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13.
Abbey! Du hast dich verspätet!« Hannah sah ihre Schwester gespielt wütend an. »Und du tropfst den ganzen Boden nass.«
Abigail blieb einen Moment lang in der Tür stehen und wirkte wie ein schuldbewusstes Kind, das mit einer Hand in der Keksdose erwischt worden ist. Ihr sonst so leuchtendes rotgoldenes Haar hing in nassen Strähnen herunter und ließ Wasser in ihren Nacken und auf ihre Schultern rinnen. Sogar auf den Spitzen ihrer Wimpern glitzerten Wassertropfen.
Hannah betrachtete sie belustigt. Abigail hatte ihren Taucheranzug abgestreift, bevor sie nach Hause gekommen war, aber die Maske baumelte noch an ihren Fingerspitzen, als hätte sie ganz vergessen, dass sie sie in der Hand hielt. Sie war barfuß und nur mit ihrem züchtigen einteiligen Badeanzug und sehr nassen Sweatpants bekleidet.
»Ja, ich weiß, und es tut mir sehr leid.« Abigail schlug die Küchentür zu und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Kessel. »Ich könnte dringend eine Tasse Tee gebrauchen.«
Hannah konnte Abigails riesigen Welpenaugen nicht widerstehen und sah den silbernen Wasserkessel an, der auf dem Herd stand. Wie auf ein Stichwort hin züngelten Flammen unter dem Kessel. »Ich koche dir eine Tasse Tee, während du duschst, aber beeile dich.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir sind schon eine halbe Stunde zu spät dran.«
Abigail rannte zur Treppe, und Hannah folgte ihr. »Ich konnte nichts dafür. Ich musste Kiwi heute Morgen Antibiotika verabreichen, und die anderen Delfine sind mit ihm in die Bucht gekommen und waren so lieb, dass ich es nicht lassen konnte, mit ihnen zu schwimmen. Es war so friedlich, dass ich die Zeit vollständig vergessen habe.« Sie sah sich über die Schulter und lächelte ihre Schwester verschmitzt an. »Wenn du die Wahl hättest, ob du dich lieber mit bezaubernden Delfinen abgibst oder dich stattdessen in Frank Warners Galerie blicken lässt, was würdest du dann wählen? Und außerdem geht mir Frank nach Möglichkeit aus dem Weg, wie der Rest von Sea Haven auch, wenn es sich irgend einrichten lässt. Ich hasse diese Veranstaltungen. «
»Die Leute meiden dich nicht, Abbey«, sagte Hannah.
»Und ob sie das tun. Sie fürchten, ich könnte versehentlich etwas Falsches sagen, und dann erzählen sie gegen ihren Willen aller Welt ein tiefes, dunkles Geheimnis. Da ist es doch kein Wunder, dass ich mich lieber mit den Delfinen unter Wasser aufhalte.«
»Da ist etwas dran, aber du hast auch die Besprechung wegen der Hochzeitsvorbereitungen für Sarah und Kate versäumt. Sogar Tante Carol war dir böse, und du weißt selbst, dass sie dir so gut wie nichts übel nehmen kann.«
Abigail blieb in der Tür des gekachelten Badezimmers stehen. »Ich weiß.« Sie strich sich ihre nasse, salzige Mähne aus dem Gesicht. »Das hätte ich nicht tun dürfen. Es ist nur so, dass …« Sie wollte sich seufzend ins Bad verziehen.
»Wem gehst du eigentlich aus dem Weg, Jonas oder Aleksandr? «, fragte Hannah.
Abigail zuckte kaum merklich zusammen, doch Hannah entging es trotzdem nicht. Abigails Gesichtsausdruck wurde sofort wachsam. »Beiden. Hat einer von beiden angerufen?«
»Ja.« Hannah legte Abigail eine Hand auf die Schulter, um zu verhindern, dass sie ins Badezimmer floh. »Jonas hat heute Vormittag mehrfach angerufen. Warum bist du sauer auf ihn?« Sie beobachtete ihre Schwester genau, um eine Reaktion zu entdecken. Schatten zogen in Abigails Augen auf und verschleierten ihren Blick.
Hannah presste sich eine Hand aufs Herz. Es tat ihr tatsächlich weh, und sie wusste, dass sie den Schmerz ihrer Schwester fühlte, obwohl Abigail sie lächelnd ansah. »Abbey, ich wünschte, ich könnte dir helfen.«
»Das weiß ich doch. Aber ich muss mir selbst Klarheit verschaffen und eine Lösung finden. Im Moment bin ich restlos verwirrt, und da hilft es mir nicht gerade weiter, wenn Jonas ständig anruft und verlangt, dass ich mit ihm über Dinge rede, von denen ich wirklich nichts weiß. Er sollte sich direkt an Aleksandr wenden und mich aus dem Spiel lassen. Ich bin nach Hause gekommen, um meinen Schwestern bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen und Studien mit meinen Delfinen zu betreiben. Ich will nichts von gestohlenen Kunstwerken oder Morden wissen. Ich wünschte nur, sie würden mich alle in Ruhe lassen.«
Hannah sah ihre Schwester mit ernsten Augen an. »Du hast mit ihm geschlafen, stimmt’s?«
Ein kleines Lächeln spielte um Abigails Mundwinkel. »Wenn du es unbedingt wissen willst, ja.«
»Und wie war es?«
»Es war fantastisch. Aleksandr und ich passen sehr gut zusammen. Mein Problem ist nicht der Sex. Mein Problem ist, wie sehr ich Aleksandr brauche. Und wie tief er mir unter die Haut geht. Wenn es nur um Sex ginge – dann wäre alles gleich viel ungefährlicher, Hannah.«
»Abbey, eine Frau, die wie du den größten Teil ihres Lebens im Meer verbringt, geht niemals auf Nummer sicher. Ich will damit nicht sagen, dass du ihn dir angeln sollst, denn ich weiß wirklich nicht so recht, was für ein Mensch er ist. Seine Aura ist sehr uneinheitlich und enthält Hinweise auf Konflikte, Gewalttätigkeit und Gefahr, aber auch das Bedürfnis, zu beschützen, und andere großartige Eigenschaften.«
»Ich verzehre mich nach ihm. Ich kann ihn mir nicht aus dem Kopf schlagen.«
»Es tut mir so leid für dich, meine Süße. Ich weiß, dass du dich quälst. Und er hat stündlich angerufen und wollte dich sprechen. Ich weiß, dass er mir nicht glaubt, sondern überzeugt ist, dass ich lüge, wenn ich ihm sage, dass du nicht da bist.« Hannah wies auf das Bad. »Jetzt geh schon duschen. Ich koche dir in der Zwischenzeit eine Tasse Tee. Den wirst du brauchen, um diese Party zu überstehen.« Sie schnitt eine kleine Grimasse.
