7
Finsternis. So vollkommene Finsternis wie die Schwärze des Weltraums; vom schwarzen Weltall nur getrennt durch einen zerbrechlichen Rumpf, der verschwunden zu sein schien, als hätte er nie existiert. Die Leere, das Vakuum, schien schlagartig ins Innere dieses Rumpfs eingedrungen zu sein, und damit die bittere Kälte des Todes.
Dunkelheit und Luftlosigkeit; atavistische Panik.
Morn bewahrte Halt an der Armlehne von Nicks Andrucksessel, klammerte sich dermaßen gewaltsam daran fest, daß der eigene Kraftaufwand ihre Beine vom Deck hob, ihren Körper ins Schweben versetzte. Sie hätte zäher sein müssen. Sie gehörte zur VMKP: Die Polizeiakademie hatte sie für solche Notsituationen geschult. Doch als das Dunkel sie umhüllte, hatte es sie mit derartig unanfechtbarer Absolutheit umfangen, daß sie keine Gegenwehr wußte. Darin glich es dem Hyperspatium-Syndrom. Sie hatte ihre gesamte Familie, alle ihre Verwandten, ums Leben gebracht; niemand war ihr geblieben außer dem Kind. Es gab keinen Schutz gegen die unergründliche Kluft zwischen den Sternen.
Keiner der Menschen ringsum hatte dagegen irgendeinen Schutz.
Allerdings spürte Morn noch Schwerkraft.
Nicht die zentrifugale Schwerkraft der Eigenrotation; nichts so deutlich Bemerkbares. Es handelte sich um lineare, zwar schwache, jedoch beständige Gravitation längs eines Vektors, in dem sie der Zugkraft ihrer Arme entgegenwirkte.
Diese G entstand durch die Kurskorrektur… Der Maschinenraum arbeitete mit den Parametern der Steuerung. Noch erfolgte der minimale, aber gleichmäßige Seitwärtsschub, der die Käptens Liebchen allmählich in die Flugrichtung ihres tatsächlichen Ziels lenkte.
Das Raumschiff war noch flugtüchtig.
»Liete!« hallte plötzlich Mikkas Stimme durch die Brücke. »Liete Corregio! Kaltstart des Wartungscomputers vornehmen! Wir brauchen hier oben Licht. Wir benötigen Luft.« Liete Corregio war die Zweite Offizierin, also Nicks zweite Stellvertreterin. Mikka mußte sie mit der Aufsicht im Mittelbereich des Raumschiffs betraut haben.
Aus Mikkas Handkommunikator knisterten Worte, die für Morn lediglich wie Geschnatter klangen. »Zum Henker, was glaubst du denn, was passiert ist?« entgegnete Nicks Erste Offizierin. »Kaltstart, hab ich gesagt!«
Fast augenblicklich erhellte flackernde Beleuchtung das Kommandomodul. Mit hörbarem Knirschen erneuerte die Käptens Liebchen ihre Rotation.
Das eigene Gewicht warf Morn abwärts, sie prallte mit den Füßen so heftig aufs Deck, daß ihr die Fußsohlen weh taten, und fast verrenkte sie sich das linke Knie. Nur ihr Klammergriff an Nicks Sitz hielt sie aufrecht. Das Schnaufen rings um sie wich Lauten des Aufatmens.
»So ein elender Drecksack«, grummelte Carmel. »Das Virus ausgerechnet da hineinzusetzen…!«
Nick schüttelte den Kopf. Ein kümmerliches Grinsen umspielte noch seinen Mund, aber er runzelte angestrengt die Stirn. Er wirkte, als wäre er sich dessen nicht bewußt, was er tat, als seine Hände den Wartungscomputer von seinem Kontrollpult abkoppelten.
»Danke«, rief Mikka harsch in ihren Handkommunikator, ehe sie das Gerät zurück an ihren Gürtel hakte.
Sie wandte sich an Nick. »Du glaubst nicht, daß ’s das schon war, wie?« fragte sie. »Aber was hat dann diesen Stromausfall herbeigeführt?«
»Oh, es war das Virus, davon bin ich überzeugt«, sagte Nick versonnen. »Aber die Sache war zu einfach. Wir können die Bordsysteme unbegrenzt durch die Automatik regeln lassen, wenn’s sein muß. Das hat Orn gewußt. In der Wartung kann das Virus uns nicht ernsthaft gefährlich werden. Das wirkliche Problem steckt irgendwo anders.«
Dem stimmte Morn insgeheim zu. Ihr tiefes Grauen vor der Leere des Alls spiegelte ihr vor, sie bekäme zuwenig Luft in die Lungen, obwohl die Skrubber der Luftfilteranlagen für keine volle Minute außer Betrieb gewesen waren; aber so oder so hegte sie die Überzeugung, daß Nick recht hatte. Ein Virus, das das Raumschiff nicht effektiver lahmlegen konnte, hätte Orn nicht befriedigt.
