Womöglich kann ich nicht abschließend beweisen, dass der Nutzen der Religion der Vergangenheit angehört, dass die ihr zugrunde liegenden Schriften fadenscheinige Erfindungen sind und sie selbst von Menschen gemacht wurde, dass sie Wissenschaft und Forschung feindlich gegenübersteht, dass sie überwiegend auf Lügen und Ängsten aufbaut und gemeinsame Sache gemacht hat mit Ignoranz und Schuld, mit Sklaverei, Völkermord, Rassismus und Tyrannei. Fest steht aber, dass sie sich heute all dieser Kritikpunkte bewusst ist. Sie kennt darüber hinaus den stetig anwachsenden Berg von Beweisen für den Ursprung des Universums und die Entstehung der Arten, der sie in die Marginalität, wenn nicht gar in die völlige Belanglosigkeit drängt. Mit den meisten Einwänden von Glaubensseite habe ich mich befasst, doch auf ein unvermeidbares Gegenargument muss ich noch eingehen.
Von der Inquisition und den Hexenprozessen, den Kreuzzügen, den islamischen Eroberungen und den Gräueln des Alten Testaments war Schlimmstes zu berichten. Doch haben nicht säkulare und atheistische Regime Verbrechen und Massaker begangen, die im Vergleich dazu mindestens genauso furchtbar, wenn nicht noch schrecklicher waren? Und ist daraus nicht der logische Schluss zu ziehen, dass Menschen, die von religiöser Ehrfurcht befreit sind, zu extrem lasterhaftem und ungezügeltem Verhalten neigen? In seinem Roman Die Brüder Karamasow hinterfragte Dostojewski die Religion äußerst kritisch – er lebte ja unter einer von der Kirche geheiligten Tyrannei – und zeichnet seine Figur Smerdjakow als eitlen, gutgläubigen und dummen Menschen. Doch Smerdjakows Maxime »Wenn es keinen ewigen Gott gibt, so gibt es auch keine Tugend« schimmert durch, wenn man sich die russische Revolution durch das Prisma des 20. Jahrhunderts betrachtet.
Man könnte noch weitergehen und sagen, dass der säkulare Totalitarismus uns den Höhepunkt menschlicher Bösartigkeit geliefert hat. Die am häufigsten genannten Beispiele – Hitlers und Stalins Regime – zeigen uns mit erschreckender Klarheit, was geschehen kann, wenn sich Menschen die Rolle von Göttern anmaßen. Im Gespräch mit säkularen und atheistischen Freunden höre ich immer wieder, dass ihnen dieser Einwand von gläubigen Zuhörern am häufigsten entgegengebracht wird. Der Punkt verdient daher eine ausführliche Würdigung.
Um mit einer etwas billigen Anmerkung zu beginnen: Es ist doch interessant, dass gläubige Menschen sich heute gern damit rechtfertigen, dass sie nicht schlimmer seien als Faschisten, Nazis oder Stalinisten – bedauerlich, dass sich die Religion nicht mehr Würde bewahrt hat. Zwar befinden sich meiner Schätzung nach in den Rängen des Säkularismus und des Atheismus nicht übermäßig viele Kommunisten und Faschisten, aber um der Argumentation willen sei zugestanden, dass so, wie Säkularisten und Atheisten Widerstand gegen geistliche und theokratische Tyrannen geleistet haben, gläubige Menschen gegen heidnische und materialistische Gewaltherrschaft aufbegehrt haben. Dies nur, damit wir uns in der Mitte treffen.
Das Wort »totalitär« wurde wohl erstmals von dem marxistischen Dissidenten Victor Serge verwendet, der entsetzt war über die Folgen des Stalinismus in der Sowjetunion. Die säkulare jüdische Intellektuelle Hannah Arendt, die der Hölle des Dritten Reiches entkommen war, machte den Begriff mit ihrem Buch The Origins of Totalitarianism bekannt. [FUSSNOTE59]
Dieser Begriff zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er »gewöhnliche« Formen der Tyrannei, die von ihren Untertanen lediglich Gehorsam einfordern, von absolutistischen Systemen abgrenzt, die vom Bürger erwarten, dass er ausschließlich Untertan ist, sein Privatleben und seine Persönlichkeit vollständig dem Staat oder dem obersten Führer hingibt.
Von dieser Definition ausgehend, liegt die erste Folgerung auf der Hand. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte war die Vorstellung eines totalen oder absoluten Staates meist eng mit der Religion verknüpft. Ein Baron oder ein König zwang seine Untertanen dazu, Steuern zu zahlen oder in seiner Armee zu dienen, und für gewöhnlich hatte er auch Priester an der Hand, die das Volk an seine Pflichten erinnerten. Doch die wahrhaft schreckliche Tyrannei ist eine, die auch Herz und Kopf ihrer Untertanen einfordert. Seien es nun die östlichen Monarchien Chinas, Indiens oder Persiens, die Reiche der Azteken oder Inkas oder die mittelalterlichen Höfe Spaniens, Russlands und Frankreichs: Fast immer waren die Diktatoren auch Götter oder Kirchenführer. Man schuldete ihnen mehr als bloßen Gehorsam: Jede Kritik an ihnen war von vornherein profan, und Millionen von Menschen lebten und starben in blanker Angst vor einem Herrscher, der sie aus einer Laune heraus zu einem Blutopfer auswählen oder zum ewigen Fegefeuer verdammen konnte. Der kleinste Verstoß gegen einen Feiertag, einen heiligen Gegenstand oder eine Vorschrift zur Sexualität, zur Ernährung oder zur sozialen Stellung konnte einen Untertanen ins Unglück stürzen. Das totalitäre Prinzip, das häufig als systematisch beschrieben wird, zeichnet sich gleichzeitig durch Willkür aus. Die Regeln konnten sich jeden Augenblick ändern, und die Herrscher hatten den Vorteil, dass ihre Untertanen nie sicher sein konnten, ob sie gerade dem aktuellen Gesetz genügten oder nicht. Die wenigen Ausnahmen im Altertum – etwa das Athen des Perikles, mit all seinen Unzulänglichkeiten – wissen wir heute so zu schätzen, weil es sich um die seltenen Momente handelt, in denen die Menschen nicht in permanenter Angst vor einem Pharao, vor Nebukadnezar oder Darius lebten, deren Worte heiliges Gesetz waren.
Das galt auch dann noch, als das göttliche Gesetz der Despoten nach und nach moderneren Varianten Platz machte. Der Vorstellung eines utopischen Staates auf Erden, modelliert nach einem himmlischen Ideal, ist nur schwer beizukommen, und Menschen haben sich im Namen dieses Ideals zu furchtbaren Verbrechen hinreißen lassen. Einer der ersten Versuche, eine ideale paradiesische Gesellschaft zu erschaffen, in der alle Menschen gleich sind, war der von Missionaren in Paraguay gegründete totalitäre sozialistische Jesuitenstaat. Er verband ein Höchstmaß an Egalitarismus mit einem Höchstmaß an Unfreiheit und ließ sich nur mit einem Höchstmaß an Angst aufrechterhalten. Das hätte jedem, der die menschliche Spezies zu perfektionieren suchte, eine Warnung sein sollen. Doch dieser Wunsch – die Wurzel und die Quelle des totalitären Antriebs – ist im Wesentlichen ein religiöser.
George Orwell, der asketische Atheist, dessen Romane uns eine bleibende Vorstellung davon vermitteln, wie sich das Leben in einem totalitären Staat anfühlen könnte, hegte da keinerlei Zweifel. »Vom totalitären Standpunkt«, schrieb er 1946 in seinem Essay »Zur Verhinderung der Literatur«, »ist Geschichte eher etwas, das immer neu geschaffen statt gelehrt werden muss. Der totalitäre Staat ist praktisch eine Theokratie, und seine herrschende Klasse muss als unfehlbar erscheinen, um ihre Position zu behaupten.« [FUSSNOTE60]
Man beachte, dass er dies in einem Jahr schrieb, in dem er nach zehn Jahren Kampf gegen den Faschismus seine Geschütze stärker auf die Sympathisanten des Kommunismus ausrichtete.
