einige waren mit Nähen oder Stricken beschäftigt. Und alle lauschten dem Radio, das auf dem Tisch in der Mitte stand. Nur die beiden Kinder, die auf dem Waldboden »Himmel und Hölle« spielten, ließen sich von dem Radio nicht stören, obwohl es so laut war, dass sogar Bernie, gut fünfzig Meter entfernt, jedes Wort verstehen konnte.
»Unbestätigten Meldungen zufolge sollen kanadische Mobile für den Torausfall verantwortlich sein. Nach wie vor ist jedoch ungeklärt, wie das Tornetz, das sich in der Vergangenheit als so zuverlässig erwiesen hat, sabotiert werden konnte. Unsere Korrespondenten gehen davon aus, dass jemand aus dem innersten Kreis von T. O. R. daran beteiligt gewesen sein muss. Es kursieren sogar Gerüchte, dass die kürzlich unter mysteriösen Umständen verstorbene Schöpferin der Tore, Jenna Kranen, verantwortlich für die Katastrophe sein soll. Noch liegen uns keine Beweise für diese These vor und Kranens mögliches Motiv liegt ebenfalls noch im Dunkeln. Allerdings haben wir aus gut unterrichteten Kreisen erfahren, dass Jenna Kranen sich wegen ihres Verrats das Leben genommen haben soll.«
Bernie wäre beinahe aufgesprungen und hätte geschrien: »So ein Blödsinn! Und diese Murkhas schimpfen sich Journalisten?!« Aber er riss sich zusammen. Jenna war tot und konnte diese loco Anschuldigungen nicht mehr hören. Er hoffte nur, dass Celie in ihrer Kommune nichts von diesem Quatsch mitbekam.
Langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Auf dem Platz vor ihm begannen die Solarlampen zu leuchten. Es sah nicht so aus, als wollten die Outlaws bald ins Bett gehen. Bernie hatte zwar die Tarnplane dabei, doch auf dem freien Platz nutzte ihm die gar nichts. Er würde warten müssen, bis alle schliefen. Bernie gähnte, hockte sich hinter ein Gebüsch und richtete sich auf eine lange Nacht ein.
Da fasste ihn jemand so fest an der Schulter, dass er aufschrie.
»Na, wen haben wir denn da?«, knurrte eine tiefe Stimme. Dann packten ihn vier kräftige Arme und Bernie wurde weggezerrt.
Die beiden Männer brachten Bernie nicht zu dem Dorfplatz, sondern schleppten ihn außen um die Siedlung herum in eine etwas abseits gelegene Hütte. Dort warfen sie Bernie zu Boden und der eine fesselte ihn.
»Lohnt die Mühe nicht«, knurrte der andere. Bernie sank das Herz in die Hose. In der Hütte war es schummrig, trotzdem konnte er sehen, dass der Mann, der fast ebenso breit wie groß war, eine lange Narbe am Unterarm hatte. Sein grimmig verzerrtes Gesicht konnte er ebenfalls gut erkennen. Bernie zweifelte nicht daran, dass dieser Mann ihn, ohne zu zögern, umbringen würde.
»Äh …« Das war kein guter Beginn. Bernie versuchte es noch mal: »Ich bin nur ein Outlaw, der sich hier noch nicht auskennt«, sagte er. »Warum lassen Sie mich nicht einfach gehen?«
Die Miene des Mannes hellte sich auf. Dann brach er in ein dröhnendes Lachen aus. »Guter Witz!«, rief er. »Dafür könnte ich dich fast verschonen.«
»Wir können ihm doch einfach seine Sachen abnehmen und ihn laufen lassen.« Der Mann, der Bernie die Hände gefesselt hatte, kam hinter seinem Rücken hervor. »Selbst wenn er kein Outlaw ist, kann er uns nicht verraten, Jake. Er kann ja nirgendwohin, genau wie wir.«
Bernie hörte kaum, was der Mann sagte. Denn im selben Moment, als er sein Gesicht gesehen hatte, hatte er ihn erkannt: Elias. Er war mit der stahlharten Frau zusammen gewesen, die Bernie und Camille beobachtet hatten.
Jakes Lachen ließ seinen gewaltigen Körper beben. »Laufen lassen? Seh ich vielleicht aus wie Jesus?«
Bernie überlegte fieberhaft. Es nützte ihm gar nichts, dass Elias sich für ihn einsetzte. Elias hatte hier offensichtlich nichts zu sagen. Aber was konnte Bernie sonst tun? Irgendwas im Tausch gegen sein Leben anbieten? Klar, er hatte die Tarnplane im Rucksack. Aber die konnten sie ihm auch einfach so wegnehmen.
Als hätte Jake seine Gedanken gelesen, schnappte er sich Bernies Rucksack und wühlte darin herum.
»Ein Messer und eine alte Plane, das ist alles.« Jake spuckte auf den Boden. »Schon allein für diese miese Ausbeute sollte ich dich umbringen.«
Bernie konnte sich nicht so recht darüber freuen, dass Jake die erstaunlichen Fähigkeiten der Tarnplane nicht erkannt hatte. Wenn er tot war, war es sowieso völlig egal, wer die Tarnplane bekam.
Mit einem Schlag begriff Bernie, dass es hier um sein Leben ging. Er begann zu zittern.
»Du passt auf ihn auf, ich hol einen Strick«, hörte er Jake durch das Rauschen in seinen Ohren. Die Tür klappte. Bernie war mit Elias allein.
Er versuchte, im Dämmerlicht etwas zu erkennen. Die Hütte wurde offenbar für Handwerksarbeiten und als Lager für Gartengeräte benutzt. Bernie sah eine Werkbank aus Holz, eine Leiste, an der Hämmer, Sägen, Schraubenzieher und andere Werkzeuge hingen, und an einer Wand lehnten Schaufeln und ein Rechen. Alles sehr praktisch, um zu kämpfen, aber leider völlig unerreichbar für Bernie.
