4. KAPITEL

Aber dann, jenseits aller Hoffnung, erschienst du mir im Traum … Deine Melodie ergreifend, deine sanfte Stimme heilend. Die Seele eines Poeten, das große Herz eines Kriegers. Du gabst alles für deine Leute. Lass mich dir Gefühle schenken!

Solange zu Dominic

Wie hatte sie nur so dumm sein können? Mit schmerzhaft enger Kehle und rasendem Herzschlag in der Brust stand Solange im Regen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte diesem Mann all ihre Geheimnisse anvertraut. Weil sie geglaubt hatte, er sei nicht real, hatte sie sich in Sicherheit gewähnt und ihm jede ihrer Schwächen offenbart. Waren die Träume irgendeine Art von Trick gewesen? Sie stöhnte und strich sich mit einer Hand über die Kehle, um den furchtbaren Schmerz darin zu lindern. Ihre Stimmbänder fühlten sich wie in Fetzen gerissen an – nicht anders als ihr Herz.

Ein karpatianischer Krieger. Sie hatte ihn sich ausgedacht, sich Stück für Stück ein Bild von ihm gemacht – oder nicht? Damals, als sie zu träumen begonnen hatte, war ihr bewusst gewesen, dass sie alle Hoffnung aufgegeben hatte und sich dem Ende ihrer Tage näherte. Ihr Krieger war das Einzige gewesen, was sie aufrechterhalten hatte während all der Kämpfe und der grauenhaften Massaker, denen sie begegnet war. Brodrick der Schreckliche war entschlossen gewesen, jeden nicht ganz reinrassigen Jaguarstamm, den er finden konnte, zu beseitigen. Nur die Gestaltwandler unter ihnen – männliche wie weibliche – wurden verschont.

Es gab keine Möglichkeit, das Böse in ihrem Vater aufzuhalten. Das Übel, Frauen wie Sklavinnen und Gebärmaschinen zu behandeln, hatte schon vor Hunderten von Jahren begonnen, und die Männer folgten dem Beispiel der königlichen Familie. Sie waren egozentrisch, ausschweifend und lasterhaft gewesen, gierten nach Macht und förderten die schlimmsten Eigenschaften ihrer Spezies, statt zu versuchen, etwas anderes zu werden. Brodrick genoss das Töten und umgab sich mit Männern, die genauso waren wie er.

Der vertraute Regen fühlte sich für Solange wie ein verführerischer Fremder an, der mit ihren Sinnen spielte, als er durch die Mulde zwischen ihren Brüsten rann und an ihrem Bauch hinunter zu der empfindsamen Stelle zwischen ihren Schenkeln. Seltsam erregt von der Empfindung hielt Solange das Gesicht in den Regen, fing ein paar Tropfen mit dem Mund auf und ließ sie durch ihre Kehle rinnen, um den Schmerz zu lindern. Für die – wenn auch süße – Qual zwischen ihren Schenkeln gab es keine Linderung.

Farben, so strahlend wie die Sonne, wirbelten vor ihren Augen und blendeten sie fast. Jede Empfindung war tausendfach verstärkt. Demütigung. Beschämung. Kummer. Wut. Ein hemmungsloses sexuelles Verlangen, das so wild und urwüchsig war, wie sie es noch nie erfahren hatte. Der Regen tropfte von ihren Brustwarzen, die sich zu zwei harten kleinen Spitzen aufgerichtet hatten. Solange blickte auf ihren Körper herab, und hinter ihren Lidern brannten Tränen.

Dieses Verlangen war stärker als jede Hitze, die ihr Jaguarweibchen je erfahren hatte. Es nahm ihr den Atem und raubte ihr den Verstand. Die Leidenschaft war jedoch nicht nur körperlicher Art – jeder noch so kleine Teil von ihr, ihr Herz und ihre Seele, schienen sich nach diesem Mann zu verzehren und den überwältigenden Wunsch zu verspüren, bei ihm zu sein. Seelengefährten … Solange hatte die Hingabe gesehen, mit der Riordan ihre Cousine Juliette liebte. Er achtete auf die kleinste Kleinigkeit, schien immer vollkommen auf Juliette konzentriert zu sein … und diese Art von Konzentration würde Solange vermutlich in den Wahnsinn treiben. Sie war zu lange allein gewesen. Oft vergingen Wochen, in denen sie niemanden sah und sprach. Wie könnte sie also in einer Beziehung leben? Solange hatte keine Ahnung, was es bedeutete, ihr Leben mit jemandem zu teilen – oder auch nur irgendwas zu teilen.

Von Panik ergriffen konnte sie kaum noch atmen. Sie könnte gar nicht zu ihm gehen. Niemals. An ihrem Körper gab es kaum noch eine Stelle, die frei von Narben war. Sie hatte keine schöne glatte Haut zu bieten, keine sanfte Seite mehr, sondern war zu einer kompromisslosen Frau, ja zu einer bloßen Kampfmaschine geworden. Die Frau aus dem Traum war eine Illusion gewesen. MaryAnn, Manolitos Seelengefährtin, war für Solange so etwas wie eine Freundin, und sogar MaryAnn hatte sie wegen ihres ungebärdigen Haars und ihrer mangelnden Weiblichkeit gescholten. Solange hatte Gleichgültigkeit vorgeschützt, und damals war es ihr auch egal gewesen. Aber jetzt … jetzt, da er in ihr Leben getreten war, dieser Mann, wie es keinen zweiten gab, dieser Krieger, der allen anderen haushoch überlegen war …

Solange stöhnte und presste die Fäuste an die Augen. Sie war keine Frau, die weinte oder die sich nach einem Mann verzehrte. Oder einen brauchte. Aber irgendwie hatte sich das alles im Laufe der letzten Monate geändert. Sie hatte sich verändert; sie war an den Rand des Abgrundes getrieben worden von dem endlosen Horror ihres Lebens, in dem es weder Rast noch Ruhe gegeben hatte – außer ihm. Dem Karpatianer. Ihrem Karpatianer.

Sie holte tief Luft und gestand sich im Stillen endlich ein, dass sie diesen Mann brauchte, und wenn auch nur, um seine letzten Tage mit ihm zu verbringen. Denn der Aufgabe, die er für seine Pflicht seinem Volk gegenüber hielt, würde er sich nicht entziehen. Und dafür hatte sie allergrößtes Verständnis. Dies alles war ein furchtbarer Schlamassel, der zur schlimmstmöglichen Zeit gekommen war. Solange hatte endlich Brodrick aufgespürt. Sie wusste, wo er sich aufhielt, aber dort würde er nicht lange bleiben. Und gewöhnlich reiste er in Begleitung seiner gewalttätigsten Männer …

Plötzlich wurde es mäuschenstill um sie. Alle Geräusche des Dschungels verstummten. Der Jaguar in ihr erstarrte und drängte sich an ihre Haut, wie um sie zu beschützen. Die feinen Härchen an ihren Armen richteten sich auf, und ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Insekten überströmten schier den Boden, Ameisen und Käfer, die ausschwärmten und alles auf ihrem Weg bedeckten. Wie ein schwarzer Fluss, dachte Solange, der über die umgestürzten Bäume in meine Richtung fließt. Über ihr füllte der Himmel sich mit Fledermäusen, die sich flink durch das Blätterdach bewegten, eine unheilvolle schwarze Wolke und böses Vorzeichen für Dinge, die noch kommen würden.

