19. KAPITEL
Ich werde darauf warten,
dass du es siehst,
für immer, wenn es sein muss …
Solange, mein Herz, unschätzbar kostbares
Geschenk.
Dominic zu Solange
»Wenn Dubrinsky seinen Schlupfwinkel verlässt, um seinem Dorf zu Hilfe zu eilen, wird es viel zu spät sein, weil wir seine Leute längst zur Hölle befördert haben werden. Das Blut wird in Strömen die Straßen hinunterlaufen. Und wir werden ein Fest veranstalten, das über jede Vorstellungskraft hinausgeht, um unsere neue Weltordnung zu feiern«, fuhr Giles, der Meistervampir, fort.
Die Vampire brüllten wieder, aber diesmal nicht mehr ganz so laut. Immer mehr aus dem inneren Kreis blickten sich hungrig nach dem Labor um, in dem die Menschen arbeiteten und lebten. Dominic steigerte ihr Verlangen nach Blut, so weit er es wagte. Er brauchte mehr Informationen, und Giles verlor zunehmend die Kontrolle über die Versammlung.
»Unser Handlanger erwartet unsere Befehle. Er wird so programmiert sein, dass er den Lastwagen mit der Bombe in das Haus des Prinzen hineinfährt. Dubrinskys Seelengefährtin erwartet ein Kind. Wir werden sie alle erwischen. Von unterhalb der Erde werden zwei unserer besten Leute alles über ihnen zerstören. Und aus der Luft werden wir alles unter uns dem Erdboden gleichmachen. Wenn der Prinz nicht mehr ist, wird das Ventil aufhören zu existieren.«
Dominic wartete, bis der brausende Applaus verstummte. »Was ist mit seiner Tochter?«, fragte er so leise, dass die Vampire Mühe hatten, ihn zu verstehen.
Giles verzog verärgert den Mund. »Sie ist unwichtig. Sie ist nur eine Frau.«
Er war zu lange in Brodricks Gesellschaft, hörte Dominic Solanges spöttische Stimme in seinem Kopf. Die Jaguarmänner schleichen sich in den Wald. Sie spüren, dass etwas geschehen wird, und wollen nichts damit zu tun haben, fügte sie hinzu.
Kommen sie in deine Richtung?
Die Vorstellung, dass die Jaguarmänner hinter Solange her sein könnten, während er anderweitig beschäftigt war, erschreckte ihn. Er hätte damit rechnen müssen, dass sie den Versammlungsort verlassen würden. Wilde Tiere hatten scharfe Sinne und konnten Emotionen deuten. Der rasende Hunger und die Unzufriedenheit der Vampire konnten ihnen nicht entgangen sein. Es war sogar möglich, dass der Hunger auch sie ergriffen hatte und sie auf die Jagd gegangen waren.
Nein. Aber ich bleibe wachsam. Mach du dir nur darum Sorgen, dass du in einem Nest von sehr gefährlichen Killern sitzt.
Und du, Solange, vergiss nicht, dass Brodrick nicht weit entfernt sein kann.
Dominic spürte ihr Unbehagen und wusste, dass sie sich mehr darauf konzentrierte, ihn zu schützen als sich selbst. Er unterdrückte jedoch den Impuls, ihr den Rückzug zu befehlen. Sie würde sowieso nicht gehorchen. Dominic hätte es auch nicht getan, wenn die Situation umgekehrt und er an Solanges Stelle gewesen wäre. Er musste auf ihre Fähigkeiten vertrauen.
Ich liebe dich.
Drei kleine Worte in ihrem sanften, liebevollen Ton. Dominic atmete tief durch. Sie würde ihm zuliebe vorsichtig sein. Er brauchte sie, und das wusste sie.
Sein Orchester war da – er musste nur noch mit dem Dirigieren beginnen. Als Erstes übersandte er die Teile des Plans an Zacarias. Sie hatten keine Zeitschiene, aber Giles würde ihnen auch keine geben, nicht, wenn die Vampire ihren Plan zunächst nur testen wollten. Es hieß jetzt oder nie. Dominic musste so viele wie möglich der Untoten vernichten. Niemand, der entkam, durfte wissen, dass ihr Plan gefährdet war. Er blickte die Vampire an, die Giles’ Vertrauen genossen.
Du lächelst, stellte Dominic fest.
Ach ja? Vielleicht bin ich gerade ein klein bisschen gemein.
Er spürte, wie sie einen beruhigenden Atemzug tat. Dominic rührte an das Bewusstsein des Technikers in dem Labor. Nimm die Waffe des Wachtpostens und verwunde die Wissenschaftler im Gebäude! Zwing sie, hinauszugehen!
Der überwältigende Anblick und Geruch des Blutes würden die Vampire außer Kontrolle bringen. Nur einer von ihnen brauchte die verwundeten Menschen anzugreifen, und der Damm würde brechen. Die anderen würden es ihm gleichtun. Dominic war sicher, dass Giles versuchen würde, seine Autorität geltend zu machen, und die geringeren Vampire losschicken würde, um den Mob unter Kontrolle zu bringen, und das würde sie für Angriffe verwundbar machen. Die Wachen auf dem Dach würden anfangen zu feuern, um ihre Kollegen vor den Untoten zu beschützen, und in dem entstehenden Chaos würden er und Solange so viele Vampire töten können, wie sie wollten, zumindest hoffte Dominic das.
Das Krachen von Schüssen wurde von den dicken Mauern des Labors gedämpft, war aber trotzdem sehr deutlich zu hören. Giles gab es auf, die Aufmerksamkeit der Menge halten zu wollen, und verstummte abrupt, als alle sich nach dem Tumult umwandten. Ganz in der Nähe zuckten blendend weiße Blitze am Himmel auf. Einer schlug in einen Baum direkt am Rand der Gruppe ein. Der Stamm explodierte, Äste zersplitterten, und Flammen schossen durch das Gewirr von Zweigen.
Männer stürmten aus dem Labor und rannten auf die freie Fläche zwischen dem Wald und dem Gebäude zu. Die weißen Kittel der Laboranten und die Hemden der Wachmänner waren mit rotem, lockendem Blut bespritzt. Ein paar der Männer, die offenbar gerade erst erwacht und noch unverwundet waren, schrien nach den Wachen. Der Computertechniker kam mit einer Waffe in der Hand aus dem Gebäude gerannt und feuerte in die Menge.
