Kurz darauf saßen sie alle beisammen. Eigentlich wollten sie beratschlagen, was als Nächstes zu tun war, aber keiner sagte ein Wort. Alle vier starrten nur stumm zu Boden. Aus irgendeinem Grund gingen Thomas Jansons Worte nicht aus dem Kopf. Könnte er Newt wirklich retten, wenn er zurückginge? Alles in ihm sträubte sich gegen den Gedanken, zu ANGST zurückzukehren, aber wenn er es tun und die Versuchsreihen abschließen würde …
Minho durchbrach die bedrückende Stille.
»Also, passt auf.« Er sah alle einen Moment lang an, bevor er fortfuhr. »Seit wir aus dem ANGST-Hauptquartier getürmt sind, hab ich bei allem mitgemacht, was ihr Schrumpfköpfe vorgeschlagen habt. Ohne zu meckern. Zumindest nicht allzu oft.« Er grinste Thomas schief an. »Aber jetzt werde ich zur Abwechslung mal selbst eine Entscheidung treffen, und ihr werdet tun, was ich euch sage. Und wenn einer von euch dagegen ist, dann könnt ihr mich alle mal.«
Thomas wusste, was sein Freund sagen würde, und stand absolut hinter ihm.
»Ich weiß, dass es um höhere Ziele geht«, fuhr Minho fort. »Wir müssen uns mit dem Rechten Arm verbünden und uns was einfallen lassen, wie wir ANGST bekämpfen können – dieser ganze Weltrettungsklonk eben. Aber als Allererstes suchen wir Newt. Keine Diskussion. Wir vier – wir alle – fliegen dorthin, wo er hingebracht wurde, und holen Newt da raus.«
»Es wird ›Crank-Palast‹ genannt«, sagte Brenda. »Das muss er in seinem Brief gemeint haben. Wahrscheinlich sind ein paar Rothemden in das Berk eingedrungen, haben Newt gefunden und rausbekommen, dass er infiziert ist. Haben ihm noch erlaubt uns eine Nachricht zu hinterlassen. So wird es sich abgespielt haben.«
»Crank-Palast, hört sich ja sehr nobel an«, sagte Minho. »Warst du da schon mal?«
»Nein. Jede Großstadt hat einen Crank-Palast – einen Ort, an den sie die Infizierten schicken und versuchen, ihnen das Leben halbwegs erträglich zu machen, bis sie total hinüber sind. Ich weiß nicht, was danach mit ihnen passiert. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es in einem Crank-Palast schön ist, egal, wer du bist. Das Ganze wird von Immunen geleitet, die einen Haufen Geld damit verdienen, weil das ja sonst niemand machen will. Wenn du da hinwillst, sollten wir uns das allerdings sehr gut überlegen. Wir haben keine Munition mehr und sind also praktisch wehrlos.«
Trotz der düsteren Beschreibung leuchtete eine Spur Hoffnung in Minhos Augen auf. »Gut überlegen? Abgehakt. Wisst ihr, wo sich der nächste Crank-Palast befindet?«
»Ja«, antwortete Jorge. »Wir sind auf dem Weg hierher drübergeflogen. Er liegt am anderen Ende dieses Tals, am Fuß der Berge im Westen.«
Minho klatschte in die Hände. »Dann nichts wie hin. Jorge, mach die Schüssel startklar.«
Thomas rechnete zumindest mit einer kurzen Diskussion oder einer Spur von Widerstand. Aber da kam nichts.
»Für ein kleines Abenteuer bin ich immer zu haben, muchacho«, sagte Jorge und stand auf. »In zwanzig Minuten sind wir da.«
Jorge hielt Wort, und zwanzig Minuten später landeten sie. Er setzte auf einer Lichtung am Rand eines leicht begrünten Waldes auf, der sich einen Berghang hinaufzog. Ungefähr die Hälfte der Bäume war abgestorben, die anderen jedoch sahen aus, als würden sie nach den jahrelangen Hitzeperioden allmählich wieder gesunden. Die Vorstellung, dass sich die Erde eines Tages wahrscheinlich von den Sonneneruptionen erholen, dann aber unbewohnt sein würde, machte Thomas traurig.
Er ging die Laderampe hinunter und betrachtete eingehend den fünfzig bis hundert Meter entfernten, hohen Pfahlzaun, hinter dem der Crank-Palast liegen musste. Er bestand aus massiven Holzplanken. Das nächstliegende Tor begann sich langsam zu öffnen, und zwei Leute erschienen, die mit großen Granatwerfern bewaffnet waren. Sie nahmen sofort die Verteidigungshaltung ein und richteten ihre Waffen auf sie.
»Nette Begrüßung«, sagte Jorge.
