21
»Morn.« Mackerns Flüstern war von der Eindringlichkeit eines Aufschreis. »O Gott…«
Stumpfsinnig stierte Morn ihn an, als wüßte sie nicht, wen sie sah.
»Morn.« Schweiß perlte ihm übers bleiche Gesicht, ließ sein spärliches Schnurrbärtchen dunkler wirken. »Steh auf.« Sein Atem ging ungleichmäßig, nicht infolge einer Anstrengung, sondern aus Bammel. »Du hast nur noch wenig Zeit.« Sein Blick huschte von ihr durch die Kabine, schweifte unstet rundum, fiel zurück auf Morn, mied den Schwingenschlag seiner Furien. »Guter Gott, was hat er bloß mit dir gemacht?«
Morn verspürte diffuse Aufregung. In der Kabine herrschte die Atmosphäre eines Desasters. Wenn Mackerns Augen von einer zur anderen Seite ruckten, spiegelte sich in ihrem Weiß das Licht, so daß sie schaurig schimmerten. Morn regte sich nicht in ihrer Haltung; sie merkte kaum, ob sie noch atmete. Sie hatte die abgehärmte Miene einer Wahnsinnigen. Doch die in ihr Haar gewickelten Finger beschleunigten ihren Rhythmus. Sie setzten das Zerzupfen der Strähnen mit einer Andeutung von Vehemenz fort.
»Hör zu.«
Mackern ging vor ihr auf die Knie, als bräche er zusammen. Jetzt war sein Gesicht mit Morns Kopf auf einer Höhe.
»Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Sie schaute ihn so starr wie eine Erblindete an.
Mit aller Behutsamkeit, nahezu schreckhaft, näherte er seine Hände Morns Schultern. Er berührte sie – und zuckte zurück, als wäre sie heiß genug, um ihm die Finger zu verbrennen. Er senkte den Blick auf die Knie; sein Mund verzog sich zu einem verbissenen Ausdruck. Er mußte Mühe aufwenden, um den Blick wieder zu heben. Dann faßte er sie an den Armen.
»Er weiß nicht, daß ich hier bin. Ich habe dienstfrei. Ich habe gewartet, bis alle beschäftigt sind, damit niemand mich sieht. Vor Verlassen der Brücke habe ich seine Kontrollschaltungen für die Türen nullgestellt. Seine Kommandokonsole zeigt momentan nur an, daß du scheinbar noch eingesperrt bist. Bis er deine Tür zu öffnen versucht, merkt er nicht, was ich getan habe.«
In gleichgültiger, blinder Begriffsstutzigkeit blinzelte Morn dem Datensysteme-Hauptoperator ins Gesicht. Alles, was er sagte, klang in ihren Ohren so verständlich und doch unenträtselbar wie das Hyperspatium.
»Du kannst aus der Kabine gehen.« Er drohte in Verzweiflung zu geraten. »Morn, du mußt mir zuhören. Ich weiß nicht, was er an dir verbrochen hat, aber du mußt mir unbedingt zuhören. Du kannst hinausgehen.«
Das rüttelte sie auf; es weckte etwas im dunklen Kern ihrer inneren Stille. Du kannst hinausgehen. Der verschollene oder verschüttete Teil ihres Ichs, der alles entschlüsselte, scheuchte sie mit einem zweckgerichteten Schaudern der Erkenntnis wach. Hinausgehen.
Immer schneller drehte sie Haar um ihre Finger, riß sie sich Haare aus.
»Ach, Morn…«
Der Schweiß auf Mackerns Gesicht ähnelte Tränen. Ein mutiger Mann war er nicht – oder vielleicht bezweifelte er nur, einer zu sein –, aber er stand unter beträchtlichem Druck. Er hob die Hand und gab Morn einen Klaps ins Gesicht. Augenblicklich zuckte er selbst zusammen und biß sich, wohl aus Sorge, er könnte sie verletzt haben, auf die Lippen.
Morn ließ von ihren Haaren ab, hob die Fingerspitzen zu dem Brennen auf ihrer Backe. »Er kann dich hören«, hauchte sie leise wie eine Brise. »Durch die Interkom.«
Mackern keuchte. Voller Panik spähte er hinüber zum Interkom-Apparat.
Als er den Blick wieder auf Morn heftete, standen in seinen Augen Anzeichen nervlicher Zerrüttung. »Es ist abgeschaltet«, flüsterte er. »Er lauscht nicht.«
Morn atmete tief ein, als hätte sie einen Schüttelfrostanfall.
Anklänge der Dringlichkeit durchzitterten sie. Was hatte er gesagt? Sie hatte es schon vergessen. Irgend etwas über… Hatte er gesagt, sie könnte aus der Kabine gehen?
Hatte er zu ihr gesagt, sie hätte kaum noch Zeit?
Sie entsann sich nicht an seinen Namen.
Drangsal krampfte ihre Magengegend zusammen. Weit sperrte sie den Mund auf, als wollte sie ein Heulen ausstoßen.
»Morn, bitte«, flehte Mackern. »Er macht mich alle, wenn er mich hier findet. Verdirb diese Chance nicht. Ich will sie dir nicht vergeblich geboten haben.«
Sie hörte seine Worte. Allmählich verebbte ihre Bestürzung. Wie in gemächlichen Blasen stieg aus der Tiefe ihres Wesens die Intelligenz an die Oberfläche zurück, rückte wieder in den Vordergrund ihres Bewußtseins. Sie schluckte, ein wenig von der Blindheit schwand aus ihren Augen.
»›Zeit‹«, murmelte sie leise. »Du hast von ›Zeit‹ gesprochen.«
»Ja!« bestätigte er sofort, durch ihre Antwort ermutigt, mit Nachdruck. »Wir sind schon fast längsseits mit dem Amnion-Kriegsschiff Friedliche Hegemonie, bloß noch zwölf Flugstunden von Station Kassafort entfernt. Nick hat den Amnion für den Start der Kosmokapsel ’ne exakte Uhrzeit genannt. Du hast…« – sein Blick streifte das Wandchronometer – »noch sechsundzwanzig Minuten.«
Wieder entging Morn der Sinn seiner Äußerungen. Kassafort? Friedliche Hegemonie? Sie kannte diese Begriffe, aber wußte ihre Bedeutung nicht mehr. Wieso redete er vom Getötetwerden? Sie hatte noch sechsundzwanzig Minuten.
Als wäre nur der Vorsatz erforderlich gewesen, brachte sie von der Stelle in ihrem Gedächtnis, wo sie ihn verlegt hatte, seinen Namen zum Vorschein. »Sib Mackern. Was tust du hier?« Das Bild der Situation fügte sich zusammen, sobald sie gewisse Sachverhalte aussprach. »Dafür ermordet er dich.«
»Ich kann’s ganz einfach nicht mitansehen«, antwortete Mackern, als ob er sie mit einmal Mal verstünde, genau wüßte, wessen sie bedurfte; als ob seine Furcht ihn dazu befähigte, sie bei ihrem Kampf aus dem Sumpf der Verzweiflung zu begleiten. Sie brauchte Worte, die ihr etwas sagten, informative Worte, die ihr dabei halfen, eine Brücke zurück zur Vernunft zu schlagen.