Plötzlich war da Camilles Stimme in seinem Kopf. »Wenn es knifflig wird, kommt es nicht so sehr auf dein technisches Wissen an, sondern darauf, die beteiligten Menschen richtig einzuschätzen.« Ja, das hatte sie zu ihm gesagt. Vor einer Ewigkeit, als die Welt noch in Ordnung und er ein angehender Tortechniker gewesen war. Die Welt war seitdem zusammengebrochen, aber Camilles Rat galt immer noch.
Dumm nur, dass Leute einzuschätzen nicht gerade zu Bernies hervorstechenden Fähigkeiten gehörte. Doch er musste es versuchen, sonst war er bald tot.
Er schaute zu Elias hoch, der mit betrübter Miene vor ihm stand. »Ich will nicht sterben«, sagte er und fixierte den Mann, bis der ihm nicht mehr in die Augen sehen konnte.
»Ich kann nichts dagegen machen«, flüsterte Elias. »Jake bringt mich um …«
So wurde das nichts. Der Typ hatte viel zu viel Angst, als dass Bernie mit der Mitleidstour etwas hätte ausrichten können. Dann musste es eben anders gehen.
»Au, tamade, tut das weh!« Er krümmte sich zusammen und stöhnte. Elias kam näher. Bernie stöhnte noch heftiger. »Meine Hand, o Gott, ich spüre sie nicht mehr!« Er sah flehentlich zu Elias hoch, der ganz offensichtlich nicht wusste, was er tun sollte. »Mach die Fesseln nur ein bisschen lockerer, Mann, bitte!«, rief Bernie. Zögernd ging Elias in die Hocke, um sich Bernies Hände anzusehen – als Bernie den Oberkörper ruckartig nach vorn beugte und die hinter seinem Rücken gefesselten Arme dabei nach oben schleuderte. Mit einer Faust traf er Elias am Kopf, der benommen zu Boden ging. Alle Muskeln angespannt, sah Bernie auf Elias hinunter. Noch einmal würde er, gefesselt wie er war, sicher nicht so gut treffen …
Aber Elias stöhnte nur noch leise und rührte sich nicht mehr.
Bernie fühlte etwas Nasses an seiner Hand. Blut. Hoffentlich hatte er Elias nicht ernsthaft verletzt … Er robbte über den Boden der Hütte bis zu der Ecke mit der Werkbank. Er lehnte sich an die Wand und schob sich hoch, bis er stand. Ja, da war ein Schraubstock, wie er auf keiner Werkbank fehlen durfte. Und etwas weiter hinten lag ein Meißel.
Bernie sprang und warf sich nach vorne auf die Werkbank. Er schlug mit dem Kiefer auf das Holz und biss sich auf die Zunge. Aber der Meißel war nun direkt neben seiner Wange. Mit den Zähnen bekam Bernie den Griff zu fassen und ließ sich mit dem Meißel im Mund wieder von der Bank gleiten.
Elias stöhnte und Bernie hörte, wie er sich bewegte. Er musste sich beeilen!
Er bugsierte den Meißel zwischen die Klemmbacken des Schraubstocks, aber da er ihn nicht festhalten konnte, fiel er immer wieder nach unten durch. Bernie überlegte fieberhaft. Er konnte einen Computer im Schlaf zerlegen und wieder zusammenbauen, da würde er doch wohl dieses lächerliche Problem lösen können!
Wieder fiel der Meißel, aber diesmal blieb er an einer Klemmbacke hängen. Das war es! Schnell platzierte Bernie den Meißel mit dem Mund so, dass er schief in dem Schraubstock stand. Der Griff lag unten im Schraubstock auf, das obere Ende ragte oben heraus. Mit einer Schulter hielt Bernie den Meißel in dieser Position, während er mit dem Mund den Griff des Schraubstocks packte und ihn zu drehen begann.
Als der Meißel endlich fest im Schraubstock saß, drehte Bernie sich um und begann hastig, die Fesseln auf seinem Rücken mit dem Meißel durchzusägen. Er hatte keine Ahnung, wie lange seine wacklige Konstruktion halten würde, aber er musste sich beeilen. Elias kam wieder zu sich und Jake würde auch bald zurück sein. Immer wieder zerrte Bernie an seinen Fesseln, um zu prüfen, ob er sie schon zerreißen konnte.
Gerade kam Elias langsam auf die Füße, als die Fesseln endlich nachgaben. Bernie schnappte sich einen Hammer von der Werkzeugleiste und sagte: »Lass mich vorbei. Ich will dir nicht noch mehr wehtun.« Und Elias, der sich den Kopf hielt, machte einen Schritt zur Seite und ließ ihn durch. Einfach so.
»Danke«, stieß Bernie überrascht hervor.
Er rannte aus der Hütte, in Richtung Wald. Aber da kam ihm Jake entgegen, einen Strick in der Hand! Hinter ihm liefen mindestens zehn Erwachsene und mehrere Kinder her. Ob sie Jake helfen wollten, Bernie aufzuhängen, oder ob sie versuchten, ihn davon abzuhalten, war Bernie in diesem Moment teraegal. Er drehte sich um und lief auf den Platz zu, auf dem der Tisch mit dem Radio stand, der jetzt fast leer war, bis auf zwei alte Frauen und drei Kinder.
Bernie wagte es, sich noch einmal kurz umzusehen. Hinter ihm wurde heftig diskutiert, darum hatte Bernie immer noch einen guten Vorsprung. Und so rannte er über den Platz, während er in seiner Hosentasche nach etwas kramte, griff sich im Laufen das Radio und war in der Dunkelheit verschwunden, bevor irgendeiner der Outlaws auch nur bemerkte, dass er sie bestohlen hatte.
Noch länger dauerte es, bis jemand das Medaillon entdeckte, dass Bernie dagelassen hatte.
Ein Bär mit Schaum vor dem Mund schrie: »Hängt ihn auf!«, und aus dem Radio plärrte eine Roboterstimme: »Countdown zur Sprengung der Erde läuft: Zehn, neun, acht …«
Bernie schreckte aus dem Schlaf hoch, warf die Tarnplane zur Seite und holte tief Luft. Angewidert schnippte er einen dicken braunen Käfer von seinem Bein, dann schaute er sich um.