In unsinniger Besorgnis versuchte sie, das Kind in ihrem Leib zu erfühlen, seine Verfassung einzuschätzen. Aber natürlich war es noch viel zu winzig, um irgendwie feststellbar zu sein.
Grimmig beschloß sie, es bei der nächsten Gelegenheit abzutreiben. Sie durfte es sich nicht erlauben, durch Sorge um ein Kind irritiert zu werden, das sie sich nicht gewünscht hatte und das sie gar nicht wollte. Der Gedanke, es könnte durch das plötzliche Ausbleiben der Schwerkraft und ihre ebenso abrupte Wiederkehr – oder durch Morns eigene Verstörtheit – verletzt worden sein, rief bei ihr erneuten Ekel hervor.
»Guter Gott, bei uns geht ’n Virus um!« Lind kicherte am Rande der Hysterie. Er aktivierte an seiner Kontrollkonsole Funkfrequenzen und blökte in die Dunkelheit des Alls hinaus. »Antibiotika! Wir brauchen Anti-bi-otikaaa!«
Unverzüglich stapfte Mikka die hohlkehlige Krümmung der Brücke hinauf und schwang neben Linds Platz bedrohlich die Hüfte heraus. »Legst du’s auf ’ne Degradierung an?« fragte sie. »Scorz wird deinen Posten gern übernehmen.«
Lind überwand seine Erregung, schüttelte den Kopf.
»Dann halt die Klappe. Wir anderen versuchen hier den Durchblick zu behalten.«
»Was machen wir als nächstes?« erkundigte Malda Verone sich bedächtig. »Habt ihr nun vor, das Virus zu isolieren, oder wollen wir erst weitere Tests durchführen?«
Nick warf ihr ein gefährliches Lächeln zu. »Wir testen die Zielerfassung. Reaktiviere deine Kontrollen. Materiekanonen Ladung zuleiten. Schalte die Zielerfassung auf die Monitoren.«
Malda wollte den Befehl ausführen, aber dann stutzte sie. »Ohne Scanning bin ich praktisch blind«, sagte sie.
»Reaktivieren, Carmel«, ordnete Nick ohne Zögern an. »Scanning mit Zielerfassung assoziieren.«
»Die Verbindung geht über dein Kontrollpult«, bemerkte Carmel. »Es könnte sein, wir verlieren die Scanningdaten genauso wie die Zielerfassungsdaten. Vielleicht sogar die Kommandofunktionen.«
»Tu, was ich sage!« Nicks Ton ließ für Argumente keinen Raum. »Willst du bei dieser Geschwindigkeit blindlings drauflosschießen? Mein Kontrollpult« – den letzten Satz fügte er einen Moment später hinzu – »haben wir ja schon überprüft.«
»Nick…« Mikka konfrontierte ihn mit ihrer unnachgiebig harten Miene. »Es kann sein, es wäre besser, das alles etwas langsamer anzugehen. Wir haben Zeit.«
Nick hob nicht die Stimme. »Ich will das Virus finden.«
Seine Erste Offizierin schwieg.
Auch sonst ließ niemand Bedenken verlauten. Carmel und Malda arbeiteten stumm, in intensiver Konzentration, vor sich hin.
Nachdem Morn im Hinblick auf ihr Kind einen Entschluß gefaßt hatte, war sie seltsam erleichtert, als hätte sie mit dieser einen Entscheidung auch ihre sämtlichen sonstigen Schwierigkeiten aus der Welt geschafft; fast fühlte sie sich beflügelt. Insofern hatte die Festlegung Ähnlichkeit damit, sich dem Einfluß des Z-Implantats zu überlassen: Sie befreite sie von ihren Ängsten, ihrer Furcht, ihren Beschränkungen, dem tiefen Abscheu, der in ihr fraß. Es bangte ihr nicht mehr davor, was als nächstes geschehen mochte.
