9. Die Suche nach der Wahrheit Nr. 2
„Ryan, Ryan, wach auf!“
Er stöhnte und drehte mir den Rücken zu, ich schüttelte ihn unsanft so lange, bis er endlich unwillig seine Augen aufmachte. „Was ist denn, Holly?“, murmelte er im Halbschlaf, „kann es nicht bis morgen warten? Ich bin todmüde, Schatz, lass mich doch bitte noch ein paar Stunden schlafen.“ Doch ich gab nicht nach und schüttelte ihn weiter, bis er sich schließlich im Bett aufrichtete. Er sah mich missmutig an und knurrte: „Holly, ich hoffe, du hast eine gute Erklärung dafür! Denn, wenn nicht, haben wir somit unseren ersten offiziellen Ehestreit.“
„Ich weiß, wer ich bin!“, rief ich aufgeregt, und er wurde augenblicklich wach.
„Was sagst du da, Holly?“
„Ich heiße Gail, Gail Grantham! Ich war mit Greg Grantham verheiratet. Ich war seine Ehefrau, Ryan! Ich habe ihn über alles geliebt, ich habe ihn nicht getötet, das weiß ich jetzt! Es muss dieser andere Mann gewesen sein, der sich mit uns auf der Jacht befand. Wir müssen schnellstmöglich herausfinden, wer er war!“
„Verdammt noch mal, Holly…“
„Gail!“, schrie ich ihn wütend an, und er rieb sich die Schlafreste aus den Augen.
„Holly, Gail, wie auch immer“, murmelte er genervt, „mach mir einen starken Kaffee, ohne Milch und Zucker, und schwing deinen Knackarsch wieder hierher. Danach reden wir weiter. Beeil dich!“ Ich tat wie mir geheißen und hörte, wie er hinter meinem Rücken fluchte und sich fragte, auf was er sich da eingelassen hatte. Doch ich ließ mich nicht davon beeindrucken. Jetzt, wo ich endlich wusste, wer ich war, fühlte ich mich zum ersten Mal seit dem Tag meines Erwachens wie ein vollständiger Mensch. Nach der ersten Tasse Kaffee war auch Ryan wieder der alte.
„An wie viel kannst du dich erinnern?“, fragte er gespannt.
„Nicht an alles“, gab ich zu, „es sind nur Bruchstücke, aber ich weiß, wer ich bin, wo ich die letzten Jahre meines Lebens verbrachte, und ich kenne meine Vorgeschichte.“
„Das nennst du nicht viel?“, lächelte Ryan erfreut, „ich nenne es sensationell! Dann lass mal hören, Ho… Gail. Verdammt, ich habe mich so an Holly gewöhnt!“ Ich goss ihm Kaffee nach, während ich nur bei meinem geliebten Wasser blieb. Ich war so aufgeregt, dass ich befürchtete, dass selbst eine kleine Menge Koffein mein Herz zum Explodieren bringen würde.
„Ich heiße Gail, Gail Grantham, mein Mädchenname war Gail Schneider. Mein Vater war ein Deutscher, er hat uns verlassen, als ich noch ganz klein war. Ich bin in einer Kleinstadt namens Bedford aufgewachsen, die sich circa fünfzig Kilometer nördlich von London befindet. Meine Mutter hat mich allein großgezogen, sie musste hart arbeiten und hatte kein schönes Leben. Ich tat zwar, was ich konnte, um es ihr zu erleichtern, doch es war nie genug. Sie war immer traurig. Verbittert. Ich kann mich kaum daran erinnern, dass sie je lächelte. Greg war der erste Mensch, der mir gezeigt hatte, was Liebe bedeutet.“ Ich hielt inne, als ich merkte, wie Ryan schmerzlich zusammenzuckte. „Verzeih mir, Ryan“, senkte ich die Augen, beschämt über meine Taktlosigkeit. „Ist es dir unangenehm, wenn ich von ihm erzähle?“ Er nahm einen tiefen Schluck Kaffee und räusperte sich.
„Ja, das ist es“, gab er schließlich zu. „Aber ich komme schon damit klar, Ho… Gail. Genau wie mit deinem neuen Namen. Erzähl weiter!“, forderte er mich auf.
„Ich habe sehr früh geheiratet, ich war noch nicht mal achtzehn. Es war eine Blitzhochzeit, so was nennt man wohl die Liebe auf den ersten Blick.“ Ich merkte, wie ein Hauch Zweifel kaum merklich über Ryans Gesicht huschte, und es machte mich aus irgendeinem Grund wütend. „Was ist los, Ryan, glaubst du etwa nicht an die Liebe auf den ersten Blick?“
„Wenn ich nicht daran glauben würde, wären wir beide nicht hier“, erwiderte er nüchtern. „Erzähl weiter.“
„Ich war eine gute Schülerin, eine gute Tochter. In jeglicher Hinsicht ein braves Kind. Nach der Schule erledigte ich den Haushalt und machte die Hausaufgaben. Träumte davon, eines Tages aufs College zu gehen, doch meine Mutter konnte es nicht finanzieren, und für ein Stipendium haben meine Noten leider nicht gereicht. Ansonsten hatte ich nicht viele Träume, ich lebte einfach nur so vor mich hin, Tag ein, Tag aus. Hatte nicht einmal einen Freund. Greg war mein erster.“
„Natürlich war er dein erster“, murmelte Ryan mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck.
„Wie war das, Ryan?“, fragte ich überrascht nach, und er entschuldigte sich hastig.
„Verzeih mir, Liebling, ich…“ Er stand auf, stellte die leere Kaffeetasse in die Spüle, holte ein Glas aus dem Küchenschrank und goss sich Scotch ein. Leerte das Glas in einem Zug und goss sofort nach. „Auch ein Glas?“ Ich nickte. Er holte Eiswürfel aus dem Gefrierfach und goss mir zusätzlich noch etwas Soda ein. Ich nahm einen großzügigen Schluck und spürte, wie sich eine angenehme Wärme in meinem Inneren ausbreitete.
„Das war eine gute Idee“, lobte ich ihn.
„Ich bin berühmt für meine guten Ideen“, sagte er mit wenig Begeisterung. „Ich bin eifersüchtig, das gebe ich zu. Es tut weh, zu hören, dass du einen anderen Mann vor mir geliebt hast, obwohl es nichts Außergewöhnliches ist, vor allem bei einer Frau, die so schön ist wie du. Trotzdem tut es weh. Aber darauf können wir im Moment wirklich keine Rücksicht nehmen, deswegen werde ich mich jetzt besaufen!“, kündigte er an und prostete mir zu. „Und wenn ich wieder eine dumme Bemerkung mache, dann schieb sie einfach auf den Alkohol.“
„Ich verstehe dich, Ryan“, sagte ich voller Bedauern. „Denk nur daran, wie ich ausgeflippt bin, als du mir von dieser Alice erzählt hast. Dabei warst du nicht mit ihr verheiratet.“
„Nein, das war ich nicht“, lachte er sarkastisch auf und goss uns beiden Scotch nach. „Stört es dich, wenn ich rauche?“, fragte er.
„Du rauchst?“, wunderte ich mich.
„Nur selten, aber jetzt ist mir danach. Ist es okay?“
„Klar. Tu dir keinen Zwang an.“ Er holte aus der Küchenschublade eine Schachtel Zigaretten heraus, kippte das Fenster und zündete sich die erste Zigarette an. Ich kräuselte kurz die Nase, doch bald gewöhnte ich mich an den Rauch, und schon bald war die Packung leer. „Nach meinem Schulabschluss arbeitete ich als Bardame“, setzte ich meinen Bericht fort. „Es war wahrhaftig kein Traumjob, aber meine Mutter und ich kamen gut über die Runden. Ich glaube, es war ihr ganz recht, dass ich nicht aufs College ging. Ich glaube sogar, dass sie insgeheim hoffte, dass ich für immer bei ihr bleiben würde. Deswegen hat sie sich auch so sehr gegen meine Heirat mit Greg gesträubt. Sie ließ nichts unversucht, um sie mir auszureden. Er sei doch so alt, dass er mein Vater sein könne, keifte sie gehässig. Er würde mich nur ausnutzen und mich eines Tages wie ein benutztes Taschentuch wegwerfen. Genauso wie mein Vater es mit ihr getan hatte. Alle Männer seien gleich. Doch zum ersten Mal ließ ich mir nichts von ihr sagen, sondern tat, was ich wollte. Meine einzige Freundin Ava war dabei, als ich Greg kennen lernte. Ava und ich sind zusammen aufgewachsen, sie war auch ein Einzelkind und hatte auch keinen Vater. Wir waren wie Schwestern, bis dieser schicksalhafte Abend kam. Ava hat schon immer davon geträumt, Schauspielerin zu werden, und ausgerechnet an dem Abend, an dem ich Greg begegnete, lernte auch sie den Mann kennen, der ihr ganzes Leben von einem Tag auf den anderen veränderte. Er war ein berühmter Filmproduzent.“
„Wie hieß er?“, fragte Ryan neugierig.