Einer der Wächter brüllte etwas, aber Thomas konnte nicht verstehen, was er sagte. »Gehen wir zu ihnen. Reden wir mit ihnen. Müssen wohl Wachen sein, wenn sie Granatwerfer haben.«
»Falls die Cranks nicht die Macht übernommen haben«, gab Minho zu bedenken, aber dann setzte er ein seltsames Grinsen auf. »Klonkegal. Wir gehen da jetzt rein und hauen erst wieder ab, wenn wir Newt gefunden haben.«
Mit erhobenen Häuptern, aber darauf bedacht, keine falsche Bewegung zu machen, ging die Gruppe langsam auf das Tor zu. Noch einmal von einer Granate getroffen zu werden war das Letzte, was Thomas wollte. Von nahem sahen die beiden Wächter ziemlich mitgenommen aus. Sie waren schmutzig, verschwitzt und mit blauen Flecken und Kratzern übersät.
Als die Gruppe am Tor stehenblieb, trat einer der Wächter vor.
»Wer zum Teufel seid ihr?«, fragte er. Er hatte schwarzes Haar, einen Schnurrbart und war ein gutes Stück größer als sein Partner. »Ihr seht nicht gerade wie die vertrottelten Wissenschaftler aus, die hier manchmal vorbeikommen.«
Wie bei ihrer Ankunft am Flughafen von Denver übernahm Jorge auch diesmal das Reden. »Wir sind unangekündigt hier, muchacho. Wir sind von ANGST, und einer von unseren Leuten wurde gefangen genommen und aus Versehen hierher gebracht. Wir sind hier, um ihn abzuholen.«
Thomas war überrascht. Was Jorge da gesagt hatte, war im Grunde genommen die Wahrheit.
Der Wächter wirkte nicht allzu beeindruckt. »Meinst du, ich geb einen Scheiß auf euch und eure coolen Jobs bei ANGST? Ihr seid nicht die ersten arroganten Säcke, die bei uns aufkreuzen und so tun, als hätten sie hier das Sagen. Ihr wollt mit Cranks abhängen? Dann immer hereinspaziert. Ein besonderer Spaß, nach dem, was in letzter Zeit hier los war.« Er trat einen Schritt zur Seite und machte eine übertrieben einladende Geste. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt im Crank-Palast! Umtausch und Erstattung beim Verlust eines Arms oder Augapfels sind leider ausgeschlossen.«
Thomas konnte die Spannung, die in der Luft lag, förmlich riechen und war besorgt, dass Minho die Typen mit einer seiner ätzenden Bemerkungen auf die Palme bringen würde, daher ging er schnell dazwischen.
»Was soll das heißen: was in letzter Zeit hier los war? Was war denn los?«
Der Typ zuckte mit den Achseln. »Es ist einfach nicht gerade ein Paradies hier. Mehr braucht ihr nicht zu wissen.« Das war alles, was er dazu sagte.
Dieses Gespräch lief gar nicht so, wie sie sich erhofft hatten. »Von mir aus. Wisst ihr, ob neue …« – Cranks zu sagen brachte Thomas nicht über die Lippen – »Leute in den letzten ein, zwei Tagen hierher gebracht wurden? Werden die Neuzugänge registriert?«
Der andere Wächter – klein, untersetzt, kahl rasierter Schädel – räusperte sich und spuckte aus. »Nach wem sucht ihr? Nach einem Er oder einer Sie?«
»Nach einem Er«, antwortete Thomas. »Er heißt Newt. Ist ein bisschen größer als ich, blond, halblange Haare. Er hinkt.«
Der Typ spuckte wieder aus. »Vielleicht weiß ich was. Aber wissen und sagen sind zwei Paar Schuhe. Ihr Kids seht so aus, als hättet ihr jede Menge Zaster. Seid ihr bereit zu teilen?«
Thomas, der neue Hoffnung schöpfte, sah Jorge an, dem die Wut ins Gesicht geschrieben stand.
Minho kam Jorge zuvor. »Wir haben Geld, du Neppdepp. Jetzt sag uns, wo unser Freund steckt.«
Der Wächter verstärkte den Griff um seinen Granatwerfer und richtete die Waffe bedrohlich auf sie.
»Zeigt mir eure Geldkarten, oder das Gespräch ist beendet. Ich will mindestens tausend.«
»Die hat er«, sagte Minho und zeigte mit dem Daumen auf Jorge, während sein sengender Blick direkt auf den Wächter gerichtet blieb. »Geldgeiler Schrumpfkopf.«
Jorge zog seine Karte raus und wedelte damit in der Luft herum. »Ihr müsst mich erschießen, um da dranzukommen, und ihr wisst, dass sie ohne meine Fingerabdrücke wertlos ist. Du bekommst dein Geld schon, hermano. Jetzt zeig uns den Weg.«
»Na schön«, sagte der Mann. »Folgt mir. Und denkt daran: Wenn euch ein Körperteil auf Grund einer unglücklichen Begegnung mit einem Crank abhandenkommt, kann ich euch nur raten besagtem Körperteil Lebewohl zu sagen und die Beine in die Hand zu nehmen. Außer, es handelt sich um ein Bein natürlich.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging durch das offen stehende Tor.