Er lebte noch, das war die wichtigste Erkenntnis des frühen Morgens. Nach dem, was gestern passiert war, war das schon ein kleines Wunder. Als Bernie noch einmal darüber nachdachte, dass Elias am Ende nicht mehr versucht hatte, ihn aufzuhalten, wurde ihm plötzlich klar: Elias hatte ihn von Anfang an gehen lassen wollen. Und auch, nachdem Bernie ihn angegriffen hatte, hatte Elias nicht gewollt, dass Jake Bernie umbrachte. Seine Verletzungen hatten ihm die Gelegenheit gegeben, Bernie die Flucht zu ermöglichen, ohne dass Jake Elias für einen Verräter hielt.
Bernie stand auf. Es sah ziemlich düster aus – meteorologisch gesprochen. Zwar regnete es nicht mehr, doch es hingen dicke Wolken am Himmel. Die Sonne spendete schon dämmriges Licht, war aber noch nicht aufgegangen.
Bernie wischte den Tau von der Plane, packte sie zusammen und ging los. Die Spuren, die er in der Nacht zuvor hinterlassen hatte, waren deutlich zu sehen.
Noch vor einer Woche hätte er sie überhaupt nicht bemerkt.
Das Boot war noch da und der Roachy ebenfalls. Bernie wollte einsteigen – aber das ging nicht. »Tamade!«, schimpfte er. Wie es aussah, passte entweder der Roachy oder Bernie in das Boot – aber nicht beide zusammen.
Bernie kletterte einige Schritte den Abhang hoch. Der Roachy, dessen visuelle Sensoren jetzt nicht mehr von der Bootsplane verdeckt waren, kam hinter ihm her. Bernie sah ihn vorwurfsvoll an, auch wenn er wusste, dass der Roboter nichts dafür konnte, dass er so groß war.
Es half nichts: Er musste ihn zurücklassen.
Schweren Herzens durchsuchte er sämtliche Koffer und Fächer des Roachys und nahm alles heraus, worauf er nicht verzichten konnte. Das Werkzeug, das er brauchte, um das Radio umzubauen; Nahrung und Wasser; und dann noch so viele Teile des auseinandergebauten Tors, wie ins Boot passten.
Als er das Wasser mithilfe eines Stücks Torwand aus dem Boot geschöpft hatte und mit dem Doppelpaddel in der Hand darin saß, schaute Bernie zu dem Roachy zurück, der auf seinen dreieinhalb Beinen am Ufer stand. Herrje, es war nur ein Roboter, kein bedauernswerter Hund oder so was! Trotzdem fiel es Bernie schwer, ihn zu verlassen.
»Pass auf dich auf«, sagte er, auch wenn das total tonto war. Aber hier hörte ihn ja niemand.
(Außer dem Roachy. Der hatte schließlich auch akustische Sensoren.)
Es dauerte einige Zeit, bis Bernie nicht mehr Gefahr lief, sich mit dem Paddel selbst k. o. zu schlagen. Danach klappte es zwar mit dem wechselseitigen Eintauchen des Paddels, aber trotzdem hatte Bernie den Eindruck, dass sich das Boot nur schwerfällig bewegen ließ. Na ja, vielleicht gab es hier irgendwelche Strömungen, die ihn bremsten.
Als er sich umschaute, sah er, dass es keine Strömungen waren – es war der Roachy! Mit den fingerartigen Greifgliedern seiner Vorderbeine hing er hinten am Boot. Sein Körper schwebte über dem Wasser. Das lag an dem aufblasbaren Kissen – noch so eine Sonderausstattung –, von dem Bernie bislang nichts gewusst hatte. Es hielt die dreigliedrige Plattform über Wasser, die den Körper des Roboters bildete. Die verbliebenen Beine hatte der Roachy um das Kissen herumgeklappt, sodass er jetzt aussah wie ein kleines schwimmendes Ufo mit Armen.
»Packy«, sagte Bernie.
Da das GPS nicht funktionierte, wusste Bernie nicht, wie weit er schon gekommen war, als er gegen Mittag eine Pause machte. Er legte auf einer winzigen Insel auf dem See an, den er gerade durchquerte. Hier gab es Himbeeren und Bernie stürzte sich darauf. Nachdem er seinen Hunger fürs Erste gestillt hatte, pflückte er so lange weiter, bis das eimerartige Gefäß, zu dem er einen Teil einer Torwand gebogen hatte, gut gefüllt war. Dann nahm er sich das Radio vor.
So vergingen die nächsten Tage: paddeln, essen, Wasser suchen, an dem Radio und am MoPad herumbasteln, im Fluss baden, anderen Booten so gut wie möglich ausweichen, abends eine geschützte Stelle suchen und – zusammen mit dem Roachy – unter die Tarnplane kriechen, um ein paar Stunden zu schlafen.
Manchmal dachte Bernie, er würde das Radio niemals zu einem CB-Sender umbauen können. Manchmal dachte er, das Boot würde nicht mehr lange durchhalten, und manchmal dachte er, seine Arme würden nicht mehr lange durchhalten. Aber dann ging es doch weiter, Stück für Stück.
Und schließlich war das CB-Funkgerät einsatzbereit.
Zumindest glaubte Bernie das. Sicher würde er es erst wissen, wenn er es ausprobiert hatte. Unschlüssig sah er auf das Durcheinander aus Drähten, Lautsprechern, Bauteilen und Antennen, zu dem das Radio und das MoPad in den letzten Tagen geworden waren.
»Was meinst du, funktioniert es?«, fragte er den Roachy, der tropfend neben dem Boot stand. Der Roachy schwieg, wie immer.
»Hast recht.« Bernie nickte. »Ich werd’s ausprobieren müssen. Also los.«
In Gedanken ging er noch mal die einzelnen Schritte durch, dann nahm er das Radio in die linke und das MoPad in die rechte Hand. Er drückte eine Taste am MoPad und sagte: »Hallo. Kann mich irgendjemand hören?«
Rauschen. Noch mehr Rauschen. Aber keine Antwort. Bernie war kurz davor, zu schreien, als ihm auffiel, dass er etwas vergessen hatte.
