18
Sobald er Morn bemerkte, wirbelte Nick herum. »Gottverdammt noch mal, das ist doch…«
»Nick«, unterbrach ihn Morn atemlos vor Heftigkeit, »du brauchst mich.« Der Korridor war leer; wahrscheinlich konnte niemand belauschen, was sie sagte. »Kann sein, du überlebst die Verwicklungen mit den Amnion«, argumentierte sie, so schnell sie Worte fand. »Aber du kannst nicht mit einer Crew leben, die den Glauben an dich verloren hat. Du mußt mich bei dir haben. Um die Vorstellung zu stärken, daß wir zusammenarbeiten. Solange du vorspiegeln kannst, wir stünden auf derselben Seite, wird man dich auch weiter für Nick Succorso halten, der nie den kürzeren zieht.«
»Mit anderen Worten«, schnauzte er zurück, »du willst, daß ich dir Vertrauen schenke. Du hast wieder einmal direkte Befehle mißachtet, und trotzdem verlangst du von mir, alles zu riskieren, was mir geblieben ist, und mich darauf zu verlassen, daß du mich unterstützt.«
»Das war privat«, erwiderte Morn. Es hatte sie in Schrecken und Erbitterung versetzt, daß ihre Bemühungen, Davies zu helfen, von Nick gestört worden waren; in ihrer Wut interessierten sie keine Konsequenzen mehr. »Jetzt geht’s um öffentliches Auftreten. Daß das ’n Unterschied ist, wirst ja wohl sogar du kapieren.«
Mit einem wüsten Knurren fuhr er herum.
Aber er schlug sie nicht; er grapschte lediglich ihren Arm. Indem er sie fast von den Füßen riß, stieß er sie in Richtung des Lifts.
»Mach deine Sache gut«, maulte er, schubste sie vorwärts. »Je mehr du mich nervst, um so weniger habe ich davon, dich am Leben zu lassen.«
Mach deine Sache gut. Morn hatte längst keine Ahnung mehr davon, was das überhaupt bedeuten sollte. Von Minute zu Minute durchschaute sie ihre Entscheidungen, die Tragweite ihrer eigenen Handlungen, immer weniger. In mehr als nur einer Beziehung war ihr der Einfluß auf die Geschehnisse entglitten. Die Kluft zwischen dem, was sie dachte oder plante, und dem, was sie tat, klaffte stets weiter. Alles an ihr war durch Krampfhaftigkeit und Fieberhaftigkeit gezeichnet, als begänne bei ihr tatsächlich eine Art von Entzug.
Dennoch reagierte sie auf seine Forderung, als könnte er auf sie bauen; als wäre sie ihrer selbst vollständig sicher.
Zusammen eilten sie durch die Käptens Liebchen zur Brücke.
Bei ihrer Ankunft sah man Liete Corregios stumpfer Miene der Kompetenz Erleichterung an. Im Gegensatz zu Morn war sie inzwischen im Krankenrevier gewesen; ihre Verletzungen waren behandelt worden. Außerdem hatte sie sich einige Ruhe gönnen dürfen. Und es hatte ihr nie an Vertrauen in ihre grundlegenden Fähigkeiten gefehlt. Trotzdem merkte man ihr deutlich an, daß sie in dieser Situation das Kommando über das Raumschiff nicht ausüben mochte. Ihre Erleichterung deutete an, daß sie nicht mehr wußte, was sie von ihrem Kapitän halten sollte. Sie wollte ohne seine Anwesenheit keine Konfrontation mit einem amnionischen Kriegsschiff durchstehen, weil sie das Gefühl hatte, nicht mehr in jedem Fall mit seiner Billigung ihrer Maßnahmen rechnen zu können.
Doch Nick nahm keinen Anstoß an der Weise, wie sie sein Erscheinen aufnahm. »Meldung!« ordnete er barsch an, während sein Blick über die Anzeigen schweifte.
Mit einem Nicken wies Liete auf einen Bildschirm. »Es ist vor fünf Minuten aufgetaucht. So ziemlich am Rand unserer Scanning-Reichweite in die Tard zurückgeschwuppt gekommen. Bisher haben wir von dem Schiff nur unzureichende Scanningdaten. Einmal verursachen die Echtzeit-Verzerrungen unseren Sensoren noch Komplikationen. Zum anderen sind wir für derartig starke Dopplereffekte einfach nicht ausgerüstet. Wir müssen acht- bis zehnmal messen, bloß um die Störungen auszufiltern. Im Moment kann ich dir noch nicht mal die Flugrichtung nennen. Aber es ist ’n Amnion-Raumschiff. Da sind wir sicher. Und seine Emissionen ähneln den Identifikationssignaturen eines der Kriegsschiffe, denen wir bei Station Potential begegnet sind, der Stiller Horizont. Durch irgendeinen unglaublichen Zufall befindet es sich genau zwischen uns und Thanatos Minor. Ich meine, direkt dazwischen. Wenn nicht einer von uns den Kurs ändert, werden wir kollidieren.«
Grimmigen Blicks betrachtete Nick die Sichtgeräte. »Wie ist das möglich?« fragte er ungehalten.
Liete nickte dem übelriechenden Frettchen zu, das den Posten des Steueranlagen-Drittoperators hatte.
»Ohne weiteres«, erklärte Pastille, indem sein Schnurrbärtchen zuckte. Er genoß die Gelegenheit, einmal seine Fachkenntnisse zu bekunden. »Alba und ich hätten’s auch geschafft.« Sein Grinsen stellte klar, daß er die mathematischen Probleme als geringfügig erachtete, nicht etwa von Alba Parmute eine hohe Meinung hatte. »Wenn sie unsere Geschwindigkeit, die Beschleunigung, den Vektor und einigermaßen korrekte Hysteresis-Parameter kennen und die Energiekapazität des Hyperfeldgenerators gut schätzen, können sie unsere theoretische Hyperspatium-Durchquerung vom Ausgangspunkt Station Potential bis praktisch in die Unendlichkeit berechnen. Wären sie bei den Hysteresis-Parametern und der Hyperfeldgenerator-Energiekapazität auf Vermutungen angewiesen, war’s unmöglich. Aber sie hatten uns ja die Ersatzteile geliefert, also hatten sie präzise Informationen. Wenn sie so pessimistisch gewesen und davon ausgegangen sind, daß wir ihren Sabotageakt überleben könnten, hat’s ihnen keine großen Umstände bereitet, anhand der Daten herauszufinden, wo sie uns suchen müssen, solange wir auf ihrer Seite des Weltalls in die Tard zurückfallen.«
Das alles war Morn geläufig. Sie war sich sicher, daß Nick ebenfalls darüber Bescheid wußte. Aber Pastille zuzuhören, gab ihm Zeit zum Nachdenken – und der Brückencrew ausgiebig Gelegenheit, ihr und Nicks gemeinsames Auftreten zur Kenntnis zu nehmen.