Die Vampire hatten sich erhoben. Solange verwandelte sich schnell und nahm die Gestalt des Jaguars an. Die Untoten würden nach dem Erwachen hungrig sein und sich auf die Jagd nach Opfern begeben. In menschlicher Gestalt würde sie sie zu leicht anlocken, doch als Jaguar konnte sie sich ins Blätterdach zurückziehen, um zu warten, bis sie vorbeigezogen waren.

Fledermäuse, hörte sie im Geiste die warnende Stimme des Mannes ihrer Träume sagen. Die Untoten erheben sich.

Sie war schon wieder in den Bäumen, der Jaguar war flink auf eine Astgabel hoch oben unter dem schützenden Blätterdach geklettert, ließ sich dort nieder und verhielt sich völlig still.

Sie werden hungrig sein. Verwandle dich und versteck dich, bring dich in Sicherheit! Es ist gefährlich, uns auf diese Weise zu verständigen. Sie werden jedes Aufbranden von Macht bemerken.

Der Schwanz der Katze zuckte vor Verärgerung. Dachte er, sie wüsste nicht, wie sie sich zu verhalten hatte? Sie war nicht dumm. Manolito und Riordan hatten sie, Juliette und Jasmine gelehrt, einen Vampir zu töten, falls es notwendig sein sollte. In den letzten Wochen hatte dieses Training Solange viele Male das Leben gerettet. Sie war in erster Linie eine Kriegerin. Immer. Und deswegen riskierte sie nicht, ihrem Karpatianer zu antworten. Sie wusste ja, dass er recht hatte: Die Untoten könnten die elektrisierende Empfindung großer Macht bemerken, die es erforderte, um sich auf telepathischem Wege zu verständigen. Wahrscheinlich ließ sich der Kontakt auch unauffällig herstellen, aber dazu war sie nicht erfahren genug, und Solange ging nie ein unnötiges Risiko ein.

Sie ließ den Kopf auf den Pfoten liegen und verdrängte alle Gedanken. Die Fledermäuse zogen derweil ihre Kreise, und einige stießen herab, um unvorsichtige Insekten zu verschlingen, während andere sich an den Früchten in den Bäumen gütlich taten. Wieder andere konnte sie auf der Suche nach warmblütiger Beute über den Boden krabbeln sehen. Solange lag dort wie erstarrt und hielt sogar die Spitze ihres Schwanzes still, bis die Fledermäuse endlich zu neuen Territorien weiterzogen. Erst dann erhob sie sich und streckte sich mit der trägen Anmut einer Katze.

Sie hatte etwas zu erledigen. Sie hatte eine Falle aufgestellt und wusste, dass Brodrick und seine Männer hineintappen würden. Schließlich rechneten sie nicht mit ihrer Rückkehr. Inzwischen wussten sie bestimmt auch schon, dass sie verwundet war, und würden sich deswegen vor ihr sicher fühlen. Und Brodrick hatte einen unguten Pakt mit den Vampiren geschlossen. Die Untoten konnten den Geist der nicht vollblütigen Jaguarmenschen und sogar den der reinrassigen beherrschen, aber selbstverständlich keinen Jaguarmenschen, der von königlichem Blut war. Solange Brodrick von den Vampiren bekam, was er wollte, würde er an seiner Beziehung zu ihnen festhalten. Es war ein in der Hölle geschlossener Pakt, was Solange anging. Brodrick war besessen von dem Gedanken, jeden nicht verwandlungsfähigen Jaguarmenschen zu vernichten, und da die Vampire geschworen hatten, ihm dabei zu helfen, hatte er kein Problem damit, auch sie zu unterstützen.

Das riesige Labor, das von der »Menschlichen Gesellschaft« errichtet worden war – einer Gruppe von Leuten, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Vampire zu jagen und zu töten –, wurde angeblich nur zur Forschung benutzt, aber Solange war darin gewesen und wusste, dass es sehr viel perfideren Zwecken diente. Feinde wurden dort gefangen gehalten und gefoltert, und weibliche Jaguarmenschen wurden oft dorthin gebracht, um von Brodrick und seinen Männern missbraucht zu werden. Der wahre Zweck dieses Gebäudes war jedoch noch viel bizarrer. Solange hatte die Computeranlagen gesehen. Vampire konnten nicht stundenlang an einem Computer sitzen und Daten sammeln, aber Menschen und auch Jaguarmenschen besaßen diese Fähigkeit. Und die Untoten brauchten sie, um eine Datenbank mit Namen und Adressen übernatürlich begabter Frauen überall auf der Welt für sie zusammenzustellen.

Es waren Brodricks Männer, die sich mit den meisten Einzelheiten zu befassen schienen, und Solange war sicher, dass sie eine Trefferliste von Leuten – besonders Frauen – zusammenstellten, die Jaguarblut in ihren Adern hatten. Sie hatte diesen Verdacht zwar noch nicht erhärten können, doch oft lag sie stundenlang in den Baumästen und beobachtete das Labor – was zweifellos ein großes Risiko war, aber eines, durch das sie wenigstens die eine oder andere wichtige Information zu erlangen hoffte.

Mittlerweile sicher, dass die Vampire weitergezogen waren, um Blut zu suchen, machte Solange sich auf den Weg zurück zu den Klippen über dem Fluss, von denen die Frau namens Annabelle sich lieber herabgestürzt hatte, als sich wieder von ihren Verfolgern einfangen zu lassen. Auf dem Weg dorthin versuchte Solange, das Gesicht der verzweifelten Frau aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Solange hatte sich verwandelt, sie gerufen und sich selbst in Gefahr begeben, um sie aufzuhalten, aber Annabelle war so verzweifelt gewesen, dass sie kein Risiko hatte eingehen wollen, als die Männer auf Solange zu schießen begonnen hatten.

