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Leseprobe aus Christine Feehan Gezeiten der Sehnsucht.
Das ist mein letzter Patient, Evelyn«, sagte Libby mit einem matten Lächeln zu der Krankenschwester. »Ich muss dringend nach Hause.«
»Haben Sie den Trubel in der Notaufnahme mitgekriegt, Frau Doktor?«, fragte Evelyn.
»Ich habe zwei Hubschrauber ankommen hören«, erwiderte Libby, »aber ich war zu beschäftigt, um nachzusehen, was dort vorgeht.« Gleich zwei Hubschrauber auf einmal, das war ungewöhnlich, und daher vermutete sie, dass es auf der Schnellstraße zu einem Unfall gekommen war.
»Ich habe nur hier und da ein Wort aufgeschnappt, aber es sieht so aus, als sei Drew Madison draußen auf den Klippen über der Seelöwenbucht herumgeklettert und runtergefallen. Sie haben den Rettungshubschrauber benachrichtigt und bei den Rettungsarbeiten ist etwas schief gegangen.«
Libby schnappte hörbar nach Luft. »Drew? Sind Sie ganz sicher? Was um Himmels willen hatte er bei diesem Wetter draußen zu suchen? Und noch dazu auf den Klippen? Er weiß doch, wie gefährlich sie sind.« Durch die ständige Erosion hatten sich breite Sprünge in den Klippen gebildet, und der Fels bröckelte ohne Vorwarnung ab. Selbst ohne die Warnschilder, die überall aufgestellt worden waren, wären die Einheimischen gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, in den heimtückischen und instabilen Felswänden herumzuklettern. »Wissen Sie, wie schlimm seine Verletzungen sind?«
»Der Orthopäde sieht ihn sich gerade an. Sie werden die Ärzte in der Notaufnahme schon selbst fragen müssen, Libby. Wir hatten heute hier in der Chirurgie so viel zu tun, dass ich noch gar keine Gelegenheit hatte, mich genauer zu erkundigen. «
»Danke, Evelyn. Ich werde auf dem Weg noch kurz bei ihm hereinschauen.«
Libby warf ihre Handschuhe in einen Abfalleimer und hob eine Hand, als sie durch den Korridor zur Notaufnahme eilte. Sie kannte Drew schon seit seiner Geburt. Er war kein Junge, der Dummheiten anstellte. Er war in dem kleinen Städtchen Sea Haven aufgewachsen, und die Gefahren der Klippen waren ihm durchaus bewusst. Ihr leuchtete überhaupt nicht ein, warum Drew bei Regen auf einer gefährlichen Klippe herumgeklettert sein sollte, wo er doch sein Leben lang so hart daran gearbeitet hatte, seine Leukämie in Schach zu halten.
In der Notaufnahme herrschte mehr Trubel als sonst. Sowie sie die Station betrat, spürte sie, dass ihre Heilkräfte vonnöten waren. Ihr Magen schlingerte, und ihre Schläfen begannen zu pochen. Jemand war in einem sehr, sehr schlechten Zustand. Normalerweise nahm sie den Ruf nach Heilung nicht so intensiv wahr, doch diesmal begannen die Energien in jeder Zelle ihres Körpers zu knistern. Ihre Handflächen wurden warm.
Eine der Krankenschwestern in der Notaufnahme war Linda Bowers, eine Freundin aus ihrer gemeinsamen Zeit in der Highschool. »Was ist hier los?«, erkundigte sich Libby schroff.