Er ließ die Taste des Senders los und schaltete mit dem Touch-Pen zwischen den Kanälen auf dem MoPad hin und her. Und endlich hörte er eine Stimme:
»Hallo. Hier ist Station Gemeinschwein. QRZ5)
5) Q R Z: Von wem werde ich gerufen? (CB-Funk-Jargon)
Da nichts mehr kam, drückte Bernie die Taste an seinem Sender. »Hallo, was heißt denn QRZ?«
Durch das Rauschen war ein leises Lachen zu hören. Dann sagte die Stimme: »Wie heißt du?«
»Hier ist Bernard … Bernie Sigmarek. Und wie heißt du?«
»Ich bin Kalle. Bist wohl kein CB-Funker, was?«
Bernie erklärte Kalle, wie er sein CB-Funkgerät zusammengebaut hatte, und erzählte ihm, dass er mit einem Boot in der mecklenburgischen Wildnis unterwegs war. Kalle wollte wissen, wovon Bernie in der Wildnis so lebte, und Bernie wollte wissen, wie es in der Zivilisation aussah. Im Wesentlichen bestätigte Kalle das, was Bernie schon vermutet hatte.
Als Kalle sich verabschieden wollte, bat Bernie ihn, ihn mit seinen Eltern in Indien zu verbinden. Kalle kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. »So weit kommen wir mit unserem CB-Funk leider nicht«, sagte er.
Bernie hätte sich in den Hintern treten können. Natürlich – die Reichweite des CB-Funks war ja auf wenige Kilometer begrenzt.
Kalle wünschte ihm alles Gute, dann beendeten sie das Gespräch. Und obwohl Kalle nichts Gutes über den Zustand der Welt hatte berichten können, war Bernie glücklich und aufgeregt. Bis jetzt hatte er nicht gewusst, wie sehr es ihm gefehlt hatte, einfach mit jemandem zu reden, der ihn weder umbringen noch bestehlen wollte.
Obwohl es ihm natürlich hätte zu denken geben müssen, dass er sich inzwischen regelmäßig mit einem Roachy unterhielt.

Auf der A10

»Bitte, lassen Sie uns vor, meine Kleine hat furchtbaren Durchfall.«
Der hagere Mann schob seine Tochter in der Schlange nach vorn, bis sie vor Alex standen. Alex nahm einige getrocknete Salbeiblätter aus einer der vielen Schüsseln vor ihm auf dem Tisch.
»Machen Sie ihr Salbeitee – heißes Wasser bekommen Sie da hinten – und geben Sie ihr genug zu trinken. Wenn Sie einen Apfel auftreiben können, soll sie auch geriebenen Apfel essen. Und wenn sie Fieber bekommt, kommen Sie noch mal wieder.«
Der Mann bedankte sich überschwänglich und legte einen Müsliriegel in den Korb, der neben Alex’ Tisch auf dem Boden stand. Darin hatten sich seit dem Morgen schon zwei kleine Akkus, ein halber Laib Brot, ein kleines Küchenmesser, einige Birnen, eine Schirmmütze und ein Modellflugzeug aus Holz angesammelt. Nicht gerade eine tolle Ausbeute, zumal Alex mit Nuray und Agathe halbe-halbe machte. Aber er behandelte jeden, egal ob er etwas zum Tauschen hatte oder nicht. Und in den letzten beiden Wochen hatte er genug eingenommen, um sich eine Weile durchschlagen zu können.
Wenn er nur endlich wieder losziehen könnte! Sein Knöchel heilte, aber solange er wehtat, konnte Alex nicht aufbrechen. Und es machte ihn immer mehr verrückt, dass er nicht mit Celie und seinen Eltern sprechen konnte, wie er es sonst jeden Tag getan hatte. Er wusste ja nicht mal, ob sie noch lebten! Es fühlte sich an, als würde ihm etwas Lebenswichtiges fehlen – eine Hand oder so. Und er hatte noch nicht gelernt, ohne sie auszukommen. Wenn das überhaupt möglich war.
Zumindest ging es ihm hier so gut, wie es einem verletzten Jungen in einer auseinanderbrechenden Welt nur gehen konnte. In der alten Raststätte wurde es immer voller, weil einige, die nur hatten übernachten wollen, geblieben waren und halfen, den Betrieb am Laufen zu halten. Und Agathe und Nuray konnten wirklich jede Hilfe im Garten, in der Küche und beim Wasserholen brauchen. Alex hatte Nuray geraten, bevorzugt kräftige Männer zum Bleiben zu überreden. Denn je besser die alte Raststätte funktionierte, hatte er argumentiert, desto größer wurde auch die Gefahr, dass eine Bande sich hier einnistete und den Laden für sich beanspruchte. Nuray hatte Alex angesehen, wie sie es immer tat, wenn er einen Vorschlag machte: als wäre er eine Kakerlake mit einem besonders kranken Sinn für Humor. Aber mittlerweile wohnten tatsächlich ein paar starke Männer hier, die Wasser aus dem drei Kilometer entfernten Karinchensee holten und nachts Wache hielten.
Das Wasserholen war dabei die gefährlichere Aufgabe. Wasser war neben Akkus zum wichtigsten Gut in der Welt ohne Tore geworden – zumindest in dem Teil der Welt, in dem Alex jetzt lebte. Vor allem die Städter versuchten, irgendwie zum Wasser zu kommen, weil sie nur dort überleben konnten. Und der Karinchensee war klein, aber er lag keine drei Kilometer von der Autobahn entfernt. Viele holten dort Wasser, bevor sie weiterzogen. Und einige von denen hatten keine Skrupel, diejenigen zu überfallen und zu berauben, die gerade Wasser geholt hatten.
Trotz allem war die Welt erstaunlicherweise immer noch nicht völlig zusammengebrochen und das lag auch an den vielen Flüchtlingen. Um sich Essen zu beschaffen, halfen manche den Bauern bei der Ernte, die ihre Felder ohne die wartungsintensiven Roachys sonst hätten verkommen lassen müssen, und ließen sich dafür in Naturalien bezahlen.
