16. Die Erleuchtung
„Wach auf, Schatz!“, hörte ich Avas vertraute Stimme, bevor meine Nase den köstlichen Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee wahrnahm. Ehe ich mich traute, meine Augen aufzumachen, tastete ich diese ängstlich ab. Erst, als ich beruhigt feststellte, dass ich sie noch besaß, öffnete ich sie und erblickte Avas Gesicht.
„Ava, bist du es wirklich oder träume ich nur?“, fragte ich ängstlich.
“Ich bin hier, bei dir“, sagte Ava, „ich werde dich nie wieder allein lassen!“ Sie stellte die Kaffeetasse ab, schlupfte unter die Decke und umarmte meinen zitternden Körper.
„Heile, heile, Segen, drei Tage Regen“, sang sie beruhigend. „Drei Tage Schnee, dann tut es nicht mehr weh!“ Ich fühlte mich sicher und geborgen, fast wie in den alten Zeiten. Ava spürte, wie ich mich immer mehr entspannte und umarmte mich fester, dabei stieß sie mit der Hand gegen meinen falschen Busen und entschuldigte sich hastig: „Daran werde ich mich erst gewöhnen müssen“, kicherte sie. „Und mich bemühen, nicht allzu neidisch zu werden. Wie soll ich dich nun nennen?“, fragte sie. „David? Gail?“ Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Such dir was aus.“
„Du siehst nicht mehr aus wie ein David. Ich werde mir „Gail“ angewöhnen, okay?“ Ich nickte unbeteiligt. „Jedenfalls siehst du toll aus!“, versuchte sie, mich aufzumuntern und setzte sich im Bett auf. „Trink doch einen Schluck Kaffee, ich habe ihn genauso gekocht, wie du ihn magst, mittelstark, ohne Zucker, mit viel Milch.“ Der Kaffee schmeckte fantastisch, ich schloss die Augen und genoss die warme, köstliche Flüssigkeit.
„Du kochst immer noch den besten Kaffee der Welt“, lächelte ich Ava an, und sie musste plötzlich weinen.
„Dein Lächeln ist gleich geblieben“, stellte sie fest und sah mich eine Weile schweigend an, als hätte sie nicht genug von meinem Anblick bekommen können. „Ich habe dich so sehr vermisst!“, schniefte sie. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht… Du warst plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Ich hatte sogar einen Privatdetektiv beauftragt, aber jede Spur führte ins nichts, also rechnete ich mit dem Schlimmsten. Ich…“ Sie suchte nach den richtigen Worten, während Tränen über ihr hübsches Gesicht liefen. „Ich hatte keine Hoffnung mehr. Es war so furchtbar, David!“ Nun war ich an der Reihe, sie zu trösten.
„Jetzt bin ich ja wieder da, Süße“, sagte ich sanft und tätschelte ihre nasse Wange. „Zwar etwas anders, als du mich in Erinnerung hast, aber ich bin immer noch ich. Denke ich“, fügte ich unsicher hinzu.
„Natürlich bist du immer noch du!“, sagte Ava mit Nachdruck. „Dass ich dich nicht gleich erkannt hatte…“ Ihr Blick haftete an meinem Busen. „Ich habe meine auch machen lassen“, vertraute sie mir an und hob ihr T-Shirt hoch. „Wie findest du sie?“
„Schön“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „richtig gut gelungen. „Genau wie der Rest.“
„Ja, ich habe der Natur hier und da ein kleines bisschen nachgeholfen“, gab sie zu. „Stanley war am Anfang dagegen, doch jetzt hat er sich mit dem Ergebnis angefreundet.“
„Bist du glücklich mit ihm?“, fragte ich und musterte sie intensiv, gespannt auf ihre Antwort.
„Oh ja!“, strahlte sie, „das bin ich. Ich platze beinahe vor Glück! Stanley ist wundervoll. Wir wollen bald ein Baby haben!“, erzählte sie mit einem breiten Lächeln, während meines erstarb.
„Ich habe Greg die ganze Zeit um ein Baby angebettelt“, sagte ich leise, und Ava hob überrascht die sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch. „Er hatte mich so fest im Griff, dass ich tatsächlich glaubte, eine Frau zu sein. Eine richtige Frau, meine ich, mit allem drum und dran.“
„Du bist jetzt eine richtige Frau, Gail“, sagte Ava ernst und benutzte bewusst meinen neuen Namen. Und wenn du dir ein Baby wünschst, kannst du jederzeit eins adoptieren. Es wird alles wieder gut“, versprach sie mir und drückte mir einen Kuss auf die Wange, „dafür werde ich sorgen!“ Ihr Blick schnellte schon wieder zu meinen Brüsten. „Darf ich sie anfassen?“, fragte sie voller Neugier. Ich zog mein Nachthemd hoch.