„Daran kann ich mich leider nicht erinnern“, sagte ich beschämt. „Ich weiß nur noch, dass ich völlig ausflippte, als sie mir seinen Namen genannt hatte. Er nahm sie mit und machte einen Star aus ihr, ihre Träume gingen endlich in Erfüllung. Ich glaube, er hatte sie sogar geheiratet, aber sicher bin ich mir nicht, denn, nachdem wir aus Bedford weggezogen waren, hatten sich unsere Wege getrennt. Ein paar Male versuchte ich, Kontakt zu ihr aufzunehmen, ohne Erfolg. Greg meinte, jetzt, wo sie ein Star sei, wolle sie mit ihrem alten Leben nichts mehr zu tun haben, und ich sei ja ein Teil davon. Eine Weile machte es mich traurig, doch bald verschwendete ich keinen Gedanken mehr daran. Obwohl ich keine Freundinnen hatte, war mein Leben vollkommen, dafür hatte Greg gesorgt. Er behandelte mich wie eine Prinzessin, fünf Jahre lang waren wir glücklich verheiratet, und jetzt ist er tot. Ermordet. Oh, Ryan, wer ist nur zu so einer grässlichen Tat fähig?“, weinte ich, und er wiegte mich tröstend in seiner Umarmung. Ich roch seinen Scotchatem und den Zigarettenrauch und empfand es aus irgendeinem Grund als beruhigend. „Greg war so ein guter Mensch, ein Engel auf Erden, er hätte keiner Fliege was zuleide tun können! Wieso musste er auf so eine grausame Art sterben? Wieso nur, Ryan?“
„Ich weiß es nicht, meine Liebste“, sagte er leise, „aber wir werden es herausfinden, das verspreche ich dir! Lass uns jetzt schlafen gehen, ich bin besoffen und müde und muss eine Menge neuer Informationen verdauen. Morgen überlege ich mir einen neuen Plan. Es wird alles gut“, flüsterte er mir ins Ohr, bevor er neben mir einschlief. Ich lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen, genoss die Wärme seines Körpers und schlief ebenfalls ein.
Als ich wieder aufwachte, war Ryan fort, und ich fühlte schon wieder die eisige Faust der Angst mein rasendes Herz umklammern wie die Hand eines unwissenden Kindes die flatternden Flügel eines sterbenden Schmetterlings. Als ich den kleinen Zettel sah, den Ryan fürsorglich auf meinem Nachttisch hinterlassen hatte, beruhigte ich mich wieder.
„Liebling,
ich muss dringend weg. Mills. Er darf keinen weiteren Verdacht schöpfen. Mach dir einen schönen Tag, entspann dich! Wir sehen uns heute Abend. Es wird alles wieder gut! Ich liebe dich,
Ryan“
Auf eine angenehm vertraute Weise fühlte ich mich plötzlich in meinen alten Alltag versetzt. Ich hatte einen wundervollen Mann, der mich liebte und für mich sorgte und sehr, sehr viel Zeit, die ich dafür verwenden konnte, als Gegenleistung für ihn zu sorgen. Mich für ihn hübsch zu machen, sein Haus für ihn sauber zu halten und ihn mit meinen kulinarischen Künsten zu verwöhnen. Und danach mit meinen Liebeskünsten. Nur, dass dieser Mann nicht mehr Greg, sondern Ryan war. Greg war tot, und sosehr ich auch um ihn trauerte, war die Liebe, die ich nun für Ryan empfand, einfach nur überwältigend. Ich schloss die Augen, drehte mich auf den Rücken, streckte mich und überlegte mir, was ich Ryan heute kochen und was ich für ihn anziehen würde. Genau wie damals bei Greg. Die Erinnerung war noch so frisch, zwar unvollständig, dennoch so real! Ich erinnerte mich an unseren ersten Hochzeitstag, an meinen letzten Geburtstag und an den Tag, an dem Greg mir eröffnete, dass er endlich seine Karriere aufgab, um nur für mich da zu sein, um den Rest seines Lebens mit mir gemeinsam zu genießen. Ich erinnere mich an die Freude, die ich in diesem Augenblick empfand und an die Angst, die mir diese Freude verdarb, als er von dem „Rest seines Lebens“ sprach. An die Panik, die mich ergriff, als ich daran dachte, eines Tages ohne ihn weiterleben zu müssen, als mir schmerzlich bewusst wurde, dass dieser Fall tatsächlich eintreten würde, da er doch so viel länger als ich auf der Welt war. Hätte ich damals gewusst, dass es viel schneller passieren würde, als ich es mir in meinen schlimmsten Alptraumfantasien je ausgemalt hatte, hätte ich es nur geahnt… Dann hätte ich diesen Ausflug ans Meer um jeden Preis verhindert. Ich hätte Greg im Schlaf an unser Bett festgebunden, wenn es nötig gewesen wäre, und der Mörder, der sein und beinahe auch mein Leben auslöschte und mir das Gedächtnis raubte, hätte womöglich nie unseren Weg gekreuzt. Wer war diese Bestie? Immerhin hatte er für seine Verbrechen mit dem eigenen Leben bezahlt, doch es änderte nichts an der Tatsache, wie viel er zerstört hatte. „Oh, Greg, Greg, wie konnte es nur geschehen?“, schluchzte ich laut und ließ meinem unerträglichen Schmerz endlich freien Lauf, als mir zum ersten Mal seit dem Tag, an dem ich erwachte, bewusst wurde, was ich verlor. „Greg, wer war dieses Monster?“, fragte ich meinen toten Ehemann und erhielt die Antwort von dem neuen Mann an meiner Seite, als er am Abend wieder nach Hause kam. Derweil war mein Gesicht wieder abgeschwollen, nachdem ich es mit den Eiswürfeln aus Ryans Eisfach gekühlt und eine entspannende Gesichtsmaske aufgelegt hatte. Trotzdem hatte er sofort gemerkt, dass ich geweint hatte.
„Mein armer Schatz“, nahm er mich in die Arme und küsste mich zärtlich. „Du hattest wohl einen harten Tag?“, fragte er voller Mitgefühl.
„Du aber auch“, stellte ich besorgt fest, während ich versuchte, die tiefe Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen fest abzeichnete, mit meinen Fingern wieder glatt zu bügeln. Doch sie blieb stur an Ort und Stelle sitzen und verunstaltete Ryans schöne, glatte Stirn. Erst, als ich meine Hände in Ryans weiche Haarmähne vergrub, seine Kopfhaut darunter sanft massierte und gleichzeitig seinen Mund mit meiner flinken Zunge spielerisch reizte, glättete sie sich langsam. Seine Mundwinkel bogen sich kaum merklich nach oben, und als ich meinen Körper fest an seinen drückte, spürte ich eine Wölbung unterhalb seiner Hüfte und atmete erleichtert auf. Er war mir mach wie vor treu ergeben.
„Entspann dich, Liebling!“, forderte ich ihn auf, während ich ihm sein Aperitif eingoss, ihm seine Zigarette anzündete, sie ihm fürsorglich in den Mund steckte und ihm derweil sein Abendessen servierte. Wir speisten gemeinsam und schwiegen dabei die meiste Zeit. Die einzigen Bemerkungen, die wir miteinander austauschten, galten dem vorzüglichen Essen. Hin und wieder schoben wir uns das Salz und den Pfeffer zu und gossen uns gegenseitig Wein ein. Erst, als wir mit dem Essen fertig waren, fand Ryan seine Sprache wieder.
„Das Essen war fantastisch, Holly, du hast dich schon wieder selbst übertroffen!“, lobte er mich überschwänglich.
„Es freut mich, dass es dir geschmeckt hat, Liebling“, erwiderte ich glücklich, „aber ich heiße Gail. Gail, nicht Holly!“
„Es tut mir leid, Gail“, sagte Ryan schuldbewusst. „Ich muss mich an deinen richtigen Namen erst gewöhnen. Es kann eine Zeit dauern, sei mir bitte nicht böse, wenn mir hin und wieder „Holly“ ausrutscht.“
„Als ob ich dir je böse sein könnte!“, antwortete ich zärtlich und bemühte mich, die ganze Liebe und Dankbarkeit, die ich für ihn hegte, in meine Stimme zu legen. Es schien mir gelungen zu sein, denn sein Blick sprach Bände.
„Wie auch immer du heißen magst, meine Liebste, hoffe ich, dass dieser Alptraum, den wir beide gerade durchmachen, bald vorbei sein wird! Denn es gibt Neuigkeiten.“
Ich hing ihm förmlich an den Lippen und traute mich nicht, ihn zu unterbrechen, während er weiter sprach: „Mills, dieser Bastard, lässt nicht locker. Er versucht, mich zu erpressen, er ahnt, dass ich weiß, wo du dich befindest. Dass ich mit deinem Verschwinden etwas zu tun habe.“
„Ich habe Angst, Ryan!“, sagte ich mit einer hellen, zittrigen Stimme, die eher an ein kleines Kind als an eine erwachsene Frau erinnerte. Sofort schämte ich mich für meine Feigheit.
„Das brauchst du nicht“, erwiderte er ruhig, „ich hab ihn im Griff.“ Ein herrlich böses Lächeln zauberte sich auf seine Lippen. „Und ich habe mir etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um ihn von uns abzulenken, Holly“, fügte er voller Schadenfreude zu und kicherte so gehässig, dass ich großzügig davon absah, ihn erneut zu korrigieren, denn meine Neugierde war geweckt.
„Was?“, hauchte ich kaum hörbar, und sein teuflisches Grinsen wurde breiter.
„Nun, sag schon, spann mich nicht auf die Folter!“, flehte ich, doch er blieb mir die Antwort schuldig und grinste weiter.
„Ryan, sag es mir!“, stampfte ich wütend mit dem Fuß. Er brach in einem amüsierten Lachen aus, zog mich an dem Arm zu sich herunter und setzte mich auf seinen Schoß. Knabberte leicht an meinem Ohrläppchen und liebkoste es mit seiner Zungenspitze.
„Lenk nicht ab, du Mistkerl!“, schimpfte ich aufgebracht, befreite mich aus seiner Umarmung und starrte ihn schweigend an.
„Ist ja gut, Ho… Gail! Ich sag’ s dir gleich.“
„Hoffentlich noch in diesem Jahrhundert“, fauchte ich ihn zickig an, drehte ihm den Rücken zu und machte mich daran, den Tisch abzuräumen. Er zog mich wieder gewaltsam zu sich herunter und schloss seine Arme fest um meine Taille.