Da rund um Berlin vor allem Getreide angebaut wurde, standen Getreidemühlen für den Hausgebrauch hoch im Kurs. Und gerade in der alten Raststätte hätte man gut eine brauchen können. Aber in keiner der umliegenden Ortschaften war mehr eine zu bekommen und die nächste große Mühle lag etwa vierzig Kilometer entfernt.
Das über die Gewässer und Getreidemühlen wusste Alex nur, weil jeden Tag neue Gäste kamen und Informationen mitbrachten. Diese Informationen wurden nicht gehandelt, sondern gratis weitergegeben. Zum einen, weil jeder im Gegenzug auf Informationen hoffte, die ihm selbst weiterhalfen. Aber vor allem, weil die Menschen ein unstillbares Bedürfnis nach Gesprächen hatten. Wahrscheinlich, weil sie alle ihre Freunde und Verwandten ebenso sehr vermissten wie Alex seine Eltern und Celie.
In den letzten Tagen hatte er auch viel an Bernie gedacht. Verrückt, der war wahrscheinlich ganz in der Nähe, ohne dass sie auch nur miteinander sprechen konnten! Ob Bernie wohl zurechtkam in der Wildnis? Allein niemals. Er konnte ja nicht mal eine runtergefallene Kastanie von einem Steinpilz unterscheiden. Aber er hatte eine erfahrene Tortechnikerin an seiner Seite. Sie war sicher oft in torlosen Gegenden unterwegs und wusste, wie man sich da durchschlagen konnte.
»Mierda!«
Alex hatte Agathe noch nie fluchen hören. Doch als er den Verletzten sah, den zwei Männer auf Agathes Anweisung zu ihm brachten, entfuhr ihm auch ein »Shit«. Dann riss er sich zusammen. »Zeig einem Patienten nie etwas anderes als Zuversicht und Optimismus«, hatte Schwester Susmita ihm eingeschärft. »Angst, Entsetzen und Ekel sind kontraproduktiv.«
»Legt ihn da auf die Bank.« Alex lächelte den Mann an, obwohl sein Anblick ihm den Magen umdrehte. Aber der Mann hätte ihn sowieso nicht sehen können durch all das Blut hindurch, das ihm in die Augen lief – selbst wenn er nicht bewusstlos gewesen wäre.
»Ich brauch einen Schwamm!«, rief er Agathe zu. »Und koch mir ein Tuch ab!«
Er tupfte den Kopf des Mannes mit dem Schwamm ab, bis er die Platzwunde knapp über dem Haaransatz fand. Kurz darauf kam Agathe mit dem sterilisierten Tuch. Alex ließ sich noch Honig zum Desinfizieren bringen und strich das sterilisierte Tuch damit ein. Dann wickelte er dem Mann den Verband fest um den Kopf und wandte sich seinen weniger dringenden Verletzungen zu.
Der Mann war offenbar zusammengeschlagen worden. Mehrere Rippen waren gebrochen, er hatte zahlreiche Schürfwunden im Gesicht und an den Händen und zwei Finger seiner rechten Hand standen in einem übelkeiterregenden Winkel ab.
Während Alex die Wunden säuberte, die Finger schiente und die Rippen verband, fragte er die beiden Männer, die den Verletzten gebracht hatten, was passiert war.
Zuerst wollten sie nichts sagen, aber dann beugte sich der Schmächtigere von ihnen vor und flüsterte: »So ’n paar miese Typen haben spitzgekriegt, dass Kalle ’n CB-Funkgerät hat. Das wollten se ihm abnehmen.« Er zog die Nase hoch und wollte offenbar auf den Boden rotzen, überlegte es sich dann aber anders. »Aber nich mit Kalle! Wer den von seiner Funke trennen will, der muss ihn schon umbringen.«
»Na, das haben sie ja auch fast geschafft«, sagte Alex.
Der Schmächtige sah ihn erschrocken an. »Aber der wird doch wieder, oder?«
»Klar«, sagte Alex, aber er fühlte sich teramies dabei. Er hatte es immer gehasst, wenn die richtigen Ärzte das machten: einfach was behaupten, obwohl sie es gar nicht wussten. Andererseits, wenn die Patienten oder ihre Angehörigen sich dadurch besser fühlten …
»Lecker«, murmelte der Verletzte plötzlich. Dann streckte er die Zunge noch weiter raus. »Hmm, Honig …«
»Ganz ruhich, Kalle. Du wirs wieder, hatter Doktor gesacht. Brauchs nur Ruhe.«
Kalle schlief den ganzen Tag und die folgende Nacht durch. Alex sah immer wieder nach ihm, wechselte den Kopfverband und lauschte auf Kalles Atem.
Alex sagte sich, dass er das tat, weil Kalle von allen, die er bisher behandelt hatte, am schwersten verletzt war. Aber das stimmte nur zum Teil. Der Gedanke an das CB-Funkgerät ließ ihn nicht mehr los.
Die CB-Funker waren die Einzigen, die noch mit jemandem Kontakt aufnehmen konnten, der weiter entfernt war, als man rufen konnte. Kein Wunder, dass Kalle sein Funkgerät versteckt hatte! Jeder hätte gern eines gehabt, um nach seinen Freunden und Verwandten zu suchen. Aber vor dem Torausfall hatte es nur noch sehr wenige CB-Funker gegeben und entsprechend selten traf man einen von ihnen. Um sich zu schützen, zeigten sie ihre Funkgeräte außerdem nicht herum, sondern hielten sie versteckt. An Kalle konnte man ja sehen, was einen erwartete, wenn man das nicht tat.
Aber vielleicht – nur vielleicht – war Kalle dem Mann, der ihn verarztet hatte, so dankbar, dass er ihn sein Funkgerät mal benutzen ließ? Und vielleicht – nur vielleicht – konnte Alex dann irgendwie herausfinden, ob es seinen Eltern gut ging. Und Celie. CB-Funk funktionierte ja ohne die Tore, aber Alex wusste nicht, ob er bei den Mobilen erlaubt war oder nicht.