»Ich weiß, wie sehr du solche Veranstaltungen hasst.«
»Ich komme mir vor, als sei ich innerlich in zwei Personen gespalten, Abbey.« Hannah sah auf ihre Hände hinunter. »Ich bin einerseits diejenige, die ich in Wirklichkeit bin, und die ist so, wie ich im Kreise meiner Familie bin, extrovertiert und stark, aber sowie ich mich ins öffentliche Leben begebe, bringe ich kein Wort heraus, ohne zu stammeln. Es ist so frustrierend. Aber ich glaube an mich. Mir ist egal, was andere über mich denken.« Sie unterbrach sich. »Das gilt natürlich nicht für meine Familie und vielleicht auch nicht für Jonas, dieses Scheusal, obwohl ich keine Ahnung habe, weshalb mich interessieren sollte, was er von mir hält.«
Abigail betrachtete ihre Schwester eingehend. Es versetzte ihr immer wieder einen kleinen Schock, wie schön Hannah wirklich war. Sie war groß und sehr schlank, doch war sie von Natur aus vollbusig. Ihr schimmerndes weißgoldenes Haar war lang und dicht und besaß einen unglaublichen Glanz. Alles an Hannah war ein Ausdruck von Eleganz und Stil, von ihren großen Augen mit den langen Wimpern und den hohen Wangenknochen bis hin zu ihren üppigen, vollen Lippen. In Hannahs schlankem Körper wohnten große Kräfte und hinter ihrem kühlen Äußeren verbarg sich ein schelmischer Charakter. Nur die wenigsten bekamen jemals diese Seite ihrer Persönlichkeit zu sehen. Jonas hatte recht. Sie wirkte müde und abgespannt und trotz ihrer Schönheit viel zu dünn.
»Tu das nicht.« Hannah blinzelte gegen ihre Tränen an. »Mir fehlt nichts.«
»Ich würde dich umarmen, wenn ich nicht klatschnass wäre«, sagte Abigail. »Du könntest ihn einfach in eine Kröte verwandeln. Dann wären unserer beider Probleme gelöst.«
»Mit dem Gedanken habe ich auch schon gespielt. Aber noch besser gefällt mir die Vorstellung, dass jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, um etwas Gemeines zu mir zu sagen, ein hübsches, lautes Krächzen herauskommt.«
Sie brachen in Gelächter aus.
Die Küchentür wurde in dem Moment aufgerissen, als der Kessel zu pfeifen begann. »He!«, rief Sarah Drake die Treppe hinauf. »Ich kann euch beide wie zwei Hexen kichern hören, aber in der Galerie, wo ihr hingehört, sehe ich bisher keine von euch beiden. Was heckt ihr eigentlich aus?«
Die zwei Schwestern sahen einander lange und schuldbewusst an.
»Rette mich«, flüsterte Abigail und eilte ins Bad, um das Meersalz aus ihren Haaren und von ihrem Körper zu waschen.
Hannah raste die Treppe hinunter, um ihre älteste Schwester abzufangen. »Sarah! Ich dachte, wir treffen uns in Franks Galerie. «
Sarah zog eine Augenbraue hoch, als sie in Hannahs makelloses Gesicht sah. »So etwas dachte ich mir schon. Wolltet ihr beide euch vielleicht davonschleichen und die Vernissage verpassen? «
»Ich wollte nur noch schnell eine Tasse Tee für Abbey kochen«, sagte Hannah ausweichend.
»Aber ihr habt mit dem Gedanken gespielt, stimmt’s?« Sarah versetzte ihrer Schwester einen Rippenstoß. »Du siehst wunderschön aus, wenn du so elegant zurechtgemacht bist. Wohin könnte man in Sea Haven sonst noch gehen? Ich wüsste keinen anderen Ort, für den man sich fein anzieht.«
»Mir wäre eher nach meinem alten Schlafanzug aus Flanell, einem guten Film und einer Tüte Popcorn«, sagte Hannah. Ihre Hände bewegten sich anmutig, als sie die Teeblätter in eine kleine Kanne gab.
»Abbey ist gerade erst zurückgekommen, stimmt’s? Kate hat gesagt, sie und Matt seien kurz in der alten Mühle gewesen, um ein paar Veränderungen an den Plänen vorzunehmen, und von dort aus hätten sie Abbey in die Seelöwenbucht hinausrudern sehen. Abbey hat den Tag mal wieder damit verbracht, mit den Delfinen zu spielen.«
»Das ist kein Spiel, Sarah. Sie arbeitet. Sie ist Meeresbiologin. «
Sarah rümpfte verächtlich die Nase. »Nicht, wenn sie hier ist. Du bist ein bekanntes Model, Hannah, aber wenn du nach Hause kommst, bist du unsere Schwester, und du bist hier, um bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen. Für eine Doppelhochzeit. Abbey ist jeden Tag draußen im Meer, statt uns einen Teil der Arbeit abzunehmen.«
»Ich weiß.« Hannah zog den Kopf ein. »Sie macht sich Sorgen um den Delfin, der verletzt worden ist, und sie ist hinausgerudert, um sich um ihn zu kümmern. Du weißt doch selbst, dass die Delfine sich immer zusammentun und nach ihr rufen, wenn sie hier ist.«
»Sie versteckt sich, wie sie es sonst auch tut«, sagte Sarah, und in ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Sorge und Verärgerung mit. »Sie hat mit diesem Mann geschlafen, stimmt’s?« Sie warf einen Blick auf die Treppe. »Hat sie sich in irgendeiner Form zu diesem anderen Mann geäußert? Wir müssen wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
»Ich habe sie noch nicht danach gefragt, aber ich hatte vor, es beim Tee zu tun.«
»Ich will ganz genau wissen, wie gefährlich er ist. Und ob Jonas etwas von ihm weiß.«
»Jonas braucht nichts von dem anderen Mann zu erfahren. Gegen jemanden wie ihn kann er nichts ausrichten«, sagte Hannah. »Hast du die Elektrizität wahrgenommen, die sich in der Luft geballt hat, als er Joley diesen kleinen Stoß versetzt hat? Er hat ihr regelrecht eine gewischt, und doch brauchte er ihre Handfläche nur mit seinem Daumen zu berühren, und der Schmerz ist sofort verflogen.«
»Joley war außer sich vor Wut. So habe ich sie noch nie erlebt«, sagte Sarah. »Ich habe ernsthaft gefürchtet, sie würde sich auf der Stelle auf einen Kampf mit ihm einlassen.«
»Du hast jede Menge Verbindungen. Kannst du etwas über ihn herausfinden?«
»Wenn wir seinen Namen in Erfahrung bringen, ziehe ich Erkundigungen ein.«
Hannah nickte und sah die Treppe hinauf. Das Wasser war abgedreht worden, aber Abigail würde bestimmt noch ein paar Minuten oben verbringen. »Ich mache mir Sorgen um Abbey. Sie ist schon seit Jahren richtig unglücklich, und das Auftauchen von Aleksandr hat sie in noch größere Verwirrung gestürzt. Ihre Lösung besteht immer darin, zu verschwinden. Sie schiebt ihre Forschungen vor und begibt sich dann schleunigst in einen anderen Teil der Welt. Damit entzieht sie sich uns schlicht und einfach.«
Sarah musterte die Schatten in Hannahs Augen. »Du machst dir wirklich Sorgen um sie, nicht wahr?«
»Du dir etwa nicht?«, gab Hannah zurück.