„Nur zu! Keine falsche Bescheidenheit!“ Sie wiegte meine linke und meine rechte Brust abwechselnd in der Hand und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Sie fühlen sich so echt an!“, wunderte sie sich, bevor sie mit dem Finger meine Brustwarzen betastete, die sich unter ihrer Berührung sofort aufrichteten. „Wow!“, hauchte sie voller Neid, „in meinen habe ich gar kein Gefühl mehr.“
„Ava“, ermahnte ich sie kichernd, „pass ja auf, dass du dich nicht in mich verliebst!“
„Keine Sorge“, stimmte sie in mein Kichern ein, „ich habe mich bloß in deine Möpse verliebt.“
„Das wäre ja auch viel zu viel des Guten“, lachte ich laut auf. „Stell dir nur vor: Zuerst bin ich ein Junge, dann ein Mädchen, dann wieder ein Junge, wenn auch schwul. Dann bin ich eine Frau, und dann stelle ich fest, dass ich eigentlich ein Mann bin. Wenn ich jetzt auch noch lesbisch werde, wird es selbst mir zu bunt!“ Wir schüttelten uns vor Lachen, bis sich meine Miene plötzlich verdüsterte. Auch Ava wurde sofort ernst und sah mich prüfend an. Noch bevor ich fragen konnte, ergriff sie meine Hand und drückte sie mitfühlend. Sie konnte schon immer meine Gedanken lesen. „Ryan?“, fragte ich schließlich leise.
„Weg“, erwiderte sie traurig und nahm mich tröstend in den Arm: „Es tut mir so leid, Schatz!“ Sie wiegte mich sanft, während ich bitter schluchzte und ihre schmale Schulter mit meinen Tränen benetzte.
„Was ist gestern passiert, Avie? Ich kann mich an nichts mehr erinnern.“
„Bist du sicher, dass du es wissen willst?“, erkundigte sie sich behutsam. „Sollen wir nicht lieber zuerst frühstücken?“
„Als ob ich etwas runterkriegen könnte!“, schnaubte ich bitter. „Erzähl es mir!“, verlangte ich, und sie seufzte bedauernd.
„Als ich dich erkannt hatte, wurdest du bewusstlos“, erzählte sie. „Wir riefen einen Notarzt, der dir eine Beruhigungsspritze verpasste. Er meinte, es handele sich um eine heftige Schockreaktion und riet uns, dich einfach nur eine Weile in Ruhe schlafen zu lassen. Wir hoben dich gemeinsam auf und brachten dich ins Bett. Danach wollte Ryan natürlich wissen, wer David war. Also, erzählte ich ihm alles, was ich wusste, bevor ich großartig nachdenken konnte. Denn auch ich stand unter Schock, David. War es falsch von mir?“ Sie weinte schon wieder, von ihren Schuldgefühlen zerfressen.
„Natürlich, war es richtig, Avie“, beeilte ich mich, sie zu beruhigen und musste unwillkürlich lächeln, als ich sah, wie sich ihre Gesichtszüge langsam wieder entspannten. Trotz allem fühlte ich mich immer noch so für sie verantwortlich wie ein großer Bruder für seine kleine Schwester. Dieser Beschützerinstinkt schien einen gewaltigen Teil meiner Persönlichkeit auszumachen, den nicht einmal Greg auszulöschen vermochte. Ich war stolz darauf, etwas so Wichtiges vor ihm bewahrt haben zu können. Er hatte mich nicht vollständig gebrochen!
„Als du endlich aufgewacht bist“, setzte Ava ihren Bericht fort, „hast du erstmal nach Wasser verlangt. Ryan war derjenige, der dir die Wasserflasche vor den Mund hielt, damit du trinken konntest“, eröffnete sie mir und lächelte mich ermutigend an. „Er liebt dich trotz allem, David, nach wie vor. Das habe ich ihm ganz genau angesehen, auch, wenn es ihm selbst noch nicht bewusst ist.“
„Der Arme!“, sagte ich voller Mitgefühl. „Es muss wirklich schlimm für ihn gewesen sein, die Wahrheit zu erfahren. Er wurde als Kind sexuell missbraucht, Ava“, vertraute ich ihr an, „von einem Mann.“
„Oh mein Gott!“, hauchte sie leise.
