Sag es mir selbst geradeheraus, ich rufe dich auf, antworte: Stell dir vor, du selbst hättest das Gebäude des Menschenschicksals auszuführen mit dem Endziel, die Menschen zu beglücken, ihnen Friede und Ruhe zu bringen; dabei wäre es jedoch zu eben diesem Zweck notwendig und unvermeidlich, sagen wir, nur ein einziges winziges Wesen zu quälen – beispielsweise jenes Kind, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug – und auf seine ungerächten Tränen dieses Gebäude zu gründen: Würdest du unter diesen Bedingungen der Baumeister dieses Gebäudes sein wollen? Das sage mir, und lüge nicht!

Iwan zu Aljoscha in Die Brüder Karamasow

Wenn wir abwägen, ob die Religion mehr geschadet als genützt hat – und das sagt noch gar nichts über Wahrheit oder Authentizität aus – führt uns das zu der schwierigen Frage, wie viele Kinder infolge der Zwangsindoktrination durch den Glauben psychisch und physisch irreparable Schäden davongetragen haben. Diese Zahl ist fast so schwer zu ermitteln wie die Zahl der »wahr« gewordenen spirituellen und religiösen Träume und Visionen, die man, um sie auch nur ansatzweise zu bewerten, denen gegenüberstellen müsste, die sich nicht bewahrheitet haben, wobei Letztere nicht belegt oder in Vergessenheit geraten sind. Fest steht dagegen, dass die Religion immer auf den noch ungeformten und schutzlosen Verstand junger Menschen Einfluss zu nehmen versucht und alles Erdenkliche getan hat, um sich dieses Privileg zu sichern, indem sie mit den säkularen Mächten der materiellen Welt Allianzen eingegangen ist.

Ein berühmter literarischer Fall von moralischem Terrorismus findet sich in der Predigt Vater Arnalls in James Joyce’ Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Der widerwärtige alte Priester bereitet Stephen Dedalus und seine anderen jungen Schützlinge auf den Festtag zu Ehren des heiligen Franz Xaver vor (der die Inquisition nach Asien brachte und dessen Knochen bis heute von Leuten verehrt werden, die gern Knochen verehren). Vater Arnall verängstigt seine Schüler mit einem langen, genüsslichen Vortrag über die Höllenqualen, wie er in der Kirche üblich war, als sie noch das Selbstbewusstsein dazu hatte. Ich kann hier unmöglich die ganze Tirade zitieren, doch zwei Elemente, in denen es um die Folter und um die Zeit geht, sind von besonderem Interesse. Es ist nicht zu übersehen, dass der Priester mit seinen Worten darauf abzielt, den Kindern Angst einzujagen. Erstens wählt er kindliche Bilder. Im Abschnitt über Folter lässt der Teufel einen Berg zusammenschmelzen wie Wachs. Er beschwört furchtbare Krankheiten herauf und spielt geschickt mit der Angst der Kinder, dieser Schmerz könnte ewig andauern. Als er das Bild einer Zeiteinheit entwirft, sehen wir ein Kind, das am Strand mit Sandkörnern spielt und dann die Einheiten spielerisch vergrößert:

»Nun stellt euch einen Berg aus diesem Sande vor, eine Million Meilen hoch, die von der Erde bis an die fernsten Himmel reichen, und eine Million Meilen breit, die sich bis in den entlegensten Raum erstrecken, und eine Million Meilen in der Tiefe: und stellt euch vor, man multipliziere eine solche Masse von Partikeln Sands so oft, als da Blätter im Walde sind, Tropfen Wassers im mächtigen Ozean, Federn an Vögeln, Schuppen an Fischen, Haare an Tieren, Atome in der unermesslichen Weite der Luft...« [FUSSNOTE55]

