„Wie geht es deinem Magen, Gail?“, erkundigte er sich, als er mit einer Flasche Whiskey und zwei Gläsern zurückkam.
„Gieß ruhig ein!“, antwortete ich, „meine Übelkeit hat nichts mehr mit der Lebensmittelvergiftung zu tun. Er hat meine Seele vergiftet. Er hat aus mir das gemacht, was er haben wollte. Ich bin so eine Art Frankensteinmonster, Ryan! Und weißt du, was das Schlimmste daran ist?“ Er schüttelte mit dem Kopf, während er sein Glas in einem Schluck leerte. „Er hat es tatsächlich geschafft, mich dazu zu bringen, ihn zu lieben. So sehr, dass ich meine alte Persönlichkeit vollkommen abgelegt hatte, so sehr, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich je eine besaß, bevor er mich zu seiner verdammten Galatea machte!“
„Wir werden deine alte Persönlichkeit finden“, versprach mir Ryan. „Mach dir nicht zu viele Gedanken. Konzentriere dich lieber auf deine Erinnerungen. Wir gehen einen Schritt nach dem anderen, es ist wichtig, dass du jetzt Ruhe bewahrst. Zeig mir das Haus!“, forderte er mich auf. Obwohl das Haus so abgelegen war, dass es keine neugierigen Nachbarn gab, war es dennoch viel zu riskant, das Licht einzuschalten. Die leeren Räume wirkten in dem spärlichen Licht der Taschenlampe beinahe gespenstisch, und die Geister der Vergangenheit wachten langsam wieder zum Leben auf.
„Das ist das Schlafzimmer“, sagte ich und kam mir vor wie eine Reiseführerin in einem Geisterschloss. „Und das ist das Bett, in dem Greg mich in die Kunst der Liebe einweihte.“ Ryan zuckte kaum merklich zusammen, bevor ich fortfuhr: „Hier hat er mich all das gelehrt, was einen Mann glücklich macht. Er war ein geduldiger und zärtlicher Liebhaber.“ Obwohl ich wusste, wie sehr es Ryan quälte, sprach ich weiter, ich konnte gar nicht mehr damit aufhören, wie ein defekter Wasserhahn, der sich nicht mehr zudrehen ließ. „Ich war eine Jungfrau, deswegen wollte er auch, dass ich ein weißes Nachthemd anzog, bevor er mich deflorierte. Er ging dabei sehr behutsam vor, trotzdem tat es weh. „Da musst du jetzt durch, Gail“, sagte er, „bald wird es dir Spaß machen.“ Und er behielt Recht. Bald wurde ich sogar regelrecht süchtig danach, so sehr, dass er sich hin und wieder beklagte, ich würde ihn mit meiner Unersättlichkeit völlig auslaugen. Hin und wieder schluckte er sogar Pillen, um meiner Lust gerecht zu werden.“
„Dieser widerliche, alte Bock!“, murmelte Ryan.
„Ja, das war er wohl. Doch für mich war er schlicht und weg Gott, so wie er es wollte. So, wie er mich programmiert hatte. Er herrschte uneingeschränkt über mich und mein kleines Universum, das er einzig und allein für mich erschuf. Am Anfang nannte ich ihn „Gebieter“, aber dann gefiel es ihm nicht mehr: „Ich bin nicht dein Gebieter, Gail“, belehrte er mich, „sondern dein Ehemann. Dein ebenbürtiger Partner.“ Also, gewöhnte ich mir diese Anrede ab. Komm, Ryan, ich zeige dir jetzt die Küche, den Raum, in dem ich die meiste Zeit verbrachte. Ich bin eine passionierte Köchin, wie du weißt. Hier, genau in dieser Ecke, stellte er immer die Kisten mit den Einkäufen ab, bevor ich sie einräumte, es war immer mein Highlight des Tages. Ryan?“
„Ja, Liebling? Was ist dir eingefallen?“
„Ich glaube, ich weiß, wieso mich niemand hier kennt.“
„Wieso, Gail?“, fragte er gespannt. „Sag es mir, trau dich! Denk daran, dass du in Sicherheit bist, es kann dir nichts mehr passieren!“
„Weil ich dieses Haus nie verlassen habe. Greg hat dafür gesorgt, dass alles, was ich brauchte, hierher geliefert wurde. Beziehungsweise brachte er es mir selbst. Jeden Abend, bevor ich einschlief, fragte er mich: „Wo warst du heute, Gail?“ Und ich antwortete: „Ich war einkaufen.“ Und er hackte nach: „Wo hast du eingekauft, Prinzessin?“ Und, wenn ich nicht weiter wusste, erzählte er mir, wo ich angeblich gewesen sei. Er schilderte es mir in allen Einzelheiten, sodass ich schließlich selbst daran glaubte. Er hat mich die ganze Zeit hier gefangen gehalten, und ich hatte es nicht mal gemerkt!“, stellte ich ungläubig fest.