Der Jaguar schüttelte den Kopf. Die Toten erstanden oft in ihren Träumen wieder auf, um sie zu quälen. Manchmal fürchtete Solange, in ihren Schreien und den schrecklichen Grausamkeiten, die ihnen angetan worden waren, zu ertrinken. Sie wusste, dass Menschenhandel ein großes Problem an anderen Orten war, aber hier in ihrer Welt gab es ihn schon seit Jahrhunderten, dank der Herrscher ihres Volkes. Frauen waren nicht mehr als Objekte. Gebärmaschinen und Besitztümer. Die Männer erlaubten sich mit ihnen, was sie wollten, und fühlten sich über jedes Gesetz erhaben, selbst über die Gesetze des Anstands und der guten Sitten. Die Frauen dagegen waren nur dazu da, ihren primitiven sexuellen Bedürfnissen zu dienen und ihnen Kinder zu gebären.

Auf leisen Pfoten bewegte Solange sich durch das Labyrinth der miteinander verbundenen Äste, die die luftige Straße über dem Urwaldboden bildeten. Die Tiere und Vögel, die noch immer eingeschüchtert von dem vorbeiziehenden Bösen waren, erschauderten nur, als sie an ihnen vorbei zu ihrem Zielort eilte. Sie lief schnell, da sie tagsüber viele Meilen zurückgelegt hatte, um zu der Stätte ihrer Kindheit zu gelangen, und jetzt noch einen langen Rückweg vor sich hatte. Im Blätterdach kam sie schneller voran, doch manchmal war sie auch gezwungen, zum Waldboden hinabzusteigen.

Die Wunde an ihrer Hüfte brach auf, und Blut sickerte wieder heraus. Da Solange es sich nicht leisten konnte, den Geruch in der Luft zu hinterlassen, machte sie sich mit einem ungeduldigen Schnauben auf den Weg zu einem ihrer vielen geheimen Vorratslager im Wald. Tief unter einem Geflecht aus Wurzeln hatte sie einen wasserdichten Kasten versteckt, in dem sich eine Garnitur Kleidung, Waffen, Munition, gedörrtes Obst und Fleisch, sauberes Wasser und ein Verbandskasten befanden. Jetzt musste sie nur noch die Gestalt wechseln, um sich zu behandeln.

Im Regenwald war es stets sehr wichtig, eine Wunde gut zu reinigen und zu schließen und eine antibiotische Salbe aufzutragen – und diese hier bildete keine Ausnahme. Die Gefahr einer Infektion war enorm, man zog sie sich leicht zu und starb auch schnell daran. In der Regel ging Solange sehr achtsam mit Verletzungen um, und die Tatsache, dass sie den weiten Weg zur Stätte des Massakers an ihrer Familie gelaufen war, ohne sich um die Wunde zu kümmern, verriet ihr eine Menge über ihre geistige Verfassung. Sie musste einen Ausweg finden, oder sie würde nicht mehr lange leben. Sie hatte nichts mehr zu geben – und das beschämte sie.

Nachdem sie die Wunden verarztet hatte, nahm Solange wieder die Gestalt des Jaguars an. Es war einfacher, mit dem tief empfundenen Gefühl umzugehen, das ihren Verstand bedrohte, wenn es von dem Tier gedämpft wurde, besonders bei der Erkenntnis, dass Brodricks Bestialitäten kein Ende nehmen würden. Im Regenwald – und sogar am Rand davon – gab es so wenige Frauen, dass ihr Vater sich darauf verlegt hatte, die Datenbank der Vampire zu benutzen, um Jaguarfrauen in anderen Ländern aufzuspüren. Er ließ sie entführen und zu sich bringen. So war auch Annabelle hierhergekommen. Ihr Ehemann war menschlich, soweit Solange verstanden hatte, was Brodricks bezahlte Handlanger aber nicht daran gehindert hatte, sie zu kidnappen.

Die »Menschliche Gesellschaft« steckte mit Brodrick unter einer Decke, obwohl Solange bemerkt hatte, dass alle Sicherheitsleute, die das Labor bewachten, ihn fürchteten. Und dazu hatten sie auch allen Grund. Brodrick war nicht weniger grausam und verkommen als Vampire, und er war auch genauso raffiniert wie sie. Er kannte den Regenwald – er war seine Domäne. Solanges Ruf war mit den Jahren gewachsen, und inzwischen wusste er, dass es eine reinrassige Gestaltwandlerin gab, die seine Pläne unterwanderte und gefährdete. Er hasste Ungehorsam, und seine Bestrafungen waren äußerst brutal. Brodrick verlangte absolute Unterwerfung, besonders von einer Frau. Aber sie, Solange, wollte er lebend – was ihr einziger Vorteil war. Die Männer, denen sie begegnete, würden dagegen sehr im Nachteil sein, wenn sie versuchen sollten, sie lebend zu Brodrick zu bringen!

Sie beeilte sich noch mehr. Sie würden den Körper des männlichen Jaguars, den sie getötet hatten, in der kommenden Nacht verbrennen, um ihre Anwesenheit zu verbergen. Und sie würden auch Annabelles Leiche den Flammen anheimgeben wollen. Mit etwas Glück würde Brodrick dabei sein, um die Operation persönlich zu leiten, doch wenn nicht, würde er im Amazonasurwald bleiben, um sie zu jagen. Einen solchen Schlag ins Gesicht – und dann auch noch von einer Frau – würde er nicht ertragen können. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie ausfindig zu machen. Und sie würde ihn gewähren lassen … und ihn töten. Solange erwartete, dabei zu sterben, aber sie würde nicht allein gehen. Sie würde die verbliebenen weiblichen Jaguarmenschen von Brodricks unheilvoller Präsenz befreien, und wenn sie es mit dem Tod bezahlen musste.

Als sie das Rauschen des Flusses hören konnte, legte sie sich auf den Bauch, lauschte, schnupperte und sah sich auch nach Hinweisen im Verhalten der Tiere um. Sie witterte die Gegenwart von mindestens zwei männlichen Jaguarmenschen, die sich jedoch nicht in ihrer tierischen Gestalt befanden. Ihre Sinne würden daher ein bisschen stumpfer sein, das Gehör nicht ganz so scharf. In der Gestalt der Katze schlich sich Solange südlich von ihnen durchs Gestrüpp, bis sie zu einem weiteren ihrer Verstecke kam, auch dieses wieder gut geschützt vom Wurzelgeflecht eines Baumes. Diese Kiste war größer und enthielt ihre eigenen sorgfältig gesäuberten Waffen und einen Haufen Munition. Schnell wechselte sie die Gestalt und zog sich an, schnallte sich ein Messer um und hängte sich eine Armbrust, Ersatzpfeile und ihr Gewehr über die Schultern. Mit einer Handfeuerwaffe war sie nicht die Beste, aber aus der Entfernung war sie sowohl mit einem Gewehr als auch mit einer Armbrust eine verdammt zielsichere Schützin.