Ein Schuss krachte auf dem Dach, als nun auch eine der Wachen schoss. Das Geräusch schallte durch den Wald. Der Computertechniker strauchelte, und am Rand der Gruppe der Vampire brach der, der sich Milan nannte, tot zusammen.
Erledigt, flüsterte Solanges Stimme in Dominics Kopf, und er sandte eine Reihe von Blitzen auf die schockierten Vampire herab. Er verbrannte den gefallenen Milan und zwei andere, die in der Nähe gestanden hatten. Zur gleichen Zeit stürzte sich eine Gruppe von Vampiren auf die blutenden Techniker. Giles schrie den geringeren Vampiren zu, einzugreifen und sich zwischen die Menschen und die hungrigen Vampire zu stellen, während der Meistervampir sich schon zurückzuziehen begann.
Die ersten Untoten fielen über den nächstbesten verwundeten Techniker her, rissen ihm die Brust auf und schluckten gierig das köstliche, heiße Blut. Die Wachen auf dem Dach eröffneten das Feuer. Wieder echoten die Schüsse im Wald, und Kiral zuckte zusammen und fuhr herum. Stirnrunzelnd blickte er zu dem hohen Blätterdach hinauf und bleckte die Fänge. Eine Salve von Schüssen ertönte. Männer schrien vor Entsetzen auf. Blut spritzte über den Hof. Vampire fielen übereinander her und durchbrachen Giles’ Schildwache, um zu dem Festgelage zu gelangen.
Blitze schlugen in den Boden ein, von denen einer Kiral traf und ihn auf der Stelle verbrannte. Ein Vampir, der in das Kreuzfeuer zwischen den Wachen und den Blitzschlägen geriet, fiel, von ein paar Kugeln in den Kopf getroffen; die andere Hälfte seines Körpers brannte. Blindlings schleppte er sich über den Boden auf die Pfützen von Blut zu. Doch die anderen zertrampelten ihn, um zu den Menschen zu gelangen, die sich Schutz suchend zusammengekauert hatten.
Dominics Klon bahnte sich unter Stoßen, Schubsen und Kratzen einen Weg mit der tobenden Horde der Untoten, die das in die Luft und auf die entsetzten Menschen spritzende Blut zu erreichen suchte. Die Wachen feuerten in die Menge und vergrößerten das Chaos, und die einschlagenden Blitze und das Donnergrollen erhöhten noch den wahnsinnigen Lärm.
Dominic schwebte über den Boden, stieß die Faust in das Herz des nächstbesten Vampirs und riss es ihm mit einer solchen Schnelligkeit heraus, dass es kaum mehr als eine undeutliche Bewegung war. Genauso schnell verbrannte er das verdorrte Organ, bevor er die Richtung wechselte und Giles nachjagte. Die geringeren Vampire wurden buchstäblich in Stücke gerissen bei dem Versuch, zu dem Gelage und der Quelle des Blutes zu gelangen, um ihre zerfetzten Körper wiederherzustellen. Dominic erreichte Giles, als er gerade eben den Wald betreten hatte.
Der Karpatianer schlug hart zu, stieß die Faust in die Brust des Meistervampirs und suchte mit den Fingern das Herz. Der Meistervampir entzog sich ihm jedoch, fuhr mit den Krallen über Dominics Gesicht und riss tiefe Furchen in Kinn und Nacken. Indem er sich vorbeugte und Dominic die Fänge in den Hals stieß, zwang er ihn zum Rückzug. Die beiden starrten einander an. Blut tropfte von Giles’ Mund und Händen und lief schwarz an seiner Brust hinunter, aber auch Dominic blutete stark.
Giles leckte sich die Lippen. »Was soll das? Du bist doch einer von uns.«
»Ich bin Drachensucher, du Narr!«, sagte Dominic verächtlich. »Hast du wirklich geglaubt, ich würde meine Seele aufgeben und mich euch verabscheuungswürdigen Kreaturen anschließen?«
Giles fauchte und zeigte blutbefleckte Zähne. »Du trägst die Verantwortung für diese Katastrophe.«
Dominic zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Doch man wird dir die Schuld daran geben.«
Langsam leckte der Vampir Dominics Blut von seinen Fingern. »Du hast die Parasiten in dir. Sie haben meinen Ruf beantwortet.« Beim Sprechen trat er einen Schritt nach links.
Dominic wartete den Angriff nicht erst ab; schnell und hart schlug er zu und ließ einen Blitz an der Stelle niedergehen, wohin Giles’ nächster Schritt ihn bringen würde. Der Meistervampir kreischte, als die weißglühende Energie seine Schulter, seine Seite, seine Hüfte und sein Bein verbrannte, ihm wie ein Laserstrahl einen Teil des Körpers völlig abrasierte und die Wunden kauterisierte.
Giles fiel hin, rollte sich zur Seite und griff nach seiner abgetrennten Körperseite. Er versuchte, sie mit den Krallen zu sich heranzuziehen. Aber Dominic sprang auf ihn und trieb die Faust wieder tief in Giles’ verwestes Fleisch und Gewebe, um an das verdorrte Herz heranzukommen. Ein ominöses Knacken war seine einzige Warnung. Ein Speer bohrte sich in Dominics Rücken, spießte ihn förmlich auf und warf ihn auf den Boden. Wurzeln schossen aus dem Unterholz, die sich um seinen Hals und Körper legten und ihn unerbittlich festhielten.
Dominic ließ heiße Energie aus sich herausströmen, die sich durch die holzigen Wurzeln brannte. Doch während er noch damit beschäftigt war, bildeten andere Wurzeln einen Käfig aus dickem Holz, der ihn erneut gefangen hielt. Es war nur eine Verzögerungstaktik, eine Chance für Giles, seinen verrottenden Körper wiederherzustellen. Dominic wappnete sich, riss den Speer aus seinem Rücken und verschloss dabei auch gleich die Wunden. Der Schmerz überflutete und durchströmte ihn. Er hörte das Echo von Solanges entsetztem Schrei und verbannte sie aus seinem Geist, weil er befürchtete, dass sie den lähmenden Schmerz mitempfinden würde.
Er bekam seinen Körper wieder unter Kontrolle, drehte sich auf den Rücken und sah die Horden von Fledermäusen, die mit hungrigen Augen zu ihm herabstarrten. Sie ließen sich fallen, bedeckten sein Gesicht und seinen Kopf und bissen gierig zu, als er den Käfig aus Wurzeln nach außen explodieren ließ, um freizukommen. Dominic schaffte es, sich auf die Knie aufzurichten, schleuderte die bissigen kleinen Biester von sich weg und taumelte ein wenig. Doch es gelang ihm, sich auf die Beine zu ziehen.