Unvermittelt wandte Nick sich an den Kommunikationsposten. »Funken sie?«
Der Drittoperator der Kommunikation, der selbst an seinen besten Tagen, gelinde ausgedrückt, unprofessionell arbeitete, wirkte jetzt ernsthaft überfordert, durch und durch nervös. »Ich… ich weiß nicht«, stammelte er. »Ich bin nicht sicher. Es ist soviel Statik da.«
»Nun hab mal ’n bißchen Mumm«, herrschte Nick ihn an. »Leg dich einfach fest und mach ’ne Aussage.«
Simper, der Waffensysteme-Drittoperator, lachte hinter seiner klobigen Faust.
Der Nervöse wurde bleich. »Ich glaube nicht«, sagte er mit weinerlichem Stimmchen, schaute Liete an, als verspräche er sich von ihr Hilfe. »Wenn ja, kann der Computer damit nichts anfangen.«
»Es ist noch zu früh«, mischte Liete sich ein. »Wie gesagt, wir wissen noch nicht, in welche Richtung das Schiff fliegt. Wir können die Entfernung nicht genau genug bestimmen. Selbst wenn sie längst funken, seit sie in die Tard zurückgefallen sind, heißt das nicht, daß wir sie schon empfangen müssen.«
»Gilt das für beide Seiten?« fragte Morn rasch dazwischen. »Haben sie drüben ähnliche Mühe, um uns zu orten?«
Liete dachte über die Frage nach. »Ich wüßte nicht, warum es anders sein sollte. Auf alle Fälle glaube ich, daß sie nicht erwartet haben, uns hier wiederzusehen. Wahrscheinlich überrascht es sie, uns überhaupt wiederzutreffen. Aber daß wir ’ne derartige Geschwindigkeit haben, dürfte sie erstaunen.«
»Alles klar.« Jetzt war Nick zum Handeln bereit. Er erteilte Befehle. »Du übernimmst« – er deutete auf Morn – »die Datensysteme.« Sarkastisch grinste er Parmute zu. »Ist nicht bös gemeint, Alba, aber ich möchte auf dem Posten jemanden haben, der nicht ständig an was anderes denkt.«
Alba Parmute zog einen Schmollmund, fügte sich jedoch ohne Widerrede.
Nick aktivierte den Interkom-Apparat der Kommandokonsole. »Lind, Malda, ich will euch auf der Brücke haben.« Es schien, als erhöhte er einen inneren Regelwiderstand, gewänne an innerer Festigkeit, indem er die Herausforderung der Situation annahm. Mit jedem Augenblick bekam er wieder mehr Ähnlichkeit mit dem Nick Succorso, der nie klein beigab. »Am besten sofort. Am besten wärt ihr schon da.«
Auf dem Weg zur Datensysteme-Kontrollkonsole ging Morn an Alba vorbei. Die Datensysteme-Drittoperatorin versuchte gehässig die Nase zu rümpfen, konnte jedoch nicht die spekulative sexuelle Anerkennung verheimlichen, die sie Morns scheinbarem Einfluß auf Nick entgegenbrachte.
Morn grinste – und erschrak, als ihr auffiel, daß sie jetzt genau so ein Grinsen wie Nick hatte. Sie wurde ihm immer ähnlicher.
Ihm… und Angus.
Für einen Moment warf diese Erkenntnis sie aus der Bahn. Mit unbewußter Routine setzte sie sich ans Kontrollpult, schnallte sich in den Andrucksessel. Aber die Anzeigen und Lämpchen vor ihr blieben zunächst bedeutungslos. Ohne den Schutz des Z-Implantats beeinträchtigte Streß ihre Persönlichkeit, veränderte sie bis zur Unkenntlichkeit.
Dann hörte sie Nicks Stimme.
»Morn, unterstellen wir einfach mal, daß der Quallenkasten richtig identifiziert worden ist. Wir konzentrieren uns mit allem, über das wir verfügen, auf die Stiller Horizont. Ich will eine Berechnung, der sich entnehmen läßt, wogegen wir anzustinken haben.«
Als hätte er auf einen Knopf gedrückt, mit dem sie in Gang gesetzt werden konnte, rief seine Anweisung bei Morn wieder die Fähigkeit wach, ihre Aufgaben zu verrichten. Sie begann Tasten zu tippen, gab Befehle ein, projizierte Daten auf die Mattscheiben.
Wenig später fand sich Malda Verone ein, um Simper abzulösen. Und Lind übernahm, indem er vor sich hinbrummelte, den Kommunikationsposten, pfriemelte sich einen Ohrhörer ins Ohr und machte sich daran, die verwaschene Geräuschkulisse des Vakuums zu filtern.
»Du darfst nichts überhören«, sagte Nick zu ihm. »Wir müssen zu schnellen Entscheidungen imstande sein. Bei dieser Geschwindigkeit hat jeder Seitenschub ’ne Wirkung, als ob man mit ’m Vorschlaghammer ’n Ei knackt. Eventuelle Kurskorrekturen sollten auf das absolute Minimum reduziert werden. Aber bevor wir wissen, was man von uns will, können wir nicht entscheiden, wie wir uns verhalten.«
»Bin schon dabei«, versicherte Lind, ohne in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen. »Ich mach aus jedem Furz Musik.«
»Du sollst nur dafür sorgen, daß er noch stinkt«, spottete Pastille.
Nick überging den Seitenhieb. »Malda, Einsatzfertigkeit aller Waffensysteme sicherstellen. Die Materiekanonen nutzen uns vermutlich wenig, außer wir könnten ’ne Breitseite abfeuern, aber ich will sie für alle Fälle aufgeladen haben. Das gleiche gilt für die Laser.« Die Käptens Liebchen war mit Industrielasern gut ausgestattet: Um gekaperte Schiffe aufzuschneiden, waren sie unentbehrlich. Allerdings zeichneten sich Laserstrahlen, ebenso wie die Strahlen der Materiekanonen, durch Lichtkonstantheit aus; darum bewegten sie sich in der Relation zur gegenwärtigen Fluggeschwindigkeit der Käptens Liebchen zu langsam. Unter diesem Gesichtspunkt mußte man ihre Geschwindigkeit als Nachteil bewerten. Sie verringerte die Wirksamkeit der Waffen. »Und auch die Statik-Minen scharfmachen.«
Malda Verone bestätigte den Befehl erst gar nicht: Sie hatte schon mit der Ausführung begonnen.
»Allum«, rief Nick dem Scanning-Drittoperator zu, »ich brauche mehr Informationen. Ich will wissen, ob das Schiff sich nähert oder entfernt, und wie schnell.«
»Ich auch«, antwortete Allum in einem Tonfall der Mutlosigkeit. »Aber die Ortung ist schlichtweg unklar. Wenn meine Kontrollkonsole sich noch mehr anstrengt, fängt sie zu qualmen an.«
Doch einen Moment später geriet er auf einmal in Erregung. »Augenblick mal. Jetzt arbeitet der Computer die Messungen auf.« Er starrte auf seine Anzeigen. »Das Schiff hat dieselbe Flugrichtung wie wir«, meldete er dann. »Es fliegt auf genau dem gleichen Kurs. Die Geschwindigkeit beträgt« – er tippte ein, zwei Tasten – »annähernd vierzigprozentige Lichtgeschwindigkeit.«
Das bedeutete, daß die Käptens Liebchen das amnionische Kriegsschiff mit halber Lichtgeschwindigkeit überholte.