»Schon als er auf Potential deinen Sohn zum erstenmal verkauft hat«, erläuterte Mackern, »hätte ich am liebsten gemeutert, wäre ich damit nicht allein gewesen. War ich nicht so ein Feigling.« Seine Selbstbeurteilung ließ keinen Raum für Courage. »Seit ich mich ihm angeschlossen habe, ist von uns viel Scheußliches begangen worden. Mir kommen davon solche Alpträume, daß ich aus ’m Schlaf hochschrecke und schreie. Aber so was war noch nie da. Einen Menschen hatten wir den Amnion noch nicht verkauft. Ich habe sie gesehen, Morn.« Das stellte er klar, als wäre er der einzige Augenzeuge gewesen. »Diese Mutagene sind ein Greuel. Ihre Wirkung ist…«
Er bebte vor Abscheu am ganzen Leib. Er fand für seinen Widerwillen keine passenden Ausdrücke. »Du hast recht. Jeder von uns könnte der nächste sein. Ich dachte also: Das kann ich nicht mitmachen. Ich mußte dagegen was unternehmen, und wenn’s allein gewesen war und er mich deswegen getötet hätte. Aber du hast mich davor bewahrt. Du hast mir das Leben gerettet, Morn.« Er sprach über sich die Wahrheit: Morn merkte es ihm an. Die Schweißigkeit seines Gesichts und die bange Gehetztheit in den Augen verdeutlichten unmißverständlich seine Ehrlichkeit. »Du hast Davies selber rausgehauen. Danach war ich alles für dich zu tun bereit, buchstäblich alles, du hättest bloß zu fragen brauchen. Ich erhielt aber keine Gelegenheit. Er hat dich freigelassen. Er benahm sich… Ihr beide seid aufgetreten, als ob ihr die Sache zusammen geplant gehabt hättet, wäre alles nur ’n raffinierter Trick gewesen, ’ne List, um von Potential zu verduften. Du hast mich total durcheinandergebracht, so daß ich nicht wußte, ob ich froh oder entsetzt sein sollte.«
Eisern behielt er seinen Flüsterton bei. »Ich wäre gerne froh gewesen. Du hattest mir die Möglichkeit gegeben, auch künftig für ihn tätig sein zu können. Durch dich konnte ich mir einbilden, selbst er hätte Hemmungen, würde nicht bedenkenlos jede Art von Verbrechen begehen. Aber ich hatte schon Sorge, eben das könnte sein wahrer Trick sein, der wirkliche Betrug darin liegen, daß er vortäuscht, ihr beide hättet alles gemeinsam geplant. Daß er in Wahrheit keine Hemmungen kennt. Ich habe mir gedacht: Wenn er keine hat, zahlt Morn für ihren und Davies’ Schutz einen schrecklichen Preis. Und als wir uns dem Kriegsschiff näherten, hab ich schließlich die Tatsachen erfahren. Ich kann’s nicht ertragen. Das ist alles. Ich kann es schlicht und einfach unmöglich mitmachen. Ich will dir helfen. Das ist das einzige, was ich tun kann.«
Es gelang: Während er sprach, schuf er für Morn Bindeglieder, Stege über die weite Leere ihres Verlusts. Aus den Tiefen ihrer Erinnerungen drängten weitere Kenntnisse empor, ihr Bewußtsein strickte ihr Verständnis neu. Trotzdem ergab Mackerns Anwesenheit in ihrer Kabine noch immer keinen Sinn für Morn.
»Wieso?« fragte sie noch einmal. »Was soll es denn mir nutzen, wenn er dich umbringt?«
»Morn.« Betroffenheit verzerrte seine Miene. »Hast du’s vergessen? Hat er dich derartig mißhandelt, daß du dich nicht mehr entsinnst? Er will ihnen deinen Sohn ausliefern. Er hat vor, ihnen Davies in einer Kosmokapsel zuzuschießen. Schon in…« – sein Blick erhaschte das Chronometer, kehrt zurück – »einundzwanzig Minuten.«
Das war es: Damit reichte er ihr den Schlüssel zum völligen Verstehen, nannte ihr die Einzelheit, die ihr noch zum Durchblick fehlte. Sobald dieser letzte Stein sich in ihr Gedankengebäude einfügte, hatte sie zum aktuellen Stand der Dinge zurückgefunden.
Erstmals nahmen Morns Augen ihren Retter vollauf wahr.
Bleib ruhig, empfahl der Teil ihres Ichs, der alles wußte. Nichts überstürzen. Du hast genügend Zeit. Begehe keine Patzer.
»Wo ist er?« erkundigte sie sich in einer gespannten Ruhe, die keinen Zweifel daran zuließ, wen sie meinte.
Mackern war alles andere als ruhig. »Er ist vor… äh… vor zwanzig Minuten zu der Kosmokapsel gebracht worden.« Morn war, als könnte sie seinem Gesicht das Verrinnen der Zeit ansehen. »Bis dahin mußte ich warten. Liete stand vor seiner Tür Wache, bis er geholt worden ist. Sie sagte, sie verläßt sich nicht darauf, daß du eingeschlossen bleibst. Ehe sie gemeldet hat, daß er in der Kapsel sitzt, konnte ich’s nicht riskieren, mich zu dir zu schleichen. Sie hat gesagt…« Er mußte schlucken, um weiterreden zu können. »Sie sagte: Er hat uns keine Scherereien gemacht. Anscheinend steht er unter ’ner Art von Schock. Als ob er wüßte, was wir mit ihm anstellen, wäre aber zu demoralisiert, um sich zu wehren.«
Noch neunzehn Minuten.
Morn dachte nicht an Davies. Sie brauchte nicht an ihn zu denken. Er gab ohnedies den Grund für alles und jedes ab. Vielmehr richtete sie eine letzte Frage an Sib Mackern.
»Hat Nick seine Prioritätscodes geändert?«
Der Datensysteme-Hauptoperator schüttelte den Kopf. »Dazu hatte er noch keine Zeit.«
Nein, natürlich nicht. Und weshalb hätte er sich der Mühe unterziehen sollen? Die einzige Person, die es wagen würde, statt seiner diese Codes zu benutzen, war um den Verstand gekommen, hatte er sicher eingesperrt.
Mackerns Auskunft ergänzte alles, was sie, ohne es zu wissen, geplant und vorbereitet hatte.
Mit einer Mühsal, die ihr Beschwerden in den Gelenken verursachte, erhob sich Morn. »Geh in deine Kabine«, riet sie Sib, indem sie ihr Zonenimplantat-Kontrollgerät hervorholte. »Du bist mutiger, als du glaubst.«
Zerschrammtheit und Blutschorf machten ihre Handteller steif. Die Fingerkuppen waren wund. Aber nichts davon zählte.
Eine Funktion des Kontrollgeräts erfüllte ihre Glieder mit frischen Kräften.
»Wenn einer von uns beiden lebend davonkommt, ist es dir zu verdanken.«
Eine zweite Funktion stählte ihre Nerven, optimierte ihre Reflexe.
»Ich tu, was ich kann, um dich aus allem rauszuhalten.«
Eine dritte Funktion erlaubte es ihr, die Hände schmerzfrei zu bewegen, als wären sie unvermindert biegsam.
»Vergiß nicht, meine Kabine wieder zu verriegeln.«
Sechzehn Minuten.
Hier konnte sie nichts unternehmen, um Mackern zu schützen. Sein Leben hing völlig von seinen eigenen Vorsichtsmaßnahmen ab. Sie nickte ihm dankend zu, öffnete die Tür und eilte im Laufschritt in den Korridor.
»Viel Glück!« zischelte Sib ihr gedämpft nach. »Um mich mach dir keine Sorgen.«
Morn ließ ihn zurück. Der Korridor war frei. Gut. Morn strotzte vor Kraft, fühlte sich wie eine aufgeladene Materiekanone. Sie würde jeden töten, der ihr den Weg vertrat.
Jedenfalls wollte sie es versuchen. Wert legte sie darauf nicht. Sie mochte nicht noch mehr Blut an den Händen haben. Ihr eigenes genügte.