„Ich habe Alice auf ihn angesetzt!“, sagte er stolz.
„Du hast was?“, fragte ich ungläubig.
„Meine gute Freundin Alice, die mir mehr als nur einen Gefallen schuldet. Heute Abend geht es los. Ich weiß, dass der gute alte Mills sich fast jeden Abend in der gleichen Kneipe die Kante gibt, dieser erbärmliche Hurensohn. Bis er so besoffen ist, dass er sich von einem Taxi nach Hause fahren lassen muss. Einer seiner Saufkumpane ist ebenfalls ein guter Freund von mir, also, bin ich doppelt abgesichert.“ Er lachte so laut, dass ich mir die Ohren zuhielt, bevor ich mich von ihm anstecken ließ und in sein Lachen einstimmte, bis uns beiden die Lachtränen aus den Augen rannen. „Wie auch immer, Schatz, wird er heute Abend sein blaues Wunder erleben. Denn eine wirklich gut aussehende, aufregende Frau von der Art, wie er bis jetzt nur aus seinen Pornoheftchen kennt, wird sich an ihn heranmachen.“
„Aber, Ryan, wird er es denn nicht hinterfragen?“, wandte ich unsicher ein, „wird er keinen Verdacht schöpfen?“
„Vergiss es, Holly!“, benutzte er schon wieder meinen erfundenen Namen, ohne es zu merken. „Zu dem Zeitpunkt, in dem Alice zuschlägt, wird er völlig besoffen sein. Außerdem ist Mills so von sich selbst überzeugt, dass er es als eine Selbstverständlichkeit empfinden wird, dass eine Traumfrau wie Alice sich für ihn interessiert. Er wird sich womöglich sogar fragen, wieso es so lange gedauert hat, bis eine Frau, die endlich mal seiner Kragenweite entspricht, auf ihn aufmerksam wurde. Es wird eine sehr romantische Liebesgeschichte werden, denn Alice wird ihr Bestes geben, um Mills von ihrer unsterblichen Liebe für ihn zu überzeugen. Sie wird ihn förmlich um den Verstand ficken, entschuldige bitte diesen ordinären Ausdruck, Liebling. Glaub mir, sie kann es so gut, dass wir ihn erstmal für eine unbestimmte Zeit vom Hals haben.“
„Da spricht wohl einer aus eigener Erfahrung“, murmelte ich missmutig, doch mein Missmut war genauso gespielt wie Alice’ s Verliebtheit. Insgeheim bewunderte ich Ryan dafür, wie raffiniert er seine Feinde auszuschalten pflegte.
„Es gibt auch andere Neuigkeiten“, sagte er ernst. „Der zweite Mann, der mit an Bord war, wurde identifiziert.“
„Ist es dein Ernst?“, schrie ich so laut, dass mein Trommelfell dabei zu explodieren drohte. „Wer war dieses Monster?“
„Ein junger Student namens Robert Harrington. Kein Monster im herkömmlichen Sinne, sondern nur ein angehender Gerichtspsychologe, der kurz vor dem Abschluss seines Studiums stand. Dreimal darfst du raten, wer ihn durch die Prüfungen durchfallen ließ.“
„Mein Mann… Oh mein Gott, Ryan, ist es wahr?“
„Und somit haben wir ein offizielles Motiv.“
„Das heißt…“
„Dass du nicht mehr die Hauptverdächtige bist!“, beendete Ryan meinen Satz. „Mills hat einen ziemlichen Anschiss von seinem Vorgesetzten bekommen, weil er dich, eine arme, verwirrte Frau ohne Gedächtnis, so bedrängt hat, dass du in deiner Verzweiflung fliehen musstest. Er ist stinksauer und mehr denn je erpicht darauf, deine Schuld zu beweisen. Und wenn er stinksauer ist, führt ihn sein Weg schnurstracks in die besagte Kneipe, wo heute eine süße Überraschung auf ihn wartet.“ Er kicherte wieder und seine Augen blitzten böse auf. „Aber es gibt noch etwas, was ich dir sagen muss, Gail.“ Plötzlich wurde er ernst, und mein Magen verkrampfte sich vor unguter Vorahnung. „Setz dich lieber hin.“ Ich schnappte nach der Wasserflasche und nahm einen tiefen Schluck daraus. Danach setzte ich mich und sah Ryan an, unsicher, ob ich hören wollte, was er mir zu sagen hatte, denn seinem Gesichtsausdruck zu entnehmen, war es nichts Gutes. „Greg Grantham war nicht verheiratet.“
„Das kann nicht sein!“, erwiderte ich barsch, „es muss sich um einen Irrtum handeln!“
„Leider nicht, Gail, ich habe es überprüfen lassen. Er war noch nie verheiratet.“
„Natürlich war es das, und zwar mit mir!“, widersprach ich ihm energisch. „Wenn du mir nicht glaubst, dann fahr in den Ort, in dem wir zusammen gelebt haben, er befindet sich nicht weit von dem Hafen entfernt. Es ist ein kleiner, beschaulicher Ort, und fast jeder Ladenbesitzer dort kennt mich persönlich, ich ging doch jeden Tag Lebensmittel einkaufen! Manchmal fuhr ich auch in die Stadt, auch dort müssen mich einige kennen. Ich hatte zwar keine Freundinnen, dafür war ich viel zu sehr auf Greg fixiert… Entschuldige bitte, Ryan, ich weiß, du hörst so was nicht gern, aber es ist nun mal die Wahrheit. Aber es gibt trotzdem viele, die mich kennen, fahr hin und frag nach, dann wirst du schon sehen, dass du dich täuschst!“
„Genau das habe ich morgen vor, Gail“, sagte er. „Versteh mich bitte nicht falsch, es ist nicht so, dass ich dir nicht glauben würde… Aber irgendetwas an dieser Geschichte stimmt von vorne bis hinten nicht. Ich habe während der ganzen Fahrt hierher darüber nachgedacht. Greg Grantham war ein Mann, der stets akribisch darauf bedacht war, sein Privatleben aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Also, könnte es sein, dass ihr euch nur kirchlich trauen lassen habt, ohne es den Behörden zu melden, das wäre eine Erklärung dafür, dass keine offizielle Eheurkunde existiert. Weißt du noch, in welcher Kirche ihr geheiratet habt, Gail?“
Ich zuckte hilflos mit den Schultern: „Es war eine kleine Kirche in Bedford, ich kann mich leider nicht genau daran erinnern. Komisch… Ich erinnere mich an unseren ersten Hochzeitstag so gut, als wäre er erst gestern gewesen, aber nicht an unsere Hochzeit.“
„Wenn es bloß das Einzige wäre, was komisch ist“, seufzte Ryan und rieb sich die Stirn. „Dein Gedächtnis hat eine ganze Weile geschlafen und ist gerade dabei, langsam aufzuwachen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es einige wichtige Erlebnisse ausblendet, so wie deine Hochzeit zum Beispiel. Dennoch gibt es etwas, was ein absolutes Rätsel für mich darstellt. Greg Grantham hatte keine lebenden Verwandten mehr, ist es richtig?“
„Ja, er hatte nur mich“, bestätigte ich.
„Bist du dir sicher, Gail? Denk nach, streng dich bitte an! Hatte er Kinder?“
Plötzlich wurde mir schwindelig, und ich hielt mich an der Tischkante fest, um nicht von meinem Stuhl herunterzufallen. Ryan eilte sofort zu mir und goss mir ein Glas Wasser ein.
„Ich weiß, es ist hart für dich, mein Liebling, doch da müssen wir jetzt beide durch. Trink einen Schluck und atme tief ein und aus, so ist es gut. Geht es wieder?“ Ich nickte und spürte heiße Tränen in meinen Augen aufsteigen.