„Es ist nicht deine Schuld, Liebling“, redete Ryan behutsam auf mich ein. „Du bist unschuldig, du bist gut und rein. Du bist ein Engel, der eine Zeit lang dem Teufel ausgeliefert war. Jetzt bist du frei. Konzentriere dich wieder auf die Vergangenheit. Tu es für mich, Schatz. Ich weiß, es tut weh, aber da müssen wir beide durch. Erzähl mir bitte alles, woran du dich erinnern kannst!“
„Ich erinnere mich an diese Schublade“, sagte ich leise, „und an deren Inhalt.“ Ich machte sie auf und lächelte zufrieden. „Ja, sie sind alle noch da! Meine Lieblingsrezeptbücher. Und in dem Schrank hier bewahrte ich meine Spirituosen auf.“ Ich öffnete die Schranktür, und das Licht der Taschenlampe beleuchtete mehrere Flaschen, die teilweise leer waren. „Greg machte sich Sorgen um meinen Alkoholkonsum, trotzdem holte er mir immer wieder Nachschub. Weil es mich glücklich machte. Ich genehmigte mir schon am frühen Morgen einen Drink, nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte. Mittags war ich meistens besoffen und hielt ein Schläfchen. Als ich aufwachte, machte ich mich daran, das Abendessen für Greg zuzubereiten. Irgendwann machte meine Leber nicht mehr mit, ich verspürte immer ein leichtes, unangenehmes Stechen an der rechten Seite, und Greg besorgte mir Tabletten, die meine Leberfunktion unterstützen sollten. Danach ging es mir besser. Trotzdem wachte ich eines Nachts auf, weil ich so schlimme Schmerzen hatte, dass ich sie nicht mehr aushielt. Ich flehte Greg an, er möge doch etwas tun, um sie zu lindern. Er verabreichte mir eine Infusion und untersuchte mich eingehend. „Verdammt, Gail, du hast Gallensteine!“, stellte er schließlich fest. „Du darfst nie wieder Alkohol trinken!“ Er hat mir eigenhändig meine Gallenblase entfernt. Und dann musste ich ganz lange eine strenge Diät halten. Mein Alkohol fehlte mir so sehr, dass Greg sich nun eine Alternative überlegen musste. Er besorgte mir Marihuana, und ich kam schnell auf den Geschmack. Nun schwebte ich die meiste Zeit auf Wolken, wenn ich nicht gerade schlief. Ich wanderte durchs Haus wie ein Zombie mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht, bis Greg schließlich so genervt davon war, dass er mir wieder den Alkohol erlaubte. „Besoffen bist du mir lieber als bekifft“, sagte er.
„Mir egal!“, erwiderte ich, „Hauptsache, ich bin glücklich!“ Er stellte mir eine Mischung aus Medikamenten und Vitaminen zusammen, die meinem Körper weiterhin den Alkoholgenuss möglich machten. Dafür war ich ihm unendlich dankbar und revanchierte mich, indem ich die perfekte Ehefrau für ihn spielte, so wie er mich haben wollte. Er war sehr zufrieden mit mir und belohnte mich mit teuren Geschenken. Fast jeden Tag brachte er mir etwas Neues mit: Blumen, Schmuck, schöne Kleider… Dabei wollte ich doch nur, dass er bei mir blieb, am liebsten rund um die Uhr. Und dann wurde mein Traum wahr. Eines Tages sagte er mir, dass er nun in den Ruhestand ging, um sich nur noch um mich zu kümmern, und ich konnte mein Glück kaum fassen. Seine ständige Anwesenheit beflügelte mich so sehr, dass ich sogar vergaß zu trinken. Ich brauchte den Alkohol nicht mehr. Auch Greg schien rundum glücklich, er konzentrierte sich voll und ganz auf mich. Als Erstes nahm er sich vor, meine Allgemeinbildung aufzupeppen. Er widmete mir sein ganzes pädagogisches Talent und unterrichtete mich unermüdlich in allen möglichen Fächern. Ich genoss es sehr und machte große Fortschritte, die Greg mit immer größeren Geschenken belohnte. Doch eines Tages fing ich an, mich zu langweilen, da Gregs fortgeschrittenes Alter ihm immer mehr zu schaffen machte. Unser Altersunterschied machte sich langsam, aber sicher bemerkbar. Egal, wie viele Pillen er schluckte, blieb sein Schwanz schlapp, und während unserer Unterrichtsstunden nickte er immer wieder ein.“
„Und was passierte dann?“, fragte Ryan.
„Ich wachte auf und sah dich“, erwiderte ich, selbst über meine Antwort überrascht. „Wir sahen uns, verliebten uns, du hast mir zur Flucht verholfen, und jetzt sind wir hier.“
„Gut, Gail, ich denke, es reicht für heute“, sagte Ryan. „Du hast genug durchgemacht. Lass uns schlafen gehen und morgen weitermachen. Gibt es hier ein Gästezimmer?“
„Ja, gleich um die Ecke.“
„Dann schlage ich vor, dass du heute Nacht dort schläfst. Ich nehme die Couch. Ich glaube, es ist auch dir recht, dass wir das Schlafzimmer nicht benutzen. Sei mir bitte nicht böse… Ich muss das Ganze erstmal verdauen!“
Ich schlief auf dem schmalen Gästebett ein, von den ganzen Erinnerungen, die wie eine Flut über mich kamen, erschöpft und überwältigt. Bevor ich einschlief, fragte ich mich, wozu Greg eigentlich ein Gästezimmer hatte, denn wir hatten nie Gäste. Oder etwa doch?
Ich träumte von einem jungen Mann mit blonden, leicht gelockten Haaren, die er zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden trug und großen, fast kindlich blickenden blauen Augen. Er stand an der Türschwelle und sah mich so verblüfft an, als wäre ich ein Geist. Danach pfiff er bewundernd aus: „Hallo, Schmuckstück! Wer bist du denn?“
Gregs wütende Stimme schnitt scharf die Luft: „Was wollen Sie hier, wie haben Sie mich gefunden?“
„Das waren gleich zwei Fragen in einem Satz, Professor“, grinste der Mann frech, „welche soll ich zuerst beantworten?“
„Verschwinden Sie sofort aus meinem Haus!“, verlangte Greg, doch ehe er dem jüngeren Mann die Tür vor der Nase zuknallen konnte, kam ihm dieser zuvor und schob eilig seinen Fuß hinein. Dem Fuß folgte der Rest seines Körpers, und dann war er drin. In Gregs Haus, in unserem Haus, in meinem kleinen Universum. In Gregs Heiligtum, das er durch seine bloße, respektlose Anwesenheit besudelte. Oh, wie ich es genoss! Er stand grinsend da und musterte mich unverschämt von oben bis unten.