Auf nackten Füßen gelangte sie lautlos zum Lift, drückte die Taste.
Nur die Ruhe bewahren.
Sie war ruhig. Dennoch hielt sie sich bereit, um sofort jeden attackieren zu können, der sich möglicherweise in der Liftkabine befand.
Niemand stand darin. Morn stieg hinein und fuhr hinab in den Innenbereich des Raumschiffs, zum Maschinenraum und zur Hilfssteuerwarte.
Falls Nick sie beobachtete, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, darüber auf dem laufenden zu bleiben, wo sie sich umherbewegte. Der Wartungscomputer konnte ihm anzeigen, welche Türen sich öffneten und schlossen, welche Lifts benutzt wurden; er hatte die Kapazität, um in bezug auf die Räumlichkeiten die anteilmäßige Beanspruchung der Luftfilterlage zu errechnen und anhand dessen mitzuteilen, wie viele Personen sich gerade in einem bestimmten Gang oder einer bestimmten Kabine aufhielten. Allerdings erst, wenn man ihn danach fragte – und das zu tun, hatte Nick keine Veranlassung, solange er keinen Verdacht hegte.
Wenn Sib sich nicht auf irgendeine Weise verraten hatte…
Falls die Friedliche Hegemonie und die Startvorbereitungen für die Kosmokapsel Nick hinlänglich beanspruchten…
Noch fünfzehn Minuten.
Die Liftkabine stoppte. Die Tür rollte beiseite.
Davor stand Mikka Vasaczk.
Verdutzt starrte die Erste Offizierin Morn an.
Nein, nicht sie, Morn konnte sie unmöglich angreifen. Zwar war sie es gewesen, die in der Hilfssteuerwarte Morn für Nick unschädlich gemacht hatte. Andererseits jedoch schuldete Morn ihr Rücksichtnahme, nicht für aktive Hilfe, aber zumindest für eine gewisse Freundlichkeit und fürs Schweigen. Und hätte Mikka es nicht getan, wäre Morn letztendlich von jemand anderem überwältigt worden.
Aber Davies war vollkommen hilflos; er konnte sich nicht selbst verteidigen. Kämpfte Morn nicht um ihn, verschwand er zu den Amnion.
Mit der geballten Schnelligkeit, die ihr das Z-Implantat ermöglichte, sprang Morn auf Mikka zu, die zurückschrak und beide Hände hob, um zu zeigen, daß sie unbewaffnet war, die Handflächen vorwies.
Mitten im Sprung fing Morn sich ab.
Behalte die Ruhe. Du hast genug Zeit.
Mikka wich, die Hände weiterhin in die Höhe gestreckt, an die Wand des Aufzugs zurück. Ein bitterernster Ausdruck der Unnachgiebigkeit verkniff ihre Miene.
»Das ist ja wirklich merkwürdig«, stieß sie barsch hervor. »Ich könnte schwöre, Nick hat behauptet, du lägst in völlig hilfloser Verfassung in deiner Kabine. Das sind wahrhaftig miese Verhältnisse, wenn man sich nicht mal darauf verlassen darf, daß der Kapitän eines Raumschiffs es versteht, ’ne Radioelektrode einzuschalten.«
»Halt dich raus«, knirschte Morn durch die Zähne. »Gegen dich hab ich nichts.«
Spöttisch verzog Mikka die Lippen. In ihrem Gesicht spiegelte sich Trostlosigkeit. »Wußtest du, daß Lumpi mein Bruder ist?« fragte sie im selben Tonfall wie zuvor. »Als unsere Eltern gestorben sind, konnte er nirgends hin. Sie waren sowieso zu arm gewesen, als daß er irgendeine Wahl gehabt hätte. Diesen Job hat er von mir vermittelt gekriegt, damit ich auf ihn ’n Auge haben kann. Er ist kaum ’n paar Jahre älter als Davies. Du hast mir einmal die Wahrheit gesagt, als ich sie wissen mußte. Du bist das Risiko eingegangen, daß ich dich auffliegen lasse. Zu dumm, daß ich dir hier unten nicht übern Weg gelaufen bin. Sonst hätte ich dich vielleicht noch mal niederschlagen können.«
Vierzehn Minuten.
Morn mangelte es an Zeit, um Dankbarkeit zu verspüren. Das Herz wummerte ihr zu heftig in der Brust. Sie mußte an ihrem schwarzen Kästchen zu intensive Einstellungen vorgenommen haben: Die Lungen konnten ihren Organismus kaum mit genügend Luft versorgen.
Morn wandte sich um und rannte in die Richtung zur Hilfssteuerwarte.
Sie lag in der Nähe der Lifts: nur einen Abschnitt des Korridors weiter, der um den Mittelpunkt des Raumschiffs verlief. Kaum daß sie Mikka stehengelassen hatte, nahm das Deck eine Aufwärtskurve; Morn beachtete es nicht. Sie schenkte ausschließlich den Türen Aufmerksamkeit, an denen sie vorübereilte, darunter Türen, von denen sie wußte, davon ging keine Gefahr aus, und andere, die sich öffnen mochten und ihr Verdruß verursachen könnten.
Der Eingang zum Maschinenanlagen-Schaltraum und zum Maschinenraum stand weit offen. Ihn mußte sie nehmen. Dort befanden sich die Hauptschaltungen für die Kosmokapseln. Das war als Sicherheitsvorkehrung so angelegt: Selbst wenn sämtliche übrigen Bordsysteme ausfielen, konnte man vom Schaltraum aus noch die Rettungsboote starten.
Morn lugte um die Ecke.
Vector Shaheed betätigte sich, Morn den Rücken zugedreht, an einer seiner Tastaturen.
Dreizehn Minuten.
Die Frist drängte Morn zur Hast, sie neigte unwillkürlich zur Hyperventilation. Bleib ruhig. Sie mußte hinein, irgendwie an Vector vorbeigelangen. Aber sie mochte ihm nichts tun. Er hatte sie – aus eigenen Beweggründen – anständig behandelt. Und er litt allemal schon an genug Beschwerden. Der bloße Gedanke, ihm weh tun zu müssen, um ihrem Sohn zu helfen, erneuerte in ihrem Mund den Geschmack des Brechreizes.
Bleib ruhig!
Es gab noch etwas anderes, das sie erledigen mußte. Sie hatte Zeit. Wenn sie es zuerst tat, war Vector vielleicht fort – in die Antriebskammern oder hinauf zur Brücke gegangen –, wenn sie zurückkehrte.
Um ihn schonen zu können – oder um zu behüten, was von ihr selbst noch vorhanden war –, flitzte sie an dem Zugang vorbei und betrat die Hilfssteuerwarte.
Sie hätte nicht unbesetzt sein dürfen. In dieser Nachbarschaft zu amnionischen Kriegsschiffen hätte die Besatzung vollständig auf Gefechtsstation sein müssen. Aber natürlich hatte Nick nicht im geringsten die Absicht, sich ernsthaft mit den Amnion anzulegen. Er hatte längst mit dem Amnion-Kahn Friedliche Hegemonie eine ›wechselseitige Erfüllung der Ansprüche‹ ausgehandelt. Daraus bestand seine einzige realistische Hoffnung; er konnte nicht sowohl die Friedliche Hegemonie wie auch die Stiller Horizont bezwingen; nicht bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit, nicht innerhalb des Bannkosmos, des amnionischen Weltalls. Warum sollte er also seiner Crew, die ohnehin erschöpft war, noch mehr zumuten?
Morn ging schnurstracks zur zweiten Datensysteme-Kontrollkonsole.