»Ein Hubschrauberrettungseinsatz«, antwortete Linda. »Vor den Klippen der Seelöwenbucht.«
»Das Wetter ist grässlich. Dieser Wind und dieser Regen. Ich habe gehört, es war Drew Madison. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er auf den Gedanken gekommen ist, sich dort draußen herumzutreiben. Wo doch jeder weiß, wie gefährlich das ist.«
»Jonas und Jackson waren schon bei Drew, und nach den wenigen Gesprächsfetzen zu urteilen, die ich aufgeschnappt habe, sind sie keineswegs sicher, dass es ein Unfall war. Pete Granger hat Drew entdeckt, nachdem er anscheinend von der Klippe gefallen oder ausgerutscht ist, oder vielleicht ist er sogar ein Stück weit hinuntergeklettert. Dann ist er den Rest des Weges auf die Felsen gestürzt.«
»Wie schlimm sind seine Verletzungen?«
»Sein Gehirn ist unversehrt, aber seine Beine müssen mit Sicherheit operiert werden. Der Orthopäde sieht ihn sich gerade an. Der Junge weigert sich, mit seiner Mutter zu reden. Er will sie nicht sehen, und sie ist restlos hysterisch. Wir haben ihr sogar schon angeboten, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben.« Linda blickte finster. »Ich finde, du solltest wissen, dass sie dir und deinen Schwestern die Schuld daran gibt.«
»Was? Wie könnten wir dafür verantwortlich sein, dass Drew auf den Klippen herumläuft? Das Grundstück gehört Kate, aber die Klippen sind eindeutig als gefährlich markiert und von einem Zaun umgeben und überall sind Warnschilder aufgestellt. Sie kann Kate nicht die Schuld zuschieben. Und uns allen schon gar nicht.«
»Anscheinend hat sie dich gebeten, Drew zu heilen.«
Libby presste sich eine Hand auf den Magen. Der Drang zu handeln wurde immer intensiver. Jemand war in einer verzweifelten Lage, und es war nicht Drew, der operiert werden musste. Sie spürte, wie sie nach links gezogen wurde, und sie machte sogar einen Schritt in diese Richtung, bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte. »Ich kann Drew nicht heilen. Das habe ich ihr gesagt. Meine Schwestern sind mitgekommen, und wir haben hart daran gearbeitet, Zeit für ihn herauszuschinden, weil die Hoffnung besteht, dass man in der Forschung vorankommt.«
Es kostete Libby Mühe, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Das Thema war ihr wichtig, aber der fortwährende Sog, der von einem bestimmten Raum in der Notaufnahme ausging, war stark. Durch die Trennscheibe aus Glas konnte sie jemanden sehen, der an Geräte angeschlossen war. Wer auch immer dieser Patient sein mochte, seine Lebenskraft floss stetig aus ihm heraus.
»Irene glaubt, dass Drew versucht hat, sich umzubringen.«
Damit zog sie Libbys Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Das ist unmöglich. Er hat jahrelang einen Kampf gegen die Leukämie geführt. Er war immer wild entschlossen, unter allen Umständen zu leben.«
»Sie hat ihn für ein experimentelles Programm mit einem neuen Medikament angemeldet, das vollständige Heilung in Aussicht stellt. Diesem Medikament gibt sie auch die Schuld und behauptet, eine der Nebenwirkungen seien Depressionen. «
Libbys Aufmerksamkeit war geweckt. »Doch nicht etwa PDG-Ibenregen?«
Linda nickte. »So heißt das Medikament. Wieso? Hast du schon davon gehört?«
»Ich habe Irene ausdrücklich davor gewarnt. Drew fällt in die Altersgruppe, in der vorläufige Untersuchungen Probleme mit Depressionen aufgezeigt haben. Ich war nicht der Meinung, dass dieses Medikament weit genug entwickelt ist, um es an Menschen zu testen, und genau das habe ich ihr gesagt.« Libby rieb ihre pochenden Schläfen und bemühte sich, dem Sog zu widerstehen, den der Patient im Nebenraum auf sie ausübte. »Warum um alles in der Welt hat sie nicht auf mich gehört? Sie hat mich danach gefragt, und ich habe mich eingehend damit beschäftigt. Es hat mich interessiert, weil das Medikament auf den Forschungen von jemandem aufbaut, mit dem ich zur Schule gegangen bin, aber in der ersten Phase der klinischen Versuche sind bei zwei Teenagern Probleme aufgetaucht und bei mir haben alle Warnlämpchen geblinkt. Eventuell erinnerst du dich noch an den Forscher, der die Grundlagen dafür geschaffen hat. Er heißt Tyson Derrick und wohnt ab und zu bei seinem Cousin Sam Chapman hier an der Küste. Vor ein paar Jahren hat er für seine Studien zur Zellregeneration bei der Wundheilung einen Nobelpreis in Medizin bekommen. «
»Tja, der wird für nichts mehr einen Nobelpreis bekommen. Er war der Retter, der abgeseilt worden ist. Sein Rettungsgurt hat versagt, und er ist abgestürzt. Ein schweres Schädelhirntrauma und innere Verletzungen. Sie wollen ihn nach San Francisco fliegen, aber ich bezweifle, dass er die Nacht überleben wird.«
Libby holte hörbar Luft und presste eine Hand auf ihren Magen, der plötzlich in Aufruhr geraten war. »Tyson war der Retter?« Sie drehte ihren Kopf zu der gläsernen Trennwand um und versuchte, das Gesicht des Patienten zu sehen. »Bist du ganz sicher? Er ist Biochemiker. Ein namhafter Forscher. Er ist brillant. Absolut brillant. Jonas hat gerade erst gestern Abend erwähnt, dass Ty für das Forstamt arbeitet, aber ich hätte nicht geglaubt …« Sie ließ ihren Satz unvollendet.