Eifer steigerte Nicks Konzentration aufs äußerste. »Morn, was wissen wir über das Raumschiff? Was kann es leisten?«
Morn las verschiedenerlei Daten ab. »Diese Klasse von Kriegsschiffen verwendet niedrigen Pulsationsschub. Sie kann so schnell wie wir fliegen – unter normalen Umständen, meine ich –, generiert aber weniger G. Also sind diese Schiffe nicht allzu beweglich. Das korreliert mit unseren Daten der Stillen Horizont. Soweit die gute Nachricht.«
Schlagartig trocknete ihr Gaumen aus. »Die schlechte Nachricht lautet, daß der Kahn groß genug ist, um mit Überlicht-Protonengeschützen ausgerüstet zu sein. Daraus besteht einer der Vorteile geringen Schubs, weil weniger Energie verbraucht wird und eine beträchtliche Energiereserve vorhanden bleibt.« Ein Überlicht-Protonenstrahl hatte Morns Mutter getötet. »Wir könnten keinen Treffer überstehen. Falls es zum Gefecht kommt, ist Beweglichkeit so gut wie unsere einzige Stärke.«
Ihr Gefühl der Fiebrigkeit lief allmählich auf Schüttelfrost hinaus. Ihr Adrenalinhaushalt kam aus dem Gleis. Entzugserscheinungen…
Sollte Nick Ausweichmanöver mit hoher G-Belastung fliegen, geriet sie in ernsthafte Schwierigkeiten. Er hatte ihr schwarzes Kästchen.
Ihre Mutter war im Gefecht getötet worden.
»Sie funken«, rief Lind; seine Stimme krächzte.
Gespannt beugte Nick sich vor. »Dann laß mal hören.«
Lind schaltete die Lautsprecher ein. Sie knackten laut, dumpfe Statikgeräusche knisterten hervor.
»Amnion-Defensiveinheit Stiller Horizont an Human-Raumschiff Käptens Liebchen.« Die ausdrucksarme Stimme durchdrang das Partikelrauschen so deutlich, als ratterte jemand mit einer Schachtel Nägeln.
»Wir fordern Sie zur Einleitung eines Bremsmanövers auf. Die Harmonisierung der Zwecke ist nicht erreicht worden. Die Ansprüche der Amnion sind unerfüllt geblieben. Werden sie nicht erfüllt, stufen wir Sie als feindlich ein. Danach werden Sie durch die Stiller Horizont vernichtet. Um zu überleben, müssen Sie ein Bremsmanöver einleiten.«
Panik wallte in Morn empor. Die Ansprüche sind unerfüllt geblieben. Ein Flackern von Phosphenen machte es ihr unmöglich, die Anzeigen abzulesen. Ihr Mund war dermaßen ausgedörrt, daß sie nicht mehr schlucken konnte. Nach wie vor wollten die Amnion Davies haben.
Oder sie hatten es auf das Geheimnis der Immunität Nicks abgesehen.
Einen Moment lang kaute Nick auf seinen Fingerknöcheln. »Wie groß ist die Übertragungsverzögerung?« fragte er. »Wie weit sind sie entfernt?«
»Fünf Minuten«, gab Lind Auskunft. »Das ist ’ne Schätzung, aber sie müßte ungefähr stimmen. Die Computer verschaffen uns fortlaufend ’n besseres Bild der Lage.«
»Fünf Minuten«, bekräftigte am Scanningposten Allum. »Alles paßt zusammen.«
Neunzig Millionen Kilometer. Und der Abstand verminderte sich mit einer relativen Geschwindigkeit von 150.000 km pro Sekunde. Somit blieb genug Raum zum Manövrieren. Genügend Zeit für Verzweiflungsmaßnahmen.
Die Käptens Liebchen erhielt keine besonders guten Scanningergebnisse. Natürlich nicht. Dagegen konnte das Amnion-Kriegsschiff mit voller Funktionstüchtigkeit geflogen werden, weil es allen von Menschen gebauten Instrumenten überlegene Geräte hatte; keine Scanninganlagen menschlicher Herkunft erzielten diese Reichweite. Nicks Raumschiff sammelte alte Informationen – im Vakuum verteilte Partikelspuren – und extrapolierte auf ihrer Grundlage. Ironischerweise machte eben ihre durch Sabotage entstandene Geschwindigkeit es ihr möglich, über derartige Distanzen hinweg Scanningdaten zu interpretieren, gab ihr eine Chance zur Verteidigung. Eine Weltraumstation – etwa wie die KombiMontan-Station – wäre für die Gegenwart der Stiller Horizont blind gewesen.
»Nick«, sagte Morn, zwängte Wörter aus ihrer trockenen Kehle, »gib ihnen durch, wir haben ’n Schaden. Daß die Havarie des Ponton-Antriebs auch die Steueranlagen der Pulsator-Triebwerke verbrannt hätte. Wir nicht abbremsen könnten.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie merken bestimmt, daß das nicht stimmt.« Er hatte sich in eine derartig ungeteilte Konzentration vertieft, daß ihm die unterschwellige Aussage ihres Vorschlags entging. »Die Ersatzteile sind doch von ihnen. Sie wissen genau, wie unsere Havarie sich abgespielt hat. Lind, folgenden Text aufnehmen: ›Kapitän Nick Succorso an Amnion-Kriegsschiff Stiller Horizont. Ich habe das Kommando über mein Raumschiff zurückerlangt. Ich bedaure, daß meuterisches Verhalten bei meinen Untergebenen die Erfüllung Ihrer Ansprüche verhindert hat. Trotzdem bin ich zu keinem Bremsmanöver bereit. Meine Ansprüche sind ebensowenig erfüllt worden. Eine Beschädigung des Ponton-Triebwerks macht unsere Ankunft auf Thanatos Minor so bald wie möglich dringend notwendig. Wegen der Art der Havarie ist die Erfüllung Ihrer Ansprüche nicht mehr geboten‹.« Vorsichtshalber verzichtete er darauf, die Amnion der Hinterlist zu beschuldigen. »›Um eine Kollision zu vermeiden, ändern wir den Kurs.‹
– Den Text senden. Pastille, du bekommst jetzt ’ne Gelegenheit, um zu beweisen, daß du nicht grundlos den Klugscheißer raushängst. Ich will ’ne Kurskorrektur um ein Grad. Und zwar mit größter Behutsamkeit. Unter einem Ge Schub. Auf diesem Vektor fliegen wir dann bei der Geschwindigkeit weit genug an ihnen vorbei.«
»Wozu soll das gut sein?« erkundigte sich der Steueranlagen-Drittoperator. »Sie werden sich ganz einfach unserem Kurs anpassen.«
»Habe ich dich nach deiner Meinung gefragt?« meinte Nick vollkommen ruhig. »Nee.«
»Dann führ den Befehl aus. Wenn du deine eigenen Algorithmen nicht berechnen kannst, laß ’s den Computer für dich erledigen.« Er wandte sich an den Scanning-Drittoperator. »Sag mir Bescheid, sobald sie ihren Kurs angleichen.«
Um seinen Verdruß oder seine Verärgerung zu verbergen, drehte sich Pastille der Tastatur zu.