„Er wollte nie Kinder mit mir haben, Ryan!“, klagte ich schluchzend. „Ich weiß nicht, warum. Er wich immer wieder diesem Thema aus und lenkte mich mit teuren Geschenken ab. Es war das einzige Streitthema zwischen uns. Er wollte es einfach nicht. Dabei wünschte ich mir so sehr ein Baby!“
Ryan massierte meinen Nacken, und ich spürte, wie ich mich langsam wieder entspannte. „Wir werden bald eins haben“, versprach er mir und küsste mich innig auf den Mund. Ich erwiderte seinen Kuss, öffnete die Augen, sah ihn verliebt an und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Aber jetzt konzentriere dich bitte, Schatz“, bat er mich eindringlich, „hatte er Kinder? Hatte er einen unehelichen Sohn?“
Ich sprang plötzlich auf und raufte mir die Haare. „Ja!“, schrie ich wütend, „den hatte er! Er hat nie von ihm gesprochen, es rutschte ihm eines Tages ganz zufällig aus, und, sobald es ihm ausrutschte, bereute er es sofort! Denn danach hatte ich tagelang nicht mit ihm gesprochen. Ich war durch nichts zu besänftigen, und Greg war am Rande der Verzweiflung. Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen und verzieh ihm. Wie immer!“, lachte ich bitter. „Er erzählte mir, dass er nie Kinder haben wollte. Was für eine Überraschung!“, schnaubte ich und fuhr fort: „Er hatte vor vielen Jahren eine Affäre mit einer verheirateten Frau, es war eine rein sexuelle Geschichte, die ihm nichts bedeutet hatte. Behauptete er zumindest, und ich glaubte ihm. Weil ich ihm glauben wollte, weil ich einfach nicht anders konnte, als ihm zu glauben. Als diese Frau Monate später Kontakt zu ihm aufnahm, um ihm zu eröffnen, dass er einen Sohn hatte, ging er davon aus, dass sie ihn reinlegen wollte, um ihn an sich zu binden. Denn im Gegensatz zu ihm hatte sie sich in ihn verliebt und wollte sogar ihre Ehe für ihn aufgeben. Er ließ sie kalt abblitzen und vergaß den Vorfall schnell. Greg hatte viele Frauen, und viele davon hatten versucht, ihn festzunageln, damit kannte er sich gut aus. Doch einige Jahre später schickte ihm die besagte Frau die Bilder des Kindes, und er musste schockiert feststellen, dass der Junge ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Es nahm ihn ganz schön mit. Trotzdem hatte er nach wie vor keine Lust darauf, sich festzubinden. So tröstete er sich mit dem Gedanken, dass die Mutter seines Kindes schließlich verheiratet und ihr Ehemann sicherlich davon ausging, dass das Kind von ihm war. Also, war für die beiden bestens gesorgt, und er blieb außen vor. Gott sei Dank, war es noch mal gut gegangen. Danach schwor er sich, dass ihm nie wieder so etwas passieren würde, er ließ sich sogar sterilisieren. Doch bei Männern ist es so, dass man es jederzeit rückgängig machen kann, aber er wollte nicht“, schniefte ich und erzählte weiter: „Seinen Sohn hatte er nie gesehen, er hatte nie Kontakt zu ihm aufgenommen. Er wusste nicht mal, ob er noch lebte. Das interessierte ihn auch nicht, denn er war ja nicht sein Vater, sondern nur sein biologischer Erzeuger, sagte er. Wieso hast du mich eigentlich danach gefragt, Ryan?“
„Weil es ihn anscheinend doch interessierte“, sagte er leise und fügte hinzu: „Du musst jetzt wirklich stark sein, Gail! Gestern fand seine Testamentseröffnung statt. Alles, was Greg Grantham besaß, hatte er einem Mann namens David Lewis vererbt.“
Ich blieb eine Weile reglos, wie gelähmt. Wie in einen Eis-Kokon eingewickelt. Das konnte nicht sein, nein, es war nur ein weiterer Alptraum. Doch ich war definitiv wach, also erlebte ich es wirklich. „Nein!“, schrie ich laut und stürzte zu Boden. Ryan versuchte, mich festzuhalten, doch ich stieß ihn wütend von mir weg und schlug wild um mich, während ich weiter schrie: „Nein, neeeeein! Wie konntest du es mir antun, Greg? Wie konntest du mich dermaßen hintergehen, mich, die dich so sehr geliebt hat? Ich habe dir vertraut, verdammt, wie konntest du nur?“ Der Schmerz war unerträglich, und, um mich von ihm abzulenken, fing ich an, kleine Haarsträhnen von meinem Kopf abzureißen und meine Arme mit meinen Fingernägeln zu zerkratzen. Ryan sah mich schockiert an, unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Als immer mehr ausgerissene dunkle Haare auf dem Boden landeten, kam er endlich zu sich und holte eine Spritze aus seinem Arztkoffer heraus, die er mir gewaltsam in den Oberarm rammte.
Als ich aufwachte, fühlte sich mein Kopf unangenehm schwer an. Es dauerte eine Weile, bis ich wahrnahm, wo ich war. Und wer ich war. Und dann wurde ich schon wieder mit dem unaussprechlichen Verrat konfrontiert, der gestern Abend einen hysterischen Anfall bei mir ausgelöst hatte. Ich griff nach meinen Haaren und stellte erleichtert fest, dass der Schaden, den ich mir selbst in meinem Wahn hinzugefügt hatte, sich in Grenzen hielt, obwohl meine Kopfhaut immer noch schmerzlich brannte. Ich nahm den angenehmen Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee wahr und schloss wieder die Augen. Drehte mich im geräumigen Bett hin und her und genoss das Gefühl der Sicherheit. Plötzlich kitzelten auch andere Düfte meine Nase, und mein Magen knurrte laut. Ich roch gebratenen Speck mit Eiern und frischen Brötchen. Ryan… Er kümmerte sich nach wie vor um mich. Er stand zu mir, trotz des peinlichen Auftritts, den ich hingelegt hatte. Er liebte mich. Liebte mich. Er liebt dich, armes Ding ohne Namen, du kannst dich wirklich glücklich schätzen! Aber ich habe doch einen Namen, widersprach ich mir, ich heiße Gail. Gail Grantham, geborene Gail Schneider. Die Ehefrau von Greg Grantham, der mich anscheinend jahrelang hinters Licht geführt hatte. Anscheinend war unsere Ehe nur eine Farce! Oh, Greg…
Du hast mir versprochen, für mich zu sorgen, sogar über deinen Tod hinaus.
Es sei dir wichtig gewesen, dass es mir gut ging. Obwohl ich dir stets versichert hatte, dass es mir nie wieder gut gehen würde, wenn du mich verlässt. Doch du sagtest, dass ich der einzige Mensch sei, der dir je etwas bedeutet habe. Und dass es dir bewusst sei, dass ich dich überleben würde, wegen unseres Altersunterschieds. Deswegen würdest du dafür sorgen, dass ich deinen ganzen Besitz erbe. Damit ich weiterhin den Lebensstandard genieße, den ich während der letzten Jahre, die ich an deiner Seite verbrachte, gewohnt war. Doch du hast mich angelogen, Greg! Du hast dein ganzes Hab und Gut nicht mir, sondern deinem unehelichen Sohn hinterlassen, der dir angeblich nichts bedeutet hat. Es geht mir nicht ums Geld, wirklich nicht! Dein Geld war mir von Anfang an egal, das weißt du. Ich habe mich nicht in dein beschissenes Geld, sondern in dich verliebt. Doch du hast mich belogen und hintergangen. Du bist für mich gestorben. Zum zweiten Mal. Schmor in der Hölle, Greg, du dreckiger Betrüger! Ich werde dir keine einzige Träne mehr nachweinen!
„Gail, Liebling, bist du wach?“, hörte ich Ryans Stimme. Seine schöne Stimme, die wie Musik in meinen Ohren klang.
„Ja, Schatz“, rief ich, „lass mir ein paar Minuten Zeit, um mich frisch zu machen!“ Ich wollte für ihn gut aussehen, also, eilte ich ins Bad, um zu duschen, meine Zähne zu putzen und mich zu schminken.
„Beeil dich, Holly, das Frühstück ist fertig!“, hörte ich ihn rufen, während ich meine frisch gewaschenen Haare kämmte. Dabei schmunzelte ich belustigt: Er nannte mich immer noch Holly! Ein Mann, der seinen alten Gewohnheiten nachging, ein Mann, der sich Kinder von der Frau, die er liebte, wünschte… Ein Mann, der seine Karriere für diese Frau riskierte, der alles dafür aufs Spiel setze, um ihre Unschuld zu beweisen. Ja, so war Ryan, mein Liebster! Greg war Vergangenheit, im wahrsten Sinne des Wortes. Ryan war meine Zukunft.
„Guten Morgen, mein Schatz!“, rief ich fröhlich und küsste Ryan auf den Mund. Er schmeckte nach der gleichen Zahnpasta, mit der ich vor wenigen Minuten meine Zähne geputzt hatte. Frisch und rein wie der Neuanfang, den ich mit ihm zu wagen bereit war.
„Heute wird der gute alte Pedro allein verreisen“, verkündete Ryan.
„Wieso kann ich nicht mitkommen?“, fragte ich enttäuscht, „mich wird doch sowieso niemand erkennen, wenn ich mich wieder als Maria verkleide.
„Das halte ich für keine gute Idee“, sagte er, „Maria, du gute Frau, bleiben zu Hause und kochen für deine Mann, amor.“ Als ich beleidigt schmollte, zog er streng die Augenbrauen zusammen: „Maria, du machen Pedro sehr, sehr ärgerlich!“ Nun konnte ich mir ein Lächeln nicht mehr verkneifen, da setzte Ryan noch einen drauf und drohte mir mit dem Zeigefinger, ich prustete laut los.
„Aber du bleibst nicht lange fort?“
„Ich beeile mich, Liebling“, versprach er, „aber es könnte bis heute Abend dauern. Schon weil die Strecke so lang ist. Und morgen werden wir gemeinsam verreisen, das heißt, du bist erstmal mit dem Packen beschäftigt, also wird es dir nicht so schnell langweilig. Die Koffer findest du in der Abstellkammer. Und falls es dir doch langweilig wird…“ Er lächelte hinterlistig. „Dein Mann würde sich heute Abend sehr über einen schönen, warmen Apfelkuchen freuen“, sagte er mit gespielter Schüchternheit, und ich musste schon wieder lachen.
„Soso, Mister Boyle. Wir sind noch nicht einmal verheiratet, und schon stellen Sie Anforderungen.“
„Aber nicht doch, Mrs. Boyle“, hob er abwehrend die Arme und verbeugte sich demütig, hob den Kopf und streckte mir die Zunge raus. Nun lachten wir beide. „Nur kleine Sonderwünsche vor dem eigentlichen Dessert“, sagte er mit einem unmissverständlichen Blick, der meinen Körper langsam von oben bis unten streifte, und mich wie immer erbeben ließ.
„Na gut“, schmunzelte ich, „dann werde ich sehen, was sich machen lässt. Haben wir überhaupt Äpfel?“
„Ja, ich habe gestern extra welche mitgebracht“, gab er zu, „und Mehl, und Zucker, und Zimt. Und Rumrosinen.“
„Der Herr des Hauses hat aber viele Extrawünsche!“
„Alles nur für dich, mein Schatz, damit du dir die Zeit vertreibst, bis ich wieder da bin“, beteuerte er unschuldig. „Was soll ich sagen, Gail, es ist nur deine Schuld, du hast mich bereits viel zu sehr verwöhnt!“
„Und das ist erst der Anfang“, versprach ich und schmiegte mich eng an ihn, streichelte langsam seinen Rücken und horchte dem Klopfen seines Herzens, das sich sofort beschleunigte.