»Seine Eltern sind vor ein paar Jahren gestorben und haben ihm mehr Geld hinterlassen, als ganz Sea Haven gemeinsam besitzt. Sam wird höchstwahrscheinlich alles erben. Es muss grässlich für ihn sein. Sie stehen einander sehr nahe, und Tyson ist sein einziger Verwandter.«
»Deshalb hat er beim Forstamt gearbeitet. Sam ist Feuerwehrmann. « Libby konnte ihren Blick nicht von der Glasscheibe losreißen. »Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert ist. Wer hat Ty behandelt?«
»Tut mir Leid, Libby, dir ist deutlich anzusehen, dass du fassungslos bist, aber Dr. Shayner hat sich den Patienten gründlich vorgenommen. Er hat Tyson augenblicklich intubiert und sowohl eine Computertomographie als auch eine Untersuchung des Kopfes und der Wirbelsäule angeordnet. Seine Pupillen waren stark geweitet, und seine Augenreflexe waren negativ, ebenso wie die Schluckreflexe. Er liegt im Koma.«
»Ich will die Aufnahmen sehen.«
Linda ging ohne einen Kommentar voraus. »Dr. Shayner trifft Vorkehrungen, um ihn nach San Francisco fliegen zu lassen. Er berät sich gerade mit dem Neurologen.«
Libbys Herz sank, als sie die Aufnahmen sah. »Die Sterblichkeitsquote bei diffusen anoxalen Verletzungen ist hoch«, murmelte sie laut vor sich hin, während die Falten in ihrer Stirn tiefer wurden. Das Gehirn war bei dem Sturz zu heftig erschüttert worden, und dadurch war die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten worden. »Die einzige Methode zur Behandlung besteht im Stabilisieren des Kreislaufs und der Atmung. Er hat sowohl subdurale als auch durale Hämatome.« Libby sprach weiterhin mit sich selbst.
Tyson hatte schwerste Hirnblutungen. Das Gehirn schwoll an. Libby schloss kurz die Augen. Sie durfte ihn nicht ansehen. Sie musste fortgehen, solange sie es noch konnte. Zur Tür hinausgehen und sich kein einziges Mal umsehen. Ihre Beine fühlten sich so weich an wie Gummi. Ihr Körper wankte ein wenig, und sie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und beugte sich vor, um tief Luft zu holen.
»Libby, ist alles in Ordnung mit dir?« Linda legte eine Hand auf Libbys Rücken, um ihr Halt zu geben. Mit einem kleinen Aufschrei hob sie ihre Handfläche an ihre Lippen. »Du bist glühend heiß, Lib.« Ihre Finger fühlten sich verbrüht und wund an.
Sie konnte Tyson nicht im Stich lassen, wenn sie bedachte, wie brillant er war und dass er diesen unglaublichen Verstand besaß, der in der Lage war, so viel Gutes zu tun. Sie durfte nicht einfach fortgehen. Libby hörte Linda wie aus weiter Ferne; Worte, die dumpf durch ihren Kopf schwirrten, auf die sie sich aber nicht konzentrieren konnte. Libby stieß sich von der Wand ab und stellte fest, dass sich ihr Körper automatisch in Bewegung setzte und auf das Zimmer zuging, in dem Tyson Derrick in Todesnähe lag.
Nein! Libby, verschwinde sofort. Das ist zu gefährlich.
Elle, die jüngste Drake-Schwester, besaß eine ausgeprägte telepathische Begabung. Libby hörte die Eindringlichkeit in ihrer Stimme, die Furcht, die sich zu Entsetzen ausweitete, doch sie konnte nicht innehalten, obwohl sie erkannte, dass sie nicht nur sich selbst in Gefahr brachte, sondern auch ihre Schwestern. Sie waren so eng miteinander verbunden wie vor ihnen ihre Ahninnen. Sie mochten zwar individuelle Gaben besitzen, doch ihre Kräfte und ihre Energien gehörten ihnen gemeinsam und durch eben diese Gaben waren sie auf irgendeine Weise, die sie selbst nicht ganz verstanden, eng miteinander verbunden.