„Ist es Ihre Tochter?“, fragte er neugierig.
„Gail, ruf die Polizei!“, befahl Greg, doch ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte unseren ungebetenen Gast mit offenem Mund an. Die Tatsache, dass sich ein anderer Mensch außer mir und Greg bei uns im Haus befand, erschien mir beinahe so übernatürlich, als wären wir von einer Horde Aliens überfallen. War er überhaupt da oder bildete ich mir seine Anwesenheit nur ein?
„Gail“, schmunzelte er, „netter Name.“
„Danke“, flüsterte ich wie betäubt.
„Gail, was ist mit dir los, hast du mich nicht gehört?“, herrschte Greg mich an. Der Fremde hob abwehrend beide Arme hoch.
„Beruhigen Sie sich, Professor, ich werde Sie schon nicht überfallen. Ich werde Sie weder ausrauben noch Ihre schöne Tochter entführen. Ich möchte mich bloß mit Ihnen unterhalten.“ Greg starrte ihn fassungslos an, er war es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach, und so viel geballte Frechheit machte ihn anscheinend sprachlos. Ich sah, wie seine Naseflügel sich wütend aufblähten und seine Hände sich zu Fäusten bildeten. Auch dem Fremden entging es nicht. „Ach, kommen Sie, Professor, Sie wollen mich doch nicht etwa schlagen? Ich komme in Frieden, wie ich bereits sagte.“ Plötzlich zauberte sich ein böses Lächeln auf Gregs Gesicht, er schien es sich anders überlegt zu haben. Diese ungewöhnliche Situation fing unübersehbar an, ihm Spaß zu machen.
„Kommen Sie rein, mein Freud“, säuselte er liebenswürdig, „Gail, Liebling, würdest du bitte unserem Gast einen Tee servieren?“
„Gail, Liebling“, äffte der Fremde Greg nach, „ich hätte viel lieber einen Drink, wenn es sich machen lässt.“ Als Greg sich auch diese Frechheit wortlos gefallen ließ, wusste ich, dass er nichts Gutes im Schilde führte und beschloss spontan, dass ich es nicht zulassen würde. Es war das erste Mal, dass ich es wagte, gegen Greg zu rebellieren, das Gefühl, das mich dabei überkam, war regelrecht euphorisch und erfüllte mich mit einer ganz neuen Kraft. Ich verließ das Wohnzimmer, und als ich wieder kam, trug ich ein Tablett, auf dem zwei Drinks standen: Vodka Lemon mit vielen Eiswürfeln, einer für mich, einer für den Fremden. Greg brachte ich eine Tasse Tee, seinen wütenden Blick ignorierend.
„Du wolltest doch Tee, Liebling?“, vergewisserte ich mich mit einem unschuldigen Lächeln.
„Hä? Wieso nennst du deinen Vater Liebling?“, fragte der Fremde überrascht, und, als es ihm endlich dämmerte, brach er in schallendes Gelächter aus. „Oh, sie ist gar nicht Ihre Tochter? Hut ab, Professor, wirklich, Hut ab!“
„Für einen Mann mit Ihrem IQ kapieren Sie verdammt schnell, Mister Harrington“, kommentierte Greg sarkastisch sein zweifelhaftes Kompliment.
„Wobei wir schon beim Thema wären, Professor“, lächelte der Fremde breit. „Komischerweise haben Ihre Kollegen nicht das Geringste an meinem IQ auszusetzen, ich schloss meine Abschlussprüfung mit den besten Noten ab. Ich rechnete bereits sogar mit einer Auszeichnung, als Sie ins Spiel kamen. Wieso haben Sie es mir angetan?“
„Hm, lassen Sie mich mal überlegen“, sagte Greg langsam und rieb sich in gespielter Anstrengung die Stirn. „Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein! Sie hatten bereits so sicher mit einer Auszeichnung gerechnet, dass Sie sich einen unverzeihlichen Fehler erlaubten, sich vorzeitig zu entspannen. Also, haben Sie sich an dem Abend vor Ihrer wichtigsten Prüfung hemmungslos betrunken. Korrigieren Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage“, forderte er ihn mit einem teuflischen Lächeln auf. Doch der Fremde zuckte nur die Schultern.