Auf dem Weg durch den Wald hielt sie sich auf den Fährten der Tiere. Sie hatte den Vorteil, recht klein und kräftig zu sein, und konnte deshalb Pfade benutzen, auf denen die größeren männlichen Jaguare vielleicht nicht versuchen würden, Witterung aufzunehmen. Manchmal kroch sie auf Händen und Füßen, und oft rutschte sie sogar auf dem Bauch voran, um zu der Stelle zu gelangen, die sie für ihren Angriff ausgewählt hatte.

Vorsichtig blickte sie sich noch einmal um und erhob schnuppernd die Nase in die Luft, bevor sie den Baum hinaufkletterte. Es war viel schwieriger, sich nur halb in eine Katze zu verwandeln, aber sie hatte die Technik im Laufe der Jahre oft angewandt, um schnell auf einen Baum hinaufzuklettern und trotzdem die Waffen und Kleider mitnehmen zu können, die sie brauchte.

Solange setzte sich in eine Astgabel und horchte auf die Geräusche, die vom Flussufer herüberdrangen: viel Gefluche und Gemurmel. Mit schmalen Augen spähte sie durch das Blattwerk, um die Felsen zu beobachten. Aus diesem Winkel konnte sie keine Leiche sehen. Sie mussten Annabelles Körper woandershin gebracht haben, oder vielleicht war er auch von den Felsen ins Wasser gerutscht und von der Strömung mitgerissen worden. Anscheinend war das der Schluss, zu dem auch die beiden Männer dort gekommen waren.

»Du hättest sie zum Ufer hinaufziehen sollen, Kevin«, maulte der eine.

Solange erkannte den Mann, weil sie ihn verwundet hatte. Sie hatte gehofft, ihn ernster erwischt zu haben, aber er ging schon wieder ohne Hilfe.

»Leider war ich zu sehr damit beschäftigt, deinen Hintern ins Labor zurückzutragen, um die Blutung zu stoppen. Wenn nicht, wärst du hier draußen verreckt, Brad«, knurrte Kevin.

Die Jaguarmänner waren berühmt für ihre Übellaunigkeit und hitzigen Gemüter. Keiner der beiden wollte meilenweit dem Fluss folgen, um vielleicht doch noch den Leichnam aufzufinden, doch sie hatten keine andere Wahl. Jeden Beweis für die Existenz ihrer Spezies zu vernichten war ein Gesetz, nach dem sie alle lebten. Die zwei Männer standen dort und blickten mürrisch die Uferböschung hinunter, um dann fast gleichzeitig angewidert auszuspucken. Solange biss sich auf die Lippe, wütend über diese Respektlosigkeit der Frau gegenüber, die diese Kerle so brutal missbraucht und dann auch noch in den Selbstmord getrieben hatten. Entschlossen hob sie das Gewehr. Den Finger auf dem Abzug, atmete sie noch einmal tief durch und nahm dann Kevin ins Visier.

Es gab immer diesen Moment, in dem sie sich fragte, ob sie es schaffen würde – oder ob sie zögern und auf sich aufmerksam machen würde, sodass ihre Feinde Gelegenheit bekamen, sie zuerst zu töten. Aber sie würden sie niemals lebend fassen. Solange hatte zu viele Frauen gerettet und gesehen, was sie ihren Opfern antaten, um zuzulassen, dass sie ihnen lebend in die Hände fiel. Jasmine, ihre Cousine, war von ebendiesen Männern ergriffen worden. Solange hasste sie. Sie verdienten es, zu sterben. Jeder Einzelne von ihnen hatte Morde begangen, Männer, Frauen und Kinder getötet. Dennoch … Sie konnte spüren, wie dieser schreckliche Moment des Zögerns sich immer weiter ausdehnte. Schaffte sie es, wieder abzudrücken? Wie viel von ihr selbst würde sie verlieren, ungeachtet dessen, ob diese Männer den Tod verdient hatten und die Strafe nur gerecht war? Der Preis für das Töten war für sie so hoch gestiegen, dass sie nicht mehr sicher war, ob sie bereit war, ihn zu zahlen.

Sie drückte auf den Abzug. Kevin zuckte zusammen, und der Schuss hallte noch durch den Wald, als der Mann schon zusammenbrach und ein großer roter Fleck an seinem Hinterkopf erblühte. Brad fuhr mit einem Sprung herum und suchte nach der Quelle des Geräusches. Doch da gab Solange schon den zweiten Schuss ab. Die Kugel traf Brad in die Schulter und schleuderte ihn herum, sodass er den Halt verlor und vom Rand der Klippen in den tosenden Fluss hinunterstürzte. Verzweifelt warf er sich noch in der Luft herum und zerrte fieberhaft an seinen Kleidern, als er in das aufgewühlte Wasser stürzte.

Solange drehte sich der Magen um, und bittere Galle stieg ihr in die Kehle. Der zweite Mann würde vermutlich überleben, aber zumindest eine Zeit lang außer Gefecht gesetzt sein. Sie würde ihn später jagen müssen. Und sie würde nie wieder die Verbrennung eines anderen Leichnams überwachen können; beim nächsten Mal würden sie sie schon erwarten. Schon jetzt verstaute sie automatisch die Waffen für den Abstieg, und obwohl sie die ganze Zeit nicht aufhörte zu zittern, bewegte sie sich instinktiv und aus purer Erfahrung. Sie musste sich beeilen und von hier verschwinden. Brodrick reiste mit einer Gruppe von Kämpfern, und Solange war nicht in der Verfassung, sich ihrer zu erwehren. Geräusche waren bei Nacht weithin zu hören, und die Gewehrschüsse würden Brodrick und seine Männer aufgeschreckt haben.

Ein Vogel kreischte. Solange stürzte sich mit ausgestreckten Armen von dem Ast, um eine der dicken, holzigen Lianen zu ergreifen, die von allen Bäumen herunterhingen. Sie nutzte den Schwung, um sich zur nächsten Liane hinüberzuwerfen. Die Arme wurden ihr fast aus den Gelenkpfannen gerissen, als sie sich durch den freien Raum zum nächsten Baum hinüberschwang. Sie schaffte es, sich auf einen Ast zu ziehen, und verlagerte das Gewicht für den besten Sprung zu den zwischen den nächsten beiden Bäumen hängenden Lianen.

Beim Absprung blickte sie über die Schulter und sah den mächtigen schwarzen Panther an den Ästen entlanglaufen, die sie gerade verlassen hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, der Atem entwich pfeifend ihrer Lunge. Brodrick der Schreckliche. Für einen Moment war sie wieder das verängstigte Kind. Das achtjährige Mädchen mit seiner toten Familie um sich herum und dem überlebensgroßen Mann vor sich, der sie mit ausdruckslosen, toten Augen anstarrte und mit der Spitze seines Messers ihre Haut aufritzte, um den Jaguar in ihr herauszufordern, sich zu zeigen.