Sarah nickte, und ihre Schultern sackten etwas tiefer hinunter. »In Wahrheit habe ich schon lange Angst um Abbey. Ich hatte gehofft, es sei nichts weiter als meine eigene Paranoia. Aber dich lässt sie näher an sich heran als jede andere von uns. Verliere sie nicht, Hannah. Ich weiß, was für eine Belastung das gerade für dich darstellt, wenn sie so bedrückt ist, aber du musst sie unter allen Umständen festhalten, bis wir uns etwas ausgedacht haben, wie wir sie wieder zu uns zurückholen können.« Sarah warf einen schnellen Blick auf die Treppe und rang sich dann ein Lächeln ab. »Was ist mit dir? Wie kommst du zurecht? Wie ist die Fotosession in Afrika gelaufen?«
»Der Fotograf war ein Genie. Mit dem würde ich gern öfter zusammenarbeiten. Das Reisen macht mir Spaß, und Afrika hat mir unheimlich gut gefallen. Ich habe einen Reiseführer engagiert und bin drei Wochen geblieben, um mir ein Bild von diesem Kontinent zu machen. Mir fehlen die Worte, um dir auch nur annähernd zu beschreiben, welche Ehrfurcht ich da draußen in der Wildnis empfunden habe.« Ihre Augen glänzten. »Es war ein Gefühl von grenzenloser Freiheit. Das Seltsamste war, dass ich allein dort draußen in der Wildnis, nur ich und der Reiseführer, keinen einzigen Panikanfall gehabt habe. Ich konnte mich auch gut mit ihm unterhalten. Die meiste Zeit habe ich ihm einfach nur zugehört. Er konnte mir ganz wunderbare Geschichten erzählen.«
»Das freut mich sehr für dich, Hannah«, sagte Sarah. »Ich habe mich schon gefragt, warum wir keinen SOS-Ruf von dir erhalten haben.«
Hannah schenkte eine Tasse Tee ein, goss ein paar Tropfen Milch hinein und reichte sie Sarah, bevor sie eine zweite Tasse einschenkte. »Ich weiß, es muss für euch alle ungeheuer lästig sein, dass ihr mir immer helfen müsst, wenn ich einen Auftrag habe. Über diese weiten Entfernungen hinweg kostet euch das viel Kraft.« Sie drehte sich genau im richtigen Moment um und reichte Abigail die Teetasse, als diese sich ihnen, in einen eleganten Nadelstreifen-Hosenanzug gekleidet, anschloss. Sie wirkte darin femininer denn je.
»Hübsch siehst du aus, Abbey. Hast du es darauf angelegt, dass Frank dich zu einem Rendezvous auffordert?«
Abbey schnitt eine Grimasse. »Das glaubt ihr doch wohl nicht im Ernst. Das überlasse ich gerne Tante Carol. Ist sie schon dort?«
»Sie hat sich einverstanden erklärt, gemeinsam mit Inez die Vorbereitungen zu überwachen, vom Partyservice bis hin zum Veranstaltungsprogramm. Sie versprechen sich einen riesigen Erfolg von dieser Veranstaltung. Tante Carol hat mir befohlen, nach Hause zu fahren und euch abzuholen«, erklärte Sarah. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir sind sowieso schon spät dran, also werden ein paar Minuten auch keine große Rolle mehr spielen. Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, dich nach dem anderen Russen zu fragen, dem mit den magischen Kräften. Wer ist das?«
»Er heißt Ilja Prakenskij. Er ist in demselben staatlichen Heim aufgewachsen wie Aleksandr. Ich habe Aleksandr gefragt, ob ihm an Prakenskij früher Dinge aufgefallen sind, in denen er sich von anderen unterschieden hat. Er hat sich an ein paar Kleinigkeiten erinnert, die darauf hindeuten, dass der Mann tatsächlich von Geburt an die gleichen Gaben gehabt haben könnte wie wir. Auch kann er sie sehr geschickt einsetzen. So hat er auf ganz subtile Weise versucht, mich dazu zu bringen, etwas zu sagen, was ich absolut nicht sagen wollte. Als ich es gemerkt habe, habe ich ihn zu einer Runde ›Wahrheit oder Pflicht‹ aufgefordert.« Sie lächelte hämisch. »Darauf wollte er sich keinesfalls einlassen.«
»Glaubt Aleksandr, dass er uns gefährlich werden kann?«
»Er sagt, der Mann sei gefährlich und stünde in dem Ruf, ein Killer zu sein, und er sagt auch, dass er für Sergej Nikitin arbeitet, der zufällig das Oberhaupt einer russischen Mafiafamilie ist. Nikitin ist restlos begeistert von Joleys Musik und möchte sich unbedingt mit ihr treffen.«
»Sie zieht Menschen von der übelsten Sorte an. Ich glaube, sie sollte sich auf die Stirn stempeln lassen: ›Psychopathen liegen bei mir genau richtig.‹« Sarah seufzte und warf wieder einen Blick auf ihre Uhr. »Wir müssen so viel wie möglich über diesen Prakenskij in Erfahrung bringen. Und wir alle müssen Joley im Auge behalten. Sie kann zu leicht ausrasten, wenn jemand sie allzu sehr bedrängt. Und jetzt sollten wir uns besser auf den Weg machen. Schließlich hat Frank der Presse mitgeteilt, dass Hannah zu seiner Party erscheint.«
»Nicht nur Hannah«, sagte Abigail. »Die arme Joley wird auch dort sein. Und Kate. Er will eine Menge Eindruck mit euch schinden.«
»Inez ist gerade deshalb stolz auf ihn. Sie wünscht sich, dass diese Veranstaltung ein riesiger Erfolg wird und dass ihn die Einheimischen nach Kräften unterstützen«, sagte Sarah. »Sie glaubt, er würde uns der Kultur näher bringen.«
Hannah hob eine Hand, um ihre Kapitulation zu signalisieren. »Schön und gut, ich gehe hin, aber ich wünschte wirklich, er würde nicht so viele seiner berühmten Vernissagen zu wohltätigen Zwecken veranstalten. Er scheint sie nämlich immer auf einen Termin zu legen, zu dem ich mich zufällig gerade hier aufhalte. «
»So ein Zufall, nicht wahr?«, sagte Abbey.