Seit Jahrhunderten werden erwachsene Männer dafür bezahlt, Kinder auf diese Art zu verschrecken, aber auch dafür, sie zu foltern, zu schlagen und zu vergewaltigen, so wie sie es in Joyce’ Erinnerung und der Erinnerung zahlloser anderer Menschen getan haben. Auch die anderen menschgemachten Dummheiten und Grausamkeiten der Gottesgläubigen sind schnell festgemacht. Die Folter ist so alt wie die Garstigkeit der Menschheit, ist der Mensch doch die einzige Spezies mit der nötigen Fantasie, sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn man jemand anderem etwas antut. Wir können der Religion diesen Impuls nicht vorwerfen, aber wir können sie dafür verurteilen, dass sie die Folter institutionalisiert und perfektioniert hat. Die Mittelaltermuseen Europas von Holland bis in die Toskana sind vollgestopft mit Instrumenten und Geräten, mit denen fromme Männer austesteten, wie lang sie einen Menschen am Leben halten konnten, während er über dem Feuer briet. Wir müssen hier nicht weiter ins Detail gehen, doch es gibt sogar religiöse Bücher, die in diese Kunst einführen und zeigen, wie man mittels Schmerz Ketzerei aufspürt. Wer nicht das Glück hatte, sich an einem Autodafé zu beteiligen, also einem »Glaubensgericht«, wie die Folter auch genannt wurde, durfte sich nach Gutdünken Schauermärchen und Albträume ausdenken und sie dem unwissenden Volk verbal verabreichen, um es in einem Zustand permanenter Angst zu halten. In einer Ära, in der es so gut wie keine öffentlichen Vergnügungen gab, entsprach eine nette öffentliche Verbrennung oder das Verstümmeln und Rädern von Menschen in etwa der Dosis an Zerstreuung, die man dem Volk vonseiten der Kirche zu gestatten wagte. Nichts macht deutlicher, dass die Religion vom Menschen erschaffen wurde, als das kranke Hirn, das sich die Hölle ausdachte, dicht gefolgt von dem arg beschränkten Hirn, dem nichts Besseres einfiel, als den Himmel als Ort weltlicher Behaglichkeit oder ewiglicher Langeweile zu beschreiben.

Schon die vorchristlichen Höllen waren sehr unangenehm und vom gleichen sadistischen Einfallsreichtum gezeichnet. Einige der frühen Höllen, die uns bekannt sind – hier vor allem die der Hindus – hatten eine zeitliche Begrenzung. Ein Sünder wurde beispielsweise zu einer bestimmten Anzahl von Jahren in der Hölle verurteilt, wo jeder Tag sechstausendvierhundert Menschenjahren entsprach. Hatte er einen Priester erschlagen, entsprach die Strafe 149504000000 Jahren. Danach durfte er ins Nirwana einziehen, was wohl mit der Vernichtung gleichzusetzen war. Es blieb den Christen vorbehalten, eine Hölle zu erfinden, aus der es kein Entrinnen gibt – eine Vorstellung, die übrigens auch gern abgekupfert wird: Ich habe einmal gehört, wie Louis Farrakhan, Anführer der häretischen »Nation of Islam« mit ausschließlich schwarzen Mitgliedern, der Menge im Madison Square Garden ein entsetzliches Gebrüll entlockte, indem er den Juden voller Verachtung zurief: »Und denkt dran – wenn Gott euch in die Öfen steckt, dann AUF EWIG!«

Die Fixierung auf Kinder und die strikte Überwachung ihrer Erziehung gehört zu jedem System absoluter Autorität. Es könnte ein Jesuit gewesen sein, der als Erster sagte: »Gib mir das Kind, bis es zehn ist, und ich werde dir den Mann geben«, doch die Idee ist sehr viel älter als die Schule des Ignatius von Loyola. Wie wir vom Schicksal vieler säkularer Ideologien wissen, geht die Manipulation von Kindern oft nach hinten los, doch dieses Risiko gehen die Vertreter der Religionen offenbar ein, um den durchschnittlichen Jungen oder das durchschnittliche Mädchen mit ausreichend Propaganda zu impfen. Was haben sie auch sonst für eine Chance? Wenn die religiöse Unterweisung erst in einem Alter zugelassen wäre, in dem Kinder selbstständig denken können, lebten wir in einer völlig anderen Welt. Gläubige Eltern sind da geteilter Ansicht, weil sie das Mysterium und die Freude des Weihnachtsfestes und anderer kirchlicher Feiertage natürlich gern gemeinsam mit ihrem Nachwuchs erleben möchten – und nebenbei Gott, den Nikolaus und andere Figuren gut gebrauchen können, um ihre unartigen Kinder im Zaum zu halten. Wenn sich ein Kind oder auch ein junger Erwachsener zu einem anderen Glauben, geschweige denn einem anderen Kult verirrt, behaupten Eltern jedoch gern, die Unschuld ihres Kindes sei ausgenutzt worden. In allen monotheistischen Religionen wurde oder wird aus ebendiesem Grunde die Apostasie streng verboten. In ihrem autobiografischen Buch Eine katholische Kindheit erzählt Mary McCarthy, was für ein Schock es für sie war, als sie von einem Jesuitenprediger erfuhr, dass ihr protestantischer Großvater – der gleichzeitig ihr Vormund und Freund war – zum ewigen Höllenfeuer verdammt sei, weil er die falsche Taufe erhalten hatte. Das intelligente, aber altkluge Kind gab keine Ruhe, bis die Mutter Oberin bei höheren Stellen in der Sache nachforschte. So entdeckte sie schließlich in den Schriften des Bischofs Athanasius ein Hintertürchen. Athanasius vertrat die Ansicht, dass Ketzer nur verdammt seien, wenn sie die wahre Kirche wider besseres Wissen ablehnten – und ihr Großvater konnte ja über die wahre Kirche so wenig wissen, dass er der Hölle vielleicht doch noch entkam. [FUSSNOTE56]