„Verstehst du jetzt, wie tragisch es für ihn war, zu erfahren, dass er sich ausgerechnet in mich verliebte?“
„Es war ein Horror für ihn“, gab sie widerwillig zu. „Dennoch blieb er die ganze Zeit bei dir, bis du aufgewacht bist. Als du deinen Durst gestillt hattest, fingst du an zu reden. Die ganzen schrecklichen Geschehnisse der letzten Jahre sprudelten aus dir heraus wie ein Wasserfall. Dabei wurde er immer blasser, genau wie ich. Als du von den Ereignissen auf der Yacht berichtetest, mussten wir uns beide übergeben. Du musst wissen, dass auch Stanley das Ganze mitbekommen hatte. Zum Glück. Denn, wenn er nicht dabei gewesen wäre, hätte ich es womöglich nicht ausgehalten, ohne ohnmächtig zu werden. Der Schmerz war unerträglich! Ich fühle mich so schuldig, weil ich nicht bei dir war, um dir beizustehen, als es dir schlecht ging, als du einsam warst. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Dass ich dich damals vernachlässigt hatte, werde ich mir nie verzeihen! Dabei warst du immer für mich da, David. Ich bin mir sicher, wenn es umgekehrt gewesen wäre, hättest du mich davor bewahrt, den schlimmsten Fehler meines Lebens zu begehen. Du hättest nie zugelassen, dass mir so schlimme Dinge zustoßen!“ Ich wusste zwar, dass sie recht hatte, dennoch liebte ich sie viel zu sehr, um ihr etwas nachzutragen.
„Mach dir keine Vorwürfe, Avie“, sagte ich leise, dennoch bestimmend, „ich allein bin Schuld an allem, was mir zugestoßen ist. Schließlich bin ich damals freiwillig zu ihm gegangen, niemand hat mich dazu gezwungen. Stattdessen hätte ich dich anrufen können und dir anvertrauen, wie es tatsächlich um mich stand.“
„Hättest du es nur getan, Liebling!“, weinte Ava bitterlich und erinnerte mich wieder an das kleine Mädchen, das einst Angst vor dem Gewitter hatte.
„Avie“, sagte ich zärtlich, „wir sind doch wieder vereint, das ist die Hauptsache! Tu mir bitte einen Gefallen und hör damit auf, dir die Schuld zu geben. Okay?“
„Okay“, schniefte Ava, wenig überzeugend.
„Ich meine es ernst, Ava!“, sagte ich streng. „Hat Ryan noch irgendetwas gesagt, bevor er… bevor er ging?“
„Ja, jetzt, wo du es erwähnst, das hat er tatsächlich. Er meinte, ich soll dir ausrichten, dass du auf keinen Fall zur Polizei gehen sollst. Du sollst abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Danach würde er alles für dich regeln. Und dann würde er sich bei uns melden und uns weitere Anweisungen geben. Das hat er fest versprochen. Du bist ihm nicht egal, Dav… Gail!“
Ich brach in einem weiteren Weinkrampf aus, und Ava weinte mit. Nachdem wir mehrere Packungen Taschentücher verbraucht hatten, hauchte ich leise: „Ich liebe ihn wirklich, Ava!“
„Ich weiß, Schatz“, erwiderte sie voller Bedauern und fügte etwas optimistischer hinzu: „Aber er dich auch, ich bin mir sicher! Ich glaube, er braucht einfach Zeit, um mit dem Ganzen klarzukommen.“
„Aber Ava, welcher Mann würde je mit so etwas klarkommen?“
„Wer weiß? Ein Mann, dessen Gefühle für dich so stark sind, dass sie jedes Hindernis überwinden? Es hört sich vielleicht kitschig an, aber irgendetwas sagt mir, dass Ryan genauso ein Mann ist. Lassen wir ihm einfach die Zeit, die er braucht, um alles zu verarbeiten. Ich habe ein gutes Gefühl, Gail!“ Sie kämpfte sich ein Lächeln ab. Avas süßes Lächeln, das mich durch meine ganze Horrorkindheit begleitete, verfiel auch heute nicht seine Wirkung auf meinen Gemüt: Ich konnte gar nicht anders, als es zu erwidern. „So ist es schon viel besser!“, jubelte sie, „und dein neuer Name geht mir auch immer leichter über die Lippen. Weißt du was? Stanley hat alle meine Termine für heute abgesagt und sich taktvoll zurückgezogen, der Tag gehört nur uns! Lass uns das Beste draus machen, sieh uns nur an, unsere Gesichter sind vor lauter Heulen schon ganz verquollen. Was hältst du davon, wenn wir uns nach dem Frühstück langsam wieder aufhübschen und dann ausgiebig Schoppen gehen?“
„Ein guter Plan!“, schmunzelte ich. Auf einmal fühlte ich mich wunderbar leicht, als wäre die schwere Last, die ich Jahre lang auf meinen Schultern trug, plötzlich verschwunden. Auch, wenn ich Ryan, die Liebe meines Lebens, für immer verloren hatte, so hatte ich Ava, die ein Teil von mir war, seitdem ich denken konnte, wieder an meiner Seite.