»Der Mann ist nicht dumm«, fügte Sarah hinzu. »Für ihn ist das die beste Gratiswerbung.«
Normalerweise ging es in dem Städtchen ruhig und gemütlich zu, doch heute herrschte dort viel Leben. Etliche Limousinen waren neben den hölzernen Gehsteigen geparkt und diverse Luxusmodelle säumten die Straßen. Die männliche Jugend trieb sich in Grüppchen herum, um die ausgefalleneren Wagentypen zu bewundern, wogegen die jungen Mädchen sich bemühten, Blicke auf Berühmtheiten zu erhaschen, wenn sie die vornehme Galerie betraten. Frank Warner hatte sich vor gut zehn Jahren in Sea Haven angesiedelt, und seine Galerie war stilvoll, geräumig und voller interessanter alter Kunstgegenstände und Gemälde. Sarah war einmal mit Inez bei ihm zu Hause gewesen und sagte, in seinem Haus stünden zahllose erlesen schöne Kunstgegenstände aus aller Welt herum. Alte und ehrwürdige Gemälde waren in eigens dafür gestalteten Räumen untergebracht, in die nie ein Sonnenstrahl drang.
In der Galerie gab es auch moderne Skulpturen, Installationen aus den verschiedensten Materialien, alle erfreulich anzusehen und zu gepfefferten Preisen erhältlich. Das hübsche, malerische Städtchen mit seinem Theater und seiner Kulturszene lag nur zwei Autostunden von San Francisco entfernt. Warner hatte sich von dieser Idylle angezogen gefühlt, und seine Galerie hatte erstaunliche Erfolge zu verbuchen.
Oft stellte er auch einige seiner eigenen Gemälde mit Motiven aus der Region aus, Häfen und Klippen, turmhohe Wellen, die sich brachen, und windgepeitschte Landschaften. Die Drake-Schwestern hielten ihn für talentiert, exzentrisch und ein wenig feige, da er zwar ihren Ruhm für sich nutzte, aber andererseits den seltsamen magischen Gaben, die sie besaßen, nicht zu nahe kommen wollte.
Hannah winkte einer Schar von Teenagern zu, und Abbey schenkte ihnen ein flüchtiges Lächeln, als sie sich dicht neben ihre jüngste Schwester stellte. Hannah wirkte immer gelassen und selbstsicher und sogar ein bisschen hochmütig, wenn sie durch die Menge rauschte. Bei jedem ihrer öffentlichen Auftritte schlossen sich ihre Schwestern zusammen, um ihr beizustehen, damit sie ohne Probleme sprechen konnte. Inzwischen waren sie so sehr daran gewöhnt, dass sie es längst automatisch taten.
»Du siehst zauberhaft aus, Abbey«, sagte Sarah, als sie die Galerie betraten. »Nadelstreifen stehen dir gut. Und du trägst dein Haar anders als sonst.«
Hannah brach in schallendes Gelächter aus. »Sie trägt es offen, und es ist ausnahmsweise mal nicht klatschnass und mit Salzwasser verklebt.«
»Jetzt reicht es aber!«, protestierte Abbey. »Ich bin schließlich nicht immer klatschnass.«
Sarah gab einen spöttischen Laut von sich. »Oh doch, das bist du. Ich glaube, du würdest im Meer leben, wenn wir es zuließen. Kate glaubt, dass du schon dabei bist, dich in eine Nixe zu verwandeln. Stimmt’s, Kate?«, fügte sie hinzu, als Kate sich ihnen anschloss.
Kate Drake lachte, als sie Abbeys Gesichtsausdruck sah. »Du weißt selbst, dass es wahr ist, also spare dir die Mühe, es abzustreiten. In zwei Monaten werde ich heiraten, und du hast absolut nichts zu den Vorbereitungen beigesteuert.«
»Ich habe gesagt, das Motiv des Korallenriffs würde sich als Tischschmuck gut machen«, hob Abbey hervor.