Indem sie auf ihre Geschicklichkeit und die zerstreute Aufmerksamkeit Alba Parmutes vertraute – zur Zeit mußte sie auf der Brücke Dienst haben –, nahm sie die Konsole in Betrieb und reaktivierte von da aus in der Kommandokonsole die Steuerschaltungen der Türen. Sie tat es für Sib Mackern. Nun war nirgendwo mehr festzustellen, daß er irgend etwas angestellt hatte, um ihr behilflich zu sein.
Elf Minuten.
Sie schaltete die Kontrollkonsole ab, verließ die Hilfssteuerwarte und kehrt in Vectors Domäne um.
Sie hatte kein Glück: Er war noch da, befand sich nach wie vor bei der Arbeit. Tatsächlich stand er sogar gerade vor den Fernbedienungselementen der Kosmokapseln. Die Anzeigen, die Morn an seiner Schulter vorbei erkannte, besagten allem Anschein nach, daß er momentan diagnostische Checks und Statustests durchführte, sich von der Einsatzbereitschaft der Raumflugkörper überzeugte, die Lebenserhaltungssysteme überprüfte, den für Lenkung und Bremsmanöver erforderlichen Schub vorprogrammierte.
Um zu gewährleisten, daß die Kosmokapsel, die ihren Sohn ins Verhängnis fliegen sollte, zuverlässig funktionierte.
Zehn Minuten.
Falls Morns innere Uhr nicht trog…
Sie durfte nicht mehr warten. Irgendwie mußte sie an Vector vorbei.
Sie trat in den Schaltraum und schloß hinter sich die Tür.
Bei diesem Geräusch wandte er sich um.
Morn blieb stehen, damit er sie sah – er begriff, daß sie, wenn es nicht sein mußte, keine Gewalt anzuwenden beabsichtigte.
Bei ihrem Anblick merkte man ihm keine Verblüffung an. Sein phlegmatischer Stoizismus erwies sich ihrem unvermuteten Auftauchen gewachsen. Mehr zur Begrüßung als vor Überraschung hob er die Brauen.
»Aha, Morn.« Falls er sich in irgendeiner Hinsicht unbehaglich fühlte, mochte es sich höchstens in der leicht ungesunden Färbung seines Mondgesichts äußern. Er wirkte wie jemand, der sich entgegen der Empfehlung des MediComputers zuviel zugemutet hatte. »Ich hätte mir denken müssen, daß das passiert. Anscheinend weiß Nick nicht den Unterschied zwischen dem, was du kannst, und dem, was du nicht kannst.«
Er lächelte, als hätte er vor, sie zu hänseln. »Kommst du, um Davies zu verabschieden?« Aber sie sah ihm, während er die Frage stellte, keinen Hohn an.
»Vector«, sagte sie gepreßt, »geh von der Tastatur weg.«
Ich möchte dir nicht weh tun. Zwing mich nicht, mit Gewalt gegen dich vorzugehen.
Neun Minuten.
Unentwegt lächelte Vector. »Ach, ich glaube, das geht nicht. Nick hat mich ausdrücklich ermahnt, dafür zu sorgen, daß alles klappt. Auf diesem Schiff zahlt Befehlsverweigerung sich nicht aus, nicht mal bei indirekten Befehlen. Weil er sich wohl nicht vorstellen konnte, daß du’s schaffst, aus deiner Kabine auszubrechen, hat er mir nicht befohlen, dich von meinen Anlagen fernzuhalten. Aber seine Absichten waren ganz unmißverständlich. Ich kann’s mir nicht erlauben, dich hier irgendwas anpacken zu lassen. Aber du hast ja so oder so nichts zu gewinnen. Wenn du den Start verhinderst und Davies aus der Kapsel holst, nimmt Nick euch zwei wieder gefangen, und alles fängt von vorn an. Er entschuldigt sich für die Verzögerung und schickt dann wahrscheinlich euch beide zu dem Kriegsschiff hinüber, bloß um seinen ›guten Willen‹ zu beweisen. Dann hast du dich umsonst abgezappelt.«
»Vector, es ist mein Ernst.« Nur mit Mühe konnte Morn sich noch bezähmen. »Verschwinde von der Tastatur.« Sie brauchte Taten, Aktivitäten: Sie hatte an dem schwarzen Kästchen eine zu starke Wirkung eingestellt, und die Zeit lief ab. »Ich bin schon zu weit gegangen, um jetzt aufzugeben. Ich bin zu jedem Opfer bereit.«
Seit Tagen war sie dazu bereit. Seit Davies’ Geburt; seit man ihn an die Amnion verkauft hatte.
»Das sehe ich.« Nichts hätte weniger sarkastisch als der milde Spott sein können, der sich in Vectors Lächeln ausdrückte. »Leider habe ich keine Wahl. Geh ich dir nicht aus dem Weg, schlägst du mich wahrscheinlich tot. Im Moment machst du mir den Eindruck, als wärst du mit einer Hand dazu imstande. Aber wenn ich’s tu, macht voraussichtlich Nick mich kalt.«
Die Steifheit seiner verschränkten Arme erinnerte Morn an die Arthritis, die ihn zu verkrüppeln drohte; an seine Treue zu seinem Freund Orn, der ihm, als er ihn zusammenschlug, die Arthritis eingebrockt hatte.
Acht Minuten.
»Ohne jeden Zweifel ist es unvermeidlich gewesen. Ich meine, alles ist von Anfang an falsch gelaufen. Ich gehöre hier nicht her, ich bin nicht der Richtige für diese Art von Dasein. Ich habe mich bloß dafür entschieden, weil ich nicht mit den Alternativen leben konnte, aber es ist einfach nichts für mich. Oder ich bin nicht dafür geeignet. Empörung und Idealismus sind so gut wie jeder beliebige Vorwand, um Illegaler zu werden, aber sie genügen nicht. Irgendwann mußten die Widersprüche mich ja einholen. Man könnte sagen, das einzige, was ich erreicht habe, ist doch, den Leuten, gegen die ich mich stellen wollte, ihre moralische Rechtfertigung zurückgegeben zu haben. Es wäre besser, ich könnte jetzt unter alles ’n Schlußstrich ziehen.«
»Vector, laß das Quatschen! Für so was fehlt mir die Zeit!« Morns Hände fühlten sich an, als müßten sie bei jeder Regung Funken sprühen. Eigentlich hätte sie um Atem ringen müssen, doch die Wildentschlossenheit ihres Willens bändigte ihr Ungestüm. »›Empörung und Idealismus‹ sind eine beschissene Ausrede, um Menschen an die Amnion zu verkaufen. Das weißt du genau. Aber du magst den logischen Konsequenzen deiner eigenen Entscheidungen nicht ins Auge blicken, du versuchst dich davor zu drücken, indem du dich selbst zum Unhold abstempelst. Du willst beweisen, du hättest verdient gehabt, was die VMKP sich mit dir geleistet hat. Wer würd’s denn kritisieren, den Impfstoff gegen die Amnion-Mutagene einem Illegalen wie dir vorzuenthalten? Wer könnte denn Achtung für Orn Vorbulds Freunde erübrigen? Begreifst du nicht, wohin diese Art von Denkweise führt? Sie endet beim Genozid, Vector. Dem Untergang des gesamten Menschengeschlechts. Schau mich an. Du glaubst, ich stehe hier, um meinen Sohn zu retten. Und du hast recht. Aber ich täte das gleiche, würdest du in der Kosmokapsel stecken. Ich täte sogar das gleiche für Nick.« Ungeachtet ihres Abscheus vor Nick sprach sie damit die Wahrheit. »Ich habe mehr Grund als du, um die VMKP zu hassen. Und mehr Grund als du, um mich vor Nick zu fürchten. Ich hätt’s aber lieber, wir wären alle tot, als diese Art grenzenlosen Verrats zu dulden.«
Sieben Minuten.