Instinktiv klammerte Morn die Hände an die Kante der Datensysteme-Kontrollkonsole und wartete auf eine erhöhte G-Belastung – das Aufzucken der Klarheit, das sie in den Untergang stürzen mußte.
Aber wenn er es wollte, konnte Pastille an seinem Posten Bestleistungen zustande bringen. Morn spürte plötzlich Andruck, ihr Gewicht schien in die Zentrifuge der Eigenrotation der Käptens Liebchen zu rutschen; das Gefühl einer feststellbar höheren Schwerkraftbelastung entstand jedoch nur, weil der Andruck sich mit der Bordgravitation des Raumschiffs überschnitt. Und nach einem Moment war alles vorüber. Anschließend schwindelte es Morn, ihr war fiebriger denn je zumute; doch nicht infolge des Hyperspatium-Syndroms, sondern eher aus Erleichterung.
»Fertig«, meldete Pastille in trotzigem Ton.
»Ist mit dir alles in Ordnung, Morn?« fragte Nick.
Seine Frage hatte einen durchaus vielschichtigen Hintergrund; oberflächlich aufgefaßt, blieb sie eine schlichte Fragestellung. Morn nickte.
Fünf Minuten Verzögerung. Zehn für einen Funkspruch und seine Beantwortung. Nein, weniger. Die Käptens Liebchen verringerte die Entfernung mit halber Lichtgeschwindigkeit; dabei war die kleine Verminderung der relativen Geschwindigkeit, die auf die Kurskorrektur zurückging, noch gar nicht einberechnet. Die zeitliche Verzögerung in der Kommunikation schrumpfte zügig.
Trotzdem hatte Morn nicht soviel Zeit.
»Nick«, sagte sie angespannt, »wie war’s mit ’m Bluff?« Während ihr Gefühl des Fieberns sich verstärkte, neigte sie allmählich zu der Ansicht, Klarheit wäre eine Verbesserung gewesen. Sie durfte Nick nicht trauen, und die Entzugssymptome konnten nur schlimmer werden. »Wir sollten ihnen mitteilen, wir hätten schon ’n Bericht nach Thanatos Minor und in den Human-Kosmos abgesetzt. Dann müßten sie befürchten, falls uns noch mehr zustößt, daß sich herumspricht, wie sie uns betrogen haben. Sie hätten nur noch die Möglichkeit, ihre Reputation, ehrlichen Handel zu betreiben, zu wahren, indem sie uns in Frieden lassen.«
»Das könnte klappen«, bemerkte Liete nachdenklich.
»Oder sie zu der Auffassung verführen, daß es den Schaden für sie nicht vergrößert, wenn sie uns abknallen«, widersprach Nick. »Wenn ihre Reputation schon beeinträchtigt ist, weshalb sollten sie dann auch noch auf die Genugtuung verzichten, uns zusammenzuschießen? Ich habe ’ne bessere Idee.«
Erneut aktivierte er die Interkom. »Mikka, was hältst du bei zweihundertsiebzigtausend Kilometern pro Sekunde von ein bißchen Externaktivitäten?«
Mikka brauchte einen Moment, bis ihr eine Antwort einfiel; sie gab sie in gleichmütigem Ton. »Lieber würde ich mir die Beine brechen. Was hast du vor?«
»Statik-Minen auszustreuen«, erklärte Nick regelrecht aufgekratzt. »Ich möchte rund um uns so was wie ’n Schirm aus Statik-Minen haben, zwanzig oder dreißig Stück mindestens. Aber starten wir sie per Computersteuerung, ist nicht auszuschließen, daß das amnionische Scanning leistungsfähig genug ist, um die kurzen Ausschläge des Energieverbrauchs, die dabei auftreten, richtig zu deuten. Das dürfen wir nicht riskieren. Deshalb müssen sie manuell gestreut werden.«
»Und wozu soll das gut sein?« fragte Pastille zum zweitenmal nach. »Wenn wir uns mit lauter Statik umgeben, sind wir doch selbst blind. Wir sehen’s nicht mal noch kommen, wenn sie uns abschießen.«
Nick warf dem Steueranlagen-Drittoperator einen bitterbösen Blick zu. Pastille schloß den Mund.
Falls dieselbe Frage auch Mikka beschäftigte, behielt sie es für sich. »Dafür brauche ich nicht auszusteigen«, sagte sie. »Ich kann’s in ’ner Schleuse erledigen. Wie weit soll die Streuung sein?«
»Bei dieser Entfernung sind mir die Abstände egal. Die Hauptsache ist, du streust sie nach und nach aus. Sie sollen weithin verstreut sein. Ich will vermeiden, daß sie im Scanning der Amnion ’n Echo verursachen.«
»Wann soll ich’s machen?« fragte die Erste Offizierin.
Nick schaute hinüber zu Malda. »Scharfgemacht sind sie schon«, sagte er zu Mikka, nachdem Malda genickt hatte. »Warte meinen Befehl ab.« Er grinste lebhaft. »Achte darauf, dich anzuleinen«, fügte er hinzu. »Es wäre mir ein herber Verlust, wenn du uns, falls wir manövrieren müssen, über Bord gingst.«
Er unterbrach die Interkom-Verbindung und wandte sich nochmals an Pastille.
»Wenn du der Meinung bist, ich wüßte nicht, was ich tu«, sagte er mit nachdrücklicher Deutlichkeit, »steht’s dir jederzeit frei, ’n EA-Anzug anzuziehen und aus ’m Schiff zu springen. Keiner wird dich vermissen.«
Pastille zog den Kopf ein. »Entschuldigung, Nick«, murmelte er. »Soll nicht mehr vorkommen.«
»Nur um Klarheit zu schaffen«, sagte Nick unwirsch, »was denkst du eigentlich, wie die Zielerfassung dieses Scheißkerls unsere Geschwindigkeit bewältigt? Für ’ne Echtzeit-Zielverfolgung ist die Bande zu weit entfernt. Um uns zu treffen, müßten sie für uns eine hypothetische Position annehmen. Und genau das will ich denen erschweren.«
Morn hörte nicht zu. Ihre Gurgel trocknete noch weiter aus, und das Atemholen fiel ihr immer schwerer. Alles, was sie interessierte, war die Antwort der Amnion auf Nicks Funkspruch.
Welchen ihrer ›Ansprüche‹ wollten sie unabdingbar erfüllt haben?
»Nick, sie haben den Kurs korrigiert«, meldete Allum vom Scanningposten. Morn griff auf die Scanningdaten zu, um den neuen Kurs des Amnion-Kriegsschiffs zu berechnen, aber Pastille kam ihr zuvor, wahrscheinlich versuchte er, sein Genörgel wiedergutzumachen. Er verarbeitete die Informationen schneller, als sie es konnte, weil gereizte Nerven auf ihren Pupillen ein Flimmern erzeugten, gegen das sie machtlos blieb, die Finger ihr gefühllos wurden. »Abfangkurs«, meldete Pastille, sobald er die Berechnungen abgeschlossen hatte, mit lauter Stimme. »Behalten wir die jetzige Flugrichtung bei, kreuzen sie unseren Kurs gerade rechtzeitig für ’ne Kollision.« Er zögerte. »Wir haben knapp zwei Minuten gewonnen.«
»Funkspruch kommt«, sagte Lind; ihm drohte die Stimme zu ersticken.