„Ich habe ein paar Drinks zu mir genommen, mehr nicht… Trotzdem habe ich alle Fragen richtig beantwortet. Ich weiß es ganz genau, weil ich die Antworten mit meinen Studienkameraden abgeglichen habe, die die Prüfung mit Bravour bestanden haben.“
„Ihre Studienkameraden, die die Prüfung bestanden haben, haben auch nicht nach abgestandenem Alkohol und Kotze gestunken! Sie hingegen hatten eine dermaßen widerliche Alkoholfahne, dass sie mich beinahe umgehauen hat. Jemand, der seine Zukunft dermaßen auf die leichte Schulter nimmt, jemand, der so ein respektloses Verhalten an den Tag legt wie Sie, verdient es nicht anders. Mein Entschluss steht fest, und selbst, wenn es nicht der Fall wäre, könnte ich nichts mehr daran ändern. Denn, falls es Ihnen entgangen sein sollte, bin ich nicht mehr an der Universität tätig, ich bin nun im Ruhestand.“
„Natürlich können Sie es ändern“, schnaubte der Fremde wütend, „Sie wollen es bloß nicht! Auch, wenn Sie im Ruhestand sind, hat Ihr Wort nach wie vor ein enormes Gewicht. Wieso zerstören Sie meine Zukunft? Was habe ich Ihnen getan?“
„Sie sind gerade dabei, emotional zu werden, mein Freund“, lächelte Greg gehässig. “Im Gegensatz zu Ihnen denke ich stets rational, das ist der gewaltige Unterschied zwischen uns beiden. Und genau das ist der Grund, wieso Sie Ihre Zukunft eigenhändig ins Klo runtergespült haben, mein Bester. Jawohl, Sie allein tragen die Schuld an Ihrem Scheitern, und, wie alle Loser, neigen Sie dazu, Ihre Schuld jemand anderem in die Schuhe zu schieben. Doch bei mir beißen Sie damit auf Granit: Ich hatte noch nie viel für Loser übrig. Also, hätten Sie sich diesen Besuch sparen können, obwohl wir uns sehr über ihn gefreut haben, nicht wahr, Schatz?“ Er legte besitzergreifend seine Hand auf meinen Oberschenkel, und ich wäre am liebsten in den Boden versunken, als ich den verdutzten Blick des Fremden registrierte. „Nutzen Sie Ihre Zeit lieber sinnvoll“, riet Greg, „indem Sie sich einen Job suchen, der Ihren Begabungen und Ihrer Arbeitsmoral entspricht. Ich habe gehört, dass die neue Mac Donalds Filiale dringend einen Geschäftsführer sucht. Wenn Sie sich richtig anstrengen, dann werden Sie die Stelle womöglich bekommen.“ Er nahm seine Teetasse in die Hand und trank einen kleinen Schluck daraus. „Schmeckt gut, Liebling!“, sagte er mit einem zärtlichen Blick in meine Richtung, wobei ich spürte, wie mein Gesicht vor Scham tief rot anlief. Danach wandte er sich wieder an den Fremden. „Ich will ja nicht gemein sein“, lächelte er entspannt, „falls Sie Referenzen brauchen, dürfen Sie sich jederzeit an mich wenden. Gail, würdest du bitte unseren Gast hinausbegleiten und die Tür hinter ihm schließen? Ich warte im Schlafzimmer auf dich!“, fügte er süffisant hinzu. Ich tat wie mir geheißen und lief hinter dem Fremden her, der energisch auf die Tür zusteuerte, wie ein braves Hündchen, das auf jedes Wort seines Besitzers hörte, ohne es zu hinterfragen. Ich wusste nicht, wann ich mich zum letzten Mal so schäbig gefühlt hatte. Doch, bevor der Fremde die Tür hinter sich schloss, flüsterte er mir zu: „Ich weiß nicht, was hier vorgeht, Gail… So heißt du doch? Ach, drauf geschissen! Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich an!“ Er drückte mir einen kleinen Zettel in die Hand und verschwand vorerst aus meinem Leben. Genauso plötzlich, wie er kam. Ich schnupperte gierig an seinem Duft, einer Mischung aus einem billigen Aftershafe und einem Hauch Angstschweiß. Kein Wunder. Greg verstand sich bestens darauf, jemandem Angst einzujagen, davon konnte ich ein Lied singen. Der kleine Zettel entpuppte sich beim näheren Betrachten als eine Visitenkarte, die ich eilig versteckte, bevor ich den Namen „Robert Harrington“ las. Nach kurzem Überlegen steckte ich sie zwischen meine Damenbinden, dort würde Greg garantiert nicht danach suchen.
„Gail, wo steckst du?“, rief er ungeduldig, und ich beeilte mich, seiner Stimme zu folgen. Er lag im Bett, völlig nackt, und hatte einen Ständer. Zum ersten Mal seit vielen Wochen. Ein Wunder war geschehen! Doch ich freute mich nicht über dieses Wunder, vielmehr fühlte ich mich von Gregs Erscheinungsbild angeekelt. Auf einmal fiel mir auf, wie alt er bereits war. Wieso war es mir nicht schon früher aufgefallen, fragte ich mich im Stillen. Weil ich keinen Vergleich hatte, dämmerte es mir. Mein Blick streifte Gregs blassen, weichen Körper, seine erschlaffte Haut, sein faltiges Gesicht… Seine ergrauten, schütteren Haare.
„Komm her, Prinzessin!“, befahl er mir, und ich legte mich brav neben ihn ins Bett. Sein plötzlich steif gewordener Schwanz drang in mich hinein wie der Stachel eines Skorpions. Ich schloss die Augen und dachte an den Fremden. Robert… An seinen jungen, straffen Körper, an seine Muskeln, die sich unter seinem engen T-Shirt attraktiv abzeichneten, an seine glatte Haut. An sein süßes, freches, unglaublich weißes Lächeln. An seine großen, blauen Augen. Doch Greg ließ sich nicht so leicht täuschen, er las meine Gedanken, und das, was er las, stimmte ihn wütend.