Wer der totalitären Denkart anhängt, muss nicht unbedingt eine Uniform tragen und eine Keule oder eine Peitsche bei sich führen. Er muss nur seine eigene Unterwerfung wollen und sich an der Unterwerfung anderer erfreuen. Ein totalitäres System fordert nichts anderes als die unterwürfige Glorifizierung eines perfekten Führers, die Hingabe aller Privatheit und Individualität, insbesondere in Fragen der Sexualität, und die Denunzierung und Bestrafung von Sündern – zu ihrem eigenen Wohle natürlich. Das sexuelle Element ist wahrscheinlich entscheidend, denn die enge Verbindung zwischen Repression und Perversion, die schon Nathaniel Hawthorne in Der scharlachrote Buchstabe beschrieb, erschließt sich auch dem behäbigsten Beobachter.
In der frühen Menschheitsgeschichte war das totalitäre Prinzip gang und gäbe. Die Staatsreligion gab eine umfassende und »totale« Antwort auf sämtliche Fragen, von der Stellung in der sozialen Hierarchie bis hin zu Regelungen in Sachen Ernährung und Sexualität. Sklave oder kein Sklave, der Mensch war Eigentum, und die Geistlichkeit stärkte den Absolutismus. Orwells originellste Projektion der totalitären Idee – das »Gedankenverbrechen« – war eine ständige Gefahr. Ein unreiner Gedanke, zumal ein häretischer, konnte dazu führen, dass dem Betreffenden bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen wurde. Wer beschuldigt wurde, von Dämonen besessen zu sein oder mit dem Bösen in Kontakt zu stehen, wurde unweigerlich auch verurteilt. Wie höllisch das Ganze war, erkannte Orwell schon in seiner von christlichen Sadisten geführten Schule, in der man nie wissen konnte, wann man gegen die Regeln verstoßen hatte. Egal was man tat und wie vorsichtig man auch war – dauernd holten einen Sünden ein, von denen man gar nichts wusste.
So eine grauenhafte Schule lässt man irgendwann hinter sich – traumatisiert fürs Leben, wie Millionen anderer Kinder –, doch der Welt der Erbsünde, der Schuldkomplexe und des Schmerzes kann man nach religiös-totalitärer Sichtweise nicht entkommen. Nach unserem Tod erwarten uns unzählige Strafen. Extreme religiöse Totalitaristen wie Johannes Calvin, der seine furchtbare Doktrin dem Augustinus entlehnt, behaupten, dass schon vor unserer Geburt unendlich viele Strafen auf uns warten können. Vor langer Zeit sei festgelegt worden, welche Seelen erwählt werden sollen, wenn die Zeit komme, die Schafe von den Ziegen zu trennen. Gegen dieses einstige Urteil sei kein Einspruch möglich, und keine guten Werke oder Glaubensbekundungen könnten den retten, der nicht das Glück habe, erwählt zu sein. Calvins Genf war der Inbegriff eines totalitären Staates, Calvin selbst ein Sadist, Folterer und Mörder, der Michael Servetus, einen der großen Denker und Gelehrten seiner Zeit, bei lebendigem Leib verbrennen ließ. Welches Elend Calvins Anhängern durch die lebenslange Sorge darum auferlegt wurde, ob sie nun erwählt waren oder nicht, ist in George Eliots Adam Bede ebenso treffend dargestellt wie in einer alten englischen Satire gegen andere Sekten, von den Zeugen Jehovas bis hin zu den Brüdern von Plymouth, die waghalsig behaupteten, sie seien die Auserwählten und ihnen allein sei die genaue Zahl derer bekannt, die dem Fegefeuer entrissen würden:
Wir sind die Reinen, auserkoren, verdammt sind alle andern. Die dürfen in der Hölle schmoren, wir in den Himmel wandern.
Das Leben eines harmlosen, aber ängstlichen Onkels von mir wurde genau auf diese Art ruiniert. Heute gehört Calvin scheinbar einer fernen Vergangenheit an, doch diejenigen, die in seinem Namen Macht an sich rissen und ausübten, weilen unter sanfteren Bezeichnungen wie Presbyterianer und Baptisten noch unter uns. Der Impuls, Bücher zu zensieren und zu verbieten, Abweichler zum Schweigen zu bringen, Außenseiter zu verdammen, in die Privatsphäre anderer einzudringen und sich auf eine exklusive Erlösung zu berufen, liegt im Wesen des Totalitarismus. Der Fatalismus im Islam, nach dem Gott alles im Voraus festgelegt hat, bietet hier einige Anknüpfungspunkte, denn auch er leugnet die menschliche Autonomie und Freiheit gänzlich und vertritt die arrogante Überzeugung, dass sein Glaube alles umfasst, was ein Mensch wissen muss.
Als sie im Jahr 1950 die große antitotalitäre Anthologie des 20. Jahrhunderts veröffentlichten, mussten die beiden Herausgeber über den passenden Titel nicht lang nachdenken. Sie nannten sie The God That Failed (dt. Ein Gott, der keiner war]. Einen der beiden kannte ich persönlich, weil ich hin und wieder für ihn arbeitete: den britischen Sozialisten Richard Crossman. In der Einleitung zu dem Buch schreibt er:
Für den Intellektuellen sind materielle Annehmlichkeiten verhältnismäßig unwichtig; er legt am meisten Wert auf die geistige Freiheit. Die Stärke der katholischen Kirche hat immer darin gelegen, dass sie ein kompromissloses Opfer dieser Freiheit verlangt und den geistigen Hochmut als eine Todsünde verdammt. Der kommunistische Novize, der seine Seele dem kanonischen Gesetz des Kremls unterwirft, empfand etwas von der Erlösung, die der Katholizismus ebenfalls den vom Vorrecht der Freiheit ermatteten und geplagten Intellektuellen bringt. [FUSSNOTE61]
Das einzige Buch, das bereits im Vorfeld, nämlich ganze dreißig Jahre davor, vor dieser Entwicklung gewarnt hatte, war ein schmales, aber hervorragendes Bändchen, das 1919 unter dem Titel The Practice and Theory of Bolshevism herauskam (dt. Die Praxis und Theorie des Bolschewismus). [FUSSNOTE62]
Lange bevor Arthur Koestler und Richard Crossman im Rückblick die Trümmer begutachteten, wurde darin mit einer bis heute bewundernswerten Weitsicht die gesamte Katastrophe vorhergesagt. Der sarkastische Analyst der neuen Religion, Bertrand Russell, war als Atheist weitaus hellsichtiger als viele naive »christliche Sozialisten«, die in Russland die Anfänge eines neuen irdischen Paradieses zu erkennen meinten. Seine Weitsicht überstieg auch die der anglikanischen Kirche seines Heimatlandes England, wo die anerkannte überregionale Zeitung, die Londoner Times, die russische Revolution aus den Protokollen der Weisen von Zion erklärte. Diesen ungeheuerlichen, von russisch-orthodoxen Geheimpolizisten fabrizierten Text legte übrigens die offizielle Druckerei der anglikanischen Kirche, Eyre & Spottiswode, neu auf.
Wenn man bedenkt, wie lange die Religionen schon Diktaturen auf Erden zuarbeiten und die absolute Kontrolle im Jenseits ankündigen, wie sind sie da mit den »säkularen« totalitären Regimen unserer Zeit umgegangen? Betrachten wir zunächst in dieser Reihenfolge den Faschismus, den Nationalsozialismus und den Stalinismus.