Auch Giles richtete sich auf. Sein Körper war planlos geflickt, zu einem Viertel verkohlt und bot einen vollkommen grotesken Anblick. Er knurrte, Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln, und seine Augen glühten feuerrot. »Mein Körper ist tot, Drachensucher. Ich kann es ertragen, in tausend Stücke zerschnitten zu werden, und ich kann dich immer noch besiegen. Dein Leib dagegen ist aus Fleisch und Blut, und du empfindest Schmerz.«
Dominics Augenbrauen fuhren hoch. Er war geschwächt von dem gewaltigen Energieverbrauch, den es erfordert hatte, den Sturm aufrechtzuerhalten und seinen Klon dort zu belassen, wo die anderen Vampire ihn deutlich sehen konnten. Sein Plan durfte nicht gefährdet werden. Unter den Vampiren sollte sich auf keinen Fall herumsprechen, dass Dominic sich als Spion in ihr Lager begeben hatte. Er wusste, dass einige der Abgesandten fliehen würden, und konnte es sich nicht leisten, die Deckung aufzugeben. Also musste er weiterhin sichtbar sein, damit niemand entdeckte, dass er die Zerstörung des Labors und aller, die sich darin befanden, herbeigeführt hatte.
»Du schmeichelst dir, Giles. Du warst schon immer grenzenlos eitel. Und du scheinst auf Zeit zu spielen. Glaubst du, deine Marionetten werden kommen, um dich zu beschützen?«, fragte er mit leisem, aber unverhohlenem Spott in der Stimme. Giles hatte sich für unbesiegbar gehalten, doch nun war er nervös. Dominic wusste, welch legendären Ruf er besaß und dass der Meistervampir lieber seine Lakaien gegen den Drachensucher kämpfen lassen würde, als sich ihm selbst im Kampf zu stellen. Dominic war auch bewusst, dass ein Untoter ein enormes Ego hatte und sein Spott, so berechtigt er auch gewesen sein mochte, eine große Kränkung für Giles darstellte.
Ich werde versuchen, zu dir zu kommen. Ein Schluchzen klang in Solanges Stimme mit.
Nein, bleib, wo du bist! Ich werde Giles besiegen.
Hier kann ich dir nicht helfen.
Schalte so viele aus wie möglich, aber schieß nur, wenn die Wachen einen Schuss abgeben! Ich werde nicht dort sein, um sie zu erledigen, sodass sie also deine Nähe spüren könnten.
Dominic hielt den Blick auf Giles gerichtet. Das Gesicht des Vampirs verzerrte sich zu einer Maske puren Hasses, und Dominic reizte ihn noch mehr. »Du hast die Kontrolle über sie verloren, nicht? Statt die Menschen zu beschützen, reißen deine Lakaien sie in Stücke und laben sich an ihrem Blut. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass Ruslan sehr verärgert sein würde, selbst wenn es dir gelingen sollte, zu entkommen. Er ist nicht der versöhnlichste Mann, den ich kenne.«
Die roten Augen begannen zu brennen, doch der Vampir hielt die Wut unter Kontrolle. »Dieser Zwischenfall wird die Menschen höchstens noch viel interessierter an einem Bündnis mit uns machen, um die Untoten zu jagen. Wir werden sie auf Dubrinskys geliebtes Dorf hinweisen.«
Inzwischen hatte Dominic den Schmerz weit genug verdrängt, um wieder atmen zu können. Solange half ihm dabei, indem sie den Rhythmus seiner brennenden Lunge ihrer eigenen Atmung anglich.
Dominic verbeugte sich leicht und schwenkte die Hand, wobei er darauf achtete, dass Giles’ wütender Blick der Geste folgte. Gleichzeitig zog Dominic die machtvolle Energie zusammen, die am Himmel knisterte und zischte. Diese Macht nahm er in sich auf und hinterließ einen zweiten Klon, löste sich von seinem Körper und ließ sein Ebenbild schutzlos und verwundbar stehen.
Substanzlos und transparent stand er vor dem Klon und wartete auf Giles’ nächsten Schritt. Dominics Ebenbild krümmte sich ein bisschen und drückte die Hand auf das schwarze Loch in seiner Brust, das sich links von seinem Herzen befand. Er konnte spüren, wie seine Kraft nachließ. Zwei Klone und ein Sturm laugten seine Energie schnell aus, aber er bewahrte die transparente Form.
Giles griff an, stürzte mit voller Kraft und übernatürlicher Geschwindigkeit auf ihn zu und holte zum entscheidenden Schlag aus. Dominic trat vor, um dem Angriff zu begegnen, und nutzte Giles’ Schwung und seine eigene unglaubliche Kraft, um die Faust nach vorn zu stoßen. In dem Sekundenbruchteil, bevor sie auf den Vampir traf, materialisierte Dominic sich und ließ den Klon verschwinden, sodass Giles in die ausgestreckte Faust hineinstürzte. Dominic ergriff das Herz, bevor der Untote merkte, was geschah, riss das schlaffe schwarze Organ heraus, warf es weit genug von dem Meistervampir weg und richtete einen Blitzstrahl auf das widerliche Ding.
Mit einem grauenhaften Aufschrei, der weithin durch den Wald schallte, kroch Giles über den Boden und blickte sich panisch nach seinem Herzen um. Als er langsam in sich zusammensackte, spuckte er Dominic noch an, dann brach er vollends zusammen. Ein Blitzstrahl schlug in ihn ein und setzte ihn in Flammen. Der Vampir wand und krümmte sich, als lebte ein Teil von ihm noch. Das Feuer knisterte und zischte, und von dem Untoten war binnen kürzester Zeit nur noch Asche übrig.
Dominic ließ sich auf ein Knie nieder und schnappte mit gesenktem Kopf nach Luft. Die ganze Zeit schon wartete er auf Josefs Zeichen, dass er das Labor zerstören und Solange in Sicherheit bringen konnte.
Dominic! Ihre Stimme gab ihm den nötigen Anreiz, sich wieder zu bewegen.
Giles ist tot. Ich kehre zum Gefecht zurück.
Ich kann dir anhören, wie erschöpft du bist. Brauchst du Blut? Ich kann zu dir kommen.