Aber welche Qualen wurden da einem elfjährigen Mädchen auferlegt! Und wie viele weniger hartnäckige Kinder schluckten solche niederträchtigen Lehren, ohne sie zu hinterfragen. Wer Kinder solcherart anlügt, ist in höchstem Maße bösartig.

Zwei Beispiele, eines für eine unmoralische Lehre, das andere für einen unmoralischen Brauch, seien noch angefügt. Die unmoralische Lehre betrifft die Abtreibung. Als Materialist halte ich es für bewiesen, dass ein Embryo ein eigener Körper und ein eigenständiges Wesen ist und nicht, wie es früher bisweilen hieß, ein Auswuchs des weiblichen Körpers. Einige Feministinnen betrachteten den Embryo ja als einen Anhang oder sogar – auch das wurde ernsthaft behauptet – einen Tumor. Solchen Unsinn hört man heute nicht mehr. Das liegt zum einen an den faszinierenden und bewegenden Ultraschallbildern und zum anderen daran, dass schon federleichte »Frühchen« außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig sind. Auch in diesem Bereich kann die Wissenschaft mit dem Humanismus an einem Strang ziehen. Lässt der Anblick einer Frau, der in den Bauch getreten wird, keinen Menschen mit durchschnittlichem moralischem Empfinden kalt, so wächst die Empörung, wenn die betreffende Frau schwanger ist. Die Embryoforschung untermauert die Moral. Die Bezeichnung »ungeborenes Kind« beschreibt sogar im politischen Kontext eine materielle Realität.

Damit aber wird der Streit um die Abtreibung nicht entschieden, im Gegenteil. Es gibt sicher viele Umstände, unter denen es nicht erstrebenswert ist, einen Fötus auszutragen. Auch die Natur oder Gott erkennen dies wohl, denn eine sehr große Zahl von Schwangerschaften wird aufgrund von Missbildungen sozusagen »abgetrieben«; man umschreibt das mit dem freundlicheren Wort Fehlgeburt. Eine solche Fehlgeburt ist zwar traurig, wahrscheinlich aber besser als die große Zahl missgebildeter oder geistig behinderter Kinder, die andernfalls auf die Welt kämen – die einen tot, andere mit einem nur kurzen Leben, das für sie selbst und andere eine Qual wäre. In utero können wir einen Mikrokosmos der Natur und der Evolution beobachten. Wir beginnen unser Leben als winzige amphibische Körper, ehe sich nach und nach Lunge und Gehirn entwickeln, uns das mittlerweile nutzlose Fellkleid wächst und wieder ausfällt und wir nach einem alles andere als einfachen Übergang den Weg nach draußen finden und Luft atmen. Das System ist entsprechend unbarmherzig, indem es diejenigen, die keine gute Überlebenschance haben, in einem frühen Stadium eliminiert. Unsere Vorfahren in der afrikanischen Savanne hätten auch nicht überlebt, wenn sie eine Vielzahl kränklicher Kinder gegen Raubtiere hätten verteidigen müssen. Die Analogie, die sich hier aufdrängt, ist nicht etwa Adam Smiths »unsichtbare Hand« – diesem Begriff misstraue ich schon seit jeher –, sondern Joseph Schumpeters Modell der »Schöpferischen Zerstörung«, nach der wir uns an ein gewisses Maß an natürlichen Fehlschlägen gewöhnen, die sich aus der Erbarmungslosigkeit der Natur ergeben und bis zu den entfernten Prototypen unserer Spezies zurückreichen. [FUSSNOTE57]