Nach einem üppigen Frühstück ließen wir uns von Avas Chauffeur in die Stadt fahren und kauften mir eine neue Garderobe, alles nur vom Feinsten.
„Ava, eines Tages werde ich dir das alles wieder zurückzahlen“, stammelte ich verlegen, als wir mit unzähligen Einkaufstüten beladen, wieder bei ihr zu Hause ankamen.
„Mach dich nicht lächerlich!“, schalt sie mich erbost, „haben wir nicht schon immer alles miteinander geteilt?“ Ich entschuldigte mich hastig und gab ihr Recht. Ja, genauso war es. Außer meiner Liebe schuldete ich Ava rein gar nichts.
Als wir während unserer Schoppingtour einen Halt in Avas Stammschönheitssalon machten, um uns verschönern und verwöhnen zu lassen, stellte die Kosmetikerin erstaunt fest, dass ich keinerlei Körperbehaarung besaß. Während ich Avas Schmerzensschreie hörte, als eine zierliche Asiatin ihren Körper mittels heißen Wachses und einer Pinzette in eine glatte, makellose Statue verwandelte, genoss ich lediglich eine entspannende Massage.
„Er hatte mich einer Laserbehandlung unterzogen“, erklärte ich Ava später bei einer Tasse Kaffee in ihrem Lieblingscafé. „Es brannte wie Feuer, mach es ja nicht!“, ermahnte ich sie, als ich merkte, dass sie bereits mit dem Gedanken daran spielte. „Du würdest es nicht ertragen können, Avie, vergiss es! Greg wollte eine perfekte Traumfrau erschaffen, musst du wissen. Deswegen hatte er auch meine Stimmbänder gekürzt, damit meine Stimme so hoch und lieblich wurde, wie er es sich wünschte.“
„Gail“, sagte Ava schließlich. „Du kennst mich so gut wie niemand sonst, nicht einmal Stanley. Also weißt du, wie neugierig ich bin.“
„Das weiß ich allerdings“, lachte ich amüsiert, „lass mich mal raten, Avie? Du willst auch den Rest von mir sehen, sonst kannst du nicht mehr ruhig schlafen, nicht wahr?“
„Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht“, erwiderte sie beschämt.
„Na gut, ich zeige es dir“, sagte ich, „schließlich hatte ich dich auch unzählige Male nackt gesehen, nun bist du dran!“ Als wir wieder zu Hause waren, folgte sie mir in die Duschkabine des Gästezimmers, in dem ich untergebracht war, und starrte gespannt auf meinen Unterkörper, während ich mich vor ihr entblößte. Als ich mein Höschen auszog, sog sie scharf die Luft ein. Ich spreizte meine Beine, um ihr freien Blick dazwischen zu gewähren.
„Oh mein Gott!“, entfuhr es ihr, „du bist wahrhaftig eine Frau!“
„Ja, er war sehr stolz darauf, mich so authentisch gestaltet zu haben“, gab ich zu.
„Es ist ihm gelungen“, sagte Ava. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie, „ich weiß, dass du es nie wirklich gewollt hast…“
„Tja, was ich einst gewollt oder nicht gewollt hatte, spielt keine Rolle mehr, Avie“, gab ich entspannt zurück. „Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, nun bist du an der Reihe.“
„David… Ich meine, Gail. Ich akzeptiere deine Entscheidung.“
„Die Entscheidung, zu der ich gezwungen wurde!“, korrigierte ich sie.