Wenn wir hier fertig sind. Der bloße Gedanke an ihr Blut und dessen unglaublich heilende Kraft durchflutete Dominic mit neuer Energie. Mit großen Schritten ging er durch den Wald zu dem Labor zurück und ließ gleichzeitig seinen Klon verschwinden.
Solange atmete erleichtert auf und wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Bild des Grauens vor dem Laboratorium zu. Die Luft war erfüllt von Angst- und Entsetzensschreien, und alles war durchdrungen von dem Geruch nach Blut. Kugel um Kugel regnete vom Dach herab. Die mittlerweile mit Einschusslöchern durchsiebten Untoten blickten zu dem Flachdach auf, um die Wachen als ihre nächste Beute zu markieren. Solange hatte diese Männer sterben sehen wollen, aber nicht so, nicht auf eine solch grauenhafte Art. Die Vampire waren völlig außer Kontrolle und stürzten sich auf alles, in dessen Adern warmes Blut floss. Von den Jaguarmännern war keiner mehr zu sehen; sie mussten schon beim ersten Anzeichen von Ärger Reißaus genommen haben.
Solange hob das Gewehr wieder an die Schulter und betätigte den Abzug im Bruchteil von Sekunden, nachdem eine der Wachen geschossen hatte. Eine Salve von Schüssen übertönte den ihren. Blitze schlugen in die bereits gefallenen Vampire ein. Durch das Teleskop ihres Gewehrs versuchte Solange, einen der Untoten auszumachen, die Dominic vernichten wollte. Es war nicht leicht, sie jetzt noch zu finden. Die Bilder der gut aussehenden Männer, die sie der Welt präsentiert hatten, waren verschwunden und zu verrottenden Kadavern mit sich ablösender Haut, eingesunkenen Augen und einigen wenigen grauen oder weißen Büscheln Haar geworden.
Und natürlich hatten alle blutige Kleider, Hände und Gesichter. Solange versuchte, sie an ihrer Kleidung zu erkennen, und hoffte, sich nicht zu irren. Sie entdeckte den, den sie für Carlo hielt, am Fuß des Gebäudes, unter dem Dachgesims und außer Sicht der Wachen. Er flitzte schnell wie eine Eidechse auf allen vieren an der Wand zum Dach hinauf, sprang oben auf Felipes Rücken und schlug ihm die Zähne in den Nacken. Der erste Schuss erwischte ihn am Hinterkopf, der zweite durchschlug ihm den Rücken und fuhr direkt in sein Herz hinein. Mit blutüberströmtem Gesicht und einem irren Flackern in den Augen wirbelte er herum und blickte zu dem Wald hinüber. Dann sprang er in die Luft und wollte sich gerade verwandeln, als der Blitz ihn traf und ihn verbrannte, sodass Asche auf die Horde Vampire herunterregnete, die in wilder Raserei Körper und Fleisch zerfetzten und mit abscheulich schmatzenden Geräuschen das Blut aufsaugten.
Würgereiz erfasste Solange, und sie wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ein solch grauenhaftes Blutbad wie dieses hatte sie noch nie gesehen. Die Untoten fielen über alles her, was sich in Sichtweite befand, verschonten sich nicht einmal gegenseitig und schnappten und bissen um sich wie ein Rudel ausgehungerter wilder Tiere. Solange war an die Gesetze des Urwaldes gewöhnt, doch das hier war etwas völlig anderes. Schweiß lief ihr in die Augen, und sie hob wieder die Hand, um ihn wegzuwischen. Ihre Katze machte einen Sprung, als sie das gedämpfte Flattern mächtiger Schwingen in der Luft über sich registrierte. Schnell rollte Solange sich aus ihrem Versteck in dem Baum, ergriff eine Liane und nutzte den Vorwärtsschwung, um sich zum nächsten Baum zu befördern. Das Gewehr hatte sie verloren, aber die Armbrust und die Pfeile trug sie um den Rücken, und an ihrem Oberschenkel hatte sie ein Messer festgeschnallt.
Der Haubenadler kreischte, als er sie verpasste und seine mächtigen Krallen ins Leere griffen. Diese messerscharfen Krallen, so groß wie die eines Grizzlybären, hätten Solange schwere Verletzungen zugefügt, wenn es dem großen Vogel gelungen wäre, sie damit zu packen.
Liebste, sprich mit mir!
Dominics Gelassenheit beruhigte auch Solange. Sie befestigte einen Pfeil in der Armbrust und blickte suchend zum dunklen Himmel auf. Der Adler kreiste über ihr und bereitete sich auf einen zweiten Angriff vor. Durch die am Himmel aufzuckenden Blitze konnte sie das riesige Tier näher kommen sehen.
Eine kleine Panne. Dein Freund Akos hat mir die Harpyie hinterhergeschickt. Vielleicht könntest du ihn für mich ausschalten, damit ich diesen wundervollen Vogel nicht erschießen muss.
Riskier nichts, Solange! Schieß, wenn es sein muss!
Solange machte sich auf den Angriff des Vogels gefasst und ließ sich von den Reflexen ihrer Katze leiten. Als der Adler näher kam, durchs Blätterdach rauschte und sich blitzschnell fallen ließ, waren die schweren Flügelschläge wie Warnglocken in ihrem Kopf. Sie wartete und zählte im Stillen. Solange wollte das wundervolle Tier nicht töten, schon gar nicht, da sie wusste, dass es von einem Vampir benutzt wurde, um sie anzugreifen. Normalerweise würde eine Harpyie einen Menschen nie attackieren – falls er nicht gerade in der Nähe ihres Horstes war.
Die Krallen zerkratzten Solange fast das Gesicht, doch sie duckte sich gerade noch rechtzeitig. Der Vogel hingegen konnte nicht mehr wenden, weil die Äste zu dicht waren und seine Bewegungsfreiheit sehr stark einschränkten. Mit schweren Flügelschlägen versuchte er, genug an Höhe zu gewinnen, um die Äste hinter sich zu lassen und sich wieder in den von dunklen Gewitterwolken überzogenen Himmel zu erheben. Das grelle Licht der an den Rändern der Wolken aufzuckenden Blitze zeigte Solange den Adler, der nun wieder über ihr zu kreisen begonnen hatte.