Sie trat um zwei Schritte vor: wie eine Stichflamme.
»Geh mir aus dem Weg!«
Langsam löste Vector die verschränkten Arme. Sein Blick hatte sich nach innen gekehrt; seinem Gesicht ließ sich nichts anderes mehr ansehen als die ungesunde Färbung. »Du bist noch immer Polizistin«, meinte er leise. »Egal was du inzwischen getrieben hast. Im Grunde genommen bist du noch ’ne echte Astro-Schnäpperin. Eine der wenigen echten euresgleichen. Du behauptest, du gingst das gleiche Risiko ein, wenn ich in der Kapsel säße. Ich habe das Gefühl, ich kann’s dir sogar glauben. Das ist etwas wert. Natürlich hast du recht. Ich habe die Entscheidungen gefällt, durch die ich in diese Scheiße geraten bin, und jetzt will ich die Folgen nicht tragen.
Wer die Astro-Schnäpper wirklich gründlich aus ganzem Herzen haßt, müßte mehr Haltung haben.«
Indem er zur Seite trat, winkte er in die Richtung seiner Kontrollen.
Morn sprang so schnell darauf zu, daß sie nicht sah, wie Vector seine Füße fest hinstellte, die Beine mit vollem Körpergewicht aufs Deck stemmte; nicht einmal bemerkte, wie er den Arm nach hinten bog. Sie nahm kaum ein Huschen seines Arms wahr, als er ihr mit der vollen Wucht seiner Massigkeit die Faust an den Kopf hieb.
Der Schlag warf sie gegen die Wand und fällte sie im nächsten Moment, als wäre sie mitten durchgebrochen.
Sechs Minuten.
»Tut mir leid.« Irgend etwas machte Vectors Stimme dumpf. Möglicherweise preßte er die geprellten Fingerknöchel auf den Mund. »Du hast’s nicht verdient. Ich wollte nur sicher sein, daß du mich zu nichts gezwungen hast.«
Anscheinend blickte er aufs Chronometer. »Du hast noch fünf Minuten und achtundvierzig Sekunden.«
Morns Schädel dröhnte wie ein Glockenturm. In den ersten Sekunden konnte das Z-Implantat den Schmerz nicht dämpfen. Durch das Wüten der Beschwerden hörte Morn, wie sich die Tür öffnete und schloß.
Du bist noch immer Polizistin.
Zu nichts gezwungen.
Fünf Minuten und…
Schluß mit der Ruhe, sagte eine Stimme, klar und deutlich wie Läuten, zu Morn. Die Zeit läuft ab.
Das Z-Implantat rettete sie: Seine Emissionen unterdrückten Pein und Schwäche, klärten ihr wieder den Kopf; es half bei allem, außer bei der ausreichenden Versorgung mit Luft. Während sie sich aufraffte, japste sie am Rande der Besinnungslosigkeit nach Atem.
Die Kontrollkonsole schien vor ihr von einer zur anderen Seite zu schaukeln; wiederholt verschwamm ihr das Blickfeld. Trotzdem tappte sie vorwärts, ertastete das Türschloß, verriegelte die Tür, um jeden auszusperren, der ihr womöglich nun noch in die Quere kommen wollte.
Dann brachte eine Form artifizieller innerer Festigkeit Morns gestörte Neuronen unter ihren Einfluß. In neuer Schärfe fiel ihr Blick auf die Darstellungen.
Da.
Sie entnahm den Anzeigen, welche Kosmokapsel man in Startbereitschaft versetzt hatte, den Start-Countdown sowie den Status der Lebenserhaltungssysteme, die Abflugstrajektorie und die Bremsmanöver-Parameter. Eine vom Scanningcomputer ausgearbeitete Schematik projizierte die Positionen der Käptens Liebchen und der Friedlichen Hegemonie sowie zwischen den Raumschiffen den vorprogrammierten Kurs der Kosmokapsel auf ein Sichtschirmgerät. Die Abbremsung sollte die Kapsel direkt in eine der Anlegebuchten des Kriegsschiffs befördern.
Die Schematik ging auf automatische Funktionen des Scannings zurück. Morn befand sich nicht in der Hilfssteuerwarte; hier im Maschinenanlagen-Schaltraum hatte sie keinen Zugriff auf Scanningdaten oder Steuersysteme. Sie blieb auf Vermutungen angewiesen. Aber eben weil die Projektion automatisch erfolgte, enthielt das Schema – im Hintergrund – auch Thanatos Minor, zeigte darum auch Geschwindigkeit und Flugrichtung der Käptens Liebchen an; dadurch wiederum konnte Morn die Entfernung des einsamen Gesteinsbrockens und den dorthin eingeschlagenen Kurs schätzen. Sie müßte zu ziemlich genauen Schätzungen imstande sein.
Das Problem war die Zeit. Die Umprogrammierung der Kosmokapsel stellte sie vor eine komplizierte Aufgabe. Morn hatte nur noch eine Frist von viereinhalb Minuten – und nicht einmal angefangen. Um Nicks Kommandokonsole zu neutralisieren, hatte sie keine Gelegenheit mehr, und es wäre Morn ohnedies nur in der Hilfssteuerwarte möglich gewesen. Also konnte alles, was sie veranlaßte, durch Korrektursteuerung – falls Nick sie erwischte – rückgängig gemacht werden.
Aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern.
Sie hastete zu den Antriebskontrollen, aktivierte die Korrektursteuerungen, schnitt das Kommandomodul vom Pulsator-Antrieb ab, tippte den Abschaltbefehl ein. Nun konnte die Käptens Liebchen mit dem konventionellen Antrieb nicht mehr manövrieren, nicht einmal mehr bremsen. In diesem Abstand von Thanatos Minor ergab sich daraus keine Gefährdung des Raumschiffs selbst. Aber es mußte Nick ablenken…
Und in der Tat war er schon an der Interkom. »Vector?« schnauzte er. »Vector! Verdammter Mist, was machst du denn da?«
Dreieinhalb Minuten.
Morn schaltete den Interkom-Apparat aus und kehrte an die Kontrollkonsole für die Kosmokapseln zurück.
So. Von nun an durfte sie sich keine Irrtümer oder Fehler mehr erlauben. Wenn es ihr gelang, die Kosmokapsel umzuprogrammieren, ehe sie startete, befand sie sich außerhalb jeder nachträglichen Beeinflussungsmöglichkeit, sobald sie den Katapultschacht des Raumschiffs verlassen hatte.
Das Z-Implantat verlieh Morn, während sie Nicks Prioritätscodes eingab, unnatürliche Schnelligkeit.
Sie hatte keine Absicht, den vorgesehenen Start zu stoppen, zu versuchen, Davies an Bord der Käptens Liebchen zurückzuhalten. Vector hatte recht: Damit wäre überhaupt nichts erreicht. Was Morn anstrebte, war nicht allzu viel besser; doch zumindest konnte es ihrem Sohn das Leben um einige Zeit verlängern.
Mehr vermochte sie gegenwärtig nicht zu verwirklichen.
Erst kopierte sie ihrer Kontrollkonsole die Programmierung der Kosmokapsel. Dann löschte sie, indem sie sorgsam die Statusanzeigen korrektursteuerte, die normalerweise jede Veränderung der Brücke gemeldet hätten, der Kosmokapsel die Programmierung. Anschließend gab sie neue Befehle ein.
Noch zwei Minuten.