»Audio«, befahl Nick kurzangebunden.
»Amnion-Defensiveinheit Stiller Horizont an Human-Kapitän Nick Succorso.« Durch die Verringerung der Distanz hatte sich die Empfangsqualität der Funkübermittlung des Kriegsschiffs geringfügig verbessert. »Wir fordern Sie zum Abbremsen auf. Sie müssen die Aufforderung befolgen. Unterlassen Sie die Befolgung, werden Sie vernichtet. Ihre Geschwindigkeit behindert die Kommunikation. Darum sind Verhandlungen undurchführbar. Sie teilen mit, durch die Havarie Ihres Ponton-Antriebs sei die Erfüllung der amnionischen Ansprüche nicht mehr ›geboten‹. Diese Aussage ist unklar. Sie verletzen fortgesetzt die Hoheit des Amnion-Kosmos. Darum ist die Beachtung aller amnionischen Angelegenheiten ›geboten‹. Wir vermuten, daß Sie den Amnion die Schuld am Ausfall Ihres Ponton-Antriebs geben. Wir andererseits geben Ihnen daran die Schuld, daß es den Amnion mißlungen ist, die Ungewißheit über Ihre Identität aufzuklären. Sie beschuldigen die Amnion der Unehrlichkeit, aber es besteht schon gegen Sie eine Anschuldigung. Die Anschuldigung der Amnion gegen Sie geht Ihrer Beschuldigung voraus. Wenn Sie Reparaturen vornehmen und den Amnion-Kosmos unbehelligt verlassen möchten, müssen Sie uns gemäß der ausgehandelten Übereinkunft den menschlichen Nachfahren namens Davies Hyland ausliefern.«
»Nick, das darfst du nicht!« zischte Morn entsetzt, nachdem die Absichten der Amnion feststanden. Mit einem Wink gebot er ihr Schweigen.
»Das ›meuterische Verhalten‹ Ihrer Untergebenen hat die Erfüllung unserer Ansprüche verschoben, nicht storniert«, ergänzte die unpersönliche, für Morns Aufbäumen taube Stimme. »Sie müssen den genannten menschlichen Nachfahren als Entgelt für den ungehinderten Abflug aus dem Amnion-Kosmos und den Amnion-Kredit, den Sie durch fragwürdige Mittel erlangt haben, uns übergeben. Um das zu tun, müssen Sie ein Bremsmanöver ausführen. Wir instruieren Sie, Ihre Geschwindigkeit der Amnion-Defensiveinheit Stiller Horizont anzupassen. Nachdem das geschehen ist, werden Sie uns den menschlichen Nachfahren namens Davies Hyland überstellen. Dann erhalten Sie freies Geleit nach Thanatos Minor oder – auf Wunsch – bis zur Grenze des Human-Kosmos.«
Nick, nicht!
»Bleibt die Erfüllung der amnionischen Ansprüche aus«, kündete die Alienstimme ungerührt noch einmal an, »erfolgt Ihre Vernichtung. Neue Antworten oder Einwände werden nicht beachtet. Nur ein Bremsmanöver wird akzeptiert.«
»Die Zeitverzögerung!« brauste Nick auf, kaum daß der Funkspruch verstummte. »Wie lang ist die Verzögerung?«
Lind antwortete augenblicklich. »Ungefähr neun Minuten für beide Funksprüche. Sie haben unseren Funkspruch nach fünf, wir ihren nach vier Minuten empfangen.«
»Also fliegen sie seit mindestens vier Minuten ihren neuen Kurs?«
»Jawohl«, bestätigten Allum und Pastille wie aus einem Munde.
»Lind, folgenden Text aufnehmen.« Nick grinste. »›Kapitän Nick Succorso an Amnion-Kriegsschiff Stiller Horizont. Ficken Sie sich ins Knie.‹ Senden.« Morn saß an ihrem Platz und starrte Nick an; sie fühlte sich so schwummrig, als müßten ihr jeden Moment die Sinne schwinden. Nicks Hand knallte auf den Interkom-Apparat. »Mikka, bist du bereit?«
»Ich bin soweit«, lautete die Auskunft.
»Minen noch nicht ausstreuen. Mach dich auf Manöver gefaßt und leine dich an.«
Sofort wandte Nick sich erneut an Pastille. »So, du Intelligenzbestie, du darfst dich noch einmal bewähren. Eine ganz vorsichtige Kurskorrektur mußt du ausführen, mit nicht mehr als einem Ge Schub. Bring uns auf direkten Kurs nach Thanatos Minor zurück.«
»Aber sie werden einfach…«, begann der Steueranlagen-Drittoperator. Morn sah in seinem Schnurrbart Schweiß glitzern.
»Aber mit langsamem Schub«, fauchte Malda dazwischen. »Kapierst du’s eigentlich immer noch nicht?« Vielleicht versuchte Malda, neuen Zorn Nicks von Pastille abzuwenden. »Beschleunigen können sie in alle Ewigkeit, aber sie tun’s langsam.«
»Wir nutzen nun ihre erste Kursangleichung gegen sie aus.« Nick sprach in sachlichem Tonfall, aber der Ausdruck seiner Augen legte den Schluß nahe, daß Pastille möglicherweise nicht mehr lange zu leben hatte. »Ihr eigenes Trägsheitsmoment wird das Abfangmanöver vereiteln. Bist du jetzt zufrieden« – Nick äußerte das Wort, als wäre er ein Amnioni – »oder möchtest du abgelöst werden?«
Mit anderen Worten, überlegte Morn benommen, nach Beendigung der zweiten Kurskorrektur könnte die Stiller Horizont die Käptens Liebchen nur noch mit einer auf große Entfernung verschossenen Breitseite stoppen. Und ihr Ziel bewegte sich mit ungeheurer Schnelligkeit.
Nick hatte nicht vor, Davies auszuliefern.
Aus irgendeinem Grund war Morns Atem gestockt. Als die Kurskorrektur sich bemerkbar machte, kippte sie fast im Sitz zur Seite, nicht weil die G-Belastung so stark gewesen wäre, sondern weil es ihr ohnehin längst gründlich schwindelte. »Fertig«, meldete Pastille ein zweites Mal; seinem Tonfall war Besorgnis anzuhören.
»Jetzt!« befahl Nick per Interkom Mikka.
»Statik-Minen ausgestreut«, gab Mikka gleich darauf durch. »Laß mir noch zwanzig Sekunden Zeit, um die Schleuse zu schließen.«
»Geht klar«, sagte Nick, trennte die Verbindung.