Die Bewegung des Faschismus, Vorläufer und Modell des Nationalsozialismus, glaubte an eine organische und korporative Gesellschaft mit einem Führer – die Fasces, das um eine Axt gebundene Rutenbündel der Liktoren im alten Rom, symbolisierten Einheit und Autorität. Die aus dem Elend des Ersten Weltkriegs und einem Gefühl der Erniedrigung erstandenen faschistischen Bewegungen wollten die traditionellen Werte gegen den Bolschewismus verteidigen und hielten Nationalismus und Frömmigkeit hoch. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sie zuerst und mit besonderer Inbrunst in katholischen Ländern auftauchten, und ganz sicher ist es kein Zufall, dass die katholische Kirche dem Faschismus als Idee allgemein wohlwollend gegenüberstand. Die Kirche betrachtete den Kommunismus als ihren Todfeind, zumal sie in den höchsten Rängen von Lenins Partei auch noch ihren alten jüdischen Feind sitzen sah. Benito Mussolini hatte in Italien kaum die Macht an sich gerissen, als der Vatikan mit den Lateranverträgen von 1929 schon ein offizielles Bündnis mit ihm einging. Diese Verträge regelten, dass der Katholizismus zur einzigen anerkannten Religion in Italien wurde und eine monopolistische Macht über Fragen wie Geburt, Ehe, Tod und Ausbildung erhielt. Im Gegenzug drängte er seine Anhänger, Mussolinis Partei zu wählen. Papst Pius XI. befand, den Duce (»Führer«) habe die Vorsehung geschickt. Wahlen spielten zwar in Italien auf lange Zeit keine Rolle mehr, doch die Kirche betrieb die Auflösung katholischer Zentrumsparteien und unterstützte eine Pseudopartei namens »Katholische Aktion«, die in mehreren anderen Ländern Nachahmer fand. In ganz Südeuropa war die Kirche ein verlässlicher Verbündeter der Faschisten und half bei der Einsetzung faschistischer Regimes in Spanien, Portugal und Kroatien. General Franco in Spanien durfte seine Invasion und die Absetzung der gewählten Regierung mit dem großartigen Titel La Crujada, »Kreuzzug«, verbrämen. Mussolinis Versuch, mit einem Einmarsch in Libyen, Abessinien (heute Äthiopien) und Albanien einen Abklatsch des Römischen Reichs zu errichten, wurde vom Vatikan unterstützt oder zumindest nicht kritisiert. Immerhin lebten in diesen Ländern entweder Nicht-Christen oder wie in Osteuropa die falschen Christen. Den Einsatz von Giftgas und andere grausame Maßnahmen in Abessinien rechtfertigte Mussolini gar mit dem Hinweis auf das hartnäckige Festhalten seiner Bewohner am Monophysitismus, der die eine Natur Christi betont und von Papst Leo und dem Konzil von Chalkedon 451 verdammt worden war.
In Mittel- und Osteuropa stellte sich die Lage kaum besser dar. Der Militärputsch der extremen Rechten in Ungarn unter Admiral Horthy wurde von der Kirche ebenso begrüßt wie ähnliche faschistische Bewegungen in der Slowakei und in Österreich. (Das nationalsozialistische Marionettenregime in der Slowakei wurde sogar von dem Geistlichen Jozef Tiso geführt.) Der österreichische Kardinal begrüßte begeistert den »Anschluss« seines Landes durch Hitler.
In Frankreich eignete sich die extreme Rechte den Slogan »Meilleur Hitler que Blum« an – lieber wollte man den deutschen rassistischen Diktator als den gewählten französischen sozialistischen Juden. Katholische Faschistenorganisationen wie Charles Maurras’ Action Française und das Croix de Feu kämpften mit aller Macht gegen die französische Demokratie und machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung, wodurch sich der Niedergang, der Frankreich seit der Aufhebung des Urteils gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus im Jahr 1899 erfasst hatte, ungehindert fortsetzte. Als die Deutschen Frankreich eroberten, halfen diese Kräfte eifrig bei der Verhaftung und Ermordung französischer Juden sowie bei der Deportation vieler weiterer Franzosen in die Zwangsarbeit. Das Vichy-Regime machte Zugeständnisse an die Geistlichkeit, indem es den Wahlspruch von 1789 – Liberté, Egalité, Fraternité- aus der Öffentlichkeit verbannte und durch das christliche Ideal Familie, Travail, Patrie ersetzte. Selbst in einem Land wie England, in dem sich die Sympathie für den Faschismus in Grenzen hielt, zog er dank katholischer Intellektueller wie T. S. Eliot und Evelyn Waugh in durchaus respektablen Kreisen ein ansehnliches Publikum an.
Die Blauhemdbewegung General O’Duffys im angrenzenden Irland, die zur Unterstützung Francos Freiwillige nach Spanien schickte, war völlig von der katholischen Kirche abhängig. Noch im April 1945 setzte sich Präsident Eamon de Valera, nachdem er die Nachricht vom Tode Hitlers erhalten hatte, seinen Zylinder auf, ließ seine Staatskarosse vorfahren und begab sich zur deutschen Botschaft in Dublin, um zu kondolieren. Diese und ähnliche Haltungen führten dazu, dass eine ganze Reihe katholisch dominierter Staaten von Irland bis nach Spanien den Vereinten Nationen nach deren Gründung zunächst nicht beitreten durften. Die Kirche hat sich bemüht, sich dafür zu entschuldigen, doch ihre Komplizenschaft mit dem Faschismus ist ein bleibender Makel in ihrer Geschichte. Dabei handelte es sich nicht so sehr um ein kurzfristiges Engagement, sondern vielmehr um eine feste Allianz, die erst zerbrach, als die faschistische Ära ihrerseits Geschichte geworden war.
Die Kapitulation der Kirche vor dem deutschen Nationalsozialismus verlief ungleich komplizierter, war aber kaum erhebender. Obwohl der Vatikan zwei wichtige Prinzipien mit Hitlers Bewegung gemein hatte – den Antisemitismus und den Antikommunismus – war ihm bald klar, dass der Nationalsozialismus auch für ihn eine Gefahr darstellte. Erstens handelte es sich um eine quasiheidnische Bewegung, die langfristig das Christentum durch pseudonordische Blutriten und auf der angeblichen Überlegenheit der arischen Rasse gründende finstere Rassenmythen ersetzen wollte. Zweitens strebten die Nationalsozialisten die Vernichtung der Kranken, Versehrten und Geisteskranken an, und zwar nicht unter den Juden, sondern unter den Deutschen. Es war ein Verdienst der Kirche, dass sie die Euthanasie von deutschen Kanzeln schon sehr früh ablehnte.
Hätte sich der Vatikan durchweg vom ethischen Prinzip leiten lassen, so hätte er sich nicht die nächsten fünfzig Jahre vergeblich um eine Erklärung und Entschuldigung für seine verachtenswerte Passivität und Trägheit bemühen müssen. »Passivität« und »Trägheit« sind an dieser Stelle vielleicht sogar die falschen Begriffe. Wer beschließt, nichts zu tun, hat eine Entscheidung getroffen und vertritt eine Linie, und die Anpassung der Kirche in Form einer Realpolitik, deren Ziel es war, nicht etwa den Nationalsozialismus zu besiegen, sondern sich darin einzurichten, lässt sich leicht nachweisen und erklären.