Sie richtete die Armbrust auf das Tier und zielte, aber irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen, es zu töten. Der Tod hatte heute schon zu viel geerntet. Sie konnte immer noch die Schreie hören, die Angst und das Entsetzen und das Krachen der Schüsse und wusste, dass auch die letzten Männer noch getötet werden würden. Sämtliche Beschäftigte in dem Labor waren sich darüber klar gewesen, dass sie mithalfen, Frauen zu Zielscheiben für Entführung, Vergewaltigung und Mord zu machen. Solange musste es nicht gefallen, wie sie starben, doch zumindest hatten sie sich selbst für diesen Weg entschieden. Der Haubenadler hingegen wurde zu einem für ihn unnatürlichen Verhalten gezwungen.
Ich kann Akos nicht finden, zischte Dominic. Töte den Adler und bring dich schnell in Sicherheit! Ich werde Akos verfolgen.
Es war eine Warnung und ein Befehl zugleich. Dominic sorgte sich, dass der Vampir hinter ihr her sein könnte – während Solange es für viel wahrscheinlicher hielt, dass der Untote das Chaos nutzte, um zu entkommen.
Dennoch hatte sie vor, Dominic zu gehorchen, als der Adler schon näher kam und sich blitzschnell mit ausgestreckten Krallen herunterfallen ließ. Auch diesmal wich sie rechtzeitig aus, merkte dann aber, dass die Krallen noch viel länger waren, als sie gedacht hatte, und warf sich aus dem Weg. Noch mitten in der Bewegung streckte sie die Hände aus, um die Liane zu ergreifen, die sie als Sicherheitsleine angebracht hatte. Doch Solange bekam sie nicht zu fassen und griff ins Leere.
Sie konnte sich nicht in der Luft verwandeln, sondern nur hoffen, auf halbwegs weichem Untergrund zu landen. Aber sie kam so hart auf dem Boden auf, dass es ihr die Luft aus der Lunge presste, sie nicht atmen konnte und auch außerstande war, sich zu bewegen. Sterne explodierten hinter ihren Lidern. Verzweifelt rang sie nach Atem. Mit geschlossenen Augen erlaubte sie sich ein leises Stöhnen und überlegte, ob sie nicht einfach hier inmitten der üppigen Vegetation liegen bleiben und schlafen sollte. Aufzustehen schien ihr viel zu anstrengend zu sein.
Sag mir, dass du am Leben bist und es dir gut geht, Solange!, verlangte Dominic. Akos ist hinter dir her, und ich muss ihn aufhalten.
Nur zu! Ich werde einfach hierbleiben und mich ausruhen.
Dominic erhob sich in die Luft und folgte dem schwachen Blutgeruch. Der Vampir, der sich Akos nannte, war einer der bösartigsten überhaupt. Schon als Kind hatte er diesen ungewöhnlich ausgeprägten Hang zur Grausamkeit gehabt. Als er die Menschen in Fetzen gerissen hatte, war er vollkommen mit Blut besudelt worden. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, sich zu säubern, sondern durchlebte wahrscheinlich noch einmal die Erinnerung und weidete sich an den Bildern des Blutbades. Akos genoss das Leiden und die Angst seiner Opfer, und der Geruch ihres Blutes an seinen Kleidern würde seine Wonne noch steigern.
Dominic hörte den Schrei des Adlers und wechselte abrupt die Richtung. Akos war auf der Flucht und rief den Vogel zu sich. Als grauer Dunst schlängelte der Vampir sich zwischen den Bäumen hindurch und bemerkte nicht einmal, dass er eine Spur aus Blutstropfen zurückließ. Mit all den Vampiren in der Gegend wollte Dominic sich nicht zu weit von Solange entfernen. Im Moment waren sie satt und würden sich aus Furcht vor Giles’ Zorn wahrscheinlich schnell zerstreuen. Nur dessen geringere Vampire würden wissen, dass er vernichtet worden war, und auch sie würden schnellstens diesen Ort verlassen. Trotzdem …
Ein paar Minuten später holte Dominic den Nebel ein, den die darin enthaltenen Blutstropfen sofort als Akos auswiesen. Dominic benutzte einen seltenen karpatianischen Befehl. Vampire waren als Karpatianer geboren worden und daher immer noch dem Gesetz des Blutes unterworfen.
»Veriak ot en Karpatiiak muoníak te avoisz te!« Beim Blut des Prinzen befehle ich dir, dich zu erkennen zu geben. Dominics Stimme hallte durch den Wald und erschütterte die Bäume. Der Boden erbebte, und am Himmel zerrissen Blitze die dunklen Wolken.
Affen kreischten und stürmten aufgeregt durchs Blätterdach. Die Harpyie schrie wieder und geriet während des Flugs ins Taumeln, bevor sie das Gleichgewicht zurückerlangte, sich auf einem Ast niederließ und langsam die mächtigen Schwingen faltete. Das Rascheln im Unterholz verriet eine Vielzahl wilder Tiere. Eine Schlange hob den Kopf, und Eidechsen flitzten über Äste und Baumstämme.
Der Nebel waberte und nahm Substanz an, bis Akos hart auf dem Boden landete und sich hastig aufrappelte. Er war noch leicht transparent und kämpfte sichtlich gegen den Befehl an. Seine Kleider waren von frischem Blut durchtränkt, Mund und Kinn blutig verschmiert. Blutspritzer in seinem Haar wurden als glänzende schwarze Flecken sichtbar, als ein greller Blitz den dunklen Wald erhellte. Er grinste und zeigte spitze Zähne. »Drachensucher. Das hätte ich wissen müssen.«
Dominic trat ein paar Schritte nach rechts und behielt misstrauisch den Himmel im Auge. Akos würde den Haubenadler als Ablenkung benutzen und versuchen, den Kampf schnell zu beenden. Skrupellos wie er war, ließ der Vampir sich nur auf Kämpfe ein, die er gewinnen konnte. Seine Augen hatten ein rotes Glühen angenommen, aber sein Blick huschte hin und her, als glaubte Akos, er könne immer noch entkommen.
»Du entgehst der Gerechtigkeit nicht«, sagte Dominic ruhig und beobachtete die unruhigen Augen.
Als Akos’ Blick für den Bruchteil einer Sekunde nach oben glitt, stürzte sich Dominic mit seiner legendären Schnelligkeit auf den Untoten. Im selben Moment registrierte er, dass die Harpyie aus dem Himmel fiel. Seine Faust durchbohrte Akos’ Brust, und die Adlerkrallen griffen nach den Augen des Vampirs. Dominic wirbelte mit dem kreischenden Akos herum; das schwarze Vampirblut lief über seine Faust und seinen Arm und verbrannte ihn bis auf die Knochen. Die Adlerkrallen schlossen sich derweil um Akos’ Hinterkopf und zerrten und rissen ihm die Haut vom Schädel.