Nicht jede Empfängnis führt also zu einer Geburt. Und seit wir nicht mehr nur ums bloße Überleben kämpfen, trachtet unsere intelligente Spezies danach, die Reproduktionsrate unter Kontrolle bekommen. Familien, die der Natur und deren Streben nach einer reichen Nachkommenschaft ausgeliefert sind, sind in einen Kreislauf gebunden, der dem der Tiere entspricht. Am besten gelingt diese Kontrolle durch Prophylaxe, nach der seit jeher fieberhaft geforscht wurde, wie schon frühste Aufzeichnungen dokumentieren. Heute ist sie relativ narrensicher und schmerzlos anzuwenden. Die zweitbeste Lösung, die manchmal aus anderen Gründen zur Anwendung kommt, ist der Schwangerschaftsabbruch, den sogar viele Frauen, die ihn aus schierer Not durchführen, hinterher bereuen. Jedem denkenden Menschen leuchtet ein, wie schwer in dieser Sache die Abwägung von Rechten und Interessen ist. Das Einzige, was hier überhaupt nicht weiterhilft, sei es moralisch oder praktisch, ist die an den Haaren herbeigezogene Behauptung, Spermien und Eizellen seien potenzielle Lebewesen, deren Verschmelzung nicht verhindert werden dürfe, da sie schon kurz nach der Vereinigung eine Seele hätten und eines gesetzlichen Schutzes bedürften. Dieser Argumentation zufolge handelte es sich beim Intrauterinpessar, das die Einnistung eines Eis in der Gebärmutter verhindert, um ein Mordinstrument, und das Ei, das sich im ungünstigen Falle einer Eileiterschwangerschaft im Eileiter entwickelt, wäre nicht etwa eine dem Untergang geweihte Anomalie, die auch das Leben der Mutter akut gefährdet, sondern menschliches Leben.

Jeder Schritt zur Klärung dieser Sachfrage wurde von der Geistlichkeit in Bausch und Bogen verworfen. Schon der Versuch, die Menschen über die Möglichkeit der »Familienplanung« aufzuklären, wurde von Anfang an scharf verurteilt, und die ersten Befürworter (etwa John Stuart Mill) wurden verhaftet, ins Gefängnis geworfen oder um ihre Anstellung gebracht. Noch vor wenigen Jahren verunglimpfte Mutter Teresa die Verhütung als moralisches Äquivalent zur Abtreibung, was – da sie die Abtreibung als Mord betrachtet – dieser »Logik« nach das Kondom oder die Pille zu Mordwaffen macht. Damit war Mutter Teresa noch fanatischer als ihre Kirche, was einmal mehr belegt, dass dogmatischer Eifer der moralische Gegner des Guten ist, denn er fordert von uns, das Unmögliche zu glauben und das nicht Machbare zu tun. So wurde das Engagement für den Schutz des ungeborenen Lebens und für das Leben schlechthin von Fanatikern, die ungeborene und geborene Kinder zu bloßen Manipulationsobjekten ihrer Doktrin degradieren, an die Wand gefahren.

Im Bereich der unmoralischen Bräuche gibt es wohl kaum etwas so Bizarres wie die Genitalverstümmelung bei Kindern. Sie lässt sich zudem besonders schwer mit dem teleologischen Gottesbeweis vereinbaren. Es ist doch anzunehmen, dass ein gestaltender Gott den Fortpflanzungsorganen seiner Geschöpfe besondere Aufmerksamkeit schenken würde, sind sie doch wesentlich für den Fortbestand der Spezies. Doch seit Beginn der Zeit wurden im Zuge religiöser Rituale Kinder aus der Wiege gezerrt und im Schambereich mit scharfen Steinen oder Messern traktiert. In einigen animistischen und muslimischen Gesellschaften ist das Leid der kleinen Mädchen am größten, denn ihnen werden die Schamlippen und die Klitoris beschnitten. Manchmal wird dieser Brauch bis in die Pubertät aufgeschoben und, wie bereits erwähnt, gleich eine Infibulation durchgeführt, oder die Vagina wird ganz zugenäht, wobei nur eine kleine Öffnung für Blut und Urin bleibt. Das Ziel ist klar: Der Sexualinstinkt soll abgetötet oder betäubt, die Versuchung, mit einem anderen Mann zu experimentieren als dem erwählten, geschmälert werden; dem Ehemann kommt dann das Privileg zu, die Nähte in der gefürchteten Hochzeitsnacht zu durchstoßen. Bis dahin wird dem Mädchen beigebracht, dass die monatliche Heimsuchung durch die Blutung ein Fluch und ihr Körper unrein ist. (Irgendwann hat noch jede Religion ihre Abscheu vor der Menstruation zum Ausdruck gebracht, und viele Religionen verbieten bis heute Frauen in dieser Zeit den Besuch des Gottesdienstes.)