Die erste diplomatische Übereinkunft, die Hitlers Regierung am 8. Juli 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung, traf, war ein Vertrag mit dem Vatikan. Im Gegenzug für die unangefochtene Kontrolle über die Erziehung katholischer Kinder in Deutschland, die Einstellung der Nazipropaganda gegen Missbrauchsfälle in katholischen Schulen und Waisenhäusern und das Zugeständnis weiterer Privilegien an die Kirche ordnete der Heilige Stuhl die Auflösung der katholischen Zentrumspartei an und befahl den Katholiken knapp, sich jeglicher politischen Aktivität in allen Bereichen zu enthalten, die das Regime für tabu zu erklären gedachte. In der ersten Kabinettssitzung nach Unterzeichnung dieser Kapitulation sagte Hitler, diese neuen Umstände seien vor allem im Kampf »gegen das internationale Judentum besonders bedeutungsvoll«. [FUSSNOTE63]
Damit hatte er völlig recht. Wahrscheinlich konnte er sein Glück gar nicht fassen: Zweiunddreißig Millionen Katholiken, die unter dem Dritten Reich lebten und von denen viele Widerstand gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus geleistet und große Zivilcourage bewiesen hatten, waren als politische Kraft ausgeschaltet. Ihr eigener Heiliger Vater hatte ihnen aufgetragen, dem schlimmsten Diktator der Menschheitsgeschichte freie Hand zu gewähren. Ab diesem Zeitpunkt wurden dem Staat die Kirchenbücher zugänglich gemacht, um festzustellen, wer nicht »rassisch rein« genug war, um der Verfolgung unter den Nürnberger Gesetzen zu entkommen.
Eine nicht weniger furchtbare Folge dieser Kapitulation war der moralische Kollaps der deutschen Protestanten, die einem Sonderstatus für Katholiken zuvorkommen wollten, indem sie dem »Führer« auf ihre Art entgegenkamen. Keine der protestantischen Kirchen ging allerdings so weit wie die katholische Hierarchie, die sogar Feiern zu Hitlers Geburtstag am 20. April anordnete. Auf päpstliche Anweisung gestattete sich der Kardinal von Berlin an diesem Jubeltag zudem, »namens der Oberhirten aller Diözesen Deutschlands Ihnen die herzlichsten Glückwünsche darzubringen. Es geschieht dies im Verein mit den heißen Gebeten, die die Katholiken Deutschlands am 20. April an den Altären für Volk, Heer und Vaterland, für Staat und Führer zum Himmel senden.« Der Anweisung wurde gewissenhaft Folge geleistet.
Der Fairness halber sei erwähnt, dass diese skandalöse Tradition erst 1939 ins Leben gerufen wurde, dem Jahr also, in dem der Papst wechselte. Und der Fairness halber sei hinzugefügt, dass Papst Pius XI. stets die größten Zweifel am Hitler-System und seinem offenkundigen Hang zu radikaler Bösartigkeit hegte. So zog sich der Heilige Vater, als Hitler zum ersten Mal Rom besuchte, demonstrativ aus der Stadt in seine päpstliche Sommerresidenz zurück. Doch dieser kranke und schwache Papst war die gesamten Dreißigerjahre hindurch von seinem Staatssekretär Eugenio Pacelli hintergangen worden. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass mindestens eine päpstliche Enzyklika, in der die Besorgnis über die Misshandlung der Juden Europas wenigstens andeutungsweise zum Ausdruck kam, von Seiner Heiligkeit vorbereitet, von Pacelli, der eine andere Strategie im Sinn hatte, aber zurückgehalten wurde. Heute kennen wir Pacelli als Papst Pius XII., der nach dem Tod seines Vorgängers im Februar 1939 ins Amt kam. Vier Tage nach seiner Wahl durch das Konklave setzte Seine Heiligkeit folgenden Brief auf:
Dem Hochzuehrenden Herrn Adolf Hitler, Führer und Kanzler des Deutschen Reiches...
Wir legen... gleich zu Beginn Unsere(s) Pontifikats Wert darauf, Ihnen zu versichern, dass Wir dem Ihrer Obsorge anvertrauten Deutschen Volke in innigem Wohlwollen zugetan bleiben... In angenehmer Erinnerung an die langen Jahre, da Wir als Apostolischer Nuntius in Deutschland mit Freude alles daran setzten, um das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im gegenseitigen Einvernehmen und hilfsbereiten Zusammenwirken beider Teile zu ordnen und zu gedeihlicher Weiterentwicklung zu bringen, richten Wir jetzt zumal auf die Erreichung solchen Zieles das ganz dringende Verlangen, welches die Verantwortung Unseres Amtes Uns eingibt und ermöglicht. Wir geben Uns der Hoffnung hin, dass dieser Unser heißer Wunsch, der mit der Wohlfahrt des Deutschen Volkes und der wirksamen Förderung jeglicher Ordnung aufs engste verbunden ist, mit Gottes Hilfe zu glücklicher Verwirklichung gelange.
Sechs Jahre nach diesem bösartigen und törichten Brief stand das einst wohlhabende und zivilisierte deutsche Volk vor Schuttbergen, während die gottlose Rote Armee auf Berlin zufegte. Doch ich erwähne diese Verbindung aus einem anderen Grund. Die Gläubigen sehen im Papst den Stellvertreter Christi auf Erden und den Hüter der Schlüssel des heiligen Petrus. Daran dürfen sie natürlich gern glauben und auch daran, dass Gott entscheidet, wann er die Amtszeit des einen Papstes beenden oder, was wichtiger ist, die Amtszeit eines anderen beginnen lassen möchte. Dies würde bedeuten, dass man den Tod eines nazifeindlichen und den Amtsantritt eines nazifreundlichen Papstes wenige Monate vor Hitlers Einmarsch in Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs als Folge des göttlichen Willens betrachten müsste. Wenn man sich diesen Krieg genauer ansieht, so wird man feststellen, dass fünfundzwanzig Prozent der SS-Mitglieder praktizierende Katholiken waren und dass keinem Katholiken wegen seiner Beteiligung an Kriegsverbrechen je mit der Exkommunizierung gedroht wurde. (Joseph Goebbels wurde exkommuniziert, doch das war bereits früher, und er hatte es sich selbst zuzuschreiben, denn er hatte sich des Vergehens schuldig gemacht, eine Protestantin zu heiraten.) Kein Mensch und keine Institution ist vollkommen, das ist klar. Aber es gibt wohl keinen beeindruckenderen Beweis dafür, dass geweihte Institutionen menschgemacht sind.
Die Zusammenarbeit wurde nach dem Krieg fortgesetzt, als der Vatikan gesuchte Naziverbrecher über die berüchtigten »Rattenlinien« nach Südamerika verschwinden ließ. Der Vatikan, der Pässe, Dokumente und Geld besorgen sowie Kontakte herstellen konnte, kümmerte sich um das Fluchtnetz und alles, was für Unterkunft und Unterhalt am Zielort notwendig war. Als wäre das nicht schon schlimm genug, kollaborierte der Vatikan in diesem Zusammenhang auch mit den ultrarechten Diktaturen der südlichen Hemisphäre, die zum überwiegenden Teil nach faschistischem Modell organisiert waren. Flüchtige Folterer und Mörder wie Klaus Barbie machten häufig eine zweite Karriere als Diener solcher Regime, die bis zu ihrem beginnenden Zusammenbruch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine stabile Beziehung gegenseitiger Unterstützung mit dem katholischen Klerus vor Ort unterhielt. So überdauerte die Verbindung zwischen Kirche und Faschismus sowie Nationalsozialismus das Dritte Reich.