Keine Panik, ermahnte sie sich und zwang ihr Gehirn, zu arbeiten. Dabei bewegte sie sich nach wie vor zwischen den Bäumen fort. Sie veränderte fast unmerklich ihren Weg, um dieser wilden, aufgebrachten Katze immer einen Schritt voraus zu bleiben. Der Panther war zu schwer, um die Lianen zu benutzen, und musste über die Äste laufen. Solanges Vorteil war die Luft, und sie schwang sich zu den Bäumen hinüber, deren Äste nicht mit denen anderer verflochten waren, was Brodrick die Verfolgung erschwerte und ihn zwang, die Jagd teilweise auf dem Boden fortzusetzen. Vor Wut darüber tobte und fauchte er unter ihr, und sein Gebrüll erschütterte die Luft.

Nach dem ersten Schreck hielt Solange ihre Furcht unter Kontrolle. Sie kannte diesen Teil des Regenwaldes, wahrscheinlich besser noch als Brodrick. Er hatte keine Ahnung, dass sie seine Tochter war, das Mädchen, das er einst ermordet zu haben glaubte und wie Abfall weggeworfen hatte. Sie hatte einige Vorteile ihm gegenüber, wenn sie einen kühlen Kopf bewahrte. Entschlossen griff sie nach der Liane, die sie zu dem Baum bringen würde, der dem tosenden Wasser am nächsten war. Der von dem endlosen Regen angeschwollene Fluss überschwemmte bereits beide Uferböschungen, brauste weiß schäumend über die Felsen hinweg und erzeugte eine Reihe starker Stromschnellen. Geschickt bewegte sich Solange durch die Bäume, die den reißenden Fluss überragten.

Wieder brüllte Brodrick wütend auf, sprang nach der dicken Liane, die Solange gerade ergriff, und schleuderte die Liane und sie auf ihren Zielpunkt zu. Das Herz sprang Solange in die Kehle, als sie den Ruck verspürte. Ihr Körper prallte hart gegen den Ast, und verzweifelt suchten ihre Hände einen Halt. Ihre linke Hand verfehlte den Ast, doch die rechte packte ihn und hielt sich daran fest. Sie schaffte es, auch noch mit ihrer Linken zuzugreifen, und hangelte sich weiter, benutzte ihr Gewicht als Pendel und schwang sich auf den Ast.

Schnell lief sie über die Äste und spannte dabei einen Pfeil in ihre Armbrust. Brodrick kletterte den Stamm hinauf und landete mit einem Satz hinter ihr, der hart genug war, um den Baum zu erschüttern. Solange wich nicht zurück, sondern wandte sich ihm zu und blickte ihm fest in die bösartigen gelben Augen. Er kauerte reglos auf dem Ast, duckte sich zum Angriff und starrte sie an. Sie konnte die hypnotische Kraft seiner glühenden Augen spüren, die sie schon als Beute sahen.

Solange hielt die Armbrust locker an der Hüfte, zielte aber in Brodricks Richtung, hielt seinem Blick stand und ließ ihn ihren ganzen Hass und ihre Verachtung spüren. Dieses Monster hatte keinen Respekt von ihr zu erwarten, kein Nachgeben und keine Furcht. Nie wieder würde sie ihn Furcht sehen lassen. Er kräuselte die Lippen angesichts ihrer Respektlosigkeit. Ausgewachsene Jaguarmänner, erfahrene Kämpfer, verneigten sich vor ihm, aber sie, eine armselige Frau, hielt seinem Blick ohne jedes Anzeichen von Furcht stand … und wagte es, seine Autorität infrage zu stellen!

Solange war davon überzeugt, dass er ihre Verachtung sehen konnte. Ihre Missachtung. Ihren grenzenlosen Abscheu vor allem, was er war. Sie verhöhnte ihn ganz bewusst, weil sie ihn kannte. Sie hatte ihn lange genug studiert. Er verlangte absolute Unterwerfung, und er erlangte sie durch Einschüchterung und Grausamkeit. Alle mussten sich ihm beugen, vor allem Frauen. Er hasste die Frauen, die Leben in ihren Körpern trugen, sich aber weigerten, seine Regeln zu befolgen. Sie waren seiner Meinung nach in die Welt gesetzt worden, um ihren Männern zu dienen, um benutzt zu werden, in welcher Weise auch immer die Männer es für richtig hielten, und dennoch waren sie dem Regenwald und seiner, Brodricks, Autorität entflohen, um sich nach menschlichen Männern umzuschauen. Das zu erkennen war ein Schlag ins Gesicht für ihn gewesen, und er hasste die Frauen dafür. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bestrafte er sie auf erniedrigendste und brutalste Weise. Solange wusste, dass ihre Missachtung ihn rasend machen würde – und genau das wollte sie erreichen.

Lange starrten sie einander an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sie konnte die Kraft sehen, die sich in seinem Körper bündelte.

»Es ist lange her – Vater.« Sichtlich angewidert spie sie das Wort förmlich aus.

Der Panther stutzte, seine Muskeln erstarrten. Sie hatte ihn von seinem Angriff abgebracht. Den Blick noch immer unverwandt auf ihn gerichtet, spielte sie um Leben und Tod mit ihm.

»Du wolltest königliches Blut. Bin ich die Einzige, bei der es dir nicht gelungen ist, sie zu vernichten?«

Sie sah das Zögern – die Verwirrung. Er wollte eine reinblütige weibliche Gestaltwandlerin, doch woher kam sie? Und königliches Blut? Von all den Hunderten weiblicher Kinder, die er getötet hatte, würde er sich nicht an ein bestimmtes erinnern können. Er würde sie lebend wollen. Er wusste, dass sie eine Gestaltwandlerin war und wie schnell und gut sie darin war. Es waren so wenige Frauen geblieben, die ihre Gestalt wandeln konnten.

Sie fasste sich in Geduld, atmete ruhig ein und aus und wartete darauf, dass ihm die Bedeutung ihrer Worte klar wurde. Dass sie nicht von reinrassig, sondern königlich gesprochen hatte. Sie sah es sofort, als er begriff. Vater. Königlich. Oh ja, jetzt hatte er es erfasst. Sichtlich schockiert, doch ohne den Blick von ihr zu lassen, schüttelte er den Kopf.

Sie grinste ihn an. »Was? Wirst du mich nicht daheim willkommen heißen – Daddy?«

Es war der pure Hohn. Eine Provokation. Eine Frau, die es wagte, ihn herauszufordern.

Er fauchte und begann, sich zu verwandeln – wie Solange es schon vorausgesehen hatte. Ihr blieben nur Sekunden. Er war schnell – schneller, als sie für möglich gehalten hätte. Sie hob die Armbrust und schoss einen Pfeil in seine sich verwandelnde Kehle. Dann fuhr sie herum, sprang in den nächsten Baum und machte, dass sie wegkam. Denn falls sie ihn nicht getötet hatte, würde er sie verfolgen.