„Wenn du so weiter machst, werde ich nie wegfahren“, ermahnte er mich schwer atmend. Ich ging brav einen Schritt zurück, doch dann griff ich hinterlistig nach seinem Hosenschlitz, öffnete ihn schnell und fasste hinein. Spürte, wie er unter meiner gekonnten Liebkosung immer größer wurde und immer stärker pulsierte.
„Dann bleib!“, forderte ich ihn auf. „Lass uns einfach zusammen sein, hier. Es ist mir egal, wer ich war, Ryan, es ist mir egal, was in jener Nacht auf der Yacht passierte. Meine Vergangenheit, Greg… Alles ist mir egal! Geh nicht, lass es bleiben. Wir sind doch glücklich, oder etwa nicht?“
„Nein, Gail“, sagte er bestimmend und befreite sich aus meinem Griff. „Mir ist es nicht egal. Und weißt du, wieso nicht?“ Ich schüttelte traurig mit dem Kopf. Ich wollte nicht, dass er ging. Dass er an den Ort meiner Vergangenheit reiste. Dass er versteckte Geheimnisse herauskramte, vor denen ich eine dermaßen große Angst hatte, dass sie mir den Atem raubte.
„Du darfst mich dann auch wieder Holly nennen, für immer“, spielte ich meinen letzten Trumpf aus, wobei mir selbst klar war, wie kindisch es klang.
„Ich will dich heiraten, Gail“, betonte er meinen richtigen Namen mit Nachdruck. „Es ist mein Ernst. Ich will mit dir zusammen sein, bis dass der Tod uns scheidet, was hoffentlich nicht so schnell passieren wird. Ich will eine Familie mit dir gründen, ich will Kinder. Eines Tages auch Enkelkinder, verdammt noch mal! Ich will ein ganz normales Leben mit dir führen. Dich hier, in diesem abgeschiedenen Häuschen zu verstecken, kann man nicht als ein normales Leben bezeichnen, es wäre falsch und deiner nicht würdig. Ich mache keine halben Sachen, Gail. Wir werden rechtmäßig heiraten, mit allem drum und dran, ich werde ein Fest für dich organisieren, das du nicht so schnell wieder vergießt, nicht einmal im Fall einer Amnesie“, lächelte er schief. „Du bekommst alles, was dir zusteht, ein schönes weißes Kleid mit einem Schleier, so lang, dass es bis zum Eingang der Kirche reichen wird, wenn ich dich zum Altar führe. Eine Feier mit vielen Gästen, mit einem riesigen Büffet, Erwähnungen in den Zeitungen, Hochzeitsgeschenken und vielen weißen Tauben, die hoffentlich allesamt auf den Kopf von unserem Ehrengast Mills fleißig kacken werden. Und eine rechtmäßige Heiratsurkunde. Du sollst ein erfülltes Leben führen, Freundschaften schließen, einen Fuß in der Gesellschaft fassen, dich weiterentwickeln. Du bist eine überdurchschnittlich intelligente junge Frau, Gail, vielleicht möchtest du eines Tages sogar studieren. Es sollen dir alle Türen offen stehen. Und deswegen ist es auch so wichtig, dass wir deine Vergangenheit aufklären und deine Unschuld ein für alle Mal beweisen. Wir brauchen deine vollständigen Papiere, deine Geburtsurkunde, damit wir heiraten können. Deswegen fahre ich jetzt los.“
Ich beobachtete schweigend, wie er sich Schritt für Schritt in Pedro verwandelte und versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Ich konnte mich, weiß Gott, nicht an vieles erinnern, doch irgendetwas machte mich sicher, dass Greg mich nie als eine überdurchschnittlich intelligente Frau bezeichnet hatte. Sein liebes Mädchen nannte er mich, sein süßes, kleines Frauchen. Die beste Köchin der Welt, seine Prinzessin… Hatte er mich jemals dazu ermutigt, mich weiter zu entwickeln, zu studieren, Freundschaften zu schließen? Er hatte es mir zwar nicht ausdrücklich verboten, doch ich wusste instinktiv, dass er es nicht gutgeheißen hätte. Nein, er wollte mich für sich allein haben, genau wie einst meine Mutter. Ich hatte die männliche Version meiner Mutter geheiratet, besitzergreifend, rechthaberisch und egoistisch. Über alle Maßen manipulativ. Und betrügerisch! Nun waren alle beide tot. Aber ich war so lebendig wie noch nie zuvor. Und ich wollte leben, endlich richtig leben!
„Ich danke dir für alles, was du für mich tust, Ryan“, sagte ich leise und ernst, bevor Ryan alias Pedro die Tür hinter sich schloss. Ich wollte schon meinen Tränen freien Lauf lassen, als er die Tür wieder aufmachte, seine künstliche lange Nase hineinsteckte und sagte: „Ich mag meinen Apfelkuchen sehr süß und schön fluffig, mit extra vielen Rumrosinen. Und meine Frau mag ich sehr fröhlich mit einer extragroßen Portion Optimismus. Nicht heulen, Schatz!“, ermahnte er mich. Ich schluckte brav meine Tränen herunter und machte mich daran, unsere Koffer zu packen. Dabei wurde mir erst bewusst, dass ich Ryan gar nicht danach gefragt hatte, wohin wir fahren und wie lange wir dort bleiben würden. Aber da ich nun mal eine „überdurchschnittlich intelligente Frau“ war (ich ließ mir diese Bezeichnung noch mal genüsslich auf der Zunge zergehen), lag es auf der Hand: Wir fuhren natürlich nach Bedford, wohin denn sonst? Und blieben dort nicht länger als ein paar Tage. Obwohl Mills durch die liebliche Alice mittlerweile abgelehnt sein durfte, würde er trotzdem Verdacht schöpfen, wenn Ryan für eine längere Zeit verschwinden würde. Also, packte ich für uns beide nur das Nötigste und machte mich daran, die Zutaten für unser Abendessen klein zu schnippeln. Zarte Fleischstückchen und Gemüse. Zwiebeln, Tomaten, Karotten, Kartoffeln, Auberginen und Zucchini. Alles in feine Würfel geschnitten. Kurz, bevor Ryan nach Hause kommt, würde ich das Ganze mit einer köstlichen Sauce und drei unterschiedlichen Käsesorten im Backofen überbacken. Den Salat würde ich erst später zubereiten, damit die frischen Blätter schön knackig blieben. Aber um den Apfelkuchenteig sollte ich mich sofort kümmern, damit er so fluffig wird, wie Ryan es sich gewünscht hatte. Während ich den Teig knetete, dachte ich an Greg und daran, wie er mich belogen und hintergangen hatte. Der Teig gelang mir einfach nur traumhaft. Ich zwang die dickflüssige Masse in einen Topf und stellte ihn auf die Heizung, die ich aufdrehte, damit der Hefeteig schön aufging. Derweil schnippelte ich die Äpfel klein und schlug die Sahne steif, mit der ich den Kuchen garnieren wollte, mitsamt der köstlichen Vanillesauce mit einer feinen Zimtnote. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass es erst Mittag war. Verdammt! Wie sollte ich mir die Zeit bis zum Abend vertreiben, bis Ryan endlich wieder da war? Und dann hatte ich eine ganz wunderbare Idee, zu der ich mich sofort beglückwünschte.
„Na klar, du Dummerchen!“, sagte ich laut. „Der perfekte Salat! Du könntest hinausgehen und Kräuter dafür sammeln. Wieso ist es dir nicht schon früher eingefallen?“
„Weil ich nicht weiß, wo sich der Schlüssel zu der Tür befindet“, antwortete ich mir selbst und machte mich gleichzeitig auf die Suche nach dem Ersatzschlüssel. Er lag, wie nicht anders erwartet, unter dem kleinen Teppich vor der Außentür. „Genauso, wie Ryan es dir gesagt hat“, hörte ich meine eigene Stimme, die unangenehm misstrauisch klang. Wieso misstraute ich Ryan immer noch, nach allem, was er für mich getan hatte? Wieso konnte ich mich nicht einfach zurücklehnen und entspannen, wieso fiel mir das Vertrauen so schwer? Ich steckte den Schlüssel in die Tasche meiner Jeanshose, warf mir Ryans Jacke über und schloss die Tür hinter mir zu. Vergewisserte mich, dass der Schlüssel tatsächlich in meiner Tasche steckte und atmete erleichtert auf. „Nicht mal dir selbst kannst du trauen!“, lachte ich bitter auf. Es war kühl draußen, fast schon kalt, doch es war eine angenehme Kälte, die trotz des starken Windes immer noch herbstlich mild war. Ich schloss die Augen und ließ mein Gesicht von dem Wind liebkosen, atmete die frische Luft tief ein und genoss es in vollen Zügen, wie sie langsam meine Lungen füllte. Wie die Liebe zu Ryan mein Herz füllte. „Sei dankbar!“, sagte ich zu mir, „vertraue! Liebe!“
Ich bin eine Kräuterhexe, rief ich mir in Erinnerung. Ich hatte sogar mehrere Bücher über die Wildkräuter gelesen. Wenn ich Glück habe, dann finde ich vielleicht sogar ein paar Pilze, dachte ich und traute mich immer weiter in den Wald hinein. Dabei drehte ich mich immer wieder um, um mir den Weg zu merken und setzte Merkmale, an die ich mich auf jeden Fall erinnern würde: Einen besonders hohen, schönen Baum, dessen Form entfernt an den Körper einer Frau erinnerte, einen Wacholderbusch, einen großen Stein. Als ich mit meiner Ausbeute mehr als zufrieden war, fing es langsam an, dunkel zu werden, und ich lief gemächlich zu dem Haus zurück. Zu dem schönen Hexenhäuschen, unserem gemütlichen Liebesnest. „So einen Salat hast du noch nie zuvor gegessen, Ryan!“, sagte ich voller Vorfreude. Ich hatte tatsächlich viele Kräuter, essbare Blüten und sogar mehrere Pilze gefunden. Die letzteren würde ich knackig in Butter anbraten und den Salat damit garnieren.