„Wie auch immer. Du weißt doch, dass ich dich über alles liebe und hinter dir stehe, egal, was passiert?“
„Natürlich, weiß ich das“, erwiderte ich dankbar. „Du bist alles, was ich noch habe!“
Beim Abendessen leistete uns auch Stanley Gesellschaft. Er hielt sich taktvoll im Hintergrund, trotzdem entfiel es mir nicht, wie er Ava die ganze Zeit verliebt anhimmelte. Nach so vielen Jahren Ehe war immer noch verrückt nach ihr! Wenngleich ich mich für sie freute, verspürte ich gleichzeitig einen leisen, schmerzhaften Stich, den ich widerwillig und schuldbewusst als Neid identifizierte. Du Freak, du Frankensteinmonster, sagte ich zu mir im Stillen. Was fällt dir ein, auf Ava neidisch zu sein? Sie hat ihr Glück wahrhaftig verdient! Und du… Du hast den Tod verdient! Wo du auch hingehst, sähst du Verfall, Verderben und Schmerz. Schon dafür, was du dem armen Ryan angetan hast, verdienst du es, zu sterben! Ava entging meine Gefühlsregung nicht.
„Stanley, würdest du uns bitte für einen Augenblick allein lassen?“, bat sie ihren Mann. Er nickte knapp, lächelte mich freundlich an und zog sich diskret zurück. „Gail, ich merke, wie du dich quälst“, sagte sie leise. „Ich möchte, dass du weißt, dass ich an deiner Stelle genauso gehandelt hätte. Er hat es verdient, Gail!“ Sie ergriff meine Hand und sah mich eindringlich an.
„Ich weiß“, flüsterte ich, „und ich bereue es auch nicht. Ich bin ein Monster.“
„Nein, er war ein Monster!“, rief Ava empört. „Du bist ein wundervoller, liebenswerter Mensch, und du hast es verdient, endlich glücklich zu werden! Aber ich glaube, dass du es ohne Hilfe nicht schaffen kannst“, fügte sie leise hinzu. „Ich meine, ohne professionelle Hilfe.“
„Du meinst so etwas wie einen Psychiater?“, fragte ich entsetzt.
„Ich meine sogar ziemlich genau das. Auch ich brauche Hilfe, um das Ganze zu verarbeiten. Ich wollte es dir nicht sagen, aber ich leide unter heftigen Alpträumen, seitdem du verschwunden warst. Und gestern Nacht… Da wurde es schlimmer, Stanley musste mir sogar eine Beruhigungsspritze verpassen.“
„Oh mein Gott, Ava“, schnappte ich schockiert nach Luft. „Ich habe auch dich ruiniert. Auch dich.“
„Liebling, nicht du hast es. Sondern einzig und allein er. Doch ruiniert hat er keine von uns beiden. Den Gefallen werden wir ihm nicht tun, wir wollen ihn doch nicht gewinnen lassen?“ Ich nickte matt mit dem Kopf. „Wir werden uns helfen lassen. Gemeinsam. Stanley meint auch, dass wir es unbedingt tun sollten. Bist du dabei?“ Ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.
„Aber Ava… Das würde bedeuten, eine völlig fremde Person einzuweihen“, stammelte ich voller Entsetzen.
„Eine völlig fremde, unbeteiligte Person, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt“, erwiderte Ava ruhig. „Schlaf eine Nacht drüber, bevor du dich endgültig entscheidest und teile mir morgen deine Entscheidung mit. Sollte sie positiv ausfallen, wird sich Stanley sofort um einen Termin bei einem renommierten Therapeuten kümmern.“
„Du vergisst eine Kleinigkeit, Avie“, lachte ich bitter, „und zwar, dass Greg ebenfalls ein renommierter Therapeut war!“ Sie erschauderte, und meine Worte taten mir sofort leid. „Entschuldige, Avie, ich wollte dir keine Angst einjagen“, lächelte ich sie schwach an, während ich mir die Tränen aus den Augen wischte. „Sag Stanley, er soll einen Termin vereinbaren. Und sag ihm, dass ich ihm sehr dankbar bin.“
„Das kannst du ihm gleich selbst sagen“, schmunzelte sie. „Er wartet im Wohnzimmer auf uns. Und, wie ich ihn kenne, hat er uns bereits leckere Cocktails gemixt. Wie wäre es mit einem schönen alten Film? So wie in unserer Kindheit?“
„Bitte keine alten Filme, Ava!“, schüttelte ich mich voller Abscheu. „Greg war ein großer Fan davon.“
„Dieses kranke Ungeheuer!“, fluchte Ava, „er hat dir aber wirklich jede Freude genommen!“ Plötzlich erhellte sich ihr schönes Gesicht. „Gail, du hast bestimmt noch keinen einzigen Film von mir gesehen, nicht wahr?“ Wir sahen uns an und lachten fröhlich.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue!“ strahlte ich sie an. „Bis gestern konnte ich mich nicht mal an deinen Nachnamen erinnern. Ich wusste nur, dass ich eine Freundin namens Ava hatte, die schon immer Schauspielerin werden wollte. Die eines Tages einen großen Produzenten kennen lernte, der ihre Träume wahr machte.“
„Eine perfekte Aschenputtel Geschichte!“, lachte Ava vergnügt. „Ja, Stanley war wahrhaftig mein Märchenprinz und ist es immer noch. Wie hast du es denn geschafft, mich zu finden?“, fragte sie schließlich voller Neugierde.