Viele Christen gaben bei dem Versuch, in diesen düstersten Zeiten des 20. Jahrhunderts ihre Mitmenschen zu beschützen, ihr Leben, doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies auf priesterlichen Rat hin taten, ist statistisch beinahe zu vernachlässigen. Das ist auch der Grund dafür, dass wir mit Ehrfurcht der wenigen Kirchenleute gedenken, die ihrem Gewissen folgten, etwa Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller. Das Papsttum konnte erst in den 1980er-Jahren einen Kandidaten aus dem Kontext der »Endlösung« für die Heiligsprechung auftreiben, wobei es sich um einen recht zweifelhaften Priester handelte, der sich – nachdem er sich in Polen nachgewiesenermaßen lange Zeit als Antisemit hervorgetan hatte – in Auschwitz beispielhaft verhielt. Ein früherer Kandidat, der einfache Österreicher Franz Jagerstatter, erwies sich leider als ungeeignet: Er hatte sich zwar geweigert, in Hitlers Armee zu kämpfen, weil er von höherer Stelle den Auftrag habe, seinen Nächsten zu lieben, doch während er im Gefängnis auf die Exekution wartete, wurde er von seinen Beichtvätern ermahnt, dem Gesetz doch Genüge zu tun. Die säkulare Linke in Europa machte im Kampf gegen den Nationalsozialismus eine erheblich bessere Figur, auch wenn viele dem Glauben anhingen, jenseits des Ural gebe es ein Paradies für Arbeiter.
Häufig wird vergessen, dass zur Dreierachse auch Japan gehörte, dessen Staatsoberhaupt nicht nur ein gläubiger Kaiser war, sondern auch ein Gott. Wenn der häretische Glaube an Kaiser Hirohitos Göttlichkeit je von einer deutschen oder italienischen Kanzel herab oder von einem Prälaten angezweifelt wurde, so ist mir der Vorgang bislang jedenfalls nicht untergekommen. Im heiligen Namen dieses lächerlich überschätzten Menschen wurden weite Gebiete Chinas, Indochinas und des Pazifikraums geplündert und versklavt. In seinem Namen wurden Millionen indoktrinierter Japaner zu Märtyrern gemacht und geopfert. Weil um den Gottkaiser so ein hysterischer Kult betrieben wurde, schien es durchaus im Bereich des Möglichen, dass sich das gesamte japanische Volk in den Selbstmord flüchten würde, sollte er bei Kriegsende persönlich in Gefahr geraten. So beschloss man, dass er bleiben durfte, aber fortan nur noch einen Anspruch darauf hatte, Kaiser – und vielleicht ein bisschen göttlich – zu sein, aber streng genommen eben kein Gott. Dieses Einlenken vor der Macht der religiösen Meinung erzwingt das Eingeständnis, dass Glaube und Gottesverehrung Menschen zu wahrhaft schlechtem Betragen veranlassen kann.
Wer der Religion die »säkulare« Tyrannei gegenüberstellt, hofft darauf, dass beides vergessen wird: die enge Beziehung zwischen den christlichen Kirchen und dem Faschismus sowie die Kapitulation der Kirchen vor dem Nationalsozialismus. Das behaupte nicht nur ich – die Kirchenführungen haben es auch eingeräumt. Wie miserabel ihr Gewissen in diesem Punkt ist, illustriert ein Zitat, das sich hartnäckig hält. Auf religiösen Websites und in religiöser Propaganda stößt man immer wieder auf eine Aussage, die Albert Einstein 1940 gemacht haben soll:
Da ich die Freiheit schätze, erwartete ich, als die Revolution nach Deutschland kam, dass die Universitäten sie verteidigen würden, denn sie hatten sich immer damit gerühmt, der Wahrheit verpflichtet zu sein. Aber nein, die Universitäten wurden umgehend zum Schweigen gebracht. Dann zählte ich auf die großen Zeitungen, die früher in flammenden Leitartikeln ihre Liebe zur Freiheit proklamiert hatten. Doch auch sie wurden wie die Universitäten innerhalb weniger Wochen zum Schweigen gebracht. ... Nur die Kirche stellte sich aufrecht Hitlers Kampagne zur Unterdrückung der Wahrheit in den Weg. Ich habe nie ein besonderes Interesse an der Kirche gehabt, doch nun fühle ich eine große Zuneigung und Bewunderung, weil nur die Kirche den Mut und die Beharrlichkeit hatte, für intellektuelle Wahrheit und moralische Freiheit einzustehen. Ich muss daher bekennen, dass ich nun rückhaltlos lobe, was ich einst verachtete.
Dieses Zitat, das – ohne verifizierbare Quelle – zum ersten Mal in der Zeitschrift Time erschien, wurde in einer landesweit übertragenen Sendung von dem berühmten Geistlichen und Fürsprecher der katholischen Kirche in den USA Fulton Sheen zitiert und ist seither im Umlauf. William Waterhouse hat nun in einem Aufsatz darauf hingewiesen, dass es überhaupt nicht nach Einstein klingt. [FUSSNOTE64]
Zum einen ist die Sprache zu blumig, zum anderen wird die Verfolgung der Juden nicht einmal erwähnt. Der besonnene und umsichtige Einstein setze sich zudem in ein törichtes Licht, wenn er behaupte, er habe etwas »verachtet«, für das er »nie besonderes Interesse« hatte. Eine weitere Schwierigkeit bestehe darin, dass die Aussage in keiner Anthologie mit Einsteins schriftlichen oder mündlichen Kommentaren auftaucht. Waterhouse trieb schließlich im Einstein-Archiv in Jerusalem einen nicht veröffentlichten Brief auf, in dem der alte Mann 1947 beklagte, das Lob, das er einst einigen deutschen Kirchenmännern (nicht Kirchen) ausgesprochen habe, sei bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen worden.
Wer wissen möchte, was Einstein in den frühen Tagen von Hitlers Barbarei wirklich gesagt hat, kann es jederzeit nachlesen. Zum Beispiel Folgendes:
Ich hoffe, dass in Deutschland bald gesunde Verhältnisse eintreten werden und dass dort in Zukunft die großen Männer wie Kant und Goethe nicht nur von Zeit zu Zeit gefeiert werden, sondern dass sich auch die von ihnen gelehrten Grundsätze im öffentlichen Leben und im allgemeinen Bewusstsein durchsetzen. [FUSSNOTE65]
Daraus geht recht deutlich hervor, dass Einstein auch hier seinen »Glauben« aus der Tradition der Aufklärung bezog. Wer den Mann, der uns eine neue Theorie des Universums geschenkt hat, in ein falsches Licht stellen möchte – aber auch wer schwieg, während seine jüdischen Mitbürger deportiert und vernichtet wurden, oder sich gar daran beteiligte den wird wohl noch der eine oder andere Gewissensbiss plagen.
Beim sowjetischen und chinesischen Stalinismus mit seinem gewaltigen Personenkult und der Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Menschenleben und den Menschenrechten sind nicht allzu viele Schnittstellen mit vorher existierenden Religionen zu erwarten. Zum einen war die russisch-orthodoxe Kirche eine der Hauptstützen der zaristischen Autokratie gewesen, wobei der Zar als formelles Kirchenoberhaupt galt und durchaus übermenschliche Züge hatte. In China wurden die christlichen Kirchen überwiegend mit den »Konzessionen« der Imperialmächte in Verbindung gebracht, was einer der Hauptgründe für die Revolution war. Damit lassen sich der Mord an Priestern und Nonnen sowie die Entweihung von Kirchen weder erklären noch entschuldigen – ebenso wenig wie die Kirchenverbrennungen und die Ermordung Geistlicher in Spanien im Kampf zwischen der spanischen Republik und dem katholischen Faschismus –, doch die langjährige Assoziation der Religion mit korrupter säkularer Macht hat dazu geführt, dass die meisten Nationen mindestens eine antiklerikale Phase durchlaufen mussten, von Cromwell über Heinrich VIII. bis hin zur Französischen Revolution und zum Risorgimento. Unter den in Russland und China herrschenden Bedingungen des Krieges und des Zusammenbruchs waren diese Interludien besonders brutal. Allerdings sei an dieser Stelle angemerkt, dass man sich in keinem dieser Länder ernsthaft die Wiederherstellung der christlichen Religion in ihren früheren Zustand wünschen sollte: In Russland verteidigte die Kirche die Leibeigenschaft und war für antijüdische Pogrome verantwortlich, und in China arbeiteten Missionare, Händler und Konzessionäre Hand in Hand.