Sie hörte das Gebrüll, sah Blut spritzen und rannte weiter. Der schwarze Panther war außer sich vor Wut, und eine verwundete Raubkatze war doppelt gefährlich. Etwas Großes krachte hinter ihr auf den Baum, so heftig, dass er durchgeschüttelt wurde und sie fast den Halt verlor. Schnell warf sie sich auf den nächsten Ast, der aber genauso erzitterte, sodass sie kriechen musste, um nicht abzustürzen. Baumfrösche sprangen ihr aus dem Weg. Eine Eidechse kam unter den Blättern hervor und ergriff die Flucht. Solange registrierte die Bewegung im Augenwinkel, zögerte aber nicht, sondern sprang zum nächsten Baum hinüber, wo sie auf den Knien landete und herumwirbelte, um einen zweiten Pfeil mit ihrer Armbrust abzuschießen.

Der schwarze Panther sah scheußlich aus mit seinen gefletschten Zähnen und den Strömen von Blut, die von seinem Hals zu seiner breiten Brust hinunterliefen. Seine zornigen, entschlossenen Augen, die unverwandt auf sie gerichtet waren, glühten rot im Dunkel. Beim Anblick der geladenen Armbrust legte er die Ohren an. Der Pfeil traf ihn oben an der Schulter, und er brüllte seine Wut heraus, die im ganzen Wald nachhallte.

Vögel kreischten und stieben trotz der Dunkelheit aus dem Blätterdach der Bäume auf, um dem Zorn eines bis zum Äußersten gereizten Panthers zu entgehen. Solange wusste besser als die meisten, mit welcher Kraft eine große Katze zuschlagen konnte, und als Brodrick sie ansprang, machte sie einen Satz zum nächsten Baum. Ihre Hände verfehlten den Ast jedoch, und ihr Herz überschlug sich fast. Ihre ausgestreckten Arme prallten gegen einen dünnen Ast, dessen Knacken nicht zu überhören war, aber aus purer Verzweiflung ergriff sie ihn trotzdem. Kaum schlossen ihre Finger sich jedoch darum, landete der Panther schwer auf ihrem Rücken, und scharfe Krallen zerrissen ihr das Fleisch.

Heißer Atem strich über ihren Nacken, als die schwarze Raubkatze sie in die Schulter zu beißen versuchte. Der Ast brach, und zusammen stürzten sie vom Baum. Solange versuchte, sich noch weit genug zu drehen, um dem Panther die Armbrust in die bebenden Flanken zu stoßen, doch es gelang ihr nicht. Sein Rückgrat war zu biegsam, und er drehte sich mit ihr und hinderte sie so daran, ihn wegzustoßen. Ihr Körper schlug jedoch gegen einen Ast und brach ihn in der Mitte durch, wobei der schwere Panther gegen den Stamm und endlich von ihr weggeschleudert wurde.

Solange blickte auf das schäumende Wildwasser herab und dann zu dem Panther hinauf, der sich für einen weiteren Sprung bereitmachte. Mit vorgestrecktem Kopf hechtete sie von dem Ast herunter in das Wasser. Das Brüllen des Panthers folgte ihr. Solange versuchte, möglichst gerade und mit den Füßen zuerst im Wasser aufzukommen. Die Kälte war ein Schock für ihren Körper, als das aufgewühlte dunkle Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug und sie stromabwärts riss. Immer wieder wurde sie herumgeschleudert. Ihre Lunge brannte, und als die starke Strömung sie erfasste, wurden ihr Gewehr und Armbrust aus den Händen gerissen.

Erschöpft und schon halb gefühllos von der Kälte, kämpfte Solange sich an die Oberfläche, um nach Luft zu schnappen, bevor die Strömung sie erneut unter Wasser riss. Solange zog die Beine an die Brust und versuchte, mit der Strömung mitzugehen und sich nicht länger gegen sie zu wehren, sondern sich von der Kraft des Wassers einfach nur so weit wie möglich von ihrem Todfeind forttragen zu lassen. Sie konnte nur Atem holen, wenn sich die Gelegenheit ergab, und zweimal schlug sie gegen Felsen. Deren Oberflächen waren jedoch zu glitschig, um sich daran festzuhalten, und so ging Solange wieder unter und wurde weiter flussabwärts abgetrieben.

In der tintenschwarzen Dunkelheit erspähte sie einen gelb-braunen Jaguar, der ausgestreckt am Ufer lag, aber sie wurde so schnell an ihm vorbeigetrieben, dass sie nicht sehen konnte, ob er tot oder am Leben war. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, die Atemnot zu ignorieren und die Schluchzer zu unterdrücken, die sich ihrer brennenden Lunge entringen wollten. Solange war so erschöpft, dass es schwierig wurde, die Arme zu bewegen, die Füße weiter ausgestreckt und den Körper gerade zu halten. Sie konnte keine Felsen sehen, bis sie direkt vor ihr auftauchten, und hatte keine Chance, sich aus dem Wasser zu ziehen.

Nur ganz kurz kam ihr der Gedanke, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Sie war es leid, zu kämpfen, ihr Körper war übel zugerichtet, und sie fühlte sich vollkommen entkräftet. Solange konnte kaum noch die Arme bewegen, geschweige denn die Kraft aufbringen, sich aus dem Wasser herauszuziehen. Und sie blutete aus mehreren Einstichen und Bisswunden. Sie konnte in dieser Strömung nicht schwimmen, sie konnte nichts sehen, und ihre Kleider zogen sie in die Tiefe. Ja, sie könnte einfach loslassen … wenn da nicht das Problem ihres karpatianischen Kriegers gewesen wäre.

Das Wasser schleuderte sie um eine Biegung, und etwas Großes ragte plötzlich vor ihr auf. Solanges Herz schlug höher. Ein umgestürzter Baum, dessen Äste sich in alle Richtungen erstreckten, lag teilweise über dem Fluss. Nur nicht mit dem Kopf dagegenprallen!, ermahnte sie sich. Das wäre dein sicherer Tod!

Solange konzentrierte sich, als sie sich den äußeren Ästen näherte, doch sie stieß härter als erwartet dagegen. Bei dem Aufprall rammte sie sich die Knie in die Brust, und auch noch das letzte bisschen Luft entwich ihren Lungen. Als das Wasser sie wieder hinunterzog, warf sie die Hände hoch und schaffte es, ihren Arm um einen Ast zu werfen. Mit einem stummen Stoßgebet zum Himmel, dass er stark genug sein möge, um dem Druck des Wassers standzuhalten, sammelte sie all ihre Kräfte für den nächsten Schritt.