An dem schönen Baum blieb ich stehen und betrachtete ihn eine Weile bewundernd. Wie eine Riesin, die ihre Arme zum Himmel emporstreckt, dachte ich, umarmte den breiten Stamm und atmete den Duft nach Rinde und Laub ein. Plötzlich fiel mir etwas auf dem Boden auf, das sich bei näherer Betrachtung als eine Sammlung Steine erwies. Ich bückte mich und sah, dass es sich um ziemlich große, schwere Steine handelte, die in Form eines Kreuzes angeordnet waren. Die Steine waren tief in die Erde eingedrückt. Meine Neugierde war geweckt. „Neugier tötet die Katze“, warnte ich mich laut vor, doch es war bereits zu spät: Ich lockerte die Steine und fing an zu graben, wobei ich einen breiten, flachen Stein als Schaufel benutzte. Schon bald wurde ich belohnt: Unter der Kreuzmarkierung war eine kleine Metallschachtel vergraben. Ich befreite sie von den Resten der Erde und öffnete sie, um enttäuscht festzustellen, dass sie leer war. Doch als ich sie umdrehte und schüttelte, fielen ein paar Papierblätter heraus, die ich als alte, vergilbte Fotografien identifizierte. Ich hielt sie in das spärliche Licht der untergehenden Sonne hoch und verengte die Augen, um die Bilder besser sehen zu können. Auf allen Fotos war die gleiche Frau abgebildet, auf manchen war sie allein, auf den anderen hielt sie ein Baby im Arm. Es musste Ryans Mutter sein, natürlich war es Ryans Mutter! Sie hatte genau die gleichen warmen, braunen Augen und die gleichen Augenbrauen wie er. Ihre Haare waren honigblond und fielen ihr in weichen Locken um ihr schönes, ovales Gesicht. Ihr Lächeln war sanft und zart, genau wie Ryans. Es waren mindestens ein Dutzend Bilder. Immer die gleiche Frau und das Baby. Ich wollte sie schon zurück in die Schachtel legen und die Schachtel wieder vergraben, damit Ryan nicht merkte, dass ich geschnüffelt hatte, als mir ein letztes Bild förmlich in die Hand fiel. Darauf war ein Mann zu sehen. Er trug einen Anzug, seine Haare waren kurz geschnitten und nach hinten gekämmt. Es war bereits so dunkel, dass ich das Bild ganz dicht vor meinen Augen halten musste. Plötzlich schrie ich entsetzt auf und ließ die ganze Schachtel samt Inhalt fallen. Setzte mich auf die kalte Erde und wiegte mich vor und zurück, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Nein, es konnte nicht sein, meine Fantasie spielte mir einen bösen Streich! Ich hob das Bild wieder auf und starrte es an. Es konnte keinen Zweifel geben, es war Greg! Er war viel jünger als zu dem Zeitpunkt, an dem ich ihn kennen lernte, doch es war definitiv sein Gesicht! Wieso besaß Ryan ein Bild von Greg? Und, was viel wichtiger war, wieso sagte er mir nichts davon, dass er ihn kannte? „Hast du ihn getötet, Ryan?“, flüsterte ich. „Bist du deswegen so felsenfest von meiner Unschuld überzeugt, weil du der Schuldige bist?“ Es kostete mich meine ganze Kraft, die Schachtel wieder zu vergraben und die Steine in dem gleichen Muster zu ordnen, in dem ich sie vorgefunden hatte, damit Ryan keinen Verdacht schöpfte. So viel zum Vertrauen, dachte ich bitter. Ich lief ins Haus und ließ die Kräuter und die Pilze, die ich so mühevoll gesammelt hatte, achtlos fallen. Meine Hände zitterten so stark, dass es eine Weile dauerte, bis ich das Schloss öffnete. Ich setzte mich auf die Couch und versuchte, mich etwas zu beruhigen, doch es war leichter gesagt als getan. Lebte ich mit einem Mörder zusammen? Würde Ryan auch mich töten, wenn ich ihn mit meinem Wissen konfrontierte? Ich war ihm voll und ganz ausgeliefert, hier draußen würde mich niemand finden. Niemand würde meine Leiche finden. Wahrscheinlich würde er mich neben der Metallschachtel begraben. Die Abgeschiedenheit des Hexenhäuschens, in dem ich mich befand, die ich die ganze Zeit als beruhigend und sicher empfand, erschien mir auf einmal finster und bedrohlich. Was nun, fragte ich mich und sah auf die Uhr. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er nach Hause kam. Nach Hause, welch eine Ironie! Ich hatte kein Zuhause, sondern war in einem geheimen Versteck mit einem Mörder zusammen gefangen. Aber was hatte ich schon für eine Alternative? Den Knast? Plötzlich fiel mir wieder der alte Kinderreim ein, den Ava und ich uns immer gegenseitig vorgesungen hatten, als wir noch klein waren. Immer, wenn wir Angst vor dem Gewitter hatten, wenn wir allein zu Hause waren, umarmten wir uns und sangen laut: „Heile, heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Schnee, dann tut es nicht mehr weh.“ Es war unser geheimes Ritual, und es half immer. Selbst als wir erwachsen wurden und ganz andere Probleme als Angst vor dem Gewitter hatten, sangen wir uns diesen Reim vor, um uns gegenseitig zu trösten. Ich sang es dreimal hintereinander, und es hatte geholfen. Atme tief ein und aus, sagte ich zu mir, atme tief durch und denk nach. Ryan ist doch kein Mörder, es wird schon eine Erklärung für alles geben. Und wenn nicht? Zu spät. Ich hörte, wie die Tür aufging. Der kalte Schweiß brach mir aus, ich rang um Atem.
„Maria, wo bist du, Weib?“, hörte ich ihn rufen, „wieso begrüßt du deine Mann nicht, wie es sich gehört? Ich sterbe vor Hunger!“ Doch, als er mich sah, erstarb sein Lächeln, während ich mich um ein gequältes Lächeln bemühte, das eher einer Schmerzgrimasse glich. „Was ist los, Gail?“, fragte er besorgt, „ist etwas passiert?“ Ich schüttelte den Kopf und weinte leise, unfähig, ein Wort herauszubringen. „Du zitterst ja“, stellte er fest, „Gail, Liebling, sprich mit mir! Hast du wieder schlecht geträumt?“ Ich schüttelte erneut mit dem Kopf. Er sah mich schweigend an, ging in die Küche, entkorkte eine Flasche Wein und goss uns zwei Gläser randvoll ein. „Trink einen Schluck und beruhige dich, Schatz“, sagte er leise. Ich werde mich jetzt von Pedro freimachen und schnell duschen, weil ich schon den ganzen Tag unter seinem Körper schwitze. Danach reden wir weiter.“ Ich lauschte dem Geräusch des fließenden Wassers und trank den Wein in einem Schluck aus. Eine angenehme Wärme breitete sich in meinem Magen aus und vermittelte mir plötzlich ein eigenartiges Taubheitsgefühl. Was hatte ich schon zu verlieren? Dein Leben, dachte ich träge und stellte mit einem masochistischen Amüsement fest, dass es mir nicht sonderlich viel ausmachte. Gleichzeitig gratulierte ich mir im Stillen zu meinem hervorragenden Männergeschmack. Womöglich hatte meine Mutter, Gott hab sie selig, recht. Die Männer waren alle gleich, einer wie der andere, man konnte ihnen nicht trauen. Hätte ich bloß auf sie gehört! Als ein müder, herrlich nach dem frischen Badeschaum riechender Ryan sich endlich zu mir auf die Couch gesellte und einen tiefen Schluck aus seinem Weinglas nahm, fragte ich ihn unvermittelt: „Hast du Greg getötet?“ Seine Augen weiteten sich vor Schock, und er stellte sein Glas eilig ab, um es nicht fallen zu lassen.
„Gail? Wie war das eben?“ Anscheinend fragte er sich, ob er sich verhört hatte.
„Hast du Greg getötet, Ryan?“, wiederholte ich meine Frage laut und deutlich. Er zuckte zusammen, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst, sah mich an und blinzelte mehrmals.
„Was soll das, Gail? Was für eine Laus ist dir über die Leber gelaufen?“
„Ich war im Wald spazieren“, erwiderte ich ruhig, „Pilze und Kräuter sammeln. Dabei fiel mir der schöne große Baum auf, und die Kreuzmarkierung darunter.“
„Und du gabst deiner Neugierde nach“, beendete er meinen Satz. Ich nickte und vermied es, ihn anzusehen. Er machte Anstalten, meine Hände zu ergreifen, doch ich entzog sie ihm, bevor ich ihm direkt in die Augen sah und meine Frage wiederholte.
„Hast du ihn getötet, Ryan? Wirst du auch mich töten?“ Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab wie ein Tiger, der in seinem Käfig eingesperrt war. Wütend und verzweifelt. Er raufte sich die Haare, machte das Fenster weit auf und schnappte nach der frischen Abendluft, als hätte er Angst zu ersticken. Schließlich drehte er sich um und sah mich an. Noch nie hatte er mich so angesehen. In seinen Augen brannte eine Wut, die mir einen heftigen, imaginären Stoß in die Magengrube verpasste, bevor sie einem unsagbaren Schmerz der Enttäuschung wich.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Gail“, sagte er mit einer stark zitternden Stimme. „Von Anfang an sprachen alle Indizien für deine Schuld, doch von Anfang an hatte ich an dich geglaubt. Dabei kannte ich dich nicht mal. Ich hatte alles, was mir lieb und teuer war, für dich aufs Spiel gesetzt, ohne eine Gegenleistung von dir zu erwarten, außer, dass du mich liebst. Und mir vertraust. Plötzlich weinte er. Er schluchzte laut, es waren fremdartige, raue Geräusche, die mein Herz fast zum Stillstand brachten. „Ich hatte mich noch nie in einem Menschen so getäuscht, Gail“, schluchzte er. „Du traust mir tatsächlich zu, einen Mord begangen zu haben? Nach allem, was zwischen uns war?“ Er setzte sich auf den Boden in der Ecke des Wohnzimmers, hielt sich die Hände vors Gesicht und zitterte vor lauter Weinen. Oh mein Gott, was hatte ich nur getan?