Lenin und Trotzki waren fraglos überzeugte Atheisten. Sie meinten, religiöse Illusionen könnten durch politische Akte zerstört und das unanständig große Vermögen der Kirche enteignet und verstaatlicht werden. Einige der Bolschewiken betrachteten, wie schon einzelne Jakobiner 1789, die Revolution als eine Art Alternativreligion, die Verbindungen zu Erlösungsmythen und Messianismus aufwies. Für Josef Stalin, der in Georgien ein Priesterseminar besucht hatte, stand letztendlich die Machtfrage im Vordergrund. »Wie viele Divisionen«, lautet eine berühmte und dumme Frage, die er gern stellte, »hat der Papst?« (Die einzig richtige Antwort auf seine sarkastische Fangfrage lautet: »Mehr, als Sie glauben.«) Stalin kopierte sodann pedantisch die päpstliche Angewohnheit, die Wissenschaft dem Dogma anzupassen. So behauptete er steif und fest, der Schamane und Scharlatan Trofim Lyssenko habe den Schlüssel zur Vererbung entdeckt und könne zusätzliche Ernten besonders inspirierter Gemüsesorten garantieren – Millionen Unschuldiger starben infolge dieser »Offenbarung« an bohrenden Bauchschmerzen. Stalin achtete im Laufe seines zunehmend nationalistischen und statischen Regimes stets darauf, zumindest eine Marionettenkirche aufrechtzuerhalten, die mit ihren traditionellen Anreizen seine eigene Wirkung verstärken konnte. Das galt besonders im Zweiten Weltkrieg, als die »Internationale« als russische Nationalhymne aufgegeben und durch eine Art hymnischer Propaganda ersetzt wurde, mit der man 1812 Bonaparte besiegt hatte – und das zu einer Zeit, da »Freiwillige« aus mehreren faschistischen Staaten Europas unter dem heiligen Banner eines Kreuzzugs gegen den »gottlosen« Kommunismus in russisches Territorium einmarschierten. In einer wenig beachteten Passage von Orwells Farm der Tiere kehrt der Rabe Moses, vor der Revolution krächzender Advokat eines Himmels jenseits der Wolken, auf die Farm zurück und hält nach Napoleons Sieg über Snowball vor den leichtgläubigen Tieren eine Predigt. Die Analogie zu Stalin und seiner Manipulation der russisch-orthodoxen Kirche ist auch hier frappant. In Polen bedienten sich die Nachkriegsstalinisten übrigens der gleichen Taktik, indem sie die katholische Organisation Pax Christi zuließen und ihr Sitze im Warschauer Parlament zugestanden, sehr zur Freude katholischer Kommunisten wie Graham Greene. Die antireligiöse Propaganda in der Sowjetunion war auf banalste Weise materialistisch: Schreine für Lenin wurden mit Glasmalereien geschmückt, und im offiziellen Museum des Atheismus wurde ein russischer Astronaut mit den Worten zitiert, er habe im Weltraum jedenfalls keinen Gott gesehen. Dieser Schwachsinn drückte mindestens so viel Verachtung für das gutgläubige Volk aus wie jede Wunder wirkende Ikone. Der große Dichter Czeslaw Milosz formulierte es in seinem antitotalitären Klassiker Verführtes Denken so:
Ich hatte unter meinen Freunden viele Christen – Polen, Franzosen und Spanier –, die auf politischem Gebiet eine strenge stalinistische Orthodoxie vertraten, dabei aber einen inneren Vorbehalt machten; sie glaubten nämlich, Gott werde, wenn die Bevollmächtigten der Geschichte ihre blutigen Urteile vollzogen hätten, schon alles wieder zum Guten lenken. Sie gingen in ihren Überlegungen ziemlich weit: Die geschichtliche Entwicklung, so dachten sie, verläuft nach unumstößlichen Gesetzen, die nach Gottes Willen sind; eines dieser Gesetze ist der Klassenkampf. Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert des siegreichen Kampfes des Proletariats, das bei diesem Kampfe von der kommunistischen Partei angeführt wird; der Führer der kommunistischen Partei ist Stalin, er erfüllt das Gesetz der Geschichte, handelt also nach dem Willen Gottes, und daher ist man ihm Gehorsam schuldig. Die Erneuerung der Menschheit ist nur nach dem in Russland herrschenden Vorbild möglich, darum darf der Christ nicht gegen die eine Idee auftreten – selbst wenn in ihrem Namen Grausamkeiten begangen werden –, die auf dem ganzen Planeten eine neue Menschengattung erschaffen wird. Diese Argumente werden häufig auch öffentlich von jenen Geistlichen vorgebracht, die ein Werkzeug in der Hand der Partei sind. »Christus ist der neue Mensch. Der neue Mensch ist der Sowjetmensch. Folglich ist Christus ein Sowjetmensch!« So hat der rumänische Patriarch Justinian Marina gesagt. [FUSSNOTE66]
Sicher, Männer wie Marina waren abscheulich und erbärmlich. Doch so ein Vorgehen ist im Prinzip nicht schlimmer als die unzähligen Pakte zwischen Kirche und Reich, Kirche und Monarchie, Kirche und Faschismus, Kirche und Staat, die allesamt damit gerechtfertigt wurden, die Gläubigen müssten um der »höheren« Ziele willen zeitliche Allianzen eingehen, dem Kaiser geben, was des Kaisers ist – die Worte Zar und Kaiser haben ja mit dem lateinischen Caesar eine gemeinsame Wurzel –, selbst wenn der gottlos sei.
Ein Politikwissenschaftler oder Anthropologe versteht auf Anhieb, was die Herausgeber und Beiträger des Bandes Ein Gott, der keiner war in solch unsterbliche säkulare Prosa gossen: In Gesellschaften, die, wie sie sehr gut wussten, mit Glaube und Aberglaube durchsetzt waren, negierten die kommunistischen Absolutisten die Religion nicht etwa, sondern sie versuchten, sie zu ersetzen. Die feierliche Erhöhung unfehlbarer Führer, die eine Quelle endlosen Glücks und Segens waren, die permanente Suche nach Häretikern und Schismatikern, die Mumifizierung verstorbener Führer als Ikonen und Reliquien, die grausigen Schauprozesse, die mittels Folter unglaubwürdige Geständnisse entlockten: All das war vor dem Hintergrund der Tradition nur allzu leicht zu durchschauen. Das gilt auch für die Pest- und Hungerzeiten, in denen frenetisch nach allen möglichen Urhebern gesucht wurde, nur nicht nach den wirklichen. (Die große Doris Lessing erzählte mir einmal, sie sei aus der kommunistischen Partei ausgetreten, als sie herausfand, dass Stalins Inquisitoren die Museen der russisch-orthodoxen Kirche und des Zarismus geplündert und die alten Folterinstrumente wieder zum Einsatz gebracht hatten.) Und unschwer zu durchschauen ist es auch, wenn permanent eine strahlende Zukunft heraufbeschworen wird, die alle Verbrechen rechtfertigen und alle kleinlichen Zweifel ausräumen werde. »Extra ecclesiam, nulla salus«, außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. »In der Revolution ist alles erlaubt«, sagte Fidel Castro gern, »außerhalb der Revolution nichts.« In Castros Peripherie entwickelte sich tatsächlich eine bizarre Mutation, die mit dem Oxymoron »Befreiungstheologie« bezeichnet wird; Priester und manchmal auch Bischöfe entwickelten »alternative« Liturgien, in denen die lächerliche Vorstellung verbreitet wird, Jesus von Nazareth sei in Wahrheit Sozialist gewesen. Aus guten wie schlechten Motiven – Erzbischof Romero aus El Salvador war ein mutiger und prinzipientreuer Mensch, was man von manch einem Geistlichen in den nicaraguanischen »Basisgemeinden« nicht sagen kann – verwarf das Papsttum dies als Ketzerei. Hätte es doch auch den Faschismus und den Nationalsozialismus so schnell und unmissverständlich verdammt.