Der angestaute Streß verpreßte Morns Atmung. Weil es unmöglich blieb, für seine Anforderungen genug Sauerstoff einzusaugen, schien es, als legte ihr Körper es darauf an, als Brennstoff sich selbst zu verzehren. Flecken tanzten ihr vor Augen, brachten die Anzeigen ins Flimmern, verwirrten Morns Finger. Sie hatte an ihrem schwarzen Kästchen zu hohe Einstellungen vorgenommen. Irgendwann würde es sie umbringen.
Morn kannte kein Stocken.
Eingangs stimmten ihre neuen mit den alten Befehlen überein. Der Startbefehl behielt Gültigkeit. Die Trajektorie blieb unverändert. Erst vom Moment des ursprünglich geplanten Bremsmanövers an divergierten ihre Befehle. Anstelle des Abbremsens programmierte sie die Kosmokapsel auf Vollschub und Kurswechsel vor, auf einen Kurs an der Friedlichen Hegemonie vorbei nach Thanatos Minor. Falls niemand die Amnion rechtzeitig warnte, fanden sie keine Zeit zu irgendeiner Reaktion: Die Kapsel würde an ihnen vorüber- und davonsausen, ehe sie sie abfangen konnten.
Und beschießen würden sie sie nicht; nach all dem Aufwand, auf den sie sich eingelassen hatten, um Davies in ihren Gewahrsam zu bringen, bestimmt nicht…
Eine Minute.
Allerdings müßte die Kosmokapsel bei Vollschub auf dem Fels Thanatos Minors zerschellen. Es sei denn, Kassafort schoß ihn aus Sicherheitsgründen vorher ab. In beiden Fällen fände Davies, ohne ihm irgendwie entgehen zu können, den Tod in einem Feuerball. Deshalb mußte die Kosmokapsel nachhaltig genug bremsen, um den Aufprall zu überstehen; so wirksam, daß man in Kassafort begriff, sie bedeutete keine Gefahr. Und in dieser Beziehung hatte Morn sich auf Schätzwerte zu stützen; sie konnte nur schätzen, wann und in welcher Stärke es den Bremsschub einzuleiten galt.
Sie war nicht Nick: Sie konnte Algorithmen nicht im Kopf berechnen.
Falls ihre Schätzungen schlecht ausfielen, mußte ihr Sohn sterben.
Egal: Lieber sollte er durch einen Unfall umkommen, als amnionische Mutagene eingespritzt erhalten.
Fünfzehn Sekunden vor dem Start beendete Morn die Programmierung und kopierte sie der Kosmokapsel.
Das war die beste Hilfeleistung, die sie ihrem Sohn erbringen konnte. Sie erwartete nicht, noch lange genug zu leben, um je zu erfahren, ob sie etwas genutzt hatte.
Aber für alle Fälle…
Zu dem Zeitpunkt, als die Kosmokapsel aus dem Katapultschacht fegte und unwiderruflich davonraste, hatte Morn schon die Tür geöffnet und den Maschinenanlagen-Schaltraum verlassen.
Auf der Brücke unterbrach Nick Succorso sein durch Vectors Schweigen ausgelöstes Schimpfen lange genug, um zu beobachten, wie die Kosmokapsel die Distanz zur Friedlichen Hegemonie zurückzulegen begann.
Der Flug war kurz. Lediglich fünftausend Kilometer trennten die beiden Raumschiffe voneinander, und dank des anfänglichen Startschubs übertraf die Kosmokapsel in geringem Umfang die Geschwindigkeit der Käptens Liebchen. Die Überstellung war eine Sache von Minuten. Danach konnte er, hatte Nick das Gefühl, endlich wieder aufatmen. Die Amnion hielten sich an Übereinkünfte. Sie mochten es als gerechtfertigt erachtet haben, ihm fehlerhafte Ersatzteile für den Ponton-Antrieb anzudrehen, aber hier, im Umkreis Station Kassaforts, versuchten sie bestimmt keine faulen Tricks oder billigen Betrügereien.
Trotzdem hatte er, während er die Anzeigen betrachtete, eine böse Vorahnung. Er hatte im Urin, daß irgendeine Panne bevorstand.
»Wie kann er denn so was machen?« nörgelte Carmel mit ihrer üblichen, unverblümten Patzigkeit. »Ohne Schub geben wir ’n leichtes Ziel ab. Aus dieser Entfernung können sie uns fein säuberlich in Stückchen zerschießen. Mensch, sie könnten uns die Kommandoeinheit zerballern, ohne daß das gesamte übrige Schiff was abkriegte.«
»Ich versteh’s auch nicht«, brummte Nick gereizt. »Mach dir selbst ’n Reim drauf. Oder geh ihn suchen und frag ihn. Das ist seine letzte Gelegenheit, um uns ’n Scheiß zu erzählen, ehe ich ihm ’n Arsch aufreiße.«
»Gegenwärtig brauchen wir keinen Schub«, konstatierte der Steueranlagen-Hauptoperator zu Vectors Gunsten. »Und uns bleibt reichlich Zeit, um den Pulsator-Antrieb wieder in Betrieb zu nehmen, bevor wir in die Reede einlaufen.«
»Ich habe alles auf sie gerichtet, was sich unsererseits im Ernstfall aufbieten läßt, Nick«, stellte Malda Verone in sachlichem Ton fest. »Sollten sie das Feuer eröffnen, müßten wir ihnen noch ein, zwei Treffer verpassen können, ehe wir desintegriert werden.«
Dazu schwieg Nick. Die Kosmokapsel hatte ein Viertel der Flugstrecke zur Friedlichen Hegemonie überwunden.
»Er hat wohl davor Schiß, daß sie auf uns feuern«, äußerte plötzlich Lind. »Vielleicht denkt er, sie halten still, solange wir auf Position bleiben.«
Auch dieser Bemerkung schenkte Nick keine Beachtung. Er hegte die feste, unerschütterliche Überzeugung, daß das Kriegsschiff keine Absicht hatte, ihn unter Beschuß zu nehmen; er fühlte sich dessen sogar so sicher, daß er die Mühe gespart hatte, die Käptens Liebchen in Gefechtsbereitschaft zu versetzen.
»Aber wieso?« schmollte Alba Permute. »Warum sollten sie uns nicht abschießen, gerade weil wir wehrlos sind?«
Carmel schüttelte den Kopf. »Ich weiß eine bessere Frage. Weshalb befürchtet er überhaupt, sie könnten das Feuer eröffnen?«
Tatsächlich war das die Frage. Warum sollten die Amnion schießen? Welchen Vorwand könnten sie haben?
Welche Veranlassung könnte für sie entstehen?
Mit einem Schlag verdichteten Nicks böse Ahnungen zu einer Erkenntnis. »Was hat er«, schrie er, wobei er seinen Kommandosessel herumschwenkte, sich von den Bildschirmen abwandte, »mit der Kapsel gemacht?!«
Betroffen starrten Carmel und Malda sich an. Lind klappte der Mund auf.
Wie auf ein Stichwort kam Vector Shaheed durch die Einstiegsblende des Kommandomoduls auf die Brücke.
Sein Gesicht war bleich, so fahl wie Nicks Narben, er sah aus, als drohte ihm Herzversagen. Aber sein Lächeln war von der für ihn charakteristischen, umgänglichen Art, und sein gefaßtes Auftreten gab von seinem Innenleben nichts preis.
»Vector«, empfing Nick ihn mit leiser, unheilschwangerer Stimme, »ich habe dir unmißverständlich befohlen, auf deinen Schaltraum achtzugeben.«
Zwischen zwei Schritten blieb der Bordtechniker stehen. Ein wenig weiteten sich seine Lider. »Was ist schiefgegangen?«
Auf sein Kontrollpult gelehnt, richtete Nick seine gesamte Wut geradewegs auf Vector. »Mein Befehl lautete, unbedingt sicherzustellen, daß nichts schiefgehen kann.«
»Ich weiß. Es ist auch nicht so. Ich meine, es kann unmöglich was… Es hätte nicht dürfen… will sagen…« Näher hatte Nick ihn einem Zustand der Verwirrung noch nie erlebt. »Eigentlich hat gar nichts schieflaufen können. Ich habe gewartet, bis ich völlig sicher gewesen bin. Ich hätte den Schaltraum nicht verlassen sollen, das ist mir klar. Aber ich mußte ins Krankenrevier, ich brauchte was gegen die Schmerzen, Nick. Sonst wäre ich bald arbeitsunfähig gewesen. Ich bin erst fünf Minuten vor dem Start der Kapsel fort. Das kannst du am Computer nachprüfen. Ich bin mir sicher gewesen, daß nichts passieren könnte. Also hab ich den Schaltraum abgeschlossen und bin ab zum Krankenrevier.« Bedächtig wiederholte er seine Frage. »Was ist schiefgegangen?«
Nick gab keine Antwort. Er hatte die Vorahnungen nicht mehr bloß im Urin; inzwischen waren sie ihm ins Gesicht gestiegen. Er fühlte sie unter seinen Augen wie Säure brennen.
Er schwang sich wieder zu den Monitoren herum.
Die Kosmokapsel hatte sich der Friedlichen Hegemonie soweit angenähert, um mit dem Bremsmanöver zu beginnen.
Es hätte jetzt eingeleitet werden müssen.
Das Scanning zeigte die Beibehaltung des Schubs bei.
Eines viel zu starken Schubs.
Die Kosmokapsel wich vom vorgesehenen Kurs ab und nahm erhöhte Fahrt auf. Mit Vollschub flog sie an dem Amnion-Raumschiff vorüber. Innerhalb weniger Augenblicke verließ sie effektiv jeden Einwirkungsbereich.
»MORN!« heulte Nick aus den Tiefen seiner Selbstzweifel und Not. »Du verfluchtes UNGEHEUER!«
»Nick«, teilte Lind ihm mit erstickter Stimme mit, »die Friedliche Hegemonie wünscht dich zu sprechen. Ich habe den Eindruck, man ist dort jetzt nicht mehr so friedlich, wie der Name besagt.«
Sofort meisterte Nick seine Bestürzung. Für so etwas fand sich vielleicht später die Zeit. Möglicherweise konnte er Morn diese Schlappe heimzahlen. Doch gegenwärtig blieb ihm eine Frist von ungefähr zehn Sekunden, um sich und sein Raumschiff vor dem Untergang zu retten.
Mühelos wechselte er in seinen Zustand psychischer Notbereitschaft über, eine geistige Verfassung schärfster, hochgradig kreativer Konzentration, der er sein Ansehen verdankte. Indem er sich trotz der Konsterniertheit, die ringsum herrschte, in seinem Kapitänssessel entspannte, nahm er seine Haltung nonchalanter Kompetenz ein.
»Empfang bestätigen«, befahl er Lind. »Zufunken, daß unverzügliche Beantwortung erfolgt. Dann folgenden Text speichern: ›Kapitän Nick Succorso an Amnion-Defensiveinheit Friedliche Hegemonie. An Bord ist Sabotage verübt worden. Ich wiederhole, es ist Sabotage verübt worden. Unser Pulsator-Antrieb kann zur Zeit keinen Schub erzeugen.
Scannen Sie zur Nachprüfung unsere energetischen Emissionen. Wir sind manövrierunfähig. An der Kosmokapsel, die Ihnen den menschlichen Nachfahren Davies Hyland überstellen sollte, ist gleichfalls Sabotage begangen worden.‹«
Sein Blick streifte die Anzeigen. »Die Kosmokapsel hat Kurs auf Thanatos Minor genommene Carmel, rechne Lind die voraussichtliche Ankunftszeit aus. ›Falls bei der Sabotage eine adäquate Bremsprogrammierung berücksichtigt worden ist, kann es sein, daß Davies Hyland den Aufschlag überlebt. Die Sabotage ist durch Morn Hyland geschehen.‹« Für einen Moment brach seine Wut sich Bahn. »Der reiß ich den Arsch bis zum Kragen auf!« Dann mäßigte er sich wieder. Er atmete tief durch. »Den letzten Satz nicht aufnehmen«, sagte er zu Lind. »Weiterer Text lautet: ›Sie ist aus dem Gewahrsam ausgebrochen. Dafür kann ich momentan keine Erklärung anführen. Wenn wir den Vorfall aufgeklärt haben, informiere ich Sie. Ihre Ansprüche sind nicht erfüllt worden. Ich bedaure diesen Vorgang. Ich bedaure, daß der Eindruck entstanden ist, ich hätte ein Geschäft unehrlich zu betreiben versucht. Um diesen Eindruck zu zerstreuen, sollen Sie wissen, daß ich alle neuen Ansprüche Ihrerseits zu erfüllen bereit bin, solange sie nicht meine Sicherheit gefährden. Teilen Sie mir mit, was wir tun müssen, um für Morn Hylands Verrat einen Ausgleich herzustellen. Um Ihnen zu beweisen, daß ich ehrliche Absichten habe, werden wir den Pulsator-Antrieb erst wieder mit Ihrer Erlaubnis in Betrieb setzen.‹ Den Text funken. Wenn die Antwort eintrifft, auf Audio schalten.«
Vector hatte seine Konfusion überwunden. »Ob das gutgeht?« fragte er auf gelassene Weise.
»Das braucht dich nicht zu kümmern!« geiferte Nick über die Schulter. »Du lebst nicht mehr lang genug, um’s zu erfahren.«
Aber aus Rücksicht auf die übrige Brückencrew – und um sich selbst zu beruhigen – mußte er sich zu der Frage äußern. »Ich glaube nicht, daß sie uns zusammenschießen wollen, wenn’s sich vermeiden läßt. Dann stünden sie nämlich reichlich mies da. Kassafort kann orten, daß wir keinen Schub haben. Unser Funkverkehr wird aufgefangen, so daß man dort weiß, wir versuchen kooperativ zu sein. Und ich wette, wir haben noch immer etwas, das diese Schleimbeutel sich krallen möchten…« Er grinste grausam. »Und zwar etwas, das ich ihnen ohne weiteres auch umsonst gäbe. Malda, schalte die Zielerfassung« – seine Stimme wurde scharf – »auf Wartefunktion. Ich will, daß sie sehen, wie wir unseren Energiepegel reduzieren. Je friedlicher wir wirken, um so besser.«
Ohne eine Bestätigung abzuwarten, aktivierte er die Interkom.
»Mikka, Liete, organisiert ’ne Suche. Schnell und gründlich. Jeder hat mitzumachen. Ich will, daß ihr Morn findet. Sie ist irgendwie aus ihrer Kabine abgehauen. Fragt mich bloß nicht wie. Wenn jemand ihr geholfen hat, dreh ich demjenigen den Hals um. Fangt mit Maschinenraum und Hilfssteuerwarte an. Danach seht euch in den Antriebskammern um, in den Innenbereichen und bei den Aggregaten. Falls sie ’n EA-Anzug an sich gebracht hat, könnte sie sich sogar in den Rumpfsegmenten verstecken. Ihr müßt sie aufspüren, aber laßt nicht zu, daß sie sich das Leben nimmt. Fallt auf nichts rein, womöglich will sie euch dazu verleiten, sie zu töten. Wir brauchen sie aber noch. Tot nützt sie uns nichts mehr.«
Er deaktivierte die Interkom-Verbindung. »Nun kommt schon, ihr elenden Schleimbeutel«, maulte er den Bildschirm an, auf dem man die Friedliche Hegemonie sehen konnte. »Her mit eurer Antwort. Ich will von euch hören, daß ihr uns am Leben laßt. Daß wir diese Klemme ungeschoren überstehen.«
Unvermittelt wandte er sich an den Steueranlagen-Hauptoperator. »Wer könnte ihr bloß geholfen haben?« fragte er. Seine Gefaßtheit schwand, er fing an, aggressiv vor sich hinzuschäumen. »Wer würde so was wagen?«
Weil er nicht stillhalten konnte, drehte er sich Vector zu. »Was hat sie dir geboten?« erkundigte er sich. »War’s irgendwas Perverses, etwa wie ›Schutz vor Strafverfolgung?‹ Oder sexuelle Gefälligkeiten, die deine kühnsten Träume übertrafen?«
Ohne erkennbare Mühe erwiderte der Bordtechniker Nicks Blick. »Du kannst meine Angaben am MediComputer überprüfen«, sagte Vector mit fester Stimme. Die Feindseligkeit rundherum schüchterte ihn nicht ein. »Er wird dir zeigen, wie schlimm meine Arthritis ist. Tatsache ist doch, daß Morn mir gar nichts zu bieten hätte. Hier draußen schweben wir in keiner Gefahr irgendeiner ›Strafverfolgung‹. Und was ›sexuelle Gefälligkeiten‹ anbelangt« – sein Lächeln neigte zu einer Andeutung der Traurigkeit – »bin ich dafür nicht in der Verfassung.«
Während er vor sich hinschimpfte, kehrte Nick ihm erneut den Rücken zu.
Er hielt das Warten nicht aus. Wenn die Amnion nicht bald antworteten, wollte er sich persönlich auf die Suche nach Morn machen. Oder Vector gleich hier auf der Brücke totschlagen. Die Anstrengung, die es ihn kostete, um die Selbstbeherrschung zu bewahren, mutete ihm zuviel zu. Jetzt brauchte er Gewalt.
Er mußte die Frau, die ihm das Gesicht zerschlitzt hatte, zur Rechenschaft ziehen.
»Da kommt die Antwort, Nick«, stieß Lind hervor. Mit einem Knacken gingen die Lautsprecher an.
Allen Anwesenden im Kommandomodul stockte der Atem.
»Amnion-Defensiveinheit Friedliche Hegemonie an vorgeblichen Human-Kapitän Nick Succorso. Sie haben in einem Handelsgeschäft Unehrlichkeit bewiesen. Die Ansprüche der Amnion sind nicht erfüllt worden. Allerdings haben wir Ihre Angaben zum Status Ihres Pulsatortriebwerks als wahrheitsgemäß erkannt. Unsere Vermutungen lassen Sabotage als glaubhafte Ursache zu. Wir bewerten Ihre Unfähigkeit, die Saboteur rin Morn Hyland in Gewahrsam zu halten, als schuldhaftes Versagen. Trotzdem könnte Ihre Vernichtung den amnionischen Interessen nicht zweckdienlich sein. Fliegen Sie zu dem menschlichen Weltraumstützpunkt mit Namen Kassafort und legen Sie dort an. Falls der menschliche Nachfahre Davies Hyland den Aufschlag überlebt, werden Sie ihn bergen und den Amnion ausliefern. Außerdem haben Sie die Saboteurin Morn Hyland auszuliefern. Sollten Sie diese Ansprüche nicht erfüllen, stornieren wir Ihren Kredit. Ferner werden wir in diesem Fall Station Kassafort auffordern, Ihnen Reparaturen und Vorräte zu verweigern. Da Sie zur Durchquerung des Hyperspatiums unfähig sind, müßten Sie den Tod finden. Teilen Sie uns mit, ob Sie mit diesen Forderungen einverstanden sind.«
Über seinem Kontrollpult ballt Nick die Hände zu Fäusten, als drohte er der leeren Luft. »Möchte jemand von euch feilschen?« fragte er höhnisch. »Das ist unsere letzte Chance.«
Alle blickten ihn an. Niemand sprach ein Wort.
»Lind, gib durch, wir sind einverstanden«, befahl Nick, während seine Wut zu nachgerade dämonischer Bösartigkeit anschwoll. Gleichzeitig kam ihm eine Inspiration, ein intuitiver Geistesblitz. »Sag ihnen, daß ich alles tu, was in meiner Macht steht, um die Erfüllung ihrer Ansprüche zu gewährleisten.« Er konnte seine Erregung kaum bändigen. »Und daß wir den Pulsator-Antrieb wieder in Betrieb nehmen, sobald sie uns die Erlaubnis geben.«
Alle seine klügsten Entscheidungen waren seit jeher intuitiver Natur gewesen. Das verlieh seiner Reputation den romantischen Anflug, fast etwas Märchenhaftes. Er zögerte nie, sich beim Handeln nach seinen Eingebungen zu richten.
»Wenn du damit fertig bist«, sagte er zum Kommunikatoren-Hauptoperator, »übermittle dem VMKP-HQ ’n Richtstrahlfunkspruch. Nimm die Koordinaten und Codes, die ich dir das letzte Mal genannt habe. Der Text lautet wie folgt: ›Ich habe sie für Sie gerettet. Nun hauen Sie mich hier raus. Tun Sie es nicht, kann ich sie nicht mehr vor der Vereinnahmung durch die Amnion schützen.‹ Text senden.«
Dich werde ich lehren, mich in der Scheiße sitzen zu lassen, drohte er Hashi Lebwohl stumm. Und eure verdammten Ansprüche, fügte er in die Richtung des nahen Kriegsschiffs hinzu, werde ich gründlicher erfüllen, als es euch lieb ist.
Und du wirst die Zeche zahlen, verhieß er Morn.
Vectors Augen schimmerten feucht, als ränge er mit Tränen. Der Steueranlagen-Hauptoperator hielt den Kopf geduckt. Aus Gründen, die sie wahrscheinlich selbst nicht verstand, kicherte Alba krampfhaft. Malda starrte Nick ununterbrochen an wie eine Gebannte. Carmels düstere Miene spiegelte keine Zustimmung.
»Mikka?« heischte Nick in die Interkom. »Liete? Habt ihr sie noch nicht geschnappt? Braucht ihr Unterstützung?«
Bisher hatte weder die Erste Offizierin Morn gefunden noch Liete.
Morn wäre umgehend von ihnen entdeckt worden, hätte Nick ihnen den Tip gegeben, in seiner Kabine nachzuschauen. Während er mit den Amnion verhandelte und ihr Sohn auf Thanatos Minor zuraste, hielt sie sich dort auf und durchsuchte sie mit äußerster Sorgfalt nach seinem Bestand des Medikaments, das ihn gegen die Amnion-Mutagene immunisierte.
Aber man fing sie erst später wieder ein, als sie den Versuch unternahm, sich in einer der Kosmokapseln zu verbergen.
In wortloser Erbitterung legte Mikka ihr Handschellen an, während Liete die Brücke anrief, um Meldung zu machen.
»Schafft sie ins Krankenrevier«, fauchte Nick, als ob er Säure versprühte. »Legt sie schlafen. Ich habe keine Zeit, um mich mit ihr zu befassen, bevor wir auf Reede sind. Und nehmt ihr das gottverdammte Zonenimplantat-Kontrollgerät ab.«
Morn zuckte nur die Achseln, als hätte sie inzwischen das Sterben erlernt. Sie begegnete ihrem Verhängnis mit stoischer Miene und leistete keinen Widerstand, während Mikka und Liete sie zum Krankenrevier schleppten, auf einer Polsterliege ausstreckten und ihr Kat in die Venen spritzten.