Kate schnaubte und hätte den Schluck Wein, den sie gerade im Mund hatte, fast durch die Nase herausgeprustet. Sie verscheuchte Abigail mit einer Geste. »Misch dich unter das Volk, damit Inez mit uns zufrieden ist. Sie hat in den letzten zehn Minuten etwa fünfzigmal auf ihre Armbanduhr gesehen. Sie ist schon außer sich, weil Joley eine Bemerkung zu einer von Franks eigenen Skulpturen gemacht hat, einer seiner Darstellungen von Göttinnen. Sie hat behauptet, sie sei magersüchtig.«
»Unsere Joley bringt wie immer Leben in die Bude«, sagte Sarah. »Komm schon, Kate, lass uns Schadensbegrenzung betreiben. Und ihr beide seht zu, dass ihr euch keine Schwierigkeiten einhandelt.«
Hannahs Blick fiel auf Joley, die sich einen Weg durch das Gedränge bahnte, und sie versetzte Abbey einen Rippenstoß. »Da ist Joley. Lass uns zu ihr gehen. Ab durch die Mitte. Vielleicht können wir von hier verschwinden, bevor sich Inez etwas für uns ausdenkt. Unter Umständen verlangt sie von uns, dass wir uns vor versammelter Menge auf den Kopf stellen. Man kann es ja nie so genau wissen.«
»Eine gute Idee.« Abbey schwebte durch den Raum, murmelte Menschen, die sie kannte, Begrüßungen zu und ging flüchtig darauf ein, dass sie anderen vorgestellt wurde, denn sie wollte Hannah nach Kräften beschützen.
»Hier sind viel zu viele Menschen«, sagte Hannah. »Gibt es nicht Brandschutzbestimmungen, die das untersagen? Wo gabelt er bloß immer wieder all diese Leute auf?«
»Da ist Tante Carol. Sieh dir den Mann an, der an ihrem Arm hängt.« Abigail deutete grob unhöflich mit dem Finger auf ihre Tante. Sie war derart schockiert, dass ihr überhaupt nicht auffiel, wie schlecht sie sich benahm. »Das ist der olle Mars.«
Hannah lachte. »Du meinst Reginald. Er ist frisch gebadet, und er trägt einen Anzug. Tante Carol macht Schnappschüsse wie eine Irre. Hoffentlich macht sie auch ein Foto von ihm, denn das ist ein seltener Anblick. Ich habe ihn noch nie in etwas anderem als einem Overall gesehen. Und mit schmutzigem Gesicht. «
»Er sieht tatsächlich gut aus.«
Abbey lächelte und winkte Frank Warner zu, der sich gerade flink, aber mit größter Höflichkeit, in die entgegengesetzte Richtung einen Weg durch die Menge bahnte. Sie lächelte belustigt, während sie wartete, bis Hannah ein weiteres Autogramm gegeben hatte. Drüben in der Ecke signierte Kate ein Buch, das sie geschrieben hatte, und Joley kritzelte ihren Namen auf eine Baseballkappe.
»Abbey?« Hannah umklammerte ihr Handgelenk. »Ich habe Schwierigkeiten, hier drinnen zu atmen.« Ihre Stimme war so leise, dass Abbey sie kaum hören konnte.
Sie schlang Hannah sofort einen Arm um die Taille. »Dir kann nichts passieren, Kleines, solange du dicht an meiner Seite bleibst. Du weißt doch, dass sich jeder vor mir fürchtet. Vor allem Sylvia. Ist sie hier?« Sie wollte Hannah zum Lachen bringen, und das gelang ihr auch, doch mehr als einen kurzen schnaufenden Laut konnte sie ihr nicht entlocken.
»Ich glaube, vor mir fürchtet sie sich noch mehr als vor dir«, gab Hannah zu. »Du zahlst nie jemandem etwas heim.«
Abbey lachte laut, und wieder drehten sich Köpfe nach ihnen um. »Dann gibst du es also zu! Du solltest froh sein, dass ich nicht Sarah bin, denn dann bekämest du jetzt eine Strafpredigt zu hören.«
Hannah zuckte die Achseln. »Irgendjemand muss doch das ungezogene Mädchen sein.«
Abbey drückte ihre Schwester noch etwas enger an sich. »Du hast das sprichwörtliche Herz aus Gold, Hannah. Joley ist das gemeine Luder. Du bist ein ganz lieber Schatz.«
»He! Ich habe gehört, was du gerade gesagt hast.« Joley tauchte hinter ihnen auf und schlang einen Arm um Hannah, damit sie und Abbey sie von beiden Seiten bewachen und vor dem Gedränge beschützen konnten. Bedauerlicherweise genoss Joley viel zu viel Starruhm, um es bis ans andere Ende des Raumes zu schaffen, ohne von einem Dutzend Menschen angesprochen und um ein Autogramm gebeten zu werden.
»Ich bin ja so froh, dass ich kein Rockstar bin«, flüsterte Hannah.
Joley zuckte zusammen. »Ich bin überhaupt kein Rockstar.« Sie warf ihren Kopf zurück und setzte einen hochmütigen Gesichtsausdruck auf.
»Ich kann mir auch nichts Schöneres vorstellen, als von hier zu verschwinden, aber Sarah, Inez und Tante Carol werden uns in der Luft zerreißen, wenn wir zu früh unseren Abgang machen.«
»Ich habe eine Idee«, sagte Abigail. »Es ist aber eine ganz, ganz schlechte Idee, und wahrscheinlich handeln wir uns damit einen Haufen Ärger ein. Wollt ihr sie hören?«
»Ich bin sofort dafür zu haben«, sagte Joley. »Du gehst voraus. Ich brauche deine Idee gar nicht erst zu hören, um mitzumachen. «
Abigail bahnte sich einen Weg durchs Gedränge zu einer Tür mit der Aufschrift: Zutritt nur für Mitarbeiter. »Chad Kingman arbeitet im Lager. Erinnert sich eine von euch beiden noch an ihn?«
Joley schnitt eine Grimasse. »Du spielst doch nicht etwa mit dem Gedanken, deinen scharfen Russen für Chad aufzugeben, oder? Erinnerst du dich nicht mehr daran, was für ein Ekelpaket er war, als wir zusammen zur Schule gegangen sind?«
Hannah brach wieder in Gelächter aus. »In der Schule war jeder ein Ekelpaket, Joley. Wir sind alle erwachsen geworden, sogar Chad.«
»Aber das Flittchen kann doch nicht mit dem einen schlafen und sich gleich danach dem anderen in die Arme werfen.«
»Ich weiß, dass du mich niemals im Ernst ein Flittchen nennen würdest, Joley!« Abigail sah sie böse an. »Außerdem weißt du gar nicht, ob ich mit Aleksandr geschlafen habe oder nicht.«
Joley grinste sie an. »Hannah hat mir erzählt, dass du das rote Höschen angezogen hast. Du hattest von vornherein die Absicht, mit diesem Mann zu schlafen, und du bist die ganze Nacht fort gewesen.«
Abigail bemühte sich, unschuldig zu wirken, aber daraus wurde nichts, denn an ihrem Hals und ihren Wangen stieg Röte auf, und ihre Schwestern kicherten wie Schulmädchen. »Also gut, vielleicht habe ich es ja getan«, räumte Abigail ein. »Aber ich habe gar nicht vor, mich auf die Suche nach Chad Kingman zu machen. Um Himmels willen, er würde kein Wort mit mir wechseln, nicht einmal dann, wenn ich ihn toll fände, was überhaupt nicht der Fall ist. Als er im ersten Jahr die Highschool besucht hat, kam es auf einer Party zu einem kleinen Zwischenfall. Das war ziemlich übel. Seitdem hat er nie mehr etwas für mich übrig gehabt.«
Sie sah sich um und stieß die Tür auf und alle drei Schwestern huschten hindurch. Im Hinterzimmer war es düster. Auf dem Fußboden und auf Tischen waren Kisten verstreut. Überall standen Skulpturen in jeder Größe herum.