Solange lag ungeschützt da und wagte nicht, sich ein wenig Ruhe zu gönnen, weil sie befürchtete, dass der Vampir den Adler zu ihr schicken würde. Vorsichtig öffnete sie die Augen, um zu dem dunklen Blätterdach hinaufzuschauen. Drei Paar glühende Katzenaugen erwiderten ihren Blick mit der intensiven Konzentration des Raubtiers. Solanges Herz setzte einen Schlag aus und begann dann, umso wilder zu pochen. Jaguarmänner! Sie hatten sich nicht weit vom Labor entfernt, sondern wahrscheinlich einen sicheren Unterschlupf im Blätterdach gefunden und von dort das blutige Massaker beobachtet. Solanges erster Impuls war, wegzulaufen … oder sich zu verwandeln und wegzulaufen. Aber diese drei Jaguare waren starke Männchen, schnell und wild und an die Jagd gewöhnt. Solange hatte keine Chance gegen sie, daher verhielt sie sich still und zwang sich, nicht in Panik zu geraten.
Dominic, sagte sie im Geiste und bemühte sich dabei um einen ruhigen Ton. Wie weit entfernt bist du?
Was ist mit dir, Geliebte?
In seiner Stimme lag ein so großes Selbstvertrauen, dass sich auch Solange ein wenig beruhigte. Diesmal war sie nicht allein. Diese Männer würden sie nicht lebend kriegen, das hatte sie sich vor langer Zeit geschworen. Solang wusste, dass Dominic kommen würde; sie musste die Jaguarmänner nur noch eine Weile hinhalten.
Brodrick und zwei seiner Männer sind hier. Sag mir ungefähr, wie lange du brauchst. Ich kann sie so lange ablenken. Solange hielt immer noch die Armbrust in der Hand. Sie hatte sie nicht fallen lassen. Und sie hatte auch noch das Messer.
Solange spürte Dominics Zögern. Ich muss Akos vernichten. Kommst du zurecht, bis ich bei dir bin? Sag mir die Wahrheit!
Ihre Finger schlossen sich noch fester um die Armbrust, dann hob sie sie hoch und schoss. Der Pfeil zischte in die Höhe, durch die Luft und zwischen die Blätter und Äste, um sich geradewegs in eines der glühenden Katzenaugen zu bohren. Beim Aufprall entzündete er sich und brannte sich durch den Jaguarschädel. Solange hörte etwas Schweres auf dem Boden aufschlagen und rollte sich schnell auf die kleine Böschung zu, die ihr eine gewisse Deckung geben würde.
Ich habe alles unter Kontrolle.
Sie bekam Laub und Ameisen in den Mund, als sie den kleinen Abhang hinunterrutschte und durch den Matsch schlitterte, und landete in einem winzigen Bach, der in einen größeren Fluss einmündete. Schnell kroch sie in das Gewirr der Wurzeln einer der höheren Bäume am Ufer. Die Wurzeln boten ihr ein wenig Schutz. Von hinten konnten die Jaguare nicht an sie herankommen, und sie war bewaffnet und bereit für sie. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich etwas einfallen lassen würden, doch sie musste ja auch nur ein bisschen Zeit gewinnen. Sie rechneten bestimmt damit, dass sie sich verwandeln und die Flucht ergreifen würde, aber Solange dachte nicht einmal daran, nach ihren Spielregeln zu spielen.
Akos ist direkt vor mir, und ich versuche, von hinten an ihn heranzukommen.
Sei vorsichtig. Sein Adler könnte bei ihm sein, warnte Solange. Sie konnte Flüche hören. Einer der Jaguarmänner hatte sich verwandelt, wahrscheinlich, um seinen Kameraden zu untersuchen. Aber der war tot. Er konnte diesen Schuss nicht überlebt haben. Achte auf den Himmel über dir!
Wie zur Antwort begann ein spektakuläres Schauspiel über ihr. Blitze zuckten auf, und die dunklen Wolken färbten sich purpurrot, als wären sie mit Feuer aufgeladen. Solange wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht – dann knackte ein Zweig, und ihr ganzer Körper versteifte sich.
»Kluges Mädchen.«
Solanges Mut sank. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass einer der Jaguarmänner Brodrick sein musste, und biss die Zähne zusammen, damit sie nicht zu klappern anfingen. Und plötzlich frischte der Wind auf – völlig unerwartet und unerklärlicherweise heulte er durch die Bäume und brachte die Stimmen all der Frauen mit, die dieser Mann ermordet hatte und die Solange nun anflehten, ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Das Geräusch des stetig fallenden Regens war eine traurige Untermalung des stöhnenden und heulenden Windes.
»Hörst du sie?«, fragte sie mit erstaunlich fester Stimme. Sie musste ihn am Reden halten. Mit ein bisschen Glück konnte sie ihn vielleicht sogar in ihre Schusslinie locken.
»Wen?«, wollte Brodrick wissen.
»Die Toten.« Das Heulen wurde immer schriller. »Sie rufen dich.« Sie sprach absichtlich leise, in der Hoffnung, ihn so vielleicht näher zu sich heranlocken zu können. Und wo war der andere Jaguarmann?
»Du bist es, die sie rufen«, berichtigte Brodrick sie knurrend. »Komm da raus und wirf die Waffe weg!«
»Ich mag zwar dein Blut in meinen Adern haben, aber die Intelligenz habe ich zum Glück von meiner Mutter. Wenn du mich willst, dann komm und hol mich!«
Sie hörte einen weiteren Zweig knacken, diesmal links neben sich. Der andere Mann versuchte, an sie heranzukommen, während Brodrick sie ablenkte. Sie flüsterte mit ihrer Katze und vergewisserte sich, dass sie auf der Hut war.
»Du müsstest eigentlich wissen, Solange, dass unsere Rasse ausstirbt«, sagte Brodrick in nüchternem Ton, als wären sie gute Freunde, die ein altbekanntes Thema diskutierten.
Er war kaum auszumachen in der Dunkelheit, wo er in einiger Entfernung von ihr stand und Jeans anzog. Solange wandte den Blick ab. Brodrick war klug genug, sich aus ihrer Schusslinie herauszuhalten, aber … Sie wackelte ein bisschen hin und her und stieß mit den Füßen Zweige fort, bis sie genug Platz hatte, um sich hinzulegen. Solange nutzte die Geschmeidigkeit ihrer Katze, um Brodrick nicht auf ihre veränderte Haltung aufmerksam zu machen, und ließ sich Zentimeter für Zentimeter auf den Bauch herab.