„Gail, öffne deine Augen!“, befahl er mir, während er mich fickte, und ich tat wie mir geheißen. „Was siehst du, Gail?“
„Ich sehe dich, Greg, Liebling!“
„Das will ich schwer hoffen“, keuchte er, als er sich in mich hinein ergoss. Sein Saft, der nach Alter und langsamem Verfall stank, unfähig, ein neues Leben in meinem jungen, hungrigen Leib zu erzeugen, lief an meinen Oberschenkeln herunter und verpestete die frische Bettwäsche, mit der ich das Bett vorher bezogen hatte. Verdammt, jetzt musste ich es schon wieder neu beziehen! Ich hasste Greg so sehr, dass mein Herz wie wild raste. Bei seinem bloßen Anblick. So wild, dass es in meiner Brust zu explodieren drohte.
„Ich liebe dich so sehr!“, strahlte ich ihn an, ergriff seine Hand mit den blauen, hervorstehenden Adern und legte sie direkt auf mein Herz. „Spürst du es, Liebling?“, fragte ich zärtlich, „spürst du, wie laut es klopft? So sehr liebe ich dich, Greg!“ Er sah skeptisch auf mich herunter, fixierte misstrauisch mein Gesicht. Bohrte seinen stechenden Blick in meine weit aufgerissenen Augen.
„Du weißt doch, was passiert, wenn ich feststellen sollte, dass du mich anlügst, Gail?“, fragte er mit einem bedrohlichen Unterton.
„Greg, Liebling“, stammelte ich unterwürfig und beobachtete erfreut, wie seine tiefen Falten sich etwas glätteten. Wie er sich zusehends entspannte. Was du kannst, alter Mistkerl, das kann ich längst auch, dachte ich gehässig, während ich ihn innig auf den Mund küsste. „Mein Gebieter“, flüsterte ich und legte meine ganze falsche Verliebtheit in dieses Flüstern. Plötzlich musste ich an Ava denken. Ava, die begnadete Schauspielerin. Ich hatte sie so oft dabei beobachtet, wie sie in unterschiedliche Rollen schlüpfte, dass sich etwas von ihrem schauspielerischen Talent unwillkürlich auf mich abfärbte.
„Du bist ein braves Mädchen“, murmelte er, bevor er einschlief. Letztens schnarchte er so laut, dass am liebsten im Gästezimmer geschlafen hätte, doch ich wusste, wie wütend es ihn machen würde. Ich sah ihn an und stellte angewidert fest, dass ein dünner Speichelfaden aus seinem Mund rannte. Ekliger, alter Mann, dachte ich, und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich Robert anrufen würde.
„Gail, wach auf!“, schüttelte mich Ryan, und als ich die Augen öffnete, atmete er erleichtert auf. „Du hast so tief geschlafen, dass ich mir schon Sorgen um dich machte. Ich habe uns Kaffee gekocht.“
„Ich habe Hunger“, jammerte ich.
„Natürlich, mein armer Schatz, du hast ja gestern den ganzen Tag nichts gegessen. Ich habe eine Packung Cornflakes im Schrank gefunden, und eine Packung haltbarer Milch, die noch nicht abgelaufen ist. Es ist zwar kein kulinarisches Highlight, aber fürs Erste dürfte es reichen.“
„Hauptsache, ich kriege endlich was zu essen“, stimmte ich ihm zu. Nachdem wir uns halbwegs gesättigt hatten, fingen wir an, Gregs Haus auf den Kopf zu stellen. Wir suchten systematisch alle Schränke und Schubladen ab. Mein Schrank platzte förmlich vor vielen schönen Abendkleidern. „Die habe ich alle nur hier drin getragen“, sagte ich bitter, „nur für ihn. Er hatte es tatsächlich irgendwie geschafft, mich glauben zu lassen, dass ich nicht hier gefangen war. Dass ich regelmäßig das Haus verließ.“
„Hast du es kein einziges Mal während der letzten fünf Jahre verlassen?“, fragte Ryan ungläubig.
„Doch. Ein paar Male. Aber die kann ich an einer Hand abzählen. An meinem Geburtstag fuhr er mit mir in die Stadt, damit ich mir ausnahmsweise selbst Schmuck und Kleider aussuchen konnte. Danach speisten wir in edlen Restaurants. Ich genoss es, gesehen zu werden, doch Greg gefiel es nicht, wie die Männer mich angafften. Er war krankhaft eifersüchtig.“
„Dieses kranke Arschloch!“, fluchte Ryan, der derweil Gregs Bücherregale untersuchte. „Hypnosetherapie“, „Wie man Phänomene tiefer Trance hervorruft“, „Hypnose: Lehrbuch für Psychotherapeuten und Ärzte“, „Die Kunst, jederzeit und überall hypnotisieren zu können“, las er laut die Buchtitel vor. „Der Mann schien ziemlich einseitige Interessen zu haben“, lachte er freudlos.
„Sieh mal, Ryan!“, rief ich, als ich die Schubladen eines kleinen Schränkchens der Reihe nach aufmachte, „das ist mein Schmuck! Dieses Collier hat er mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt. Da war alles zwischen uns noch in Ordnung.“ Auf einmal wurde Ryan hellhörig und sah mich prüfend an.
„Und wann änderte sich das?“
„Ryan, ich muss dir etwas Wichtiges sagen“, seufzte ich tief. „Setz dich am besten hin, ich habe heute Nacht wieder geträumt. Dieser Robert Harrington, der Hauptverdächtige…“
„Ja, was ist mit ihm?“, hackte er ungeduldig nach.