Sie hörte ihr eigenes verzweifeltes Schluchzen und ihr Flehen um Verständnis, als sie sich bei ihren Schwestern dafür entschuldigte, dass sie nicht fähig war, einfach wegzugehen. Sie hielt sich in der Hoffnung an der Tür fest, das gäbe ihr Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Umkehren, doch ihre Füße bewegten sich aus eigenem Antrieb voran und trugen sie an die Seite der Krankenliege. Licht strömte aus ihrem Körper heraus und ergoss sich aus ihren Fingerspitzen, als sie auf Tyson zuging.
Libby sah in das bleiche, mit Blut verschmierte Gesicht hinunter. Ihr Herz machte einen Satz. Es war ganz eindeutig der Tyson Derrick, den sie in Erinnerung hatte, obwohl seine stechend blauen Augen geschlossen waren und die schwarzen Wimpern zwei dichte Halbmonde über dunklen Ringen bildeten. Das pechschwarze wellige Haar fiel ihm in die Stirn und einzelne Strähnen klebten in seinem Blut. Seine Schultern waren noch breiter, als sie sie in Erinnerung hatte; in seinen Armen zeichneten sich die Muskeln deutlich ab. Der Atem stockte in ihrer Kehle, und aus irgendeinem seltsamen Grund beschleunigte sich ihr Herzschlag.
Tyson Derrick war der einzige Mann, dem es je gelungen war, ihr unter die Haut zu gehen. Libby war es gewohnt, dass ihr auf ihrem Gebiet Hochachtung und Respekt gezollt wurden. Sie war brillant, und sie wusste es. Nur ein einziger Mann hatte jemals bessere Noten bekommen als sie. Nur ein einziger Mann hatte jemals herablassend mit ihr geredet und war manchmal so grob gewesen, dass sie sich nachts in den Schlaf geweint hatte. Es war albern, aber sie dachte öfter an ihn, als sie es zugeben wollte. Es hätte ihr nichts ausmachen sollen, dass er sie nicht als gleichwertig respektierte, aber es machte ihr etwas aus. Dieses Wissen verbarg sie tief in ihrem Innern, denn sie schämte sich dafür, dass sie sich ausgerechnet zu einem Mann hingezogen fühlte, der ihr gegenüber so gleichgültig war. Einem Mann, von dem sie nicht einmal eine gute Meinung hatte.
»So viel Blut. So viel Schmerz«, flüsterte sie. Sein Gesicht war grau und wirkte angespannt. Das durfte nicht sein. Tyson Derrick war ein Mann, den die medizinische Welt brauchte. Er sah Dinge, die anderen entgingen, und er war hartnäckig, wenn er nach Antworten suchte.
Libby berührte beide Seiten seines Kopfes mit ihren Fingerspitzen.
Libby! Hör auf! Elle und Hannah schrien den Befehl in ihrem Kopf, und ihre Stimmen klangen verzweifelt. Die Schreie der anderen – Sarah, Kate, Abigail und Joley – hallten durch ihren Verstand und verklangen, als sich die Glut in ihrem Körper anstaute.
Energien ließen die Luft um sie herum knistern. Sie holte tief Atem, um sich zu konzentrieren. Die meiste Zeit verließ sie sich auf die Schulmedizin, aber schon jetzt geriet dieser Ort in ihrem Innern, ein Quell von Energie und Licht, in Bewegung und öffnete sich. Die Kraft strömte durch jede ihrer Zellen und erfüllte sie von Kopf bis Fuß.
Es war zu spät für einen Rückzieher. Sie schien unter Zwang zu handeln und fühlte sich von einem Verlangen gepackt, gegen das sie nicht ankämpfen konnte. Dem Drang, diesem einen Mann das Leben zu retten, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihr eigenes Leben und ihre geistige Gesundheit aufs Spiel setzte. Und sogar auf die Gefahr hin, dass sie das Leben derer, die sie liebte, gefährdete. Es war reiner Wahnsinn, aber eine so grundlegende Notwendigkeit wie das Atmen. Sie ließ Licht und Energie aus ihrem Körper in Tysons Körper hineinströmen.