Genauso langsam und vorsichtig schob sie dann die Armbrust unter eine der dicken Wurzeln, in deren Geflecht sie sich versteckte. Sie hatte nur ein paar Zentimeter Spielraum, aber genug, um einen Pfeil hindurchzuschießen. Es war ein kniffliger Schusswinkel, und sie konnte auch keinen ihrer speziellen Vampirpfeile benutzen, doch die kleineren, traditionellen würden auch genügen.
»Natürlich weiß ich das, Brodrick. Und ich weiß auch, dass du die Schuld daran trägst und den Niedergang unserer Spezies mit voller Absicht und aus purer Niedertracht herbeigeführt hast. Du wusstest genau, was du tatest, also erspar mir deinen ›Du musst unsere Spezies retten‹-Vortrag. Wer ist übrigens dein Freund? Der lauter herumschleicht als die Zikaden singen? Man sollte meinen, er hätte gelernt, sich still zu verhalten, falls er einer deiner Bodyguards sein sollte.« Ihre Stimme triefte nur so vor Sarkasmus.
Sie veränderte den Schusswinkel ein wenig, als Brodrick noch mehr mit der Dunkelheit verschmolz. Er würde sich schon noch bewegen. Einen Fuß, eine Hand – es war egal, welchen Teil seiner Anatomie er offenbarte. Sie würde ihn auf jeden Fall erwischen.
Brodrick seufzte übertrieben laut. »Reggie, du kannst genauso gut auch von da wegkommen.«
In seiner Stimme schwang plötzlich Verärgerung mit, und ein warnendes Frösteln lief Solange über den Rücken. Er führt etwas im Schilde, dachte sie stirnrunzelnd. Ihr einziger Vorteil war, dass sie sie lebend wollten. Brodrick würde sie nicht töten, und sein Begleiter erst recht nicht. Als Gestaltwandlerin mit königlichem Blut war sie lebend viel zu wertvoll. Brodrick wollte einen Erben. So widerlich und abscheulich es auch war, Solange wusste, was er vorhatte. Der bittere Geschmack von Galle stieg ihr in den Mund, aber ihr Blick wich nicht von der schattenhaften Gestalt, die sich hinter dem Schleier aus dichtem Buschwerk hin und her bewegte.
Bei der nächsten Bewegung ihres Vaters schoss Solange einen Pfeil ab, der durch das Gesträuch zischte und traf. Brodrick schrie auf und fluchte. Sie hörte den schweren Aufprall seines Körpers, als er ins Gebüsch fiel. Hoffentlich wachsen dort Brennnesseln!, betete sie stumm.
»Ich werde dir dein verdammtes Leben zur Hölle machen, du kleines Biest«, tobte er so laut, dass seine Stimme durch den Urwald schallte. »Jeder Tag, den du erlebst, wird dir nichts als Schmerzen bringen. Ich kenne mehr Wege, einer läufigen Hündin Schmerzen zuzufügen, als du ahnst.«
In der Enge des Wurzelgeflechts fiel es Solange schwer, einen weiteren Pfeil in der Armbrust zu befestigen. Sie zappelte herum, obwohl sie sich Mühe gab, sich ruhig zu verhalten. Ihr Bein streifte das dicke Holz an ihrer rechten Seite, als sie versuchte, den Arm in Position zu bringen. Etwas ergriff ihren Fußknöchel und drückte ihn brutal auf den Boden. Sie spürte den Stich und das scharfe Brennen noch, als sie die Armbrust schon losließ, das Messer aus der Scheide an ihrem Schenkel riss und sich in einer einzigen Bewegung zur Seite rollte, um dem Mann, der sie festhielt, die Klinge zwischen die Rippen zu stoßen.
Komm schnell!, rief sie Dominic zu Hilfe. Sie haben mir irgendwas injiziert.
Sie hatte gewusst, dass Brodrick etwas vorhatte. Sie hatten sie mit knackenden Zweigen getäuscht und sie glauben lassen, Reggie befände sich zu ihrer Linken. Was für ein dummer, dummer Fehler! Solange versuchte, ruhig zu bleiben und möglichst flach zu atmen, damit das, was auch immer sie ihr gespritzt hatten, sich nicht zu schnell in ihrem Organismus verbreitete. Sie dachten, sie hätten Zeit. Dass sie irgendwann einschlafen würde und sie dann mit ihr machen konnten, was sie wollten. Sie konnten ja nicht ahnen, dass Dominic zu ihr unterwegs war.
Reggie fluchte, als er von den Wurzeln zurücktrat. Er kam etwa sieben Fuß weit, schwankte und ließ sich auf Hände und Füße fallen. »Brodrick … komm her und hilf mir.«
Er war außer Deckung, wo sie ihn mit einem gut gezielten Pfeil erschießen konnte. Mit langsamen, sorgfältigen Bewegungen legte Solange einen weiteren Pfeil ein und wartete, diesmal so weit am Ende des Gewirrs von Wurzeln, wie sie konnte. Brodrick und Reggie waren viel zu stämmig, um das Geflecht durchdringen zu können, und sie würde es ihnen bestimmt nicht leichter machen.
Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Solanges Sicht verschwamm. Die Wurzeln um sie herum bewegten sich, als erwachten sie zum Leben.
»Brodrick«, heulte Reggie, der stark blutete, obwohl er beide Hände fest an seine Seite presste.
»Hör auf zu jammern!«, fuhr Brodrick ihn an. »Du hast dich von dem kleinen Biest erwischen lassen. Ich sagte dir doch, dass sie gefährlich ist. Du hast sie unterschätzt.«
»Wie kommt es«, fragte Solange mit blecherner Stimme, »dass ein Mann, der eine Frau angreift, immer wütend wird, wenn sie sich wehrt? Das habe ich nie verstanden.«
»Ich habe nichts gegen einen kleinen Kampf. All diese köstliche Angst, wenn eine Frau sich wehrt, macht das Ganze nur noch interessanter«, sagte Brodrick, ohne Reggies zunehmende Verzweiflung zu beachten. Sein Partner schleppte sich mühsam in das Unterholz. »Ich liebe es, die Gesichter der Frauen zu beobachten, wenn sie flehen und betteln und bereit sind, alles für mich zu tun und zu ertragen, nur um nicht zu sterben.« Sein Lachen war erfüllt von Hohn und von Verachtung. »Und glaub mir, Solange, du wirst da keine Ausnahme bilden.«
Sie hatte ihn jetzt gut in der Schusslinie, falls er stehen blieb, aber sie musste sich beeilen. Ihre Arme wurden allmählich schwer wie Blei. Mit dem Ellbogen wischte sie sich den Schweiß aus den Augen und ließ Brodricks Bild in ihrem Geist erstehen. Seine Größe, seine Gestalt. Er stand hinter Farn und anderem Gesträuch, und seine schattenhaften Konturen verzerrten sich.