Seine nächsten Worte galten der gesamten Brückencrew. »Von nun an gibt’s kein Zurück mehr. Kneifen ist nicht mehr drin. Wenn jemand Scheiße baut, geben wir den Löffel ab. Morn, finde raus, wie lange die Quallenschaukel braucht, um in Schußposition zu gelangen. Sobald sie dort merken, daß wir den Kurs nochmals korrigieren, kapieren sie, daß sie keine Möglichkeit mehr haben, uns abzufangen. Ich will, daß du berechnest, wann sie in die beste Schußposition gehen können. Allum, melde mir den exakten Zeitpunkt, an dem du sie ihre zweite Kursänderung einleiten siehst. Pastille, sobald ich’s befehle, gibst du Bremsschub in Stärke von einem Ge. Mehr nicht. Ich will den Gegenschub für eine Dauer von genau zehn Sekunden und danach beendet haben. Malda, wenn die zehn Sekunden vorbei sind, zündest du sofort die Statik-Minen. Morn?«
Morn bereitete es Schwierigkeiten, sich aufrechtzuhalten. Mir geht’s gut, wollte sie sagen, aber ihre Lippenbewegungen blieben stumm. Adrenalin schien durch ihr Gehirn zu sprühen, als ob winzige Sonnen explodierten, verzerrte ihre Sicht, lähmte ihr die Lungen. Entzugserscheinungen… Ihre von künstlicher Lenkung abhängig gewordenen Synapsen hatten anscheinend vergessen, wie sie allein funktionieren konnten. Morn erkannte nicht mehr den Unterschied zwischen den Anzeigen und ihren Alpträumen.
Morn, rette uns! flehte ihr Vater; oder ihr Sohn.
Ja freilich. Aber wie sollte sie das schaffen? Sie war nicht einmal sich selbst zu retten fähig. Sie erlebte eine Zersetzung ihrer selbst bis auf ihre subatomaren Partikel, die es dank Verrats in den unüberbrückbaren Abgrund zwischen ihrer Abhängigkeit und ihrer Sterblichkeit verwehte.
»Morn!« schrie Nick in plötzlichem Schrecken. »Finger von der Tastatur!«
Morn war nicht vom Hyperspatium-Syndrom befallen worden; doch Nick war mit einem Satz bei ihr, ehe sie eine Gelegenheit zur Klarstellung erhielt. Er packte ihre Handgelenke, riß sie von der Kontrollkonsole, stieß Morn in den Andrucksessel.
»Dann liegt’s wohl an dir, Pastille«, meinte gleichzeitig Liete in stoischer Ruhe. »Du kannst uns beweisen, daß es ’n Sinn hat, dich an Bord zu haben. Du brauchst nur zu berechnen, was das Kriegsschiff leisten muß, um die günstigste Schußmöglichkeit zu finden. Wenn du das deichselst, bitte ich Nick, dir zu verzeihen.«
»Mit mir ist nichts«, flüsterte Morn in Nicks verkrampfte Miene.
»Red keinen Stuß!« entgegnete er.
»Es ist nicht das Hyperspatium-Syndrom«, lallte Morn, weil es ihr zu sehr schwindelte und sie sich zu schwach fühlte, um zu lügen. »Es sind Entzugserscheinungen.«
Du denkst, ich wäre übel mit dir umgesprungen. Was glaubst du wohl, habe ich mit mir getan?
»Ich kann mein Dienst ausüben«, keuchte sie mit geschwollener Zunge.
»Quatsch!«
Morn sah nichts mehr außer dem verschwommenen, hellen Fleck von Nicks Gesicht.
»Vier Minuten.« Irgendwie drängte sich ihr aus dem Wirrwarr in ihrem Kopf diese Zahl auf. »Sie brauchen vier Minuten.«
»Ich will mal ’ne Schätzung wagen.« Im Hintergrund redete Pastille. »Sie beobachten unsere Kurskorrektur dreieinhalb Minuten nach Ausführung. Also dürfte es fünf Minuten dauern, bis sie ihre Kaffeemühle beigedreht und in Schußposition gebracht haben.«
»Vier«, beharrte Morn, »wenn wir davon ausgehen, daß ihre Computer besser als unsere sind.«
»Sie sind besser«, sagte Nicks Stimme aus der Verwaschenheit vor Morns Augen.
»Also gut, vier«, räumte Pastille ein. »Eine Breitseite brauchte lediglich noch eine weitere Minute, um uns zu treffen. So nah werden wir dann sein. Sagen wir mal, vom Einsetzen unserer Kurskorrektur an gerechnet, achteinhalb Minuten. Genauer kann ich’s nicht schätzen. Allerdings könnte ich ’ne vorläufige hypothetische Countdown-Berechnung vornehmen, um die Schätzung zu verbessern.«
»Ich schaff’s.« Morn bemühte sich um klare Sicht. »Laß mich meine Arbeit tun.«
Nick hielt ihre Handgelenke fest umklammert, als versuchte er, durch die Spannung in ihren Armen Rückschlüsse auf ihren Zustand zu ziehen. Da beugte er sich unvermutet dicht über sie, legte seine an Morns Wange. »Du Miststück«, raunte er ihr ins Ohr. »Wie schön, zur Abwechslung einmal dich leiden zu sehen.«
Er ließ ihre Hände fallen, schritt durch die Brücke und stellte sich an der Kommandokonsole neben Liete.
Morn stützte sich auf die Seiten der Kontrollkonsole und versuchte, inmitten ihres scheinbar ins Kreiseln geratenen Schädels einen Ruhepunkt zu finden.
Eine vorläufige hypothetische Countdown-Berechnung. Eine schätzungsweise Vorausbestimmung des Moments, in dem die Stiller Horizont das Feuer eröffnete; eine Schätzung, bei der die Zeitdilatation die einzige statthafte Variable abgab. An der Eingrenzung dieser Variablen arbeiteten die Computer der Käptens Liebchen schon seit mindestens einem Tag. Sie müßte jetzt dazu in der Lage sein, eine Berechnung mit einigermaßen genauem Ergebnis durchzuführen.
Falls sie zu denken vermochte.
Aber ›einigermaßen genau‹ wäre nicht gut genug. Sie mußte ein besseres Resultat erzielen.
Sie konnte nicht richtig denken. Sobald sie nachzudenken versuchte, befielen sie Beklemmungen, verschwamm von neuem ihre Sicht.
Sie brauchte gar nicht nachzudenken. Irgendwo in ihrem Computer gab es Programme, die es ihr abnehmen konnten. Sie mußte sie nur benutzen.
Morn, rette uns!
In äußerster Seelenqual.
Sie rieb sich die Augen, in der Hoffnung, dem Gegaukel der Phosphene entgegenwirken zu können. Dann holte sie sich mittels ihrer Kontrollkonsole die erforderlichen Daten.
Beginn des Countdown in der Sekunde der Kurskorrektur: Um diesen Augenblick hatte alles andere sich zu drehen. Wieviel Zeit war noch übrig? Sieben Minuten? Sechs? Sie hätte nachschauen können, tat es jedoch nicht. Jetzt mitanzusehen, wie der Rest ihres Lebens verstrich, hätte nur ihr Panikgefühl gesteigert.
Die Lichtgeschwindigkeit: Sie war eine Konstante. Als Konstanten rangierten auch alle Informationen, die die Käptens Liebchen über Amnion-Kriegsschiffe im allgemeinen und die Stiller Horizont im besonderen hatte.