„Ryan“, sagte ich leise, „Ryan, bitte weine doch nicht! Was hättest du denn an meiner Stelle gedacht? Wieso hast du mir verheimlicht, dass du Greg kanntest?“
„Weil ich ihn nicht kannte!“, schrie er mich an, stand auf und ging wieder auf und ab. „Ich hätte es dir schon erzählt, irgendwann. Nun erzähle ich es dir jetzt, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es überhaupt noch etwas zwischen uns gibt, wofür es sich zu reden lohnt. Dein Mann, oder in welcher Beziehung er auch immer zu dir stand, hatte einen unehelichen Sohn. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte er dich nicht angelogen. Er sagte auch die Wahrheit, als er behauptete, dass dieser Sohn ihm rein gar nichts bedeutete. Willst du wissen, woher ich das weiß, Gail? Nun, dieser Sohn steht leibhaftig vor dir! Soll ich dich jetzt „Mommy“ nennen?“, lachte er bitter. „Welch Ironie des Schicksals, nicht wahr? Ich verliebte mich ausgerechnet in meine Stiefmutter! Ödipuskomplex? Wohl eher nicht, Gail. Denn in dem Ort, in dem du mit meinem Vater zusammengelebt hattest, kennt dich kein Mensch!“ Ich starrte ihn ungläubig an und schüttelte mit dem Kopf. „Ja, ich weiß, dass du mir nicht glaubst, das hast du mir mehr als unmissverständlich gezeigt“, schnaubte er verächtlich. „Doch es ist nun mal die Wahrheit: Niemand kennt eine Mrs. Grantham. Du bist ein Phantom, Gail. Ich weiß nicht, was er mit dir gemacht hatte. Nach allem, was ich über ihn gehört und gelesen hatte, war er ein wahrer Meister der Manipulation. Er beherrschte mehrere Methoden der Hypnose. Und weißt du was? Ich weine ihm keine einzige Träne nach. Ja, ich gehe sogar weiter und behaupte, dass ich ihn eigenhändig töten würde für das, was er dir angetan hatte. Wäre er nicht bereits tot… Doch ich war es nicht! Den Job hatte jemand anders übernommen, dafür ziehe ich den Hut vor ihm, denn Greg Grantham war ein selbstverliebter, egozentrischer Soziopath, der über Leichen ging, nur um seiner Eitelkeit wegen. Der einzige Mensch, an dem ihm etwas lag, war er selbst. Er hat auch meine Mutter auf dem Gewissen. Er hatte sie zwar nicht direkt getötet, sie starb durch einen tragischen Unfall, doch ihre Seele starb in dem Moment, in dem er sie zurückstieß, als sie ihm eröffnete, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Die Ehe meiner Eltern stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Der Mann, den ich jahrelang für meinen Vater hielt, war ebenfalls ein egoistischer Mistkerl, der nur an seine Karriere dachte. Meine Mutter hatte wohl kein gutes Händchen für Männer. Alle Menschen, die mit ihm koexistierten, mussten funktionieren, so wie er es von ihnen erwartete. War es nicht der Fall, dann bestrafte er sie. Meistens psychisch durch Liebesentzug und Erniedrigungen, doch in meinem Fall auch physisch, dazu benutzte er gern seinen Gürtel. Ein Jahr vor meiner Geburt war meine Mutter sich sicher, dass sie einen großen Fehler begangen hatte. Sie dachte ernsthaft über eine Trennung nach und war sogar bereit dazu, die Konsequenzen zu tragen. Damals waren die Zeiten anders, wie du weißt, man ließ sich einfach nicht so ohne weiteres scheiden. Eine Scheidung sprach sich schnell herum und galt als eine große Schande, vor allem für die Frau. Doch meiner Mutter war es mittlerweile egal, denn sie war in ihrer Ehe tot unglücklich. Genau zu diesem Zeitpunkt lernte sie Greg Grantham kennen, einen charismatischen Mann mit einer unwiderstehlichen Aura, der damals in seinem besten Alter war. Sie sah in ihm all das, was ihr Ehemann nicht war: Liebevoll, verständnisvoll, geduldig und zärtlich. Ein Traummann schlechthin! Als sie von ihm schwanger wurde, schien ihr Glück besiegelt. Greg war mittlerweile abgereist, also schickte sie ihm einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, dass sie ein Kind von ihm erwartete und sich nun endlich bereit dazu fühle, sich scheiden zu lassen, um eine Familie mit ihm zu gründen. Sie erhielt nie eine Antwort. Derweil freute sich ihr Ehemann so sehr über einen männlichen Nachkommen, dass es völlig in seinem Vaterglück aufging. Die Spuren seiner Vaterfreude zeichnen immer noch meinen Rücken.“ Ich erinnerte mich plötzlich, wie schnell Ryan das Thema gewechselt hatte, als ich ihn nach den Narben auf seinem Rücken gefragt hatte. „Da meine Mutter immer wieder dazwischen ging, hatte auch sie einige Narben davongetragen, doch sie trug sie mit Stolz und Würde. Denn Greg Grantham hatte sie von all ihren Illusionen und Träumen von einem perfekten Mann befreit. Sie war einfach nur glücklich, jemanden zu haben, der für sie und ihr Kind sorgte. Ach ja, in einem Moment der Schwäche schickte sie ihm einige Bilder von mir. Als ich klein war, sah ich ihm sehr ähnlich, musst du wissen, im Laufe der Jahre ähnelte ich immer mehr meiner Mutter, zum Glück… Natürlich reagierte er nicht, und meine Mutter gab endgültig auf. Kurz vor ihrem Tod hatte ich in ihrem Zimmer herumgeschnüffelt, genau wie du heute, Gail. Ich hatte nämlich bald Geburtstag und suchte nach meinem Geschenk, das meine Mutter immer einige Wochen davor besorgte und es dann sorgfältig versteckte. Was ich fand, war diese Metallschachtel, die du heute ausgegraben hast. Mit dem Bild von Greg, das darin lag. Meine Mutter erwischte mich dabei, wie ich es anstarrte. Ich war noch ein Kind, dennoch war ich ziemlich reif für mein Alter, und der Hass, den ich für den Mann empfand, den ich für meinen Vater hielt, erreichte zu diesem Zeitpunkt seinen Höhepunkt. Also fasste meine Mutter die folgenschwere Entscheidung, mich in das Geheimnis meiner Abstammung einzuweihen. Dabei erlaubte sie sich eine gewisse künstlerische Freiheit, sie erzählte mir, dass mein leiblicher Vater ein berühmter Arzt sei, der für die Regierung arbeite, deswegen sei es ihm nicht möglich gewesen, sie zu heiraten. Doch er liebe mich und sei sehr stolz auf mich, seinen einzigen Sohn. Es war das größte und das schönste Geburtstagsgeschenk, das sie mir machen konnte! Es hatte mehrere Jahre gedauert, bis ich mich endlich getraut hatte, Kontakt zu Greg Grantham aufzunehmen. Im Gegensatz zu meiner Mutter erhielt ich sofort eine Antwort: Einen Drohbrief von seinen Anwälten. Warum ich trotzdem das Bild von diesem Mistkerl behalten hatte? Das weiß ich selbst nicht genau. Irgendwie brachte ich es nicht übers Herz, es wegzuwerfen, weil meine Mutter trotz allem daran hing. Das ist alles, Gail. Ich hoffe, ich konnte deine Fragen beantworten. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich bin müde.“ Ich zitterte am ganzen Körper und wünschte mir, ich hätte nie diese verdammte Schachtel ausgegraben. Ich spürte förmlich, wie der dünne, empfindliche Faden, der unsere Schicksale auf eine unerklärliche Weise miteinander verwoben hatte, immer schwächer wurde. Ich durfte nicht zulassen, dass er endgültig riss! Doch wie konnte ich diesen Schaden wiedergutmachen?