„Lass mich doch in Ruhe ausreden“, bat ich ihn. „Ich kannte ihn lange, bevor der Mord geschah. Er war hier. Hier, in diesem Haus. Eines Tages hat er uns förmlich überfallen, und Greg war sehr wütend. Es war tatsächlich so, wie du es mir gesagt hast: Greg ließ diesen Robert durch seine Abschlussprüfung durchfallen. Aber es kommt noch schlimmer: Greg war der Einzige, der ihm eine schlechte Note gab, die niedrigste Punktzahl! Nur, weil Robert eine Alkoholfahne hatte. Die anderen Dozenten waren schockiert, weil Robert ein sehr guter Student war, doch Greg stand zu seiner Entscheidung. Er war sehr gemein zu Robert, es machte ihm sichtlich Freude, seine Zukunft zu ruinieren. Robert bettelte ihn förmlich an, ihm noch eine Chance zu geben, daraufhin schlug Greg ihm vor, sich bei Mac Donalds zu bewerben. Es war wirklich grausam!“
„Und was passierte dann?“, fragte Ryan.
„Dann ist Robert einfach gegangen, doch bevor er ging, gab er mir seine Visitenkarte und sagte, wenn ich Hilfe brauche, solle ich ihn anrufen. Das ist alles, woran ich mich erinnere.“
„Er hat den Mistkerl getötet, soviel steht fest!“, jubelte Ryan. „Seien wir mal ehrlich, Gail, an seiner Stelle hätte ich genau dasselbe getan! Du etwa nicht?“
„Nein. Ich könnte nie einen Menschen töten, geschweige denn auf so eine grausame Art und Weise. Bei dem, was Greg zugefügt wurde, kann man wohl kaum von einem Mord im Affekt sprechen. Er wurde gefoltert, Ryan! Ich kann einfach nicht glauben, dass Robert Harrington sein Mörder war.“
„Wieso nicht, Gail?“
„Weil der Robert Harrington, an den ich mich erinnere, ein harmloser, sympathischer junger Mann war.“
„Viele Mörder wirken nach außen hin als harmlos und sympathisch“, gab Ryan zu bedenken. „Das ist kein Kriterium, um die Unschuld von jemandem zu beweisen.“
„Er war es nicht, das weiß ich einfach!“
„Aber was macht dich so sicher?“, fragte Ryan überrascht, „alles, woran du dich erinnerst, sind ein paar Stunden. Und eine Visitenkarte, die er dir gab. Verschweigst du mir etwas, Gail? Hattest du eine Affäre mit diesem Typen?“
„Wenn ich es nur wüsste!“, erwiderte ich leise. „Ich weiß nur noch, dass ich ihn sehr attraktiv fand. Und dass ich mit dem Gedanken spielte, sein Angebot anzunehmen. Ihn anzurufen, ohne Rücksicht auf Verluste. Und dass ich Greg zu diesem Zeitpunkt gehasst und verachtet hatte. Trotzdem wäre ich nie dazu fähig gewesen, ihn zu töten. Genauso wenig wie Robert Harrington. Außerdem frage ich mich, wie es zustande kam, dass wir drei uns auf dieser Yacht befanden? Greg hätte mich nie freiwillig mit einem anderen Mann geteilt. Selbst, wenn es lediglich um meine Gesellschaft ging. Selbst das war ihm schon zu viel, es war ihm extrem wichtig, mich für sich allein zu haben, in jeglicher Hinsicht. Oh, Ryan, ich kriege Kopfweh!“, klagte ich, „wenn ich mich doch endlich erinnern könnte! Ich kann es nicht mehr ertragen!“
„Armes Baby!“ Er nahm mich in den Arm und wiegte mich tröstend. „Bald ist alles vorbei. Wir machen gewaltige Fortschritte, es war die richtige Entscheidung, hierher zu kommen. Wir haben bereits mehr erreicht, als ich zu hoffen gewagt habe. Reiß dich zusammen, Gail! Wir müssen jetzt stark bleiben. Willst du eine Kopfschmerztablette?“
„Nein, es geht schon“, stammelte ich schwach, „lass uns einfach weitermachen.“
„Ich bin so stolz auf dich!“, sagte er leise, und ich spürte, wie ich vor Freude errötete. Er war stolz auf mich, er liebte mich, er beschütze mich. Er versprach mir, dass dieser Alptraum bald vorbeigehen würde, und ich glaubte ihm. Schon bald würden wir heiraten. Und dann würde ich endlich ein Kind kriegen. Mit neuem Elan machte ich mich an die Arbeit, wir durchstöberten Gregs Arbeitszimmer.
„Er mochte es nicht, wenn ich mich hier aufhielt“, erinnerte ich mich plötzlich, „das machte ihn wütend.“
„Umso besser, Gail!“, freute sich Ryan, „das heißt, dass er hier etwas versteckte, was du auf keinen Fall entdecken durftest.“ Doch weder der Inhalt der Schubladen von Gregs Schreibtisch noch sein Computer gaben etwas Außergewöhnliches preis. Obwohl Ryan sofort seinen Geheimcode geknackt hatte. „Das Datum, an dem er seinen Doktortitel erlangte“, lachte er sarkastisch, „dieser selbstverliebte Wichser!“
„Ich habe hier etwas!“, rief ich laut aus, als ich aus den Tiefen der untersten Tischschublade einen großen, gefütterten Briefumschlag herauszog.
„Lass mal sehen!“, verlangte Ryan aufgeregt und riss ihn mir ungeduldig aus der Hand. Als er den Inhalt sah, wurde er blass und sank auf Gregs Chefsessel aus echtem Leder, der mich an den Chefsessel aus Ryans Arbeitszimmer erinnerte.