Schmerz brach über sie herein, durchzuckte sie und stach in ihrem Kopf, in ihrer Brust, in ihren Organen, bis sie glaubte, möglicherweise ohnmächtig zu werden. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, um sich nicht von dem Schmerz unterkriegen zu lassen. Hitze floss durch ihren Körper, strömte durch ihre Arme in ihre Hände hinab und von dort aus in sein Gehirn und trug unbändige Energie und Licht mit sich. Blut rann aus ihren Mundwinkeln über ihr Gesicht und ihre Arme. Steine schienen sich in ihrer Brust niederzulassen und ihre Lunge zu zerquetschen.
Libbys Konzentration ließ nach. Sie wankte in dem Moment von Tysons Bett zurück, als er sich zu rühren begann. Der Herzmonitor schlug gewaltig aus, und dasselbe galt auch für das EEG. Tysons Lider flatterten. Er blinzelte mehrfach schnell hintereinander und blickte zu ihr auf.
Ty wusste, dass es nur ein Traum sein konnte. Manchmal sah er ihr Gesicht vor sich, wenn er sich sehr einsam fühlte. Libby Drake. So wie jetzt. Niemand sonst hatte derart vollendete Gesichtszüge. Er gestattete es sich, ihren Anblick einfach nur in sich aufzusaugen, während sein Blick sich auf ihr ovales Gesicht heftete. Ihre Haut wies exakt den Schimmer auf, den er in Erinnerung hatte. So hell wie Alabaster und so zart, dass er die Hand ausstrecken und sie mit seinen Fingerspitzen liebkosen wollte. Ihre Lippen waren voll, fast schon ein Schmollmund. Lippen, die zum Küssen geschaffen waren und selbst dann, wenn sie ihn finster und missbilligend ansah, viel zu viele erotische Phantasien in ihm heraufbeschworen. Er dachte viel zu oft an ihre Lippen, sogar in den aufregendsten Zeiten, wenn er einer schwer fassbaren Antwort auf der Spur war und darüber Essen und Schlafen vergaß. Er fixierte sich vollständig auf sie und vertrieb für wenige kostbare Minuten den Schmerz, während er sich ausschließlich auf sie konzentrierte.
Es war kein Wunder, dass er jetzt von ihr träumte, denn gerade erst gestern Abend hatte er Sam in sein Vorhaben eingeweiht, sich um sie zu bemühen und sie dann zu heiraten. Als Frau hatte er sie zum ersten Mal vor ein paar Jahren auf dem Campus gesehen und begriffen, dass es sich bei ihr um dieselbe Libby Drake handelte, die er als Kind flüchtig gekannt hatte. Sie hatte diese unglaublichen Augen. Groß, vollendet geformt, lebhaft und leuchtend grün und von langen, dichten Wimpern umgeben. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, wollte er sie an sich reißen und sie küssen, bis keiner von beiden mehr einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie hatte diesen verträumten Schlafzimmerblick, dem er anscheinend einfach nicht widerstehen konnte und der ihm beim besten Willen nicht aus dem Kopf ging.
Sein Blick fiel auf ihr Haar. In seinen Träumen trug sie es immer offen, und es wirkte so sexy und vom Wind zerzaust, wie sie es während ihrer Schulzeit stets getragen hatte. Doch heute war es aus dem Gesicht zurückgekämmt und zu einer Art kompliziertem Knoten in ihrem Nacken geschlungen. Es schimmerte in einem tiefen, kräftigen Mitternachtsschwarz und war so seidig wie alles andere an ihr. Diese Frisur hätte eigentlich streng wirken sollen, doch sie unterstrich den zarten Knochenbau ihres klassischen Gesichts erst recht und brachte ihre makellose Haut noch besser zur Geltung. Er träumte selten, doch wenn er träumte, träumte er das Richtige. Obwohl sein Kopf dröhnte wie ein Presslufthammer und unablässige Schmerzen durch seinen Körper zuckten, nahm er die vertraute Erregung wahr, die seinen Körper immer dann befiel, wenn er an sie dachte.
Er hätte gern die Hand gehoben und ihr Gesicht berührt, nur ein einziges Mal über ihre Haut gestrichen, doch als er versuchte, seinen Kopf zu bewegen, legten die Presslufthämmer wie besessen los und bohrten sich in seinen Schädel. Er hörte, wie durch seine zusammengebissenen Zähne ein Stöhnen entwich. Er schmeckte Blut in seinem Mund.