Als Kalle endlich aufwachte, war Alex zur Stelle. Er gab Kalle etwas zu trinken und klärte ihn über das auf, was mit ihm passiert war. Und als Kalle sagte: »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Junge«, da fragte Alex ihn nach dem Funkgerät. Kalles schmächtiger Freund Sunny sprang auf, aber Kalle hielt ihn zurück.
»Der Junge hat so viel für mich getan, da revanchier ich mich gerne. Sunny, du weißt ja, wo die Funke ist. Hol sie, sobald’s dunkel wird, verzieh dich mit dem Jungen auf den nächsten Hügel und zeig ihm, wie’s geht.« Kalle lächelte. »Junge, lass dich bloß nicht verrückt machen. Da draußen sitzen ein paar seltsame Gestalten an den Funkgeräten, aber die meisten sind ganz okay.« Er nahm eine Birne von Sunny entgegen und verschlang sie mit zwei Bissen. »Vor ’ner Weile hab ich mit ’nem ziemlich schrägen Vogel gesprochen. Hat sein MoPad und ein Radio für CB-Funk umgebaut, als die Tore ausfielen. Ein technischer Wunderknabe, aber was Natur angeht, die totale Niete. Der irrte schon seit Tagen durch die Wildnis da oben an der Mecklenburgischen Seenplatte, wusste aber immer noch nicht, wie man ’nen Hasen fängt oder ’nen anständigen Unterstand baut. Und vom Breaken6) hatte er auch keinen blassen Schimmer. Wollte unbedingt, dass ich ihn mit seinen Eltern in Indien verbinde.«
6) breaken: Funkverkehr abwickeln (CB-Funk-Jargon)
Sunny kicherte. »Bei unseren Reichweiten würd er dafür … na, jedenfalls total viele Stationen brauchen. Dafür sin’ die Breaker jetz aber viel zu beschäftigt. Datt wird nie watt. Der Jung …«
Alex unterbrach Sunny. »Wann war das? Wie hieß er? Wo war er, als ihr gesprochen habt?«
»Ganz ruhig, Junge«, sagte Kalle.
Aber Alex konnte nicht ruhig bleiben. Nicht wenn Bernie vielleicht ganz in der Nähe war! »Sag schon!«, rief er.
»Is ja gut«, sagte Kalle erstaunt. »Also, das war … ich denk mal, das ist vor zwei oder drei Tagen gewesen. Der Junge hieß Wernie oder so …«
»Bernie?«, stieß Alex hervor.
Kalle grinste. »Ganz genau! Und er war wohl gerade auf einem Fluss unterwegs, um aus der Wildnis rauszukommen. Aber wo er genau war …« Kalle kniff die Augen zusammen, so angestrengt dachte er nach. »Nee, keine Ahnung«, sagte er dann.
Alex konnte es nicht erwarten, loszuziehen und das Funkgerät auszuprobieren. Endlich wieder eine vertraute Stimme hören! Endlich wieder mit jemandem sprechen, für den er nicht »der Doktor«, sondern einfach nur »Alex« war!
Die Zeit zog sich endlos wie ein Kaugummi, das in ein schwarzes Loch gesaugt wird. Aber irgendwann wurde es doch noch dunkel und Sunny holte Kalles Funkgerät aus dem Versteck.
Alex humpelte hinter Sunny her, einen Hügel hinauf, der etwa hundert Meter hinter der Raststätte begann. Obwohl er ununterbrochen an Bernie denken musste – hoffentlich lebte er noch, immerhin war es ja schon ein paar Tage her, dass Kalle mit ihm gesprochen hatte –, fiel ihm doch auf, dass sein Fuß kaum noch wehtat. Wenn er diesen Test überstand, ohne dass die Schmerzen wiederkamen, dann konnte er endlich darüber nachdenken, sich wieder auf den Weg zu machen. Zuerst zu Bernie, wenn er ihn denn tatsächlich erreichte. Und dann, so schnell es ging, zu Celie.
Sunny stellte die Frequenz ein, auf der Kalle mit Bernie gesprochen hatte, und drückte eine Taste. »Hier ist Station Breitmaul, Bernie mit dem MoPad, bitte kommen.«
»Breitmaul?« Alex grinste.
»Willste jetzt mit deinem Freund sprechen oder nich?«, fragte Sunny beleidigt.
»Klar. Sorry.«
Sie lauschten eine Weile. Dann versuchte Sunny es noch mal. »Bernie mit dem MoPad, bitte kommen. Alex möchte mit dir sprechen.«

Mecklenburgische Seenplatte

Am liebsten hätte Bernie immerzu über Funk mit jemandem gesprochen. Aber er musste mit den Akkus haushalten. Darum schaltete er das Gerät jeden Tag nur für eine halbe Stunde ein. Nach drei Tagen erhöhte er auf eine Stunde, weil er seiner Schätzung nach nicht mehr weit von Ferch entfernt war – dem Ort, an dem laut Karls Skizze der Weg übers Wasser endete. Von dort waren es nur wenige Kilometer bis zur A10 und danach würde er nur noch wenige Tage nach Berlin brauchen.
Bernie schaltete sich durch die Kanäle. Doch bevor er jemanden rufen konnte, hörte er plötzlich eine Stimme: »Bernie mit dem MoPad, bitte kommen. Alex möchte mit dir sprechen.«

Auf der A10

Es rauschte, dann kam tatsächlich eine Antwort:
»Hier ist zwar nicht Bernie, aber …«
»99!«, brüllte Sunny. »Das heißt so viel wie ›Hau ab‹«, erklärte er Alex. »Tja, ich weiß nich, ob datt noch watt wird. Hat bestimmt kein’ Akku mehr, dieser Bernie. Tut mir echt …«
»Alex? Bist du’s wirklich? Hier ist Bernie. Sag doch was!«
Alex drückte hektisch auf irgendwelche Knöpfe, bis Sunny ihm das Gerät aus der Hand nahm. Er hantierte damit herum, dann hielt er es Alex vor den Mund. »Jetz kannze sprechen.«
»Bernie, ja, ich bin’s! Wo bist du?«
»Irgendwo an der Havel, wo genau, weiß ich nicht. Ich fahr in Richtung Süden.«
»Du fährst? Womit denn?«
»Mit einem Boot, ein Kajak, glaube ich. – Wo bist du?«
»Auf der A 10, fünfzehn oder zwanzig Kilometer von der Avus entfernt Richtung Westen. Ich muss zu Celie.«
Bernie antwortete so lange nicht, dass Alex schon dachte, die Verbindung sei abgerissen. Aber dann sagte Bernie: »Wir treffen uns morgen in Ferch, okay? Das kann nicht allzu weit von uns beiden entfernt sein, schätz ich.«
»Okay.«
»Alex, mein Akku hält nicht mehr lange. Also sieh zu, dass du es nach Ferch schaffst, ja?«
Bernies Stimme hatte trotz des Rauschens etwas so Dringliches, dass es Alex den Hals zuschnürte.