„Was ist es?“, fragte ich neugierig, doch Ryan schien es die Sprache verschlagen zu haben. Ich sammelte die losen Blätter, die nun auf dem ganzen Tisch verteilt waren, und sah sie mir genau an. „Das sind Babyfotos“, sagte ich leise, als ich die Bilder erkannte. „Oh mein Gott!“, entfuhr es mir. „Da ist ja die Kopie deiner Geburtsurkunde, Ryan!“, stellte ich verblüfft fest, „und die Briefe deiner Mutter. Er hat sie alle aufbewahrt. Und das sind die Kopien von deinen Schulzeugnissen. Und von deinen Collegezeugnissen. Und die Zeitungsartikel über dich. Er hat sie über Jahre hinweg gesammelt.“
„Dieses kranke Schwein!“, flüsterte Ryan, als er endlich aus seiner Starre erwachte. Er schlug wütend mit der Faust auf Gregs Schreibtisch und sah sich die vielen Blätter an. „Tatsächlich“, stellte er fest, „er hat die ganze Zeit meine Karriere verfolgt. Was ist denn das?“, fragte er, als ein weiteres Blatt Papier ihm in die Hände fiel. Es war besonders gut versteckt, es lag sogar hinter dem Futter des Briefumschlags, den Ryan in seiner Wut zerrissen hatte. „Gail. Das musst du dir ansehen!“
„Es ist eine Geburtsurkunde“, stellte ich überrascht fest. „Keine Kopie, sondern ein Original! David Lewis. Der Mann, dem Greg sein gesamtes Vermögen vererbte.“ Und dann dämmerte es mir endlich. „Ryan, ich weiß, wer dieser David Lewis war!“, schrie ich so laut, dass ich selbst dabei zusammenzuckte.
„Wer, Gail?“ Ryan sprang von Gregs Sessel auf und starrte mich an, als wäre ich ein Gespenst. „Komm, sag es mir, Schatz!“
„David Lewis war Robert Harrington“, sagte ich leise und bedächtig, „der zweite uneheliche Sohn von Greg Grantham. Jetzt weiß ich, wieso Greg so streng zu ihm war, jetzt wird es mir endlich klar! Greg war ein Perfektionist. Der Gedanke daran, dass sein Sohn, sein Fleisch und Blut, so leichtfertig mit der eigenen Zukunft umging, war ihm schier unerträglich. Er wollte ihn dafür bestrafen. Ihm klarmachen, was er alles aufs Spiel setzte, ihn auf die Folter spannen, bevor er schließlich Gnade zeigte. Er wollte ihm eine Lektion erteilen, nicht mehr und nicht weniger. Doch irgendjemand kam ihm zuvor. Ryan, es muss sich eine vierte Person auf der Yacht befunden haben! Jemand, der sich heimtückisch eingeschlichen hatte, ohne bemerkt zu werden.“
„Ich weiß nicht“, dachte Ryan laut nach, „es passt alles einfach irgendwie nicht zusammen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass eine weitere Person dabei war. Auch, dass Harrington sein Sohn war. Es sei denn… Er hat es rausgefunden. Und war so wütend, dass sein eigener Vater sein Leben zerstört hat, dass er… Und dann wollte er auch dich, seine einzige Zeugin, beseitigen und schlug dir mit einem harten Gegenstand auf den Kopf. Und als ihm bewusst wurde, was er da getan hat, hat er sich selbst das Leben genommen, indem er ins Wasser gesprungen ist.“ Ich dachte an den jungen Mann mit spitzbübischem Lächeln, sympathischem, offenen Gesicht und großen, blauen Augen und empfand auf einmal eine tiefe Trauer um ihn. Keineswegs um Greg.
„Er kann es nicht gewesen sein“, wiederholte ich stur, und Ryan sah mich eigenartig an.
„Ich würde wirklich gern wissen, was sich zwischen dir und diesem Robert Harrington oder David Lewis oder wer auch immer dieser Kerl war, abgespielt hat“, murmelte er missmutig. Den Rest des Tages vermied er es, mich anzusehen und sprach kaum mit mir. Wir durchsuchten weiter das Haus, schweigend und konzentriert wie zwei professionelle Diebe. Schließlich ertrug ich die gespenstische Stille nicht mehr.
„Ryan, du verhältst dich kindisch!“, fuhr ich ihn an, und er zuckte zusammen. „Sieh mich endlich an!“, verlangte ich. „Es gibt keinen Grund für dich, sauer auf mich zu sein. Du bist auf einen toten Mann eifersüchtig.“ Er seufzte, setzte sich hin und nahm seinen Kopf zwischen die Hände, als hätte er schlimme Kopfschmerzen.
„Auf zwei tote Männer“, gab er schließlich zu. „Du hast recht, Gail, es ist kindisch. Komm her.“ Ich setzte mich auf seinen Schoß und küsste ihn. Langsam erwiderte er meinen Kuss. „Verzeih mir, Schatz“, flüsterte er, „anscheinend habe ich mehr von ihm geerbt, als mir lieb ist. Auch mir ist es unerträglich, dich mit anderen Männern teilen zu müssen, egal, ob tot oder lebendig.“
„Schon verziehen!“, lächelte ich ihn an. „Wie wäre es mit einem Kaffee?“
„Dazu sage ich nicht nein“, lächelte er zurück. „Geh schon mal in die Küche und koch uns einen schönen starken Kaffee, ich sehe mir solange den Rest des Hauses an. Folge mir bitte nicht“, sagte er mit Nachdruck und erklärte: „Ich werde jetzt in den Keller gehen.“ Mein Herz fing an wie wild zu rasen, mein Mund wurde trocken, mein Magen zog sich schmerzlich zusammen.
„Geh da nicht hin!“, bat ich ihn.