Ty erlaubte seinem Blick noch einmal über ihr Gesicht zu schweifen und wahrzunehmen, wie unglaublich konzentriert sie war, fast wie in einem Trancezustand. Seltsamerweise schien der Schmerz von seinem Bauch in seine Brust und in seine Schultern zu fließen und dann noch höher hinauf in seinen Kopf, bis er vor Schmerz schreien wollte. Libbys Gesicht verzog sich plötzlich zu einer Maske der Qual.
Der Schmerz in Tys Kopf war verschwunden, und ganz allmählich nahm er seine Umgebung wahr. Sein Traum hatte sich in einen Alptraum verwandelt. Er schien an einem Ort, den er nicht kannte, an Geräte angeschlossen zu sein. Sein Gehirn fühlte sich nicht mehr in undurchdringlichen Dunst gehüllt und langsam kehrte die Erinnerung zurück. Er hatte den jungen Madison von der Klippe geholt und etwas war schief gegangen. Er erinnerte sich wieder daran, dass er durch die Luft gestürzt war, aber das war unmöglich. Es würde nämlich bedeuten, dass sein Rettungsgurt versagt hatte. Ihre Ausrüstung ließ sie doch nicht einfach so im Stich. Er erinnerte sich an das Geräusch von zerschmetternden Knochen und auch daran, dass sein Schädel zerbröselt war wie eine verfaulte Kürbisschale. Es war qualvoll gewesen, und er dürfte sich eigentlich nicht daran erinnern können.
Ein leiser, kläglicher Laut zog seine Aufmerksamkeit auf sich, und als er den Kopf umdrehte, sah er Libby Drake, die vor ihm zurückwich. Er war nicht vollkommen sicher, ob sie real vorhanden war. Ihre Blicke trafen sich, und die Zeit schien langsamer zu vergehen, während sie sich anstarrten, bis er nur noch sie wahrnahm, in allen Einzelheiten. Vor allem ihr bleiches Gesicht. Kleine Schweißperlen schimmerten auf ihrer Haut. Ihre Hände zitterten, und sie lehnte sich an die Wand, um sich aufrecht zu halten. Sie sah unglaublich krank aus.
Libby presste sich eine Hand auf ihren aufgewühlten Magen und sah sich vollkommen verwirrt um. Wo war sie? Elle? Hannah? Helft mir. Sie wich einen weiteren Schritt zurück, fort von dem Krankenbett und sämtlichen Geräten. Jemand beobachtete sie aus stechend blauen Augen, die sie durchbohrten, und ihre Atemzüge waren abgehackt.
Geh zur Tür, Libby. Zur Tür. Elles Stimme war sehr ruhig. Du bist nicht allein. Ich werde auf jedem Schritt des Weges bei dir sein.
Libby hörte, dass ihre Schwestern aus weiter Ferne mit ihr redeten und ihr Mut zusprachen. Ihre Stimmen streiften behutsam ihren Geist. Wie eigenartig, dass sie sie nicht auseinander halten und auch nicht hören konnte, was sie sagten, mit Ausnahme von Elle.
Mir ist so kalt. Libby zitterte, als sie die Tür aufstieß und in den Korridor wankte. Sie sah sich um, konnte aber nicht erkennen, wo sie war. Ein Flur. Dort waren Menschen, von denen einige sie ansahen, während andere sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Direkt vor der Tür, aus der sie auftauchte, stand ein Mann, der einen grauen Anzug trug. Er kam ihr vage bekannt vor, als müsste sie eigentlich wissen, wer er war. Jetzt vertrat er ihr den Weg, doch sie wich vor ihm zurück und hob eine zitternde Hand, um ihn abzuwehren. Er schien überrascht zu sein und trat einen Schritt zur Seite. Libby blinzelte mehrfach und fragte sich, ob sie Halluzinationen hatte.
Lauf weiter, Libby. Konzentriere dich auf mich. Elle sprach ihr Mut zu. Ich halte dich fest. Ich habe dich sicher im Griff. Schenke ihm keine Beachtung und komm zu mir. Ich bin schon auf dem Weg und komme dir entgegen.
Libby konnte ihre anderen Schwestern weder fühlen noch hören – vielleicht Hannah. Weinte sie? Wenn Hannah weinte, dann musste Libby sofort zu ihr. Sie zwang ihren Körper, sich zu bewegen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Zwei Krankenschwestern redeten am Ende des Flurs miteinander und jetzt drehten sie sich um und starrten sie an. Libby sah alles verschleiert und rieb sich die Augen. Als sie ihre Hand fortzog, war sie blutrot.