»Ganz geheuer ist mir das nicht«, sagte Hannah. »Was tun wir hier überhaupt?«, fragte Joley. »Ich finde es gar nicht mal so übel. Wenigstens brauchen wir hier nicht Frank anzulächeln, und wir müssen auch nicht mit ansehen, wie er mit Tante Carol flirtet. Sie macht diesem Mann absichtlich Hoffnungen, damit sie ihn für Jonas ausspionieren kann.«
»Tante Carol liebt das Theatralische. Und es kann gar nichts schaden, wenn gleich zwei Männer bei jedem Wort, das sie sagt, an ihren Lippen hängen«, sagte Hannah. »Ich weiß nicht, wie sie das anstellt. Ich habe mich sogar dicht neben sie gestellt, um zu sehen, ob ich das Aufflammen von Magie spüren kann, wenn sie flirtet, aber ich nehme keine Spur davon wahr. Es ist wirklich ihre Ausstrahlung. Jeder fühlt sich wohl in ihrer Nähe.«
»Sie verbreitet gute Laune um sich«, sagte Joley. »Abigail, du solltest dich ans Büffet zurückschleichen und uns was zu essen und zu trinken besorgen. Dann können wir hier unsere eigene Party feiern.«
»Wir feiern keine Partei, du Faulpelz, wir spionieren.« Hannah packte aufgeregt ihren Arm. »Wir spionieren?« Dann senkte sie ihre Stimme und sah sich um. »Wir brauchen Tante Carols Fotoapparat.«
»Also schön, ihr beide wartet hier, und ich hole die Kamera und besorge uns etwas zu essen.« Abigail schlüpfte zur Tür hinaus und mischte sich unter die Massen, die sich durch die Galerie schoben.
Carol stand in einer Ecke und lachte mit Reginald Mars. Abigail schnappte sich einen Teller, häufte kleine Häppchen darauf und bahnte sich einen Weg zu ihrer Tante. »Hallo, Mr. Mars«, begrüßte sie deren Begleiter. »Sie sehen prachtvoll aus.«
Carol ließ ihre Hand über Reginalds Arm gleiten. »Ist er nicht ein schöner Mann?« Sie strahlte ihn an; ihre Augen leuchteten, und ihr Lächeln war echt.
Der olle Mars gab Abigail höflich die Hand und ließ ein charmantes Lächeln aufblitzen. Er hatte nur Augen für ihre Tante. »Nett, dich zu sehen, Abbey.«
»Ich hoffe, ihr beide amüsiert euch gut. Tante Carol, würde es dir etwas ausmachen, mir für ein paar Minuten deine Kamera zu leihen? Joley möchte ein paar Aufnahmen für ihr Sammelalbum machen.«
»Aber gewiss, meine Liebe, du kannst sie gern ein Weilchen haben.« Carol nahm den Fotoapparat von ihrem Hals und reichte ihn Abigail. »Ich habe bereits diverse Aufnahmen von euch allen gemacht, als ihr euch durch die Menge bewegt habt. Soll ich dir zeigen, wie die Kamera funktioniert?«
»Danke, das ist nicht nötig.« Abigail bemühte sich, möglichst unschuldig zu wirken. Das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Tante verblasste, und das war ein schlechtes Zeichen. »Ich wünsche euch beiden noch viel Spaß!« Sie eilte davon, bevor Carol sie mit ihrem Röntgenblick gründlicher durchleuchten konnte.
»Was hast du uns zum Knabbern mitgebracht?«, wurde Abigail von Joley begrüßt, sowie sie durch die Tür schlüpfte. »Ich bin am Verhungern.«
»Wie kannst du jetzt ans Essen denken? Du hast dich doch die ganze Zeit am Büffet herumgetrieben«, wandte Abigail ein. »Ich habe die Kamera mitgebracht. Das Essen war nur ein Vorwand für den Fall, dass mich jemand beobachtet.«
»Jetzt, wo es da ist, können wir es auch aufessen«, sagte Joley.