Andere Kulturen, besonders die jüdisch-christlichen, betreiben beharrlich die Verstümmelung kleiner Jungen – kleine Mädchen können, aus welchem Grund auch immer, ohne Veränderung ihrer Genitalien Jüdinnen sein: Nach einer durchgängigen Linie sucht man vergebens in den Bündnissen, die die Menschen mit Gott geschlossen haben wollen. Für die Beschneidung von Jungen gab es ursprünglich wohl zwei Motive. Das Blut, das bei der Beschneidungszeremonie vergossen wird, ist sehr wahrscheinlich ein symbolisches Überbleibsel aus der Zeit der Tier- und Menschenopfer, die in der blutgetränkten Landschaft des Alten Testaments noch so eine große Rolle spielten. Indem sie an diesem Brauch festhielten, konnten die Eltern einen Teil ihres Säuglings stellvertretend für das ganze Kind opfern. Dem Einwand, dass Gott den menschlichen Penis doch sicher mit großer Sorgfalt geschaffen haben muss, stand das erfundene Dogma gegenüber, nach dem Adam beschnitten und nach Gottes Bilde zur Welt kam. Einigen Rabbinern zufolge war auch Mose bei der Geburt bereits beschnitten, eine Behauptung, die sie allein aus dem Umstand herleiten, dass seine Beschneidung im Pentateuch nirgends erwähnt wird.

Das zweite Motiv entsprach dem für die Beschneidung von Mädchen: den Betroffenen möglichst weitgehend die Freude am Geschlechtsverkehr zu nehmen. Maimonides formuliert das in seinem Führer der Unschlüssigen recht eindeutig. Er weist darauf hin, dass die Beschneidung nicht etwas physisch Unzureichendes perfektioniere, sondern diese Aufgabe im moralischen Bereich übernehme, indem sie die Erregbarkeit und die Lust am Geschlechtsakt herabsetze.

Das Versprechen Gottes an Abraham im 1. Buch Mose, Kapitel 17, die Beschneidung werde dazu führen, dass er auch im Alter von neunundneunzig Jahren noch eine große Nachkommenschaft zeugen werde, machte auf Maimonides offenbar keinen großen Eindruck. Abrahams Entscheidung, neben allen männlichen Haushaltsmitgliedern auch die Sklaven zu beschneiden, war ein Randphänomen, vielleicht auch dem Enthusiasmus geschuldet, denn diese Nichtjuden waren nicht Bestandteil des Bundes mit Gott. Jedenfalls beschnitt er seinen damals dreizehnjährigen Sohn Ismael. Doch während sich Ismael nur von seiner Vorhaut trennen musste, wurde sein jüngerer Bruder Isaak, der in Genesis 22 seltsamerweise als Abrahams einziger Sohn bezeichnet wird, zwar im Alter von acht Tagen beschnitten, sollte später Gott aber trotzdem vom Scheitel bis zur Sohle als Opfer dargeboten werden.

Maimonides zufolge diente die Beschneidung außerdem der Stärkung der ethnischen Solidarität. Besonders wichtig war ihm, dass die Operation am Säugling durchgeführt wurde und nicht erst ein paar Jahre später. Ältere Kinder würden die Operation vielleicht nicht mehr über sich ergehen lassen und hätten darüber hinaus größere Schmerzen als der Säugling, so Maimonides. Auch den Eltern falle es so kurz nach der Geburt leichter. Vor allem der Vater, der ja für die Beschneidung verantwortlich sei, entwickle in den ersten Lebensjahren eine immer engere Bindung zu seinem Sohn, die es ihm erschweren würde, die Operation später noch durchführen zu lassen. [FUSSNOTE58]

Maimonides ist sich also sehr wohl dessen bewusst, dass der Eingriff, wäre er nicht von Gott angeordnet, selbst bei den frömmsten Eltern einen natürlichen Widerwillen zugunsten des Kindes auslösen würde. Doch um des »göttlichen« Gesetzes willen unterdrückt er diese Einsicht.