Lauf weiter, Libby, komm zu mir. Hannah braucht dich. Kannst du sie weinen hören? Lauf weiter, bleib nicht stehen. Ich bin gleich da.
Libby hörte jetzt nur noch Elles Stimme und selbst diese ging in dem eigenartigen Dröhnen in ihrem Kopf fast unter. Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren, aber sie konnte nicht begreifen, wo sie war oder was sie tat. Sie gehorchte blindlings ihrer Schwester, als sie durch den Flur zur Tür wankte.
Bevor es Libby gelang, die Tür zu erreichen, stürzte eine Frau auf sie zu und vertrat ihr den Weg.
»Es ist Ihre Schuld, Libby, alles nur Ihre Schuld!« Irene Madison brachte diese Anschuldigung aus voller Kehle hervor. Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt, und sie hielt ihre Handtasche wie eine Waffe umklammert. »Sie sind dafür verantwortlich.«
Libby schlang zitternd ihre Arme um sich. Sie konnte sehen, dass Leute sie anschauten, doch sie wusste nicht, wo sie war. Die Frau, die sie anschrie, war ihr unverständlich. Verängstigt wandte sie sich an ihre Schwester. Elle? Was ist los mit mir?
»Sie glauben doch bestimmt nicht, der Sturz meines Sohnes sei ein Unfall gewesen.« Irenes Stimme erhob sich zu einem schrillen Kreischen. »Weshalb sollte Drew draußen auf den Klippen herumklettern? Wenn Sie ein bisschen Mitgefühl mit ihm gehabt hätten, nur ein klein wenig, Libby, dann wäre es nie dazu gekommen.«
Libby schüttelte den Kopf und hatte sofort das Gefühl, dass sich kleine Nadeln in ihren Schädel bohrten. Sie schrie auf, presste die Handflächen auf ihre Schläfen und sah sich panisch nach einem Fluchtweg um.
»Sie haben ihn nie geheilt. Der Krebs war da und hat ihn bei lebendigem Leibe aufgefressen, und ich konnte einfach nicht mit ansehen, dass er stirbt. Etwas musste ich doch unternehmen. Sie haben mir gar keine andere Wahl gelassen. Sie haben sich geweigert, ihn zu heilen, und die Testreihe mit dem Medikament war die einzige Möglichkeit, die mir noch geblieben ist. Sie haben mir gesagt, das Medikament könnte Depressionen auslösen. Einen Selbstmord haben Sie nie auch nur mit einem einzigen Wort erwähnt.« Irenes Tonfall wurde immer schriller. »Sie hätten ihn heilen können. Warum haben Sie es nicht getan?«
Elle kam zur Tür hereingestürzt und rannte in dem Moment durch den Korridor, als Irene mit ihrer Handtasche auf Libby losging. Sie schlug nicht nur einmal, sondern mehrfach zu und trieb ihre Schwester immer weiter zurück. Libby hob einen Arm, um ihn zu ihrer Verteidigung vor sich zu halten, aber sie war zu schwach und ging zu Boden.
Schon während sie auf ihre Schwester zurannte, hob Elle die Arme und ihr Gesicht war eine Maske des Zorns. Wind wirbelte wie die Miniaturausgabe von einem Tornado vor ihr her durch den Korridor und traf Irene mit solcher Macht, dass die Rasende beinah vom Boden gehoben wurde.
Irene schrie und hielt sich die Arme vors Gesicht, als der Wind schneller und immer schneller um sie herumpeitschte und sie gefangen hielt. Ihr sorgsam frisiertes Haar stand senkrecht in die Höhe, und ihre Kleidungsstücke wanden sich um ihren Körper. Sogar ihre Ohrringe flogen von ihren Ohren und trafen fest genug auf die Trennwand, um sich in die Glasscheibe zu bohren.
»Elle.« Jackson Deveau brachte seine große, stämmige Gestalt zwischen die jüngste Drake-Schwester und Irene. »Schluss damit.« Seine Stimme war ganz leise und enthielt doch einen scharfen Befehlston. Der Wind schien sein markantes Gesicht zu peitschen und sein Haar in wüsten Aufruhr zu versetzen, doch er stand angesichts ihres Zorns felsenfest da.