In sehr wenigen Fällen, etwa in Albanien, versuchte der Kommunismus die Religion vollständig auszurotten und einen gänzlich atheistischen Staat zu proklamieren. Das zog die extreme Verehrung einer mittelmäßigen Persönlichkeit wie des Diktators Enver Hoxha nach sich, aber auch heimliche Taufen und Zeremonien, die von der völligen Entfremdung des gemeinen Volkes vom Regime zeugten. Die modernen Vertreter einer säkularen Gesellschaft sprechen sich nicht ansatzweise für ein Verbot religiöser Riten aus. Sigmund Freud beschrieb den religiösen Impuls in Die Zukunft einer Illusion recht zutreffend als im Wesentlichen unausrottbar, solange die menschliche Spezies nicht ihre Angst vor dem Tod und ihren Hang zum Wunschdenken bewältigt habe. Dass dies geschieht, erscheint allerdings eher unwahrscheinlich. Die totalitären Staaten haben lediglich demonstriert, dass der religiöse Impuls – das Bedürfnis nach Gottesverehrung – noch abscheulichere Formen annehmen kann, wenn er unterdrückt wird, was wiederum nicht gerade für diese Neigung spricht.
In den ersten Monaten dieses Jahrhunderts besuchte ich Nordkorea. Hier, in einem hermetisch abgeschlossenen Viereck, umgeben vom Meer und einer nahezu unüberwindbaren Grenze, haben wir ein Land, das sich vollkommen der Beweihräucherung seiner Führer verschrieben hat. Jede wache Minute huldigt der Bürger – der Untertan – dem Höchsten Wesen und seinem Vater. In jeder Schulklasse ertönen Lobgesänge, alle Filme, Opern und Bühnenstücke sind ihnen gewidmet, alle Radio- und Fernsehübertragungen ihnen geweiht. Dasselbe gilt für Bücher, Zeitschriften und Zeitungsartikel, Sportereignisse und den Arbeitsplatz. Ich hatte mich immer gefragt, wie es wohl ist, wenn man unaufhörlich Lobeshymnen singen muss – nun weiß ich es. Auch der Teufel hat dort seinen Platz: Die ständig drohende Gefahr, die von Außenseitern und Nichtgläubigen ausgeht, wird mit unerbittlicher Wachsamkeit bekämpft, unter anderem mit täglichen Ritualen am Arbeitsplatz, die den Hass auf das »Andere« tief verwurzeln. Der nordkoreanische Staat entstand etwa zur gleichen Zeit wie das Buch 1984, und fast könnte man meinen, der Heilige Vater des Staates, Kim Il Sung, habe den Roman mit der Bitte erhalten, ihn in die Praxis umzusetzen. Doch nicht einmal Orwell wagte es, die Geburt des Großen Bruders mit wundersamen Zeichen und Omen einhergehen zu lassen – Vögeln zum Beispiel, die das herrliche Ereignis mit Liedern in menschlicher Sprache preisen. Und sicher hätte in 1984 die innere Partei auf dem Luftstützpunkt Nummer eins von Ozeanien zu Zeiten einer schrecklichen Hungersnot nicht Milliarden der ohnehin knappen Dollar ausgegeben, um zu beweisen, dass lachhafte Säugetiere wie Kim Il Sung und sein erbärmlicher Sohn zwei Inkarnationen einer Person sind. Nordkorea hat mit dieser Spielart der von Athanasius scharf verurteilten arianischen Ketzerei als einziger Staat der Erde einen Toten als Staatsoberhaupt: Kim Jong Il ist Parteivorsitzender und Oberbefehlshaber, doch die Präsidentschaft hat für alle Zeiten sein verstorbener Vater inne. Damit wird das Regime zu einer Art Nekrokratie oder Mausolokratie, der zur Dreifaltigkeit nur noch eine Figur fehlt. Zwar spielt das Jenseits in Nordkorea keine Rolle, da von einer Flucht in egal welche Richtung stark abgeraten wird, es heißt aber, dass die beiden Kims nach ihrem Tod weiter über die Menschen herrschen werden. Wer sich näher mit Nordkorea beschäftigt, erkennt schnell, dass er es nicht so sehr mit einer Extremform des Kommunismus zu tun hat – dieser Begriff taucht in den rauschhaften Hingabezeremonien kaum auf –, sondern mit einer degenerierten, aber ausgefeilten Form des Konfuzianismus und der Ahnenverehrung.
Als ich mit einer Mischung aus Erleichterung, Wut und bis heute anhaltendem Mitleid aus Nordkorea abreiste, verließ ich einen totalitären und gleichzeitig religiösen Staat. Ich habe seither mit vielen mutigen Menschen gesprochen, die dieses grauenhafte System von innen und von außen zu untergraben versuchen. Einige der mutigsten unter diesen Widerständlern sind zugegebenermaßen fundamentalistische christliche Antikommunisten. Einer dieser beherzten Menschen gestand in einem Interview, das er mir vor nicht allzu langer Zeit gab, dass es ihm nicht leichtfalle, vor den halb verhungerten und verängstigten Menschen, denen es gelungen ist, aus dem Gefängnisstaat zu entkommen, vom Erlöser zu predigen. Das Konzept eines unfehlbaren und allmächtigen Erlösers, sagten sie, komme ihnen allzu bekannt vor. Eine Schüssel Reis, die Teilhabe an einer umfassenderen Kultur und ein wenig Ruhe vor dem entsetzlichen Getöse der Pflichtbegeisterung – mehr brauchten sie im Moment nicht. Wer das Glück hat, es nach Südkorea oder in die USA zu schaffen, wird auch dort wieder mit einem Messias konfrontiert. Der Knastbruder und Steuerhinterzieher Sun Myung Moon, der unangefochten der Vereinigungskirche vorsteht und der extremen Rechten in den USA zuarbeitet, ist einer der Drahtzieher in Sachen »Intelligent Design«. Eine führende Figur dieser sogenannten Bewegung ist Jonathan Wells, der seinen Gottmenschen und Guru hartnäckig als »Vater« bezeichnet. Der Autor der lachhaften antievolutionären Abhandlung The Icons of Evolution erzählt rührend: »Die Worte des Vaters, meine Forschungen und meine Gebete haben mich davon überzeugt, dass ich mein Leben der Zerstörung des Darwinismus widmen muss, so wie viele meiner Glaubensbrüder in der Vereinigungskirche ihr Leben bereits der Zerstörung des Marxismus gewidmet haben. Als der Vater mich (gemeinsam mit etwa einem Dutzend weiterer Absolventen des Priesterseminars) erwählte, 1978 ein Promotionsstudium aufzunehmen, ergriff ich diese Chance, in den Kampf zu ziehen.« Dr. Wells’ Buch wird in der Geschichte des Schwachsinns nicht einmal als Fußnote überdauern, doch nachdem ich in beiden koreanischen Staaten »Väter« am Werk gesehen habe kann ich mir in etwa vorstellen, wie es im »burned-over district« im Westen des Bundesstaates New York ausgesehen haben muss, als die Gläubigen dort den Ton angaben.