„Das war Ryan“, seufzte ich wehmütig. „Er saß die ganze Nacht lang am Computer und hatte alle mehr oder weniger bekannten Schauspielerinnen, die mit Vornamen Ava heißen, ausfindig gemacht und die Ergebnisse für mich gespeichert. Und dann klickte ich mich dadurch, bis mir die Augen beinahe zufielen. Bis ich endlich dein Gesicht sah. Ich erkannte dich sofort! Ich weiß noch, wie misstrauisch Ryan war, als ich ihm dein Foto auf dem Bildschirm zeigte. Er dachte, meine Fantasie ging mit mir durch. „Das ist deine Ava?“, fragte er ungläubig. Doch ich war mir sicher, dass du es warst. Und dann arrangierte er alles, damit wir uns endlich begegnen. Den Rest kennst du ja.“
„Er liebt dich“, stellte Ava mit einem kleinen, weisen Lächeln fest, das ich so sehr liebte, schon vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war. Das war ihr „Heile, heile Segen“ Lächeln. „Lass uns ins Wohnzimmer gehen!“, bestimmte sie, und ich folgte ihr. Stanley wartete auf uns mit den Cocktails, genauso wie Ava es prophezeit hatte.
„Stanley, Liebling, Gail möchte meinen letzten Film sehen“, sagte sie zu ihrem Mann, bevor sie es sich auf seinem Schoß bequem machte. Er umschloss sie sofort mit seinen Armen und küsste gierig ihren Hals ab. Sie streckte ihren Kopf samt glänzender, blonder Löwenmähne nach hinten und kicherte genüsslich unter seiner Liebkosung wie ein verliebtes Schulmädchen. Ich verspürte schon wieder einen Stich des Neides und schämte mich dafür. Sowohl Ava als auch Stanley schienen es wahrzunehmen, denn sie lösten sich widerwillig voneinander und widmeten sich einzig und allein meinem Wohlbefinden.
„Gail, schmeckt dir dein Cocktail?“, erkundigte sich Stanley besorgt. „Möchtest du lieber etwas anderes? Weißwein, Rotwein, Champagner? Wasser habe ich bereits kaltgestellt, du weißt ja, wo die Küche ist. Ava sagte mir bereits, dass du viel Wasser trinkst, also habe ich dementsprechend vorgesorgt.“
„Ich danke dir, Stanley!“, sagte ich ernst und erlaubte mir, kurz seine Hand zu drücken. Er erwiderte den Druck und küsste mich flüchtig auf die Wange.
„Du brauchst dich nicht zu bedanken, Gail“, erwiderte er ernst. „Ich weiß, wie viel du Ava bedeutest. Ab jetzt bist du ein Teil unserer Familie, und ich werde alles dafür tun, damit du dich bei uns wohl fühlst. Ava, hast du Gail schon davon erzählt, was wir für sie geplant haben?“, wandte er sich an seine Frau.