»Klar, ich werd da sein. Mach’s gut, Bernie.«
»Mach’s gut, Alex.«
»Na«, sagte Sunny missbilligend, »datt war alles total falsch, die Wörter und so. Die ganzen anderen Breaker lachen jetz über uns.«
Aber als er sah, wie Alex strahlte, musste er doch schmunzeln.
Alex wollte sofort los, aber Nuray und Agathe bestanden darauf, dass er erst noch mal ein ordentliches Mittagessen zu sich nahm. Während er Hühnertopf mit Korianderrahm in sich hineinschlang, packten sie Alex den Rucksack so voll, dass er ihn kaum noch tragen konnte. Dann erklärte Agathe ihm, wo Ferch lag, und Nuray erneuerte Alex’ Bandage. Sie zurrte sie so fest, dass er beinahe geschrien hätte. Aber so hielt sie sein Gelenk stabil und verhinderte, dass er wieder umknickte. Die beiden bestanden auch darauf, dass ihn zwei starke Männer begleiteten, die eine Abkürzung abseits der Autobahn nach Ferch kannten.
Schließlich war nichts mehr zu tun. Agathe umarmte Alex mit Tränen in den Augen und wünschte ihm viel Glück. Nuray umarmte ihn nicht. Damit hatte Alex auch nicht gerechnet. Aber kurz bevor er sich zur Tür umdrehte, nickte sie ihm doch tatsächlich zu. Alex winkte den beiden, dann trat er hinaus auf die A 10.
Der Weg querfeldein war kürzer, und der Fuß fühlte sich besser an, als Alex befürchtet hatte, und so erreichte er Ferch schon nach einem halben Tag. Seine Begleiter verließen ihn, als sie das Ortseingangsschild sahen.
Doch als Alex in die Stadt gehen wollte, wurde er von drei Männern aufgehalten, die ihm mitteilten, Ferch sei wegen einer Epidemie gesperrt. Näheres wollten sie nicht dazu sagen, aber diese Auskunft reichte Alex. Er umging die Stadt weiträumig in Richtung Osten.
Schon bevor er den Schwielowsee sah, an dem Ferch lag, roch er es: Entweder leitete die Stadt seit dem Torausfall ihre Abwässer einfach in den See – oder es waren mittlerweile ziemlich viele Menschen hier am Wasser versammelt.
Tatsächlich war es teravoll, schon hundert Meter vor dem See. Überall standen Zelte, an offenen Feuern wurde gekocht, und es gab auch ein Zelt der Bundeswehr, an dem irgendwas ausgegeben wurde. Einige kleine, schmale Zelte waren am Rand der provisorischen Siedlung verteilt. Alex zog aus Neugier eine Plane beiseite. Shit, wie das stank! Kein Wunder, der Plastikbeutel auf dem Gestell mit der Klobrille war fast voll.
Alex machte, dass er wegkam. Er schob sich durch die Menge, bis er das Wasser erreichte, suchte sich ein freies Plätzchen und schaute in seinem Rucksack nach, was Agathe und Nuray ihm zu essen eingepackt hatten.
Kaum hatte er ein kaltes Kräuteromelett ausgepackt, da ließ sich ein Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, neben ihm ins Gras fallen.
»Gibste mir was ab?«
Der Junge starrte das Omelett so hungrig an, dass Alex nicht anders konnte, als ihm ein Stück zu geben. Sie kauten und schauten dabei auf den See und die Segel- und Ruderboote, die unentwegt an den Stegen an- und ablegten und immer neue Menschen brachten.
Zum ersten Mal machte Alex sich Gedanken darüber, wie er das Meer überqueren sollte, wenn er es denn irgendwann erreichte. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg. Er würde noch genug Zeit haben, darüber nachzudenken.
Alex bot dem Jungen einen halben Apfel an.
»Danke, Mann! – Wo kommste denn so her?«
»Berlin«, sagte Alex. »Ich wollte eigentlich in Ferch jemanden treffen. Weißt du, was da los ist?«
»Tja, sie behaupten, dass da irgend so ’ne Seuche wütet. Viele hier glauben das aber nicht. Na ja. Es gibt Gerüchte.«
Der Junge machte eine Pause und schaute so lange zu Alex’ Rucksack hinüber, bis Alex etwas Brot hervorholte.
»Welche Gerüchte denn?«
»Dass es da in Ferch irgendwas gibt, von dem sie niemandem was abgeben wollen. Ein Lager mit Millionen von Konservendosen oder jeder Menge Cola oder so. Oder vielleicht ein paar Autos von früher.«
Der Junge beugte sich verschwörerisch vor.
»Ich glaub ja, dass sich in der Stadt irgendwelche Oberbosse verkrochen haben, die es sich da gut gehen lassen. Bestimmt haben die sogar Eiscreme und so was …«
»Ich hab jedenfalls keine«, stellte Alex klar, weil der Junge schon wieder sehnsüchtig auf seinen Rucksack blickte.
Der Junge stand auf. »Na dann, danke Mann. Und pass gut auf deine Sachen auf. So ’n voller Rucksack, der zieht Diebe an, weißte?«
In dieser Nacht schlief Alex so nah am Bundeswehrzelt wie möglich. Er benutzte den Rucksack als Kissen und hatte sich mehrere der Riemen um die Hand und den Körper geschlungen. So würde er merken, wenn jemand sich daran zu schaffen machte.