Geschwächt durch den längerwährenden Streß, verließ sie Nicks Seite und ging zum zeitweilig verlassenen Posten des Bordtechnikers; sie lehnte ihren Rücken in die Konturen des Andrucksessels und schnallte sich an. Argwöhnisch beobachtete Mikka sie, und auch Nick schaute in heimlicher Verunsicherung kurz herüber; aber niemand äußerte Einspruch.
»Fertig«, meldete Carmel.
»Da.« Malda tippte Tasten, und auf einem der großen Monitoren erschien ein Zielraster. Phosphorgrüne Linien bildeten die Umrisse eines simulierten Angreifers, eines Raumschiffs auf Parallelkurs. Anzeigen auf demselben Bildschirm benannten Entfernung, Geschwindigkeit, Schiffstyp, Waffenstatus. Morn starrte die Daten an. Malda hatte eine Zielkonfiguration ausgesucht, die eindeutige Ähnlichkeit mit der Stellar Regent aufwies.
Die Stellar Regent war so gebaut gewesen, daß sie mehr einem Erzfrachter als einem Zerstörer geähnelt hatte. Das simulierte Ziel stellte irgendeine Art von Frachter dar.
Morn konnte sich nicht des absonderlichen, mit einer gewissen Desorientierung verbundenen Gefühls erwehren, sie müßte nun den Tod ihrer Familie noch einmal erleben.
»Feuer!« befahl Nick.
Malda drückte Tasten.
Morn meinte, sie hörte ein unterschwelliges elektronisches Seufzen, als der Bildschirm erlosch.
Von ihrem Platz aus konnte sie – an Maldas gesenktem Kopf und Wippfrisur vorbei – die Kontrollkonsole zur Zielerfassung und Waffenbedienung sehen. Sämtliche Statusindikatoren und Anzeigen waren vom Bildschirm verschwunden.
»Scheiße!« schnob Carmel. »Da haben wir’s, das Scanning ist im Arsch!«
Lind stieß ein erschrockenes Keckern aus.
Mikka Vasaczk schnauzte Instruktionen in ihren Handkommunikator, gab der Bereitschaft im Mittelbereich des Raumers durch, sie sollten Kaltstarts der Zielerfassungs- und Scanningcomputer vornehmen.
Nick verzog das Gesicht zu einem Grinsen gleichermaßen des Durchsetzungswillens und der Verzweiflung. Über seinen Narben, inmitten seiner Prellungen, glänzten heiß die Augen; er erweckte den Eindruck, als ob er fieberte. »Status«, forderte er grob. »Statusmeldung!«
Integrierte Programme nahmen die Funktionen neu auf; Maldas Kontrollkonsole setzte den Betrieb fast augenblicklich fort; das gleiche geschah an Carmels Platz. Die Scanning-Hauptoperatorin fing zu tippen an, daß das Geklacker wie Feuer aus Maschinenwaffen klang, überprüfte die Apparaturen und Dateninformationen. Etwas langsamer, ihrer Sache weniger sicher, machte sich auch Verone an die Arbeit.
Nick konnte sich nicht mehr beherrschen. »Gottverdammt noch mal!« brüllte er. »Ich will eure Statusmeldungen haben!«
Carmel drosch die Faust auf die Seite ihrer Kontrollkonsole, schwenkte ihren Sitz und drehte sich Nick zu. »Meine Funktionen sind gelöscht«, erteilte sie mit harter Stimme Auskunft. »Wir sind noch zum Orten imstande, können aber nichts mehr identifizieren.«
Sie brauchte nicht zu erläutern, daß Scanning ohne spektrografische Sternenanalysen, ohne die Möglichkeit zum Kompensieren der Dopplereffekt-Verschiebungen, ohne irgendwelche Mittel zum Ausfiltern interstellarer Schemen und Schatten, ohne die umfangreichen Datensammlungen, die die diversen Echos der Raumschiffe und Planeten, Asteroidengürtel und Solarwinde differenzieren konnten, keinerlei Nutzen hatte.
»Bei mir ist es das gleiche«, sagte Malda in gepreßtem Ton. »Ich kann nicht mal noch Simulationsprogramme laden.«
»Mackern…« Nick stellte keine Frage. »Du hast die Sicherstellungsdateien.«
Die Konzentration trieb dem neuen Hauptoperator der Datensysteme Schweiß auf die Stirn. Seine Stimme klang, als seien seine Nerven vollständig zerrüttet. »Ja, hab ich.«
»Wiederherstellung vornehmen!« ordnete Nick an. »Zuerst Scanning, dann Zielerfassung.«
Morn schüttelte den Kopf. Nicht gut genug. Ihr Kopf ruhte so leicht auf ihren Schultern, daß sie ihn ohne jede Mühe schütteln konnte. Auch wenn die Wiederherstellung der integrierten Programme zustande kam, behob sie kein Problem, klärte sie nichts.