Bevor sie sich auf das Astwerk hinaufziehen konnte, hörte sie ein beängstigendes Geräusch. Es war kaum wahrzunehmen über das Rauschen des Wassers hinweg, aber es war eindeutig eine Stimme, eine Mischung aus Knurren und menschlicheren Lauten – die Stimme eines Jaguarmenschen! Für einen schrecklichen Moment verlor Solange fast den Halt an dem Ast, so bestürzt war sie. Am ganzen Körper zitternd verhielt sie sich völlig ruhig und versuchte, ihr schweres Atmen zu beherrschen.

»Sie kann nicht mehr am Leben sein«, sagte der Jaguarmensch, als er näher kam. »Er ist verrückt.«

Solange versuchte, sich tiefer in das Gewirr von Zweigen und Ästen zurückzuziehen. Sie durfte nicht loslassen, denn dann würde sie mit Sicherheit ertrinken. Während sie sich so unauffällig wie nur möglich in dem Labyrinth von Ästen, Zweigen und Blättern verkroch, stieß sie unter Wasser mit dem Schienbein gegen einen dicken Ast und umschlang ihn blitzschnell mit den Beinen. Den höheren Ast, den sie so verzweifelt umklammerte, musste sie loslassen. Es war Wahnsinn, das auch nur in Betracht zu ziehen, doch ihr blieb keine andere Wahl. Solange zwang sich, die Finger an dem Holz hinabgleiten zu lassen, bis ihr Körper vom Ufer aus nicht mehr zu sehen war. Dann schloss sie die Augen und ließ ganz los. Mit letzter Kraft klammerte sie sich mit den Beinen an dem Ast unter Wasser fest. Nun ragte nur noch ihr Kopf bis zur Nase aus dem Fluss.

Die Strömung, eine gewaltige Kraft, die darauf aus war, sie rasend schnell mit sich zu reißen, zerrte an ihr, aber Solange kämpfte dagegen an und bog langsam den Oberkörper nach hinten durch, bis ihre Fingerspitzen Blätter und kleine Zweige ertasteten. Mit noch größerer Anstrengung schaffte sie es, einen der Äste unter Wasser zu ergreifen. Dann bemühte sie sich, so leise wie möglich zu atmen und ganz ruhig zu bleiben. Sie befand sich in einer prekären Lage und war vollkommen entkräftet. Der Baum erzitterte. Das verriet ihr, dass etwas Schweres darauf gesprungen war. Das Rauschen des Blutes in ihren Ohren war noch lauter als das des Flusses.

»Sie hat ihn mit zwei Pfeilen erwischt«, hörte sie eine zweite Stimme. »Wenn wir ohne sie zurückkommen, bringt er uns womöglich um.«

»Vielleicht sollten wir uns für eine Weile verziehen, weiter flussabwärts suchen und ein paar Tage nicht zurückkehren. Dann wird er diese faulen Wachposten losschicken, um die Flussufer abzusuchen, und seine Wut an ihnen auslassen.«

»Sie hat Kevin umgebracht.«

Solange schloss die Augen und versuchte, nicht zu zittern. Der eine Mann war direkt über ihr. Er war in menschlicher Gestalt, doch er roch wie eine nasse Katze. Sie fragte sich, ob sie genauso stinken mochte. Wahrscheinlich eher wie eine ertrunkene Ratte.

»Sie hat viele von uns getötet, Ted«, fuhr der zweite Mann am Ufer fort. »Und wenn wir sie nicht fassen, wird sie noch ein paar mehr umbringen.«

»Ja«, antwortete Ted mit einem kleinen Seufzer. »Das ist mir klar.«

»Brad ist übel zugerichtet. Er kann sich kaum noch zum Labor zurückschleppen. Er sagte, Brodrick habe Kevin und ihn als Köder benutzt. Brodrick hatte erraten, dass die Frau versuchen könnte, sie zu erwischen, wenn sie zurückkehrten, um die Leichen zu verbrennen, aber Brodrick hat die Männer nicht gewarnt, dass sie dort auf der Lauer liegen könnte.«

»Brodrick ist verrückt«, murmelte Ted.

»Was?«, zischte der andere mit unüberhörbarer Furcht in der Stimme.

»Er wird nicht eher ruhen, bis er sie gefunden hat – oder ihre Leiche, Steve«, sagte Ted. »Er wird sich vollkommen verrennen und wie besessen sein.«

Steve kam näher und trat nun auch auf den halb untergegangenen Baum. Solange fühlte die Vibration unter dem Wasser. Sie zitterte jetzt schon unaufhörlich. Wenn die Kerle nicht bald gingen, würde sie sich nicht mehr lange halten können. Ihre Finger spürte sie schon jetzt nicht mehr, doch das Gewicht des Messers an ihrer Seite war ein beruhigendes Gefühl, auch wenn sie nie herankommen würde.

»Früher hat das alles noch Spaß gemacht. Da konnten wir alle Frauen haben, die wir wollten, und niemand scherte sich darum, wie wir sie wollten«, sagte Steve. »Es wird schwer sein, anderswo etwas zu finden, wo wir die gleiche Freiheit hätten und uns jede Frau nehmen könnten, die uns gefällt. Aber vielleicht sollten wir trotzdem von hier verschwinden, Ted. Wir könnten nach Costa Rica oder sonst wohin gehen.«

Ted bewegte sich vorsichtig über den Baumstamm auf Steve zu. Solange hielt den Atem an. Er war direkt über ihr. Sie konnte ihn riechen. Das dunkle Fell, das unter seiner Haut lag, die Verderbtheit und Gewalt in ihm.

»Ich hätte nichts dagegen, zu verschwinden, aber wenn, würde ich vorher gern die süße kleine Jungfrau finden, die wir hatten. Wir könnten sie zur Unterhaltung für die langen Nächte mitnehmen.« Er lachte leise. »Sie war eine Kämpferin.«

»Ganz Zähne und Krallen«, fügte Steve hinzu. »Ja, auch mir geht sie nicht aus dem Kopf, doch nichts wird mich noch mal in ihre Nähe bringen. Brodrick sagte, sie stehe unter dem Schutz der Brüder de la Cruz. Wir würden bestimmt nicht einmal an sie herankommen«, schloss er nachdenklich.

»Ja, das wäre wahrscheinlich Selbstmord«, stimmte Ted ihm zu. »Wie ich ihre Angst genossen habe! Das hat mich irre angemacht. Ich werd schon scharf, wenn ich nur daran denke.«

Steve kicherte. »Du bist immer scharf.«

Solange wusste, über wen sie sprachen. Ihre Cousine Jasmine war von Jaguarmännern gefangen genommen worden. Mit Riordan de la Cruz’ Hilfe war es Solange und Juliette gelungen, sie zurückzuholen. Die Rettungsaktion hatte Juliette fast das Leben gekostet, und Riordan hatte sie zur Karpatianerin gemacht, um sie zu retten. Aber sie waren zu spät gekommen, um Jasmine rechtzeitig aus den Händen der Jaguarmänner zu befreien, und nun erwartete sie auch noch ein Kind.