Ebenso mußte die Absicht, die Käptens Liebchen zu vernichten, als Konstante gelten, geradeso wie das Erfordernis, für diesen Zweck den optimalen Schußwinkel einzunehmen. Aber sogar die Zeitdilatation selbst war konstant: Das jeweilige Vermögen der beiden Raumschiffe, sich auf sie einzustellen, ergab die zwei einzigen wahren Variablen. Sie durfte Morn getrost als eine Variable behandeln.
Stelle die Daten zusammen. Veranlasse die Berechnungen.
Tippe alle richtigen Tasten. – Bitte.
»Ich hab’s«, sagte sie, wußte allerdings nicht, ob sie laut genug sprach, um von jemandem verstanden zu werden. »Es ist auf ’m Bildschirm. Das Ergebnis ist noch nicht endgültig. Ich habe ’ne automatische Selbstüberprüfung und -berichtigung nachgeschaltet. Der Computer checkt selbständig die Genauigkeit seiner für die Zeitdilatation berücksichtigten Kompensationen. Nach dieser Maßgabe berichtigt er die Countdown-Berechnung.«
Ihre Gelenke schmerzten. Der Eindruck, Fieber zu haben, war noch stärker geworden, inzwischen so stark, daß es ihr im Kopf pochte. Sie hätte einen Schluck Wasser vertragen können, aber um darum zu bitten, fehlte es ihr an Kraft. Sie schloß die Lider, um eine Verschnaufpause einzuschieben.
»Es ist wohl besser, du checkst die Sache, Pastille«, hörte sie Liete sagen, als ob eine Stimme in einem Traum erklänge.
Der Steueranlagen-Drittoperator erstattete fast unverzüglich Meldung. »Sieht richtig aus. Ich weiß nicht, wie sie das macht. Das letzte Mal, als ich Entzugserscheinungen hatte, konnte ich nicht mal mit beiden Händen die eigene Rübe finden. Diese ›automatische Selbstüberprüfung und -berichtigung‹ ist ’ne glänzende Idee.«
Gegen ihren Willen schlief Morn ein…
… und schrak mit solchen Zuckungen zurück in den Wachzustand, als hätte jemand ihr einen Stunnerknüppel an die Brust gehalten. Als sie lange genug mit verkniffenen Augen geblinzelt und gezwinkert hatte, um wieder halbwegs deutlich die Bildschirme zu erkennen, stellte sie fest, der von ihr für die Feuereröffnung seitens der Stiller Horizont vorausberechnete Moment war schon fast da. Wenn sie sich nicht geirrt hatte, mußte die Breitseite in neunzig Sekunden abgeschossen werden.
Bis zur Vernichtung blieben noch einhundertundfünfzig Sekunden.
Überlichtschnelle Protonenstrahlen blieben lichtkonstant und waren so schnell wie Scanning. Die Käptens Liebchen würde keine Warnzeichen erfassen können, bevor die Salve ihr Ziel fand.
Pastille und Malda kauerten geduckt an ihren Kontrollkonsolen; Allum behielt die Scanningdaten im Auge. Die Blicke aller übrigen Anwesenden ruhten auf den Bildschirmen. Zu tun hatte niemand mehr etwas. Nichts außer zu warten.
Während sie warteten und beobachteten, verkürzte das Selbstberichtigungsprogramm des Computers die Zählfrist um fünfzehn Sekunden.
»Pastille«, sagte Nick, ohne den Blick vom Monitor zu wenden, »ich hoffe, du hältst dich bereit.«
»Wenn ich mich noch angestrengter konzentriere«, brummelte Pastille kaum vernehmlich, »fall ich in Ohnmacht.«
»Malda?« fragte Nick. Die Waffensysteme-Hauptoperatorin bestätigte mit einem energischen Nicken ihre Bereitschaft.
»Ist es nicht lustig?« Nicks Stimme klang auf einmal nach echtem Frohsinn. »Falls wir nicht mit dem Leben davonkommen, merken wir ’s erst, wenn wir tot sind.«
Noch eine Minute und vierzig Sekunden.
Nick, versuchte Morn zu sagen. Laß mich mit Davies sprechen. Ihm Adieu sagen. Doch ihr ausgetrockneter Gaumen erstickte jedes Wort im Keim.
Der Countdown verkürzte sich um weitere acht Sekunden.
»Auf meinen Befehl, Pastille«, ermahnte Nick den Steueranlagen-Drittoperator. »Genau auf meinen Befehl. Malda, du hast freie Hand.« Er schlug einen Plauderton an. »Habt ihr gemerkt, daß der Countdown jedesmal, wenn eine Überprüfung erfolgt, kürzer wird?« fragte er. »Nie länger. Das gibt zu denken, was? Vielleicht haben wir zu großzügige Zahlenwerte zugrunde gelegt. Kann sein, wir sind dem Tode näher, als wir’s glauben.«
Eine Minute zehn Sekunden.
Morn hatte den Eindruck, das Atmen vollends eingestellt zu haben. Es schien ihr die Mühe nicht mehr wert zu sein. Für einen Moment gänzlicher Abgeklärtheit hätte sie aufrichtigen Herzens sagen können, daß es ihr einerlei blieb, ob sie nun starb oder überlebte. Falls nach einem Treffer der Salve von ihr noch etwas übrig sein mochte, sollten die Amnion sich gerne davon bedienen.
Auf dem Bildschirm ließ sich eine restliche Frist von zwanzig Sekunden ablesen, da ertönte Nicks Stimme wie ein Peitschenhieb. »Jetzt!«
Pastille löste den Bremsschub so plötzlich aus, daß der Ruck Morn in ihrem Andrucksessel durchschüttelte.
Die Statik-Minen rasten voraus, nahmen in der Ortung des Amnion-Kriegsschiffs die Stelle der Käptens Liebchen ein.
Zehn Sekunden.
Neun.
Die erneute G-Belastung war minimal; Morn wußte es. Sie wurde lediglich so stark spürbar, weil sie Morn in rechtem Winkel zur Bordgravitation fortbewegen wollte. Um Hoch-G handelte es sich nicht. Auf keinen Fall war sie erheblich genug, um Morn Schwierigkeiten zu verursachen. Trotzdem gelang es ihr nicht mehr, den Kopf vom Kontrollpult zu heben.
Acht.
Sieben.
Sechs.
Schwierige G-Verhältnisse und Zonenimplantat-Entzug. Beides gleichzeitig war zuviel für Morn. Sie hatte das Gefühl, sich auszudehnen, voraus ins Dunkel des Alls zu entschweben, in einem Schwarm scharfer Statik-Minen mitzufliegen, daß ihr Hirn, sobald sie detonierten, platzen müßte.
Ihre Mutter war durch einen Protonenstrahl getötet worden.
Fünf.
Vier.
Drei.
Nichts bot sich ihr noch als durchschaubar dar. Nach wie vor mußte sie atmen: Andernfalls hätte sie längst die Besinnung verloren. Daran erinnern konnte sie sich jedoch nicht. Vielleicht wäre das Hyperspatium-Syndrom doch vorzuziehen gewesen. Das Leben war ihr aus den Händen geglitten. Es wäre netter, über den eigenen Tod selbst beschließen zu können.