„Ich muss“, sagte er bedauernd. „Mir fällt es auch nicht leicht. Ich beeile mich. Danach trinken wir Kaffee, machen uns fertig und verschwinden hier endlich.“ Als er nach einer Weile zurückkam, war der Kaffee bereits kalt. Ryans Gesicht war aschfahl, und ich merkte, dass seine Hände stark zitterten. „Lass uns verschwinden!“, sagte er abgehackt.
„Was hast du… Hast du es… Den Raum?“
„Stell bitte keine Fragen, Gail, nicht jetzt! Bitte. Wo sind unsere Sachen?“ Ich holte schweigend unsere Tasche, und wir verwandelten uns wieder in Star und Sky. Draußen war es bereits dunkel, trotzdem vergewisserte sich Ryan mehrmals, dass uns niemand beobachtete, bevor wir uns vorsichtig auf dem Weg zum Auto machten. Während der ganzen Fahrt schwieg er. Als ich Anstalten machte, die Stimmung aufzulockern, indem ich wieder mit unserem Rollenspiel anging, legte er seine Hand auf mein Knie und sagte: „Nicht, Gail.“ Als wir endlich ankamen, war der Anblick des Hexenhäuschens im Mondlicht so ziemlich das Schönste, was ich mir vorstellen konnte. Ich konnte es kaum fassen, wie froh ich war, wieder zu Hause zu sein. Als Erstes ließ ich mir ein heißes Bad ein, um mich von Gregs Haus zu reinigen. Ich blieb mindestens eine Stunde drin liegen und ließ immer wieder heißes Wasser ein. Schließlich zwang ich mich widerwillig dazu, aufzustehen, trocknete mich mit einem sauberen, flauschigen Handtuch ab, cremte mich mit einer Bodylotion ein und kämmte meine nassen Haare. Ich wollte nur noch ins Bett, einfach nur neben Ryan liegen, seine beruhigende Wärme spüren, seinen vertrauten Duft einatmen, seinem regelmäßigen Atem lauschen und schlafen, schlafen, schlafen… Doch Ryan saß aufrecht im Bett und starrte ins nichts.
„Was hast du, Ryan?“, fragte ich besorgt. Er blieb mir die Antwort schuldig, suchte stattdessen nach etwas in seiner Nachttischschublade, und, als er es endlich fand, atmete er erleichtert auf: „Gott sei Dank, habe ich noch welche da!“ Danach griff er nach meiner Wasserflasche, schluckte eine kleine Tablette und trank fast genauso gierig wie ich. Ich sah ihn überrascht an, es war das erste Mal, dass ich Ryan eine Tablette nehmen sah. Ich wusste, dass er eine Abneigung gegen Medikamente hatte.
„Was ist es?“, fragte ich.
„Valium“, sagte er. Seine Stimme klang gequält. „Ich hoffe, es wirkt schnell!“ Ich legte mich neben ihn ins Bett und deckte uns beide zu, bevor ich ihn von hinten umarmte und ihn sanft streichelte. Mich langsam nach unten vorarbeitete, so wie es ihm gefiel, und auf seine Reaktion wartete. Doch zum ersten Mal, seitdem wir uns kannten, zeigte sein Körper keinerlei Reaktion auf meine Liebkosung.
„Es ist der Raum, der es dir zu schaffen macht, nicht wahr?“, wagte ich schließlich, die Frage zu stellen, die mir schon seit Stunden auf der Zunge brannte.
„Ich habe ihn gesehen“, sagte Ryan monoton, drehte sich zu mir um, umschloss meinen Körper mit seinen Armen und Beinen, hielt ihn fest und schluchzte. „Ich habe ihn gesehen“, wiederholte er. Oh, Gail! Ich werde nie wieder ruhig schlafen können, nie wieder!“
„Doch, das wirst du“, versprach ich ihm, „glaub mir. Du schläfst bereits, Liebling“, stellte ich beruhigt fest, als ich sein leises Schnarchen hörte. Der Ausflug in meine Vergangenheit hatte Ryan stark mitgenommen, was ich ihm kaum verdenken konnte. All die schlimmen, unaussprechlichen Dinge, die er bisher nur aus meinen Erzählungen kannte, waren zum Leben erwacht, als er das Verlies sah, in dem Greg mich einst gefangen hielt. In dem er mich verdursten und verhungern ließ, mich folterte und demütigte, bis ich schließlich zu der Frau wurde, die er haben wollte. Seine schöne Galatea, Gail, sein süßes, braves Mädchen, das ihm aufs Wort gehorchte, ihn ehrte und liebte wie einen Gott. So wie es ihm seiner Meinung nach zustand. Bis sein Sohn ins Spiel kam und ihm sein natürliches Recht auf mich, ein Wesen, das er eigenhändig erschaffen hatte, streitig machte. Sein eigener Sohn! Bevor er ihn getötet hatte. (Das hatte er nicht! Oder etwa doch?) Bevor ich mich in seinen anderen Sohn verliebte. Ich befand mich mitten in einer griechischen Tragödie, die mein Leben war, pervers, düster und überaus dramatisch. Mein altes ich, mein neues ich, Greg, seine Söhne, die Liebe, der Hass, die Gewalt… Alles drehte sich in einem nicht enden wollenden Kreis, der uns alle in sich einschloss. Unsere Schicksale auf eine makabre Art und Weise miteinander verwebte, ohne Rücksicht auf Leben und Tod zu nehmen. Der arme Ryan! Er hatte es am Wenigsten von uns allen verdient, dachte ich, bevor ich neben ihm einschlief.