„Oh nein, Stanley, jetzt hast du die Überraschung verdorben!“, schmollte sie beleidigt. „Ich wollte es ihr erst morgen sagen.“ Sie sahen sich an, und dann forderte sie ihn mürrisch auf: „Na gut, dann sag du es ihr!“
„Gail, der linke Flügel unserer Villa steht noch leer“, lächelte Stanley mich an. Sein Lächeln war warm und kam vom Herzen. Ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. „Ehrlich gesagt, wussten wir bis gestern nicht so recht, was wir damit anfangen sollten. Jetzt wissen wir es. Endlich! Das Gästezimmer, in dem du schläfst, ist nur ein vorübergehendes Domizil“, fuhr er fort, „Ava hat bereits Dutzende von Möbelkatalogen bestellt. Sie wollte die Einrichtung für dein neues Zuhause mit dir gemeinsam aussuchen.“ Ich spürte, wie die Tränen meine Wangen benetzten. Schon wieder.
„Stanley, du hast den wichtigsten Teil ausgelassen“, sagte Ava verärgert.
„Oh ja, du hast recht, Schatz“, stimmte er ihr zu. „Ava wollte den linken Flügel unbedingt freihalten“, eröffnete er mir. „Für den Fall, dass du wieder zurückkommst. „Eines Tages wird er schon kommen“, sagte sie immer und immer wieder zwischen ihren Alpträumen, „ich weiß, dass er noch lebt. Ich fühle es einfach!“ Ich hatte gehofft, dass ihr Gefühl sie nicht täuschte, doch viel Hoffnung hatte ich nicht… Und dann warst du da. Als Gail. Du lebst tatsächlich noch. Und du siehst toll aus! Und ich bin glücklich, weil meine Ava glücklich ist. Also, lasst uns feiern! Du hast Avas letzten Film noch nicht gesehen, ist es wahr, Gail?“ Ich nickte beschämt. „Ava wurde sogar für den Oscar nominiert!“, sagte Stanley stolz, und Ava wurde tatsächlich rot. Ich lachte und umarmte sie.
„Ich wusste es schon immer, Stanley! Als kleines Mädchen hat sie immer vor dem Spiegel die Szenen unserer Lieblingsfilme nachgespielt. Da hatte sie noch Zahnlücken, aber man konnte bereits ihr Talent erkennen.“
„Und du hast sie immer wieder dazu ermutigt, nicht aufzugeben“, setzte Stanley meinen Bericht fort. Da wurde mir klar, wie eng ihre Beziehung war: Stanley schien über jedes kleine Detail aus Avas früherem Leben informiert zu sein. Plötzlich erinnerte ich mich an den Abend, an dem Ava Stanley zum ersten Mal begegnete. An dem gleichen Abend begegnete ich ihm. Es lief mir kalt den Rücken runter, und ich schüttelte mich unwillkürlich.
„Stanley“, traute ich mich schließlich, die Frage zu stellen, die mir auf der Zunge brannte, „kanntest du Greg gut?“
„Leider nicht so gut wie ich dachte“, antwortete er voller Bedauern. „Ich hielt ihn für einen guten Freund. Er hat uns allen etwas vorgespielt, Gail. Genau genommen, hätte er einen Oscar verdient!“, lachte er bitter. „Als du damals spurlos verschwunden warst, hatte auch Greg den Kontakt zu mir abgebrochen, doch ich erkannte leider keinen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen. Wie denn auch? Greg hatte keine homosexuellen Neigungen, er war schon immer ein Frauenheld. Außerdem war ich zu dem Zeitpunkt viel zu sehr mit meinen eigenen Gefühlen beschäftigt.“ Er sah Ava so voller Liebe an, dass mein Herz einen Satz machte. „Mittlerweile mache ich mir schwere Vorwürfe“, gab er zerknirscht zu. „Ich hätte den Zusammenhang erkennen müssen!“ Ehe ich etwas darauf erwidern konnte, kam mir Ava zuvor.
„Du bist doch kein Hellseher, Liebling“, sagte sie sanft, „und du bist der letzte, der sich irgendwelche Vorwürfe machen muss. Der Club ist bereits voll!“, lachte sie, „wir brauchen keine neuen Mitglieder, nicht wahr, Gail?“
„So ist es“, stimmte ich in ihr Lachen ein. „Lasst uns endlich den Film sehen, sonst sterbe ich noch vor Neugier!“
Der Film war schlicht und weg genial. Es stimmte alles: Das Drehbuch, die Aufnahmen, die Musik… Es war ein ergreifendes Familiendrama mit spannenden Thriller-Komponenten und einem überraschenden Happy End. Alles andere als kitschig, sondern schlicht, geschmackvoll und nachdenklich stimmend auf eine wunderbar unterhaltsame Art und Weise. Ein Meisterwerk! Doch das Beste an dem Film war Ava. Sie war einfach nur grandios! Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten.