Zwei.
Eins.
Malda nahm die Fernzündung der Minen vor.
Augenblicklich verschwand der wahrnehmbare Weltraum hinter einem Ausbruch von elektronischem Chaos.
Um nur einen Herzschlag später – sieben oder acht Sekunden früher, als Morns ursprüngliche Extrapolation gelautet hatte – durchtoste eine Salve aus amnionischen Protonengeschützen den Schleier aus Statik. Wäre die Käptens Liebchen getroffen worden, hätte das konzentrierte Feuer sie atomisiert, und die Sonnenwinde des Vakuums hätten ihre Partikel verweht. Doch die Strahlbahnen streiften sie nicht einmal. Tatsächlich bekam die Besatzung, weil die eigenen Minen ihr die Beobachtung verwehrten, den amnionischen Beschuß nicht einmal zu sehen. Daß er stattfand, bemerkte sie lediglich daran, daß seine Intensität die Statik überlagerte, die Sensoren des Raumschiffs blendeten, ehe sich ihre Schaltkreise, um sie zu schützen, automatisch deaktivierten. Wie knapp sie verfehlt worden war, erfuhr sie nie.
Die Stiller Horizont ortete, wie Nick es beabsichtigt hatte, nichts als Eruptionen.
Als die Sensoren der Amnion endlich die Statik wirksam genug durchdrangen, um festzustellen, daß die Käptens Liebchen keinen Treffer erhalten hatte, war das Raumschiff längst aus ihrer Schußweite entkommen.
»Tja«, meinte Nick im Tonfall grimmiger Zufriedenheit, »jetzt wissen wir wenigstens, daß es ihnen ernst ist.«
Ernst, dachte Morn, deren Kopf noch immer auf der Kontrollkonsole lehnte. So ernst, daß sie lieber die Käptens Liebchen vernichten möchten, als Davies entwischen zu lassen. Wahrscheinlich wäre es nun angebracht gewesen, sich wieder aufrecht in den Andrucksessel zu setzen, aber eigentlich verspürte sie gar kein entsprechendes Bedürfnis. Thanatos Minor befand sich innerhalb des Bannkosmos: des amnionischen Weltalls.
Ganz plötzlich, scheinbar ohne Übergang, stand Nick vor ihr. »Komm mit!« Er machte sich daran, sie loszuschnallen. »Du bist hier nutzlos. Ich bring dich in deine Kabine.«
Morn merkte, wie sie sich an Nicks Hals klammerte. Aus irgendeinem Grund konnte sie nicht unterscheiden, in welcher Richtung oben lag.
Nick ließ Morn, sobald sie beide die Kabine betreten hatten, auf den Rand der Koje plumpsen und holte das schwarze Schaltkästchen heraus.
»Ich verwende das Ding diesmal ungern.« Der gegen die Stiller Horizont errungene Erfolg hatte ihn in Erregung hineingesteigert, und am liebsten hätte er sich nun an Morn ausgetobt. »Ich fänd’s schöner, dir ’ne Zeitlang zuzusehen, wie du am Entzug leidest. Aber ich kann’s nicht riskieren. Du könntest ja durchdrehen. Die einzige Alternative wäre, dich ins Krankenrevier zu schaffen und dir ’ne Dosis Kat spritzen zu lassen. Das geht aber nicht, weil ich noch nicht weiß, wie lange ich deinen hilflosen Zustand beibehalten will. Und den Befehl, dich auf unbegrenzte Dauer unter Medikamenten zu halten, würde der MediComputer nicht anerkennen. Also hab ich keine Wahl. Mal schauen, wie’s dir gefällt, für ’ne Weile ’n Nullwellenhirnchen zu sein.«
Trotz der Statik der Entzugserscheinungen in ihrem Kopf begriff Morn, während Nick sich mit den Tasten befaßte, die Umstände ihrer Situation. »Warte«, krächzte sie schwächlich.
»Warum?« knurrte Nick.
Überleben. Wenn sie zuließ, daß Nick sie umbrachte – oder sie ins Hyperspatium-Syndrom trieb –, konnte sie Davies nie mehr helfen. Daß die Amnion ihr Ansinnen aufgaben, war inzwischen völlig unwahrscheinlich. Sie bemühte sich darum, deutlich zu sprechen.
»Der Sender hat nur kurze Reichweite. Du kannst ihn nicht einschalten und dann mitnehmen. Dadurch ginge die Wirkung verloren.« Bitte sieh das ein. Bitte. Es müßte mich das Leben kosten. »Wenn du ihn nicht hier bei mir läßt, hat er auf mich keine Wirkung.«
Das klang einleuchtend. Sicherlich konnte sie ihn damit doch überzeugen?
»Echt ’n Scheißding«, brummte Nick und betätigte die Funktion, die Morn in Katatonie versetzen sollte.
Sie schloß die Lider und ließ sich schlaff zusammensacken.
Sobald sie reglos auf der Koje lag, streckte er sie aus und sicherte sie mit den Anti-G-Gurten, damit sie nicht umherflog und zerschmettert wurde, wenn die Käptens Liebchen ihr Bremsmanöver begann. Obwohl er vermutlich keine Zeit zu vergeuden hatte, blieb er noch einen Moment lang bei ihr stehen und betrachtete sie. »Verdammte Hexe«, raunte er schließlich, als spräche er über sie einen Fluch aus.
Aber er mußte ihr geglaubt haben. Bevor er die Kabine verließ, legte er das Zonenimplantat-Kontrollgerät in ein Fach eines der Wandschränke.
Zittrig befreite sich Morn aus den Gurten und schwang sich aus der Koje.
Nun hatte sie ihre Chance.
Nein, keineswegs.
Sie mußte Nick in dem Glauben belassen, vollständige Macht über sie zu haben. Welchen Preis es ihr auch abfordern mochte, ihr letztes Geheimnis mußte sie unbedingt hüten; es galt die Tatsache zu verheimlichen, daß sie genau diese Funktion außer Betrieb genommen hatte. Ganz gleich, wie sehr es sie danach verlangte, die Gewalt über sich selbst zurückzugewinnen, es hatte entscheidende Bedeutung, daß sie dieser Versuchung widerstand.
Folglich versuchte sie erst gar nicht, das schwarze Kästchen wieder für den eigenen Gebrauch zu verstecken. Und sie verzichtete auf den Versuch, sich aus ihrer Kabine zu schleichen. Eine Hoch-G-Belastung stand bevor. Sie wußte nicht, wann sie anfing, und ebensowenig, wie lange sie dauerte. Und sie benötigte so unaufschiebbar dringend Erholung, wie ihre Zonenimplantat-Abhängigkeit des Stillens bedurfte. Das Kontrollgerät zu finden, bereitete keine Mühe. Voller Verzweiflung drückte sie die Tasten, die sie in Schlaf senkten.
Den Zeitschalter stellte sie nicht ein.
Sie tat das Gerät in das Schrankfach zurück, wo Nick es gelassen hatte, eilte zur Koje und schaffte es gerade noch, die Anti-G-Gurte wieder zu schließen, ehe ihr Geist unfreiwillig ins Finstere eintauchte.