Außer das Virus hatte sich selbst mitgelöscht.
Daran jedoch glaubte Morn nicht.
Was Nick tat, konnte die Schwierigkeiten höchstens verschlimmern.
Aber niemand erfragte Morns Meinung.
Doch anscheinend verliefen Mikkas Gedankengänge ähnlich. Sie wiederholte Carmels vorhin geäußerten Einwand. »Das geht auch durch dein Kontrollpult. Es könnte sein, daß uns diesmal das Datenbanksystem abhanden kommt.«
Fiebrig glitzerte Nicks Blick sie an. »Hast du bessere Einfälle?« fragte er mit gefährlicher Ruhe. »Oder möchtest du lieber blind und wehrlos durch All trudeln?«
»Nein.« Mikka gab nicht nach. »Ich glaube bloß, wir brauchen die Sache nicht derartig zu überstürzen. Scanning und Zielerfassung können wir schon abschreiben. Wenn wir die Kapazität zur Datenanalyse auch verlieren, sind wir endgültig erledigt.«
Nochmals schüttelte Morn den Kopf.
Für einen Moment erweckte Nick den Eindruck, als reizte Mikka ihn zu einem Wutausbruch. Er zeigte die Zähne, seine Narben schwollen, als wären sie entzündet. Seine Prellungen quollen auf. Die Käptens Liebchen stand unter Attacke: Orn hatte ihn angegriffen. Nick hatte das lebhafte Bedürfnis, sein Raumschiff zu verteidigen.
Aber sein Raumschiff brauchte die Menschen, die an Bord arbeiteten; er brauchte seine Besatzung. Statt in einen Wutanfall auszubrechen, hüllte er sich in einen Mantel der Gelassenheit.
»Sie ist nicht der Ansicht«, antwortete er, indem er in Morns Richtung nickte, »daß wir erledigt sind.« Sein Tonfall klang ebenso liebenswürdig wie unheilvoll.
Er wandte sich wieder Mackern zu.
»Worauf wartest du?«
Schweiß rann Mackern übers Gesicht; er troff ihm vom Kinn auf Hände und Kontrollkonsole. Er versuchte, sich an der Schulter die Augen auszuwischen. »Es dauert halt ’n Momentchen.« Seine Finger zitterten über der Tastatur. »Ich muß die Daten erst markieren und Übertragungswege für sie festlegen.« Schwächlich piepste seine Stimme. »Ich habe so was«, fügte er hinzu, »noch nie gemacht.«
»Und wie, zum Henker«, stellte Carmel eine rhetorische Frage, »bist du an Bord dieses Raumschiffs Hauptoperator der Datensysteme geworden?«
Nicks Narbengesicht feixte. »Durch Einarbeitung. So klappt’s am besten.«
Mackern gab keine Antwort.
Morn dachte, innerlich von der Spannung ringsherum gänzlich losgelöst, über ihre Situation nach. Die Gefährdung der Käptens Liebchen berührte sie nicht mehr; jedenfalls nicht im unmittelbaren Sinn. Aus irgendeinem Grund hatte sie vorher nicht erkannt, daß sie das Virusproblem ausräumen konnte. Vielleicht hatten Orn und all die Gewalt sie durcheinandergebracht; oder die Tatsache ihrer Schwangerschaft. Jetzt jedoch wußte sie, daß sie die Lösung greifbar hatte.
Sie gehörte der VMKP an. Sie hatte noch ihre Id-Plakette – verfügte nach wie vor über ihre Codes.
Darüber nachzudenken, lohnte sich für sie nicht. Die Bredouille des Raumschiffs hatte für sie jegliches Interesse verloren. Statt dessen durchdachte sie die Weiterungen der Entscheidung, ihren Sohn abzutreiben. Bei vordergründiger Betrachtungsweise gab es keine Konsequenzen. Niemand wußte über ihre Schwangerschaft Bescheid; ein Abgang des Kindes änderte überhaupt nichts. Sämtliche Folgen blieben auf sie selbst beschränkt.
Wie jede Frau hatte sie oft ans Kinderkriegen und – haben gedacht, das aufregende Erlebnis, Leben in sich wachsen zu spüren, die notwendige Pein und das Befreiungserlebnis der Geburt. Von Zeit zu Zeit hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, einen Sohn zu haben; sie hatte sich vorgestellt, ihn nach ihrem Vater zu nennen.