„Ryan, Liebling, es tut mir so leid“, stammelte ich unbeholfen und wunderte mich, wie falsch meine dünne Stimme klang. Dabei meinte ich es ernst. Ich räusperte mich, bevor ich unsicher vorschlug: „Lass uns doch erst zu Abend essen! Danach können wir uns weiter unterhalten.“
„Sei mir bitte nicht böse, Gail, aber der Hunger ist mir soeben vergangen“, erwiderte er kalt. So kalt, dass ich einen Schüttelfrost bekam. Ich hatte es vermasselt, nun gab es keine Hoffnung mehr für mich. Ich hatte den einzigen Menschen verjagt, dem etwas an mir lag. Das war’ s wohl. Herzlichen Glückwunsch, Gail! Ich hörte, wie Ryan ins Schlafzimmer ging und die Tür mit einem lauten Knall hinter sich schloss. Sollte es etwa das Ende sein? Nein, dachte ich mit einem plötzlich erwachten Elan, das lasse ich nicht zu! Mit der Zuversicht einer liebenden Frau eilte ich in die Nacht hinaus, ohne einen Gedanken an den kalten, peitschenden Wind zu verschwenden, der mich dafür bestrafte, was ich meinem Liebsten angetan hatte. Ich tappte im Dunklen, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte. Danach ging ich wieder ins Haus und stellte mich an den Herd. Ich wusste, dass Ryan nicht schlief. Die köstlichen Gerüche würden ihn schon aus dem Schlafzimmer, in das er sich enttäuscht und beleidigt verkrochen hatte, herauslocken. Spätestens, wenn der Apfelkuchen fertig war. Auch die Zutaten für seinen außergewöhnlichen Salat hatte ich wieder gefunden, aufgesammelt, gewaschen und liebevoll verarbeitet. Ich deckte den Tisch und goss mir ein weiteres Glas Wein ein. Gib endlich auf, Ryan, dachte ich, ich weiß, dass du hungrig bist. Doch er blieb stur. Na gut, dann übernehme ich! Ich schlich mich in das Schlafzimmer, entledigte mich meiner Klamotten und schmiegte mich von hinten an Ryans vermeintlich schlafenden Körper. Seinen unregelmäßigen Atemzügen konnte ich ganz genau entnehmen, dass er wach war. Als auch noch sein Magen laut knurrte, musste ich mich schwer zusammenreißen, um ein Kichern zu unterdrücken. Ich ließ meine Hand langsam nach unten gleiten und stellte erfreut fest, dass er eine Erektion hatte. Du liebst mich nach wie vor, dachte ich, während ich sein angeschwollenes, wild pulsierendes Glied in die Hand nahm. Er stellte sich weiterhin schlafend, doch ich ließ mich nicht davon irritieren. Ich rutschte auf die andere Seite herüber und liebkoste ihn raffiniert mit meiner Zunge, bevor ich ihn fast vollständig in meinem Mund aufnahm und heftig daran saugte. Dabei gab ich ihm meine Haare in die Hand, damit er den Rhythmus selbst bestimmen konnte. Nun konnte er seinen Lustschrei nicht länger zurückhalten. Ich ließ ihn los und fragte: „Soll ich aufhören, Ryan?“
Er zog mich an den Haaren zu sich herunter und flehte: „Hör nicht auf, Holly, mach weiter!“ Ich tat wie mir geheißen, bis er sich heftig in meinen Mund ergoss. Ich trank seinen Saft gierig aus, bis auf den letzten Tropfen, während er laut meinen Namen schrie, wobei er zwischen Gail und Holly wechselte. Danach klammerte er sich an mir so fest wie ein Ertrinkender an seinen letzten Strohhalm, küsste mein Gesicht und meinen Körper ab, streichelte meine Haare und beteuerte mir immer wieder, wie sehr er mich liebte.
„Ich liebe dich noch viel mehr, Ryan“, flüsterte ich ihm ins Ohr, er erschauderte wohlig und erwiderte meine Liebkosungen. Ihr Männer seid so einfach zu händeln, dachte ich zufrieden und fühlte mich wieder sicher. Endlich war ich wieder die Herrin der Lage! „Bist du denn nicht hungrig, mein Liebling?“, schnurrte ich einschmeichelnd.
„Gail, du kleine Teufelin“, lachte er, nun wieder gut gelaunt, „das weißt du doch!“
„Dann komm endlich in die Küche!“, verlangte ich, „ich habe den halben Tag lang für dich gekocht!“ Ich blieb absichtlich nackt, band mir nur eine Schürze an, während ich das Essen für ihn servierte.
„Gail, würdest du dir etwas überziehen?“, bat er mich schließlich, „damit ich mich auf das Essen konzentrieren kann?“ Ich ging seiner Bitte nach und warf mir seinen Bademantel über. Seine flauschige Wärme tat mir so gut, dass auch ich kräftig zulangte.
„Nicht, dass du mir noch fett wirst!“, lachte Ryan belustigt, als ich eine Extraportion Apfelkuchen verdrückte.
„Ryan, ich habe etwas für dich“, sagte ich ernst und hielt die Metallschachtel hoch. Er wurde blass. Ich ging langsam auf ihn zu und streichelte seine Haare. „Du solltest sie nicht wieder vergraben, es ist deine Vergangenheit. Sobald ich wieder ausgehen kann, werde ich schöne Rahmen für die Bilder kaufen, und dann hängen wir sie auf. Außer einem Bild, das habe ich unter dem Baum gelassen.“ Er vergrub sein Gesicht in meinem Hals, bevor er mich innig auf den Mund küsste. In dieser Nacht schliefen wir eng aneinander geschmiegt ein, als wären wir zwei zusammengehörende Teile eines Puzzles. Die Harmonie war wieder hergestellt.
Am nächsten Morgen brachen Pedro und Maria nach England aus. Dieses Mal hatten sie auch alle nötigen Papiere dabei: gültige Reisepässe und einen Führerschein. Der gleiche Taxifahrer, der mich vor wenigen Tagen zu dem Hexenhäuschen brachte, holte uns ab und fuhr uns zum Flughafen. Als uns ein älteres Paar auf Spanisch ansprach, rutschte mir das Herz in die Hose, irgendwo zwischen meine falschen Fettpolster. Als Ryan in fließendem, akzentfreien Spanisch antwortete, atmete ich erleichtert auf, doch dann lächelte die Frau, die etwa in Marias Alter sein musste, mich freundlich an und sagte zu mir etwas, was ich nicht verstand. Ryan antwortete für mich, tätschelte beruhigend meine Schulter und erklärte in gebrochenem Englisch: „Meine Frau sehr müde, die ganze Nacht nicht geschlafen, so aufgeregt. Wir besuchen unseren Sohn.“ Die ältere Frau nickte verständnisvoll, schenkte mir ein strahlendes Lächeln, sagte noch etwas und wandte sich wieder ihrem Mann zu. Der Flug dauerte elf Stunden. Ich ließ mich von Ryan überreden und nahm eine starke Schlaftablette, die ich mit einer Flasche Wasser herunterspülte. Als er mich weckte, waren wir kurz vor der Landung. Mein Schädel fühlte sich unangenehm schwer an, fast wie bei einem schlimmen Kater. Als wir auf unsere Koffer warteten, verabschiedete sich das nette spanische Paar herzlich von uns, die Frau tätschelte mir aufmunternd die Wange, während Ryan eine Entschuldigung murmelte, vermutlich um meine Verschwiegenheit zu erklären. Wir nahmen uns ein Zimmer in einem Hotel, das nah am Flughafen lag, um uns von den Strapazen des Flugs zu erholen. Pedro bestellte uns ein Abendessen beim Zimmerservice, und, als es endlich kam, hängte er ein Schild an die Außenseite der Tür, auf dem „Bitte nicht stören!“ stand. Nachdem er sich vergewisserte, dass die Tür fest verschlossen war, entledigte er sich eilig seiner Maskierung und half mir dabei, mich wieder in Gail zu verwandeln. Völlig nackt und verschwitzt, fielen wir hungrig übereinander her, bevor wir genauso hungrig über das Essen herfielen. Danach badeten wir gemeinsam und tranken eine ganze Flasche eisgekühlten Champagner aus, die uns das Zimmerservice gebracht hatte.
„Auf dass wir der Wahrheit näher kommen!“, lallte Ryan leicht besoffen, als er mit dem Rest des Champagners mit mir anstieß.
„Auf dass wir die ganze Wahrheit endlich rausfinden!“, sagte ich ernst und trank mein Glas in einem Zug aus.
„Freust du dich auf Bedford?“, fragte er mich, als wir eng umschlungen im Bett lagen.
„Ich weiß nicht, Ryan“, antwortete ich nachdenklich, „ich habe Angst.“
„Wovor?“
„Vermutlich vor der Wahrheit. Aber noch mehr davor, dass schon wieder alles umsonst war. Davor, dass mein Gedächtnis mir einen Streich spielt. Es ist eigenartig, Ryan…“, dachte ich laut nach und schmiegte mich noch enger in seine Umarmung, als hätte sie mich vor meinen inneren Dämonen schützen können. „Ich erinnere mich an die letzten Jahre an Gregs Seite ganz genau. Klar und deutlich. Dennoch an die Zeit davor kann ich mich nicht richtig erinnern.“
„Aber du hast mir doch so viel darüber erzählt, Gail“, wunderte er sich, „über deine Kindheit und Jugend, über deine Mutter und deine Freundin Ava.“
„Ja, ich weiß“, gab ich kleinlaut zu. „Ich kann es nicht erklären. Kann es nicht richtig in Worte fassen.“
„Versuch es, Liebling“, forderte er mich geduldig auf.
„Ich weiß zwar, was sich abgespielt hatte… Dennoch ist es so, als würde ich das alles aus einem Buch vorlesen. Aus einem Buch, das jemand anders geschrieben hatte. Ja, das bringt es wohl ziemlich genau auf den Punkt“, stellte ich fest, selbst über diese Erkenntnis überrascht. „Mein Gedächtnis liefert mir einfach keine Bilder zu meiner Zeit vor Greg.“
„Er hat dein Gedächtnis manipuliert!“, knurrte Ryan wütend und schloss seine Arme noch fester um mich, so fest, dass es fast schon wehtat, doch es war ein ganz wunderbarer Schmerz, der mir Sicherheit vermittelte. Würde ich mich jemals sicher fühlen können, ohne Schmerzen dabei zu empfinden, fragte ich mich im Stillen. „Zum Glück ist der Mistkerl bereits tot“, sagte Ryan, bevor er einschlief. Immer, wenn er erschöpft war, schnarchte er leise im Schlaf, und plötzlich erinnerte ich mich daran, dass auch Greg schnarchte. Sein Vater. Wie der Vater, so der Sohn, dachte ich verstört. Das war wirklich krank! Genau genommen war ich so etwas wie Ryans Stiefmutter. Obwohl ich anscheinend nicht rechtmäßig mit seinem Vater verheiratet war. Was hast du nur mit mir gemacht, Greg? Wieso kennt mich keiner dort, wo wir jahrelang zusammen gelebt hatten?