Vorher hatte er noch einiges aus dem Rucksack in den Innentaschen seiner Jacke verteilt. Und dabei sah er zum ersten Mal, was ihm die beiden alten Frauen alles mitgegeben hatten. Neben den vielen leckeren Sachen hatten sie ihm auch von allen Kräuterarzneien etwas eingepackt. Außer den Salben und getrockneten Blättern und Wurzeln fand Alex noch einen Vorrat an Öl, mit dem er weitere Salben anrühren konnte, außerdem meterweise Bandagen aus Betttüchern und Hemden, die in Plastikbeutel verpackt und mit der Aufschrift »abgekocht« versehen waren. Dazu gab es noch zwei stabile scharfe Messer aus Agathes Küche und ein blaues Auge aus Glas, wie es Nuray gegen den bösen Blick trug.
Alex lächelte, als er sich hinlegte. Zwar waren seine Eltern und Celie weit weg und er kannte hier keinen Menschen, aber er fühlte sich trotzdem nicht mehr ganz so allein. Und schon morgen würde er Bernie wiedersehen. Inmitten all des Lärms und Gestanks schlief Alex friedlich ein.
Am nächsten Morgen wachte er mit Hummeln im Hintern auf. Er frühstückte und streifte eine Weile herum, aber er wurde immer aufgeregter. Hoffentlich hatte Bernie es geschafft! Hoffentlich kam er wirklich! Alex konnte einfach nicht still sitzen. Und weil sein Fuß sich gut anfühlte, beschloss er gegen Mittag, Bernie entgegenzugehen. Er vergewisserte sich bei mehreren Bewohnern der Zeltstadt, wo Norden war, dann zog er los. Immer am Ufer des Sees entlang, damit er Bernie auf keinen Fall verpasste.
Zuerst hielt er sich an die alte Straße, die in Sichtweite des Sees von Ferch aus nach Norden führte. Aber sie entfernte sich immer weiter vom Wasser und so verließ er die Straße wieder. Um auf direktem Weg zum See zu gelangen, musste er sich durch einige Meter hohes Gras und Gestrüpp kämpfen. Kurz verlor er dabei den See ganz aus den Augen. Wenn gerade jetzt Bernie vorbeikam, würde er ihn verpassen! Alex sah sich nach einem leichten Durchgang durch die Brombeersträucher um und nach einer gefühlten Ewigkeit entdeckte er auch einen. Er kletterte hindurch, den Blick immer in Richtung See gerichtet. Deshalb sah er die umgestürzte Kiefer auch nicht. Alex fiel der Länge nach hin.
Er sog scharf die Luft ein, aber der erwartete stechende Schmerz in seinem verletzten Fuß blieb aus. Vorsichtig bewegte er ihn. Der Fuß tat ein bisschen weh, aber es war nicht schlimmer als vorher. Erleichtert wollte Alex aufstehen, als er hinter sich ein Knurren hörte. Langsam drehte er sich um.
Da stand ein großer grauer Hund und knurrte ihn mit gefletschten Zähnen an. Und hinter ihm kamen noch mehr aus dem Gebüsch. Zwei, drei, vier … Ein ganzes Rudel. Das waren keine Hunde. Das waren Wölfe!
Ganz ruhig, sagte Alex zu sich selbst. Wölfe griffen keine Menschen an, das hatte er mal in einem Holo-Vid gesehen, nicht mal wenn sie hungrig waren. Außer sie hatten die Tollwut.
Die Wölfe rückten näher. Und dann waren sie so nah, dass Alex den weißen Schaum am Maul ihres Anführers sehen konnte.

Mecklenburgische Seenplatte

Das Ufer bei Ferch wimmelte von Menschen, das konnte Bernie schon von Weitem sehen. Wie sollte er Alex in diesem Durcheinander bloß finden?
Wenn er Alex wäre, würde er versuchen, von der Menschenmasse wegzukommen. Aber da sie hier verabredet waren, würde er wohl in Sichtweite des Sees bleiben und hoffen, dass Bernie ihn entdeckte.
Bernie paddelte näher ans Ufer und holte sein MoPad hervor.
Die integrierte Kamera war nicht besonders gut, aber er konnte damit die Uferstraße nah heranzoomen. Bernie ließ den Blick langsam die Straße entlanggleiten. Wenn er Alex hier nicht fand, würde er auch noch die andere Seite des Sees absuchen. Jetzt schwenkte er erst einmal in Richtung der Stadt.
Rund um Ferch hatten unzählige Menschen ihr Lager aufgeschlagen. Bernie sah viele Zelte und Armee-Cubes, aber noch mehr Menschen, die unter freiem Himmel saßen und standen. Überall brannten Feuer, an Ständen unter olivgrünen Planen gaben Soldaten Essen aus, in einem großen weißen Zelt, das mit roten Kreuzen markiert war, wurden offenbar Kranke behandelt.
Aber warum waren all diese Menschen hier am See und nicht in der Stadt? Hoffentlich war dort keine Seuche ausgebrochen! Dem Gestank nach zu urteilen, der über das Wasser heranwehte, war das durchaus möglich.
Bernie wich einem Segelboot aus, dessen Kapitän ihn wüst beschimpfte. Als er die Kamera wieder aufs Ufer richtete, zeigte sie ihm einen Abschnitt, in dem weder die Zeltstadt noch die Uferstraße zu sehen waren. Offenbar führte die Straße hier oben vom See weg. Er wollte die Kamera gerade wieder in Richtung Ferch schwenken, als er eine Bewegung zwischen den Bäumen am Ufer wahrnahm. Bernie zoomte näher heran.
Da stand ein Mann zwischen den Bäumen, umringt von mehreren Hunden. Der Mann wich zurück, doch die Hunde kamen immer näher.
Noch mehr Zoom.
Das waren keine Hunde. Das waren Wölfe.
Und der Mann – war Alex!