Aber auf diesem Wege sollte es nicht sein. Dies Kind verkörperte Angus’ letztes Verbrechen an ihr; es war durch Grausamkeit und Vergewaltigung gezeugt worden. Ein normaler Befehl an den MediComputer würde es entfernen. Darin sah Morn nichts anderes als Gerechtigkeit.
Und doch war das anfängliche Gefühl des Schocks und Hintergangenseins von ihr gewichen. Ihr Entschluß, das Kind abzutreiben, hatte ihr Leichtigkeit und Distanziertheit eingeflößt, ähnlich wie einer Frau, die sich zum Freitod entschlossen hatte.
»Fertig«, meldete einen Moment später Mackern mit gepreßter Stimme. »Glaub ich wenigstens.«
»Dann los!« sagte Nick.
Mackern holte tief Luft und tippte auf die Befehlstaste.
Bei Scanning und Datensystemen erfolgte gleichzeitiger Absturz der Programme.
Mackern stöhnte laut auf, schlang die Arme um seinen Kopf.
Malda sah aus, als hyperventilierte sie.
»Wir sind erledigt«, raunte Lind, in dessen weit aufgerissenen Augen Entsetzen stand. »Wir sind erledigt. Wir sind verloren.«
»Verloren«, wiederholte ratlos der Mann am Kontrollpult der Steuerung.
»Ach, nun haltet erst mal ’s Maul!« Mikkas Schultern sanken ein; sogar sie wirkte jetzt entmutigt. »Kaltstart«, sagte sie in ihren Handkommunikator. »Scanning und Datensysteme.«
Sobald Carmels Kontrollkonsole den Betrieb wiederaufnahm, probierte sie sie aus und meldete gleich darauf, daß sich an der Löschung nichts geändert hatte.
Mit sichtlicher Mühsal senkte Mackern die Arme vom Kopf. Dann aber schien bei ihm irgend etwas auszusetzen; allem Anschein nach wußte er nicht mehr, welche Tasten er drücken sollte. Mit schweißigem Gesicht glotzte er auf seine Tastatur und regte keinen Finger. »Hab ich das angestellt?« fragte er. Seine Lippen bebten. »Ist das meine Schuld?«
Unflätigkeiten murmelnd, näherte Mikka sich durch die Wölbung der Brücke seinem Sitz. Möglicherweise hatte sie vor, Mackern eine Ohrfeige zu verpassen; oder vielleicht kannte sie sich gut genug mit seinem Aufgabenbereich aus, um ihm behilflich sein zu können.
Mit einem abgehackten Wink der Hand – einer so beherrschten Geste, daß Morn sie beinahe übersah – hielt Nick seine Erste Offizierin zurück.
Mikka wandte sich von einer Stelle fast genau über Nicks Scheitel an ihn, zeigte ihm den Handkommunikator vor. »Soll ich Parmute rufen?« fragte sie. Nick schüttelte knapp den Kopf und beendete damit Mikkas Eingreifen. Er kämpfte um das Überdauern der Käptens Liebchen. Für ihn hieß das, er hatte sich persönlich um seine Leute zu kümmern.
»Mackern.«
Der Datensysteme-Hauptoperator setzte sich aufrecht hin, als hätte Nick mit einer Peitsche an seinem Rückgrat entlanggestrichen. »Tut mir leid, Nick«, sagte er, ohne seinen Kapitän anzublicken. »Ich bin nun mal nicht Orn… So gut wie er bin ich nicht. Von Computerviren hab ich keine Ahnung.«
»Mackern«, wiederholte Nick mit der Schärfe eines Filiermessers. »Ich wünsche eine Meldung.«
»Ja«, winselte Mackern. »Entschuldigung. Jawohl.«
Ein Zittern durchlief seine Schultern, während er Tasten tippte.
Sobald seine Apparate sich wieder in Betrieb befanden, testete er die datenanalytischen Kapazitäten der Käptens Liebchen. Mit Mikroprozessorgeschwindigkeit tätige integrierte Programme lieferten ihm nahezu augenblicklich Prüfresultate.
»Es ist weg.« Im allgemeinen Schweigen hatte seine Stimme einen gespenstisch hohlen Klang. »Unsere Daten… Alles.« Es mochte sein, er hätte am liebsten geschrien, aber er hatte zu große Furcht. »Alles ist gelöscht. Wir sind wirklich erledigt.«
»Gottverdammte Scheiße noch mal, Nick!« wetterte Mikka. »Ich habe dich gewarnt.«
Nicks von Schwellungen umringten Narben glänzten so hellrot, als hätte er Blutgeschmier im Gesicht.