Elles Augen funkelten vor Wut. »Sag ihr, dass sie aufhören soll. Sie hat meine Schwester angegriffen, und du hast in aller Seelenruhe daneben gestanden. Verhafte sie wegen tätlichen Angriffs. Angeblich vertrittst du das Gesetz.«
Niemand ließ sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Deputy ein, noch nicht einmal jemand, der sinnlos betrunken war. Jackson war einfach zu gefährlich. Er war ein stiller Mensch und sprach sehr wenig, aber wenn er jemandem sagte, was er tun sollte, dann richteten sich die Leute danach. Seine Augen waren matt, leer und so kalt wie Eis. Narben zogen sich über sein Gesicht und seinen Hals und verschwanden unter seinem Hemd. Sein dunkles Haar war dicht und ungebärdig, und seine Züge wiesen den Schliff grausamer Zeiten auf. Neben Jackson nahm sich Elle klein und zerbrechlich aus, denn sie war alles in allem nur halb so viel wie der Deputy. Doch sie wich keinen Schritt vor ihm zurück. Jackson blieb ebenfalls stehen, selbst als der Wind an seinen Kleidungsstücken zu zerren begann.
Da zwängte sich Jonas an Elle vorbei und kniete neben Libby nieder. »Lass den Blödsinn, Elle«, mischte er sich schroff ein. Er war gemeinsam mit Jackson zur Tür hereingekommen und hatte gerade noch das Ende von Irenes Angriff auf Libby mitgekriegt. »Damit ist keinem geholfen. Libby wird dir Ärger machen, wenn sie wieder zu sich kommt.« Jetzt wandte er seinen aufgebrachten Blick Irene zu. »Libby ist schwer verletzt. Sie ist bewusstlos. Verdammt noch mal, Irene, was zum Teufel haben Sie angerichtet?«, fuhr er sie an. Um Libbys Mund und Nase herum war Blut.
Irene heulte hysterisch. »Ich weiß es nicht. Ich bin einfach nur ausgerastet. Habe ich sie umgebracht?« Sie kauerte immer noch an der Wand. Ihre Kleidung war verrutscht, ihr Haar wüst zerzaust. »Ich wollte ihr nicht wehtun.« Sie schluchzte zunehmend heftiger und ließ sich an der Wand hinabgleiten, bis sie mit gespreizten Beinen auf dem Boden saß und ihre Handtasche beim Weinen an sich drückte.
Elle sank neben Jonas auf die Knie und ließ ihre Hand dicht über Libbys Körper durch die Luft gleiten. Mit einem Aufschrei riss sie ihre Hand zurück und hielt ihren Arm eng an ihre Brust geschmiegt. Dann wandte sie sich weit genug ab, um mit den Augen einer Seherin aus alter Zeit durch die Glasscheibe Tyson anzuschauen, bevor sie sich wieder zu ihrer Schwester umdrehte.
»Sie muss dringend nach Hause zu den anderen. Ich rufe sie zusammen, damit sie sie bereits erwarten. Sie ist in einer sehr schlechten Verfassung. Kannst du sie zum Wagen tragen, Jonas?«
»Vielleicht sollte sie von einem Arzt behandelt werden«, wagte Jonas vorzuschlagen. »Ich habe euch alle schon kurz vor dem Zusammenbruch gesehen, aber so schlimm war es noch nie. Das scheint mir zu real zu sein.«
»Sie muss dringend nach Hause. Wir können uns um sie kümmern«, wiederholte Elle, und diesmal drückte sich in ihrem Tonfall eindeutig ein Befehl aus.
Jacksons Blick war jetzt nur noch auf Elles Gesicht gerichtet. »Du gibst ihr von deiner Kraft.« Der Mann ragte vor ihr auf und strich ihr einige leuchtend rote Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Du zitterst jetzt schon, Elle.«
Elle stieß seine Hand fort. »Sie ist meine Schwester. Für sie tue ich alles. Sie ist ständig für andere da.« Sie sah Irene mit unverhohlener Missbilligung an. »Niemand ist mitfühlender und fürsorglicher als Libby. Sie gibt und gibt, bis sie selbst am Ende ist.«
»Es tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid.« Irene bemühte sich, ihre Selbstbeherrschung wiederzufinden, und schneuzte sich lautstark die Nase.
»Setz dein Leben nicht für sie aufs Spiel. Das würde sie nicht wollen.« Jacksons Finger schlangen sich um Elles Handgelenk.