Hannah verdrehte die Augen, doch sie nahm sich eine schwarze Olive. »Wonach suchen wir, Abbey?«
»Du Miststück, du hast mir meine Olive weggeschnappt!« Joley gab ihrer Schwester einen Klaps auf die Hand. »Iss diese Gurkendinger. Die kann ich nicht ausstehen.«
»Wonach wir suchen, weiß ich selbst nicht so genau, aber uns interessiert alles, was ein russischer Kunstgegenstand sein könnte. Die Verpackung könnte beispielsweise aus Russland stammen. Alles, was unter Umständen einen Hinweis darauf gibt, dass hier etwas Illegales vorgeht.«
Joley stand vor einer Statue von einem nackten Mann und drehte ihren Kopf von einer Richtung in die andere, um die auffallend kleinen Geschlechtsteile eingehend zu mustern. »Armselig, wenn ihr mich fragt. Ganz im Ernst, so etwas sollte verboten werden. Wo zum Teufel würdet ihr eine solche Statue aufstellen? Etwa im Garten?«
Abigail zerrte sie von der Statue fort. »Du bist pervers, Joley. Du findest natürlich wieder den einzigen nackten Mann im Raum.«
Joley blieb hinter ihr zurück. »Ich glaube, ich habe mich in diesen Kerl verliebt. Na ja, jedenfalls beinah. Frank wird noch einmal Hand anlegen müssen. Könnt ihr euch Franks Gesicht vorstellen, wenn ich ihn bitten würde, die Proportionen zu vergrößern? « Sie schnalzte mit den Fingern. »Gib mir den Fotoapparat. «
Abigail tauschte die Kamera gegen den Teller mit den Häppchen ein. »Was hast du gefunden?«
»Ich werde Tante Carol einen Vorgeschmack darauf geben, wie ihr Leben aussehen könnte, wenn sie sich für den falschen Mann entscheidet.« Joley begann, Aufnahmen von der Statue zu machen. »Man kann es ja nie so genau wissen. Vielleicht hat Frank selbst für diese Statue Modell gestanden, und in dem Fall sollte Tante Carol ganz entschieden dem ollen Mars eine Chance geben, auch wenn er noch so grobschlächtig und für meine Begriffe reichlich gestört ist.«
»Joley!« Abigail bemühte sich, einen strengen Tonfall anzuschlagen. »Wir haben es hier mit einer ernsten Angelegenheit zu tun. Aleksandr sagt, eine Lieferung gestohlener Kunstwerke aus Russland sei von einem Frachter aus in ein Fischerboot abgeladen worden. Irgendwohin müssen diese Gegenstände gebracht worden sein, und Franks Name ist mehrfach aufgetaucht. Chad arbeitet hier. Er packt die Lieferungen aus und verpackt Kisten, die an andere Orte transportiert werden.«
Joley lief um zwei geöffnete Kisten herum, die auf dem Boden standen. »Keiner nimmt mich ernst«, murrte sie. »Und das, obwohl ich mich langsam, aber sicher zur Kunstkennerin entwickle. Wisst ihr überhaupt, wie oft ich schon von Männern gefragt worden bin, ob ich mir ihre Kupferstiche ansehen möchte? Heute traut sich ja keiner mehr, dir seine Briefmarkensammlung zu zeigen.«
Hannah hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. »Wenn du nicht aufhörst, ersticke ich vor Lachen. «
»Du würdest nicht ersticken, wenn du mir meine Oliven nicht vor der Nase weggeschnappt hättest, du Diebin.« Joley lugte unter den Tisch. »Hier liegt eine Menge Verpackungsmaterial herum, Abbey. Manche Verpackungen haben Wasserflecken. Wenn sie etwas von einem Schiff abladen und es in einem Fischerboot verstauen, würde es wahrscheinlich nass werden, oder nicht?«
Abigail eilte um einige Kisten herum an ihre Seite, weil sie sich unter dem Tisch umsehen wollte. »Selbst wenn wir Beweise finden, woher sollen wir dann wissen, ob es Chad oder Frank ist oder ob sie alle beide in diese Geschichte verwickelt sind?« Sie kauerte sich hin, um näher an das Packpapier heranzukommen. »Das sind ganz entschieden Wasserflecken, aber es ist nichts weiter als schlichtes braunes Packpapier.« Sie machte trotzdem ein Foto und holte die Wasserflecken mit dem Zoomobjektiv näher heran. »Wahrscheinlich ist es reine Zeitverschwendung, aber so können wir uns wenigstens ein Weilchen vor der Party drücken.«
»Du hast uns nichts zu trinken mitgebracht«, beschwerte sich Joley. »Kunstwerke anzuschauen, die nicht für gut genug befunden werden, um sie auszustellen, ist schließlich harte Arbeit.«
Abigail drehte sich zu ihr um und sah sie an. »Ja, warum werden diese Sachen eigentlich nicht in den Ausstellungsräumen gezeigt? Sollen sie versandt werden? Sind sie bereits verkauft? Frank muss diese Sachen doch bestellt haben, oder nicht?«
»Vielleicht hat sie ihm jemand in Kommission gegeben, damit er das Zeug für ihn verkauft.«
»Abbey«, sagte Hannah, »komm doch mal her. Ich nehme hier plötzlich etwas ganz anderes wahr.«
Abigail durchquerte den Lagerraum. Sie reagierte nicht annähernd so empfindlich auf atmosphärische Veränderungen wie Hannah, aber sogar sie nahm die seltsamen Verschiebungen wahr, die um einen kleinen Winkel des Raums herum stattfanden. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und ihr Mund wurde trocken. »Wofür hältst du es?«
»Spürst du es denn nicht selbst? Gewalttätigkeit. Nicht Tod, aber ganz entschieden Gewalt.« Hannah suchte den Boden und die Wände ab und achtete sorgsam darauf, ihre Kleidung nicht zu beschmutzen. »Sieh dich um, ob du etwas finden kannst, was auf einen Kampf hinweist, zu dem es kürzlich hier gekommen ist. Lange kann es nicht her sein, sonst würde ich die Brutalität nicht so deutlich wahrnehmen.«
Joley stellte sich neben Hannah. »Das ist noch keine zwei Stunden her.« Sie erschauerte. »Hier hat eindeutig eine körperliche Auseinandersetzung stattgefunden. Hat eine von euch beiden zufällig einen Blick auf Franks Hände geworfen? Auf die Knöchel?«
»Frank muss Ende fünfzig sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich eine Stunde, bevor die Presse hier erscheint und er das ganze Haus voller Leute hat und das Auftauchen von Berühmtheiten erwartet, auf einen Faustkampf einlässt«, sagte Abigail. »Dafür ist er einfach nicht der Typ.«
»Aber Chad ist der Typ dafür«, sagte Joley. »In der Schule wollte er immer jede Auseinandersetzung mit den Fäusten regeln, egal, mit wem.«