Zum drittenmal schüttelte Morn den Kopf.
Die Gefahr war Realität; soviel Einsicht hatte sie. Morn verstand vollkommen, was für einen Alptraum es bedeutete, auf einem Blindflug durch den endlosen Schlund der Galaxis zu sein. Aber es ließ sie kalt. Solange die Position des Raumschiffs bestimmt, die andauernde Kurskorrektur der Käptens Liebchen ins Verhältnis zum Ziel gesetzt werden konnte, war sie nicht zum Untergang verurteilt. Keiner von ihnen war verloren.
Irgend jemand mußte sie angesprochen haben. Falls ja, hatte sie es nicht bemerkt; ihre konzentrierte Aufmerksamkeit galt anderem. Aber einen Moment später fiel ihr auf, daß die gesamte Brückencrew sie anstarrte.
Mackern bebten die Lippen. Mikka und Carmel starrten Morn mißtrauisch an. Lind quollen schier die Augen aus den Höhlen, sein Adamsapfel ruckte wie ein Motorkolben auf und ab. Malda Verone hielt mit beiden Händen ihr nach hinten gestrichenes Haar fest, als meisterte sie damit ihre Furcht. Infolge der Weise, wie der Steueranlagen-Hauptoperator Morn anblickte, sah er aus, als hätte er das eigene Kinn verschluckt.
»Warum nicht, habe ich gefragt«, wiederholte Nick. Morns Versonnenheit stieß bei ihm auf keinerlei Geduld. »Mackern und Lind behaupten ständig, wir seien erledigt. Aber du schüttelst immer nur den Kopf.« In seiner Stimme schwang offen der Wille zur Nötigung mit. »Warum sind wir deiner Meinung nach nicht verloren, will ich wissen.«
Morn unternahm eine bewußte Anstrengung, um aus dem Reich der Gelassenheit und Sorglosigkeit, in das ihre Entscheidung über den Tod sie entrückt hatte, in die Gegebenheiten der Wirklichkeit zurückzukehren. »Verzeihung.« Ihre Stimme klang, wie sich ihr Kopf anfühlte: nach Leichtigkeit und Abgehobenheit.
»Ich dachte, der Fall wäre euch klar. Ihr habt ja selber ständig darüber geredet, daß ich von der VMKP bin. Ich habe gedacht, ich bräuchte euch nichts zu erklären.«
Mühsam bezähmte Nick seine Verärgerung. »Was nicht zu erklären?«
»Von Computerviren verstehe ich auch nichts. Ich kann nicht beheben, was Vorbuld angestellt hat. Aber ihr braucht wegen der Löschung nicht zu verzweifeln. Es ist nicht alles verloren. Nicht die Daten sind das Problem, sondern die Funktion. Sichten könnt ihr ja alles, was ihr wollt. Das Virus hindert euch nicht daran, Daten zu lesen. Ihr könnt bloß keine Funktionen mehr veranlassen, ohne daß ’n Absturz der Systeme auftritt. Vielleicht ist es sogar unmöglich, die Kurskorrektur zu beenden, ohne die Steuerungsdaten zu löschen.«
»Morn…«, begann Nick; er stand kurz vor der Tollwut.
»Haben Sie nicht alle beisammen?« unterbrach ihn Mikka, fuhr Morn regelrecht an. »Sicher sind die Programmfunktionen in den integrierten Schaltungen festgespeichert. Aber die Daten sind doch jetzt weg.«
Abermals schüttelte Morn den Kopf. »Nein, sind sie nicht.«
Für die Dauer eines Herzschlags starrten alle sie an; für zwei, drei Herzschläge.