„Hat es dir gefallen, David?“, sah sie mich erwartungsvoll an, lechzend nach meinem Lob, der für sie viel wichtiger als ein Oscar war. Dabei benutzte sie unbewusst meinen richtigen Namen.
„Oh, Avie“, hauchte ich kaum hörbar und schnäuzte mich laut.
„Ich denke, das war ein klares ja!“, lachte Stanley. „Gail, ich hoffe, es ist dir klar, dass Ava es zum größten Teil dir verdankt. Hättest du sie nicht immer wieder dazu ermutigt, weiter zu machen, hätte sie womöglich aufgegeben. Und, wenn du sie an dem besagten Abend nicht dazu gezwungen hättest, auszugehen, hätte ich sie nie kennen gelernt.“ Plötzlich verstummte er, als ihm klar wurde, dass ich an dem gleichen Abend Greg kennen lernte. Gleichzeitig wurde mir klar, dass wir uns im Kreis drehten. In einem Kreis aus Schuldgefühlen und Schmerz. Nun war es an der Zeit, dies zu beenden.
„Seid ihr auch so müde wie ich?“, fragte ich und gähnte breit, um meine Müdigkeit zu demonstrieren. Da das Gähnen bekanntlich ansteckend war, machten Ava und Stanley es mir sofort nach.
„Ich schlafe heute auf der Couch“, sagte Stanley, „du kannst bei Ava schlafen, Gail.“
„Das musst du doch nicht, Stanley!“, wehrte ich mich schwach, obwohl ich mich ungemein erleichtert fühlte, nicht allein schlafen zu müssen.
„Doch, doch“, sagte Ava mit Nachdruck. „Er wird es schon überleben, es ist doch nur für eine Nacht. Ich brauche dich heute in meiner Nähe, Dav… Gail! Wir waren viel zu lange voneinander getrennt.“ Ich murmelte noch höfliche Einwände, während ich Ava bereitwillig in ihr Schlafzimmer folgte. Aus einer Nacht wurden mehrere. Wir schliefen eng umschlungen, genauso wie in unserer Kindheit, und unsere Alpträume blieben fort. Doch es war keine optimale Lösung, vor allem nicht für Stanley. Derweil richteten wir gemeinsam meine neue Wohnung im linken Flügel ein. Und gingen zum Psychologen, den Stanley für uns ausgesucht hatte. Genau genommen war es eine Psychologin, eine Frau. Dafür war ich Stanley unendlich dankbar. Er ahnte instinktiv, dass ich keinem männlichen Arzt mehr vertrauen konnte, nach Greg… Auch Ava schien es immer besser zu gehen. Wir verarbeiteten gemeinsam unsere schwere Kindheit und die dramatischen Ereignisse, die darauf folgten und machten gute Fortschritte. An dem Tag, an dem ich endlich zum ersten Mal in meiner neuen Wohnung allein übernachten sollte, klingelte es an der Tür. Ava und ich zuckten erschrocken zusammen. Ein Überbleibsel der Vergangenheit. Stanley lächelte uns beruhigend an.
„Hast du etwas bestellt, Süße?“, fragte er seine Frau. Ava schüttelte verneinend den Kopf. „Hast du etwas bestellt, Gail?“, wandte er sich schmunzelnd an mich.
„Natürlich nicht!“, erwiderte ich empört. Ich hatte Stanleys Gastfreundlichkeit schon genug strapaziert und wunderte mich darüber, dass er immer noch keine Einwände erhob. Doch er tat es nicht, dafür liebte er seine Frau viel zu sehr. Daraufhin ging er zur Tür und sah durch die Überwachungskamera hinaus.
„Es ist eine Frau“, sagte er schließlich, „wahrscheinlich eine von den Zeugen Jehovas. Die scheinen ja mit allen Mitteln zu spielen!“, wunderte er sich.
„Was meinst du damit, Stanley?“, fragte Ava ängstlich.
„Komm her und sieh es dir selbst an!“, verlangte ihr Mann.
„Wow, eine Sexbombe!“, staunte Ava und winkte mich zu der Kamera. „Sieh sie dir an, Gail!“ Als ich die Frau sah, erkannte ich sie sofort. Ja, sie war wahrhaftig eine Sexbombe. Und sie wollte mit uns definitiv nicht über die Bibel sprechen. Es war Alice.