Seit einigen Jahren werden auch pseudosäkulare Argumente für die Beschneidung des Mannes ins Feld geführt. Der Eingriff sei hygienischer für die Männer und somit gesünder für deren Frauen, die beispielsweise seltener an Gebärmutterhalskrebs erkrankten. Die Medizin hat diese Behauptungen widerlegt beziehungsweise nachgewiesen, dass Probleme genauso gut durch eine »Lockerung« der Vorhaut gelöst werden können. Die vollständige Beschneidung, die Gott ursprünglich als Blutpreis für das versprochene Massaker an den Kanaanitern verlangte, steht heute als das da, was sie ist: die Verstümmelung eines wehrlosen Kindes mit dem Ziel, ihm sein künftiges Sexualleben zu ruinieren. Die Kausalbeziehung zwischen religiöser Barbarei und sexueller Repression kann deutlicher nicht sein. Wer wollte ermessen, wie viele Menschen auf diese Art ins Elend gestürzt wurden, zumal seit christliche Ärzte die alte jüdische Tradition in ihren Krankenhäusern übernommen haben? Wen lässt es kalt, wenn er die langen Listen in den medizinischen Lehr- und Geschichtswerken liest, die anhand nüchterner Zahlen darlegen, wie viele männliche Säuglinge nach dem achten Tage an einer Infektion starben oder extreme und unerträgliche Funktionsstörungen und Verunstaltungen davontrugen? Auch die Statistik syphilitischer und anderer Infektionen infolge verfaulter Rabbinerzähne oder Unachtsamkeiten aufseiten der Rabbis sowie der Fälle, in denen versehentlich in die Harnröhre oder gar eine Vene eingeschnitten wurde, liest sich einfach furchtbar. Und es ist noch immer erlaubt, im New York des Jahres 2006! Ohne die Religion und ihre Arroganz würde keine anständige Gesellschaft diese primitive Amputation oder andere Eingriffe in die Genitalien ohne die volle Zustimmung der Betroffenen zulassen.

Auch die schlimmen Folgen des Masturbationstabus, das im Viktorianischen England ebenfalls als Rechtfertigung für die Beschneidung herhalten musste, sind den Religionen anzulasten. Jahrzehntelang wurden junge Männer und Jugendliche mit der vermeintlich medizinischen Warnung in Angst und Schrecken versetzt, ihnen drohten Blindheit, Nervenversagen und das Abrutschen in den Wahnsinn, wenn sie sich der Selbstbefriedigung hingäben. Geistliche hielten düstere Predigten, die vor unsinnigen Behauptungen nur so strotzten – etwa dass der Samen nur begrenzt vorhanden sei und zwangen damit Generationen von Heranwachsenden unter ihr Joch. Rupert Baden-Powell verfasste zur Untermauerung der körperbetonten Christlichkeit seiner Pfadfinderbewegung eigens eine Abhandlung zu diesem Thema. Bis zum heutigen Tage hält sich der Wahnsinn auf islamischen Websites, die gute Ratschläge für Jugendliche bereithalten. Die Mullahs haben offenbar Samuel Tissots Die Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren aus dem 18. Jahrhundert und dergleichen mittlerweile in Verruf geratene Texte studiert, die schon die Christen vor ihnen mit so unheilvoller Wirkung praktisch umsetzten. Nicht weniger bizarr und von gleichermaßen schmutziger Fantasie durchsetzt ist die Desinformation eines Abd al-Asis bin Bas, verstorbener Großmufti von Saudi-Arabien, dessen Auslassungen gegen die Onanie auf vielen muslimischen Websites zitiert werden. Er warnte davor, das Masturbieren führe zu einer Beeinträchtigung des Verdauungssystems, einer Schwächung des Augenlichtes, einer Entzündung der Hoden, zu Muskelzittern und einer Zersetzung des Rückenmarks, aus dem das Sperma komme. Auch die »Hirndrüsen« seien betroffen, wobei der Intelligenzquotient sinke, bis der Wahnsinn einsetze. Zu guter Letzt kündigte der Mufti den Jugendlichen an, ihr Sperma werde so dünn und kraftlos, dass sie später keine Kinder würden zeugen können – eine Aussage, die Millionen gesunder Jugendlicher mit quälenden Schuldgefühlen und Ängsten belastet. Die Websites Inter-Islam und Islamic Voice kauen diesen Unsinn wider, als herrschten in der muslimischen Welt nicht schon genügend Repression und Ignoranz unter den jungen Männern, die häufig von jeglicher weiblichen Gesellschaft ferngehalten werden, im Wesentlichen lernen, ihre Mütter und Schwestern zu verachten, und sich dem lähmenden Auswendiglernen des Korans zu unterwerfen haben. Nachdem ich in Afghanistan und anderswo Produkten dieses Erziehungssystems begegnet bin, kann ich nur noch einmal betonen: Die jungen Leute leiden nicht unter dem Problem, dass sie sich Jungfrauen wünschen, sondern dass sie Jungfrauen sind. Ihre emotionale und psychische Entwicklung wird im Namen Gottes irreparabel gestutzt und die Sicherheit vieler anderer Menschen als Folge dieser Entfremdung und Deformationen bedroht. Sexuelle Unschuld, die bei jungen Leuten bezaubernd sein kann, sofern sie nicht künstlich verlängert wird, ist bei einem Erwachsenen einfach nur abstoßend und zerstörerisch.