Selbst die sanftmütigste Religion wird zugeben müssen, dass sie eine »totale« Lösung anstrebt, in der gewissermaßen ein blinder Glaube herrscht und alle Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens einer permanenten Überwachung von oben unterworfen sind. Diese ständige Aufsicht, die meist mit der Androhung ewiger Rache einhergeht, kehrt nicht immer die besten Eigenschaften des Menschen heraus. Natürlich gehen auch aus der Befreiung von der Religion nicht immer die besten Menschen hervor. Um zwei augenfällige Beispiele zu nennen: Einer der größten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, J. D. Bernal, war ein ergebener Anhänger Stalins und verschwendete einen Großteil seines Lebens damit, die Verbrechen seines Idols zu rechtfertigen. H. L. Mencken, einer der besten Religionssatiriker, war allzu begeistert von Nietzsche und sprach sich für eine Form des Sozialdarwinismus aus, der die Euthanasie und die Geringschätzung Schwacher und Kranker einschloss. Zudem hatte er ein Faible für Adolf Hitler und schrieb eine unverzeihlich wohlwollende Rezension zu Mein Kampf. [FUSSNOTE67]
Der Humanismus hat sich für viele Verbrechen zu entschuldigen. Doch er kann das tun und seine Fehler sogar korrigieren, ohne dabei das Fundament eines unabänderlichen Glaubenssystems zu erschüttern oder infrage zu stellen. Totalitäre Systeme, egal welcher Form, sind fundamentalistisch und, wie wir heute sagen würden, »faith-based«, also religiös.
In ihrer maßgeblichen Studie zum Phänomen des Totalitarismus hatte Hannah Arendt durchaus Grundsätzliches zu sagen, als sie sich ausführlich mit dem Antisemitismus befasste. Die Vorstellung, dass eine Gruppe von Menschen – sei sie nun als Nation oder als Religion definiert – für alle Zeiten und unrettbar verdammt sein könnte, war und ist im Wesentlichen eine totalitäre. Es ist grauenhaft faszinierend, dass Hitler seine Karriere begann, indem er dieses wahnsinnige Vorurteil propagierte, und dass Stalin am Ende sowohl Opfer als auch Befürworter dieser Wahnidee war. Doch zuvor hatte die Kirche den Virus jahrhundertelang am Leben gehalten. Der heilige Augustinus hatte eine ausgeprägte Vorliebe für den Mythos des Ewigen Juden und die Vorstellung, dass das Exil der Juden als Beweis für die göttliche Gerechtigkeit zu werten sei. Auch die orthodoxen Juden sind nicht frei von Schuld. Mit der Behauptung, in einem besonderen Bund mit dem Allmächtigen »erwählt« worden zu sein, forderten sie Hass und Misstrauen geradezu heraus und legten eine eigene Form des Rassismus an den Tag. Es sind aber vor allem die säkularen Juden, die von den totalitären Regimen mit Hass verfolgt wurden und werden, sodass es ohnehin unsinnig wäre, das Opfer zum Sündenbock machen zu wollen. Der Jesuitenorden nahm bis ins 20. Jahrhundert nur Männer auf, die nachweisen konnten, dass über mehrere Generationen hinweg kein jüdisches Blut in ihrer Familie geflossen war. Der Vatikan predigte, alle Juden trügen die Verantwortung für den Gottesmord. Die französische Kirche stachelte den Mob gegen Dreyfus und »die Intellektuellen« auf. Der Islam hat »den Juden« nie verziehen, dass sie Mohammed kennenlernten und ihn nicht als den authentischen Gottesboten akzeptierten. Da die Religion in ihren heiligen Schriften so viel Wert auf Stammeszugehörigkeit, Dynastie und rassische Herkunft legte, muss sie die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie eines der primitivsten Ammenmärchen der Menschheit über viele Generationen weitergereicht hat.
Die Verbindung zwischen Religion, Rassismus und Totalitarismus prägt auch jene andere schreckliche Diktatur des 20. Jahrhunderts: das abscheuliche Apartheidsystem in Südafrika. Hier handelte es sich nicht nur um die Ideologie einer Niederländisch sprechenden Volksgruppe, die Menschen anderer Hautfarbe zu unbezahlter Arbeit zwang, sondern auch um eine praktische Umsetzung des Calvinismus. Die niederländische Reformkirche lehrte als Dogma, dass es Schwarzen und Weißen laut Bibel untersagt sei, sich zu vermischen, geschweige denn ein gleichberechtigtes Leben zu führen. Rassismus ist definitionsgemäß Totalitarismus, denn er brandmarkt ein Opfer in alle Ewigkeit und verweigert ihm das Recht auf Würde oder Privatsphäre, ja sogar das Grundrecht darauf, einen geliebten Menschen der »falschen« Sippe zu heiraten und mit ihm oder ihr Kinder zu bekommen, ohne dass diese Verbindung gesetzlich annulliert würde. Dieser Rassismus überschattete das Leben von Millionen von Menschen im »christlichen Westen« unserer Zeit. Die herrschende Nationale Partei, die auch stark antisemitisch infiziert war und sich im Zweiten Weltkrieg auf die Seite des deutschen NS-Staates schlug, verließ sich auf die Ergüsse von der Kanzel, die ihren eigenen Blutmythos eines Buren-Exodus und das damit verbundene Exklusivrecht auf das »gelobte Land« rechtfertigten. Aus dieser Afrikaans-Version des Zionismus entstand ein rückständiger und despotischer Staat, in dem die Rechte aller anderen Völker abgeschafft wurden und Korruption, Chaos und Brutalität am Ende sogar das Überleben der Buren selbst gefährdeten. Als es so weit war, hatten die unterbelichteten Kirchenführer eine Offenbarung, nach der die stufenweise Abschaffung der Apartheid plötzlich möglich war. Das entschuldigt aber niemals das Unrecht, das die Kirche anrichtete, als sie sich noch stark genug dazu fühlte. Den vielen säkularen Christen und Juden, vielen atheistischen und agnostischen Kämpfern im Afrikanischen Nationalkongress ist es zu verdanken, dass der südafrikanischen Gesellschaft die völlige Barbarei und die Zerstörung von innen erspart wurde.
Mit der alten Idee der Diktatur, die mehr als nur säkulare und alltägliche Probleme regeln konnte, wurde im vergangenen Jahrhundert ausgiebig improvisiert. Die Spielarten reichten vom Geschwafel der griechisch-orthodoxen Kirche von einem »Griechenland für christliche Griechen«, als die Militärjunta 1967 die Macht an sich riss, bis hin zur allumfassenden Unterjochung eines ganzen Landes durch die Roten Khmer in Kambodscha, die ihre Macht auf die vorgeschichtlichen Tempelanlagen und Legenden von Angkor zurückführten. Auch der bereits erwähnte König Sihanouk, mal Freund, mal Feind der Roten Khmer, der sich vor diesen in die Fittiche der chinesischen Stalinisten flüchtete, gefiel sich hin und wieder in der Rolle des Gottkönigs. Irgendwo dazwischen ist der Schah von Persien angesiedelt, der sich als »Schatten Gottes« und »Licht der Arier« betrachtete, die weltliche Opposition unterdrückte und sich als Hüter der schiitischen Schreine aufspielte. Seiner Großmannssucht folgte eine ihres engen Verwandten, Khomeinis Häresie der vilayat-e fakih, also die totale Herrschaft der Mullahs, die ihren verstorbenen Führer heute als ihren Gründervater präsentieren, dessen heilige Worte auf ewig gültig seien. Am äußersten Ende der Skala findet sich der urzeitliche Puritanismus der Taliban, die sich ganz der Aufgabe verschrieben, etwas zu finden, das sie verbieten konnten – von Musik bis hin zu Recyclingpapier, das einen winzigen Fetzen eines entsorgten Korans enthalten könnte, war alles möglich – und die immer neue Methoden der Bestrafung ersannen, etwa das Begraben Homosexueller bei lebendigem Leib. Die Alternative zu diesen grotesken Phänomenen ist nicht etwa die Schimäre der säkularen Diktatur, sondern das Eintreten für den säkularen Pluralismus und das Recht auf Unglauben. Das ist mittlerweile eine dringliche und unerlässliche Pflicht – eine überlebenswichtige.