»Du hättest mich umbringen sollen, als du Gelegenheit dazu hattest«, sagte sie, weil sie eine Antwort hören wollte, um besser seine Position bestimmen zu können. Ihre Sicht verschwamm mittlerweile immer mehr.
»Wenn du mir einen Sohn schenkst, wird es mir ein Vergnügen sein, und du wirst sehr lange brauchen, bis du stirbst«, erwiderte er und klang sehr überzeugt. »Wie der alte Reggie.«
Der Mann lag auf dem Boden und stöhnte, aber seine Kraft hatte ihn mit seinem Blut verlassen.
Solange holte tief Luft, und beim Ausatmen schoss sie den Pfeil ab. Brodrick grunzte. Sie wartete mit wild pochendem Herzen. Der Boden erbebte, als ihr Vater völlig durchdrehte, durch das Buschwerk brach und alles auf seinem Weg zerstörte. Wut und Empörung kochten in ihm über. Brüllend stürmte er Solanges Unterschlupf, zertrümmerte die Wurzeln und griff durch das zersplitterte Holz, um Solanges Haar zu packen. Er riss so hart daran, dass die Armbrust ihr aus der kraftlosen Hand rutschte, zerrte sie aus den Resten des Wurzelgeflechts heraus und schleuderte sie zu Boden.
Sieh ihn an! Hör nicht auf, ihn anzusehen! Dominics Stimme klang wie immer ganz ruhig.
Solange empfand die gleiche Ruhe. Ich muss es tun.
Wie unbeteiligt hörte sie die Fäuste auf ihren Körper einschlagen und sah die knurrende, hassverzerrte Maske über sich, doch sie empfand nichts als grimmige Entschlossenheit. Dieses Monster hatte fast jeden ermordet, den sie liebte. Er hatte unzählige Leben und eine ganze Spezies zerstört. Sie beobachtete ihn mit einem gleichgültigen, unbewegten Blick, der ihn offenbar noch mehr in Rage brachte. Er beugte sich über sie und griff nach ihrem Hemd – doch bevor er es ihr vom Körper reißen konnte, ließ sie all ihre Energie und Willenskraft in die Hand einfließen, die das Messer hielt.
Und dann stieß sie mit der Klinge zu, direkt in Brodricks schwarzes Herz hinein. Solange hatte nicht genügend Kraft, um das Messer so tief hineinzustoßen, wie sie wollte, aber nach dem um die Klinge aufsprudelnden Blut zu urteilen, musste es ausreichen, um Brodrick zu töten. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Schock. Sie konnte sehen, dass er nie gedacht hätte, dass eine Frau imstande sein könnte, ihn zu besiegen. Dann wich sein Schock wieder wilder Wut, und seine Hände lösten sich von dem Messergriff, um sich um Solanges Hals zu legen.
Bevor ihm das jedoch gelang, stieß ihn eine weißglühende Energie zurück und weg von Solange. Dominic kniete sich neben sie und ließ die Hände sanft über sie gleiten. Überall, wo er sie berührte, verschwanden Schnitte, Kratzer und Prellungen.
»Ich muss das Beruhigungsmittel aus deinem Körper entfernen, Solange«, sagte er und machte sich auch sogleich ans Werk.
Dann half er ihr, sich aufzusetzen, und Solange legte für einen Moment den Kopf an seine Schulter. »Danke. Mir ist immer noch ganz schwindlig.«
Dominic, der eine Bewegung spürte, fuhr herum und schützte Solange mit seinem Körper, als er sah, wie Brodrick sich das Messer aus der Brust riss und es mit letzter Kraft nach Solange warf. Dominic spuckte Feuer. Diese Fähigkeit besaßen Drachensucher, machten aber nur selten Gebrauch davon. Die Flammen ergriffen den Gestaltwandler und verwandelten ihn in eine orangerot glühende Fackel.
Solange zog eine Augenbraue hoch. »Ich wusste nicht, dass du das kannst. Das ist ziemlich freakig.«
Er küsste sie. »Verärgere mich nicht, dann brauchst du das nie wieder zu sehen.«
Sie lachte leise. »Ich will nach Hause.«
»Josef ist endlich fertig. Ich kann das Laboratorium zerstören«, sagte er. »Und dann gehen wir heim.«
Den Blick auf die Feuersbrunst gerichtet und Brodricks Schreie in den Ohren, seufzte sie. »Dann beeil dich! Und danach möchte ich mindestens einen Monat schlafen.« Ihr Albtraum war endlich vorbei. Die anderen Gestaltwandler würden die Gegend verlassen und nicht länger ihr Problem sein. Hoffentlich ließen sie sich irgendwo nieder, wo sie dem Zugriff des Gesetzes nahe waren.
Dominic konzentrierte sich auf das Labor und baute das Bild in seinem Bewusstsein auf. Er hatte auf jeden statisch wichtigen Punkt geachtet. Die erste Welle ließ er direkt unter dem Gebäude hochgehen. Die Erde erbebte. Brodrick krümmte und wand sich auf dem Boden. In der Ferne konnten sie den Donner hören, mit dem das Laboratorium auseinanderbrach. Dominic hielt nicht eher inne, bis der letzte Ziegelstein zerstört und nichts mehr von dem Gebäude übrig war.
Dann drehte er sich um, blickte durch den Regen zum Himmel auf und rief ein letztes Mal den Blitz herunter. Der Strahl drang in Brodricks sich windenden Körper und verbrannte ihn in Sekundenschnelle. Die weißglühende Energie sprang sogleich auf Reggie über und verwandelte auch ihn in Asche.
»Und jetzt ab nach Hause, Liebste«, sagte Dominic. »Wir müssen das kleine Bündel aus Fell und Krallen füttern.«
Solange legte ihre Hand in Dominics, und ohne sich noch einmal nach der Asche umzuschauen, machte sie sich mit ihrem Gefährten auf den Weg nach Hause.