Solange biss die Zähne zusammen, damit sie nicht zu klappern anfingen. Wut verdrängte ihre Müdigkeit. Am liebsten wäre sie aus dem Wasser aufgetaucht, um Ted das Messer in den Hals zu treiben. Sie dachte an Jasmines übel zugerichtetes Gesicht und an ihre großen, vor Schock ganz starren Augen. Ihre Cousine würde nie wieder dasselbe sorglose Mädchen wie früher sein. Ihr einst so strahlendes Wesen war Melancholie und Düsternis gewichen. Solange lebte buchstäblich nur noch für ihren Hass, und sie fand es unerträglich, schwach und hilflos in einem reißenden Fluss zu kauern und sich wie ein Kind an Ästen festzuklammern. Aber sie war verwundet und erschöpft. In diesem Zustand wäre es unmöglich, einen der beiden Männer anzugreifen, geschweige denn mit beiden gleichzeitig zu kämpfen.

Steve sprang von dem Baumstamm auf die Uferböschung zurück. »Ich finde, wir sollten von hier verschwinden, bevor Brodrick uns alle umbringt. Ich mag diese dämlichen Menschen nicht, mit denen er zusammenarbeitet.«

»Sie haben immerhin Frauen für uns gefunden«, gab Ted zu bedenken und folgte Steve mit einem Sprung ans Ufer. »Wir sollten uns eine kleine Insel suchen, die niemand kennt, und eine Sammlung dort beginnen. Wir könnten diese Frauen abrichten zu tun, was immer wir von ihnen wollen.«

Steve leckte sich die Lippen. »Sexsklavinnen. Brodrick hatte ein ganzes Zimmer voll davon, bis er so brutal wurde, dass er eine nach der anderen umbrachte. Dieser verdammte Irre! Ich habe viel Zeit mit seinen kleinen Sklavinnen verbracht.«

»Und er hatte nichts dagegen?«

Steve schüttelte den Kopf. »Sie waren ihm völlig gleichgültig. Er sah gern zu, besonders wenn ich ihnen wehtat. Es macht ihn an, Frauen Schmerzen zuzufügen.«

Ted lächelte. »Mich auch.«

Steve lachte. »Du bist ja so krank, Mann!«

»Ich höre aber keine Klagen von dir, wenn wir uns ein scharfes kleines Ding vornehmen.«

»Mann, was kümmert’s mich, ob du sie gern misshandelst! Das Einzige, was mich interessiert, ist, sie zu vögeln.« Er griff sich in einer obszönen Geste in den Schritt. »Sie wurden schließlich nur für eins hierhergebracht.«

»Genau das ist es, was Brodrick falsch macht. Er will Nachwuchs. So ein Blödsinn!«, schnarrte Ted. »›Benutz sie und schmeiß sie dann weg‹, das ist mein Motto. Der halbe Spaß ist, sie zu finden, zu verfolgen und aus ihrem behüteten kleinen Leben herauszureißen. Ich liebe es, eine Frau in einer Bar tanzen zu sehen und zu wissen, dass ich sie mir jederzeit holen kann, direkt vor der Nase aller, die sie liebt. Ich kann ihren Freund, Lover oder Ehemann töten und sie mir gleich neben der Leiche vornehmen.« Wieder grinste er. »Es ist sogar noch besser, wenn ich den Mann dazu zwinge, zuzusehen. Es macht mich an, das Weibsstück dazu zu bringen, mich anzubetteln, sie auf jede erdenkliche Weise vor ihrem Typen zu nehmen, ihr zu zeigen, wie nutzlos er ist, und ihm, was für eine Hure sie ist.«

»Du bist wirklich ganz schön krank.« Steve schnaubte vor Lachen.

»Lass uns verschwinden!«, meinte Ted. »So weit wie möglich weg von hier. Aber ich sag dir gleich, Steve, dass ich diese Kleine will. Ich will sie in unserer Sammlung haben.«

Jasmine. Solange spürte Tränen hinter ihren Lidern brennen und biss die Zähne zusammen, um ihre Emotionen zu zügeln. Sie konnte sich keine Emotionen leisten. Irgendwie würde sie die Kraft finden, diese beiden Mistkerle zu jagen. Jeder, der ihre Cousine bedrohte, würde sterben. Es war nur eine Frage der Zeit. Aber sie war so müde … Rücksichtslos verdrängte Solange ihre Erschöpfung.

Natürlich hatte sie schwache Momente – die waren erlaubt. Aber doch kein Selbstmitleid! Sie hatte dieses Leben schließlich selbst gewählt, hatte sich lange darauf vorbereitet und dafür trainiert. Ihr war klar gewesen, dass es kein Zurück mehr geben würde, sowie sie diesen Weg einmal beschritten hatte. Es existierte zu viel Böses, das nicht ignoriert werden durfte. Das Gesetz der Zivilisation war noch nicht bis in den Dschungel vorgedrungen, und bis es so weit war, gab es nur eine Hand voll wie sie, die zwischen den Raubtieren und ihrer Beute standen.

Die Stimmen verloren sich in der Nacht. Solange wartete eine Weile ab und versuchte dann, ans Ufer zu gelangen. Wieder hatte sie Angst, loszulassen, aber in dem Geflecht von Ästen unter dem Wasser würde sie relativ gut klettern können – wenn sie ihren bleiernen Körper dazu würde bewegen können.

Sie löste zuerst die eine Hand und bewegte unter dem Wasser ihre Finger, bevor sie nach einem der Äste gleich über der Oberfläche griff. Erst als sie ihn fest im Griff hatte, löste sie auch die andere Hand. Sehr langsam zählte sie bis drei und sammelte das letzte bisschen Kraft, das ihr geblieben war, ließ den Ast zwischen ihren Beinen los und trat kräftig Wasser, um nach oben zu gelangen. Sie schaffte es, Kopf und Brust ganz aus dem Wasser zu ziehen, doch dann ließ sie sich erschöpft auf das Bett aus Astwerk fallen.

Solange hatte keine Ahnung, wie lange sie dort lag, doch bis auf das unaufhörliche Rauschen des Flusses war es still im Wald. Bis sie die Kraft fand, den Kopf wieder zu heben und sich ganz auf den Baumstamm hinaufzuziehen, summten schon wieder die Insekten, die Frösche quakten, und der Regen hatte bis auf einen feinen, silbrigen Nebel nachgelassen.