Dann glitt ein Ausdruck des Begreifens, als bräche er in Frohlocken aus, über Nicks Gesicht. »Weil du von der VMKP bist.«
Morn drehte sich ihm direkt zu. »Ich habe Zugriff auf euren Data-Nukleus.« Ihre Abhilfe wäre vorübergehender Art; aber bewähren konnte sie sich. »Die Gesamtheit aller Daten, die ihr je gehabt habt, jedes bißchen, ist dort als Kopie gespeichert. Data-Nuklei kopieren Borddaten automatisch und fortlaufend. Und in Permanentspeicherung. Die kopierten Daten können weder gelöscht noch abgeändert werden. Ich kann für euch auf die Kopien zugreifen. Ich habe ja meine Id-Plakette. Die Codes sind mir bekannt. Ich kann alles in eure Computer zurückkopieren. Kann sein, es beansprucht ein, zwei Tage« – der insgesamte Umfang der im Data-Nukleus gespeicherten Informationen lief wahrscheinlich auf Tausende von Gigabyte hinaus –, »aber ihr könnt alles wieder dort installieren, wo’s vor ein paar Minuten noch gewesen ist.«
»Das ist ja ’n Ding«, brummelte der Steueranlagen-Hauptoperator wie in aufrichtiger Ehrfurcht.
Nicks Augen leuchteten Morn in ehrlicher Freude an.
»Einen Moment mal«, sagte Mikka. »Moment mal.« Dem Klang ihrer Stimme nach hätte sie einen Boxhieb ins Zwerchfell erhalten haben können. »Und was ist mit dem Virus?«
Morn hob die Schultern, ohne die Augen von Nick zu wenden. »Nach meiner Vermutung ist er ebenfalls im Data-Nukleus gespeichert.« Sie war sich der Sicherheit, mit der sie sprach, kaum bewußt. »Er dürfte mit allem anderen auch wieder auftauchen.«
»Dann stehen wir danach vor dem gleichen Problem.«
»Aber das Raumschiff kann navigiert werden«, antwortete Morn. »Wir können ersehen, wo wir sind.«
Was wollt ihr mehr von mir?
Unvermittelt rieb Nick sich die Hände, patschte sie danach auf seine Kontrollkonsole. Er hatte seinen Übermut wiedergewonnen. »Beim Arsch der Galaxis, wir tricksen das Ding einfach aus. Ich scheiße auf das Virus. Soll der Kassierer ihn für uns killen. Solange das Virus da ist, überlisten wir es. Die Bordsysteme können wir auf Automatik geschaltet lassen. Kann sein, uns geht’s dabei nicht ganz angenehm, aber wir bleiben am Leben. Wir benutzen die Computer, um unsere Berechnungen vorzunehmen, um zu planen, was wir tun müssen. Danach zerlegen wir das Netz und geben an jedem Computer die Befehle manuell ein. Das wird zwar so beschissen schludrig sein, daß wir nicht mal noch an ’ner Signalbake vorbeimanövrieren können, aber wenigstens haben wir dadurch ’ne Aussicht, dort anzulangen, wohin wir wollen.«
Er blickte in die Runde. »Einverstanden?« fragte er. »Ist jeder damit zufrieden?« Doch offensichtlich erwartete er keine Antwort. »Dann fangen wir an. Mackern, laß Morn an deine Konsole. Sie macht die Installation.
Anschließend übernimmst du zusammen mit Parmute das weitere.«
Mit einer weiträumigen Gebärde seines Arms wies er Morn in die Richtung von Mackerns Sitz.
Leichten Mutes und selbstsicher, geleitet durch ihre neuen Prioritäten, ließ Morn am G-Andrucksessel des Bordtechnikers die Gurte aufschnappen und schritt an Mikka, Carmel und Lind vorbei zum Datensysteme-Hauptoperator.
Lind grinste ihr zu wie ein Bengel; Carmel furchte zurückhaltend die Stirn. Mikka musterte Morn aufmerksam, als sie an ihr vorbeiging. »Traust du ihr?« fragte sie Nick.
»Welchen Schaden könnte sie denn nach deiner Ansicht noch anrichten?« lautete seine Gegenfrage. »Es ist schon alles gelöscht. Ohne die Daten steckt sie genauso wie wir in der Tinte.«
Damit sprach er die Wahrheit aus. In diesem Moment hegte Morn keinerlei Hintergedanken. In einer solchen Lage hätte sich womöglich sogar Angus Thermopyle grundehrlich verhalten.
Aber er hätte keinen Finger gerührt, um seinen Sohn zu retten. Wäre Morn noch in seiner Gewalt gewesen, hätte er möglicherweise einige der eher obskuren Funktionen des Z-Implantats mißbraucht, um ihr einen möglichst schmerzhaften Abortus zu verursachen.
Unterwegs entfernte Morn die Id-Plakette von ihrem Hals.
Mackern gaffte sie an. Seine Haut hatte eine gräuliche Färbung angenommen und wirkte unnatürlich straff, seine Augen schwammen in Schweiß.