Abigail kauerte sich hin, um den Boden genauer zu untersuchen. »Hier ist Blut. Kleine Blutflecken. Und ein paar Spritzer auf den Tischbeinen.« Sie ließ ihre Hand über den Boden gleiten. »Sogar auf den Wandschränken ist Blut.« Sie zog die unterste Schublade eines der Schränke heraus und starrte die vier Gemälde an, die hochkant dort standen, mit dem Rahmen zu ihr. »Hannah, sieh dir das mal an.«
Hannah zog unter Verwendung von zwei Papierservietten, die Abigail vom Büffet mitgebracht hatte, behutsam eines der Gemälde aus der Schublade. »Das ist keine Fälschung, Abbey. Es ist echt. Von Kunst verstehe ich nicht besonders viel, aber ich kann das Alter der Leinwand fühlen. Was meinst du, Joley?«
Joley streckte ihre Hand aus, ohne das Bild zu berühren. Sie hielt einen Abstand von vielleicht zehn Zentimetern ein. »Ich glaube, Frank Warner ist ein ganz außerordentliches Schwein und sollte seine gierigen Pfoten von unserer Tante lassen.«
»Es könnte immer noch Chad sein.« Abigail stellte die Tiefenschärfe ein und machte mehrere Aufnahmen. Dann bedeutete sie Hannah, das nächste Bild aus der Schublade zu ziehen. »Ich werde Aleksandr die Fotos zeigen. Dann wissen wir, ob diese Gemälde gestohlen worden sind.«
»Es ist ganz ausgeschlossen, dass diese Gemälde nicht irgendwo in einem Museum hängen sollten«, sagte Joley. »Und mir fällt es schwer, zu glauben, dass Chad genug Verstand besitzt, um heiße Ware aus anderen Ländern auf dem Kunstmarkt zu verkaufen.«
»Außerdem trinkt er«, hob Hannah hervor, während sie die dritte Leinwand hochhielt. »Wenn er betrunken ist, gibt es nichts, worüber er nicht redet. Würde ihm nicht früher oder später etwas herausrutschen, und sei es auch nur, um damit anzugeben? «
»Wenn er es ist, dann muss er einen Haufen Kohle daran verdienen«, sagte Abigail, während sie Aufnahmen von dem letzten Gemälde machte. »Weiß eine von euch beiden, was für einen Wagen er fährt oder ob er sich ein Haus gekauft hat?«
»Ich habe gehört, dass er ein Spieler ist.« Hannah ließ das letzte Gemälde wieder in die Schublade sinken und schloss die Schranktür. »Inez hat es mehrfach erwähnt. Einmal hat sie behauptet, wenn er sich nicht vorsehen würde, würden sie ihm beide Beine brechen.«
»Was ist mit Frank?« Abigail machte sich auf den Rückweg zur Tür. »Spielt er? Was hast du über ihn gehört?«
»Seltsamerweise sehr wenig. Er scheint ein ruhiges Leben zu führen«, sagte Hannah. »Er geht gern ins Theater, und er tut viel für die Gemeinde. Ich weiß nicht recht, aber er scheint einfach nicht der Typ zu sein, der etwas Ungesetzliches täte.«
Joley hielt Abigail zurück, bevor sie die Tür öffnen konnte. »Es kommt jemand«, flüsterte sie. »Beeilt euch, wir müssen uns verstecken.«
Abigail stellte diese Entscheidung nicht infrage, sondern sprang mit einem Satz hinter einen kunstvollen modernen Brunnen, der in eine dunkle Ecke verbannt worden war. Hannah ließ sich unter einen Tisch sinken, der von einer Festung aus Kisten umgeben war, und Joley zwängte sich in eine schmale Ritze hinter einer der größten Statuen. Die Tür schwang auf und Sylvia Fredrickson schlich in den Lagerraum. Sie zog einen Mann hinter sich her. Aleksandr Volstov folgte ihr und schloss die Tür.
»Mach schnell«, sagte Sylvia. »Es wird dich bestimmt sehr interessieren. Mein Freund Chad arbeitet im Lager, und ich habe ihn schon Dutzende von Malen hier besucht.« Ihre Blicke schossen in alle Richtungen und suchten die dunklen Ecken ab. Sie stieß einen kleinen enttäuschten Seufzer aus und setzte ein kokettes Lächeln auf.
»Bist du sicher, dass uns der Zutritt zum Lager gestattet ist?«
Abigail schluckte schwer, als sie zusah, wie Sylvia Aleksandr in die Mitte des Raums zog. Aleksandr gab sich höflich und interessiert, aber es bestand kein Zweifel daran, dass es ihm nicht behagte, wie intim die Finger dieser Frau über seinen Arm glitten. Seine Aura hielt die Distanz zu Sylvia aufrecht und wich jedes Mal, wenn sie ihm näher kam, zurück. Sie besaß die Dreistigkeit, seine Hand weiterhin fest zu umklammern und ihm kokett zuzuzwinkern.
Aleksandrs Blick war unstet. Er sah sich gründlich im Lager um und forschte in jedem finsteren Winkel nach Geheimnissen. Abigail kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er auf der Hut war und sich unbehaglich fühlte. Zweimal fiel sein Blick auf den Brunnen, hinter dem sie kauerte und sich bemühte, die Luft anzuhalten.
»Da ist nichts weiter dabei.« Sylvia drehte sich zu Aleksandr um. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir etwas ganz Erstaunliches zeigen werde.« Ihre Hände legten sich auf die Knöpfe ihrer Bluse.
»Es war die Rede von Kunst.« Er legte seine Hand auf ihre, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.
»Ich bin ein Kunstwerk«, antwortete sie mit einem verführerischen Lächeln.
Abigail schnappte hörbar nach Luft, und ihr Magen verkrampfte sich vor Zorn. Sie warf ihren Schwestern einen Blick zu. Sie musste schleunigst verschwinden, bevor die rasende Wut sich in etwas verwandelte, worüber sie keine Kontrolle mehr haben würde.
Aleksandr ging um Sylvia herum, um sich im Lager umzusehen. Abigail konnte erkennen, dass er sich von der Ecke angezogen fühlte, in der sie das Blut gefunden hatte. Er ging in die Hocke, wie auch sie es getan hatte, und untersuchte den Fußboden gründlich. »Ich glaube nicht, dass wir uns hier aufhalten sollten«, wandte er noch einmal ein.
Sylvia hatte ihre Bluse inzwischen aufgeknöpft. »Sei nicht albern. Wir werden schon nicht erwischt. Alle sind vollauf damit beschäftigt, die Berühmtheiten unseres Ortes um Autogramme zu bitten.« Ihre Stimme klang bissig.
Hannah hob beide Hände, und eine Brise ließ Staub im Lager aufwirbeln. Sylvia begann sofort zu niesen, ein heftiger Anfall, der einfach nicht vorübergehen wollte. Aleksandr war gezwungen, ihre Bluse wieder zuzuknöpfen, ehe er sie aus dem Lager führte. Als er zur Tür hinausging, warf er noch einmal einen Blick auf den Brunnen.