Auch lässt sich gar nicht ermessen, welcher Schaden von schmuddeligen alten Männern und hysterischen Jungfern angerichtet wurde, die sich als geistliche Hüter unschuldiger Kinder in Waisenhäusern und Schulen aufgespielt haben. Insbesondere der römisch- katholischen Kirche kommt hier die überaus schmerzliche Aufgabe zu, den Geldwert eines Kindesmissbrauchs für einen Schadensersatzprozess zu bemessen. Milliarden von Dollar wurden den Opfern bereits zugesprochen, doch wie soll man einen Gegenwert festlegen für die Generationen von Jungen und Mädchen, die von Menschen, denen sie und ihre Eltern vertrauten, auf die abscheulichste Art an die Sexualität herangeführt wurden? Das Wort Kindesmissbrauch ist in Wahrheit ein dümmlicher und erbärmlicher Euphemismus für die wahren Vorgänge: die systematische Vergewaltigung und Folterung von Kindern mit Wissen und Unterstützung einer Hierarchie, die sodann die schlimmsten Täter mittels einer Versetzung in einer anderen Gemeinde in Sicherheit brachte. Angesichts dessen, was in jüngster Zeit in modernen Großstädten ans Licht gekommen ist, schaudert es einen bei dem Gedanken, was wohl in den Jahrhunderten vor sich ging, als die Kirche noch über jede Kritik erhaben war. Aber was hatte man auch anderes erwartet, wenn man die Schwächsten in die Obhut von Menschen gab, die, ihrerseits Außenseiter und nicht selten homosexuell, ein scheinheiliges Zölibat schwören mussten? Und die gelehrt wurden, mit ihrem Glaubensbekenntnis gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass Kinder Auswüchse des Satans sind? Die daraus erwachsende Frustration drückte sich bisweilen in exzessiver körperlicher Züchtigung aus, die für sich genommen schon schlimm genug ist. Doch wenn, wie geschehen, die künstliche Selbstbeherrschung zusammenbricht, führt das zu einem Verhalten, das kein masturbierender, hurender Durchschnittssünder auch nur in Betracht ziehen würde, ohne dass es ihn vor sich selbst grauste. Wir haben es hier nicht mit einigen wenigen Delinquenten unter den Schäfern zu tun, sondern mit dem Ergebnis einer Ideologie, die dem Klerus die Macht zu sichern suchte, indem sie sich die Kontrolle über den Sexualinstinkt, ja über die Sexualorgane der Menschen anmaßte. Wie der Rest der Religion hat auch dieser Aspekt seinen Platz in der angstgeschüttelten Kindheit unserer Spezies. Auf Iwans Frage, ob er Baumeister eines solchen Gebäudes sein wolle, antwortet Aljoscha leise: »Nein, ich würde es nicht wollen«. Angefangen beim Angebot, den schutzlosen jungen