Weil er allem Anschein nach mit Männern wie Orn Vorbuld, Nick Succorso und Angus Thermopyle absolut nichts gemeinsam hatte, lächelte Morn ihm zu, als sie die Id-Plakette in seine Kontrollkonsole einführte.
Er erwiderte das Lächeln nicht. Offenbar konnte er es schlichtweg nicht; zu sehr befürchtete er, sich eitlen Hoffnungen hinzugeben.
Mittels der Plakette und ihrer Codes verschaffte sie sich Zugriff auf den Data-Nukleus der Käptens Liebchen; sie initiierte die mit einem Abspielvorgang vergleichbaren Datendarstellungsverfahren, wie sie der Sicherheitsdienst der KombiMontan-Station angewendet hatte, um nach Beweisen zu forschen, die es zugelassen hätten, Angus wegen eines mieseren Vergehens als der widerrechtlichen Aneignung von Stationsvorräten abzuurteilen. »Ehe Sie die Überspielung in Gang setzen«, sagte sie im Anschluß daran zu Mackern, »müssen Sie die Datenübertragungswege bestimmen und die Computer auf Kopierfunktion stellen. Wie man das macht, wissen Sie ja selber.«
Langsam nickte er ein einziges Mal, als hätte er kein Vertrauen mehr zu seiner Halsmuskulatur.
»Wenn die Datendarstellung endet«, ergänzte Morn ihren Hinweis, »brauchen Sie nur meine Id-Plakette rauszuziehen. Dadurch erfolgt ein Kaltstart des Data-Nukleus. Und Ihre Kontrollen werden freigegeben. Dann können Sie wieder an die Arbeit gehen.«
Er nuschelte etwas, das ein ›Danke‹ sein mochte.
Sie kehrte ihm den Rücken zu.
Auf der anderen Seite der Brücke beobachtete Nick sie mit Blut in den Narben und Leidenschaft in den Augen.
»Nick«, sagte Morn, um die Gunst des Augenblicks auszunutzen – und die unbeschreibliche Wandlung, die sich in ihrem Innern vollzogen hatte –, »ich bin’s leid, bloß Passagierin zu sein. Ich will was zu tun. Laß mich Dritte für die Daten sein. In einigem Umfang habe ich ja die passende Ausbildung gehabt, und das Übrige kann ich lernen.«
Laß mich an die Computer. Damit ich herausfinde, was wir tun, wohin wir fliegen. Gib mir eine Chance, um die Wahrheit zu erfahren.
Vertrau mir.
Mikka machte Anstalten, sich dagegen auszusprechen; doch als sie Nicks Miene sah, verzichtete sie darauf, schloß fest den Mund.
Nick grinste breiter. »Ich bin wie ein Flaschengeist«, erklärte er, als wäre alles nur ein ausgeklügeltes Spiel. Sein Tonfall bezeugte eine Mischung aus Vorwitzigkeit und Lüsternheit. »Reibe mich an der richtigen Stelle, und ich erfülle deine Wünsche.« Plötzlich schwang er die Arme hoch über den Kopf empor. »Paff! Und schon bis du Datensysteme-Drittoperatorin.« Lind, Malda und der Steueranlagen-Hauptoperator, vor Streß und Verunsicherung völlig verkrampft, lachten nervös. In Mikkas und Carmels verdrossenen Mienen stand Argwohn. Mackern stieß ein gedämpftes Ächzen aus, einen schwachen Hauch des Aufatmens.
Morn salutierte zackig vor Nick, wie sie es oft vor ihrem Vater getan hatte. Während sie auf sein Spiel einging, verbannte sie jeden Nachklang von Tod und Verlust aus ihrem Gesichtsausdruck.
»Bitte um Erlaubnis, die Brücke verlassen zu dürfen, Kapitän Succorso.«
»Erlaubnis gewährt«, antwortete er, als unterbreitete er damit einen hinlänglich lasziven Vorschlag, um seinen Pulsschlag zu beschleunigen.
Morn Hyland durchquerte, solange sie unvermindert den Vorteil der Situation nutzen konnte, die Konnexblende und verließ das Kommandomodul.
Ohne ihre Id-Plakette; nahezu ohne jede ihr bekannte oder erkennbare Identität. Sie hatte sie für etwas aufgegeben, dessen Wert sie gegenwärtig noch nicht abzuschätzen vermochte.
Aber sie ging nicht ins Krankenrevier. Weil seltsame Ruhe sie durch und durch erfüllte, drängte es sie nicht, die getroffene Entscheidung umgehend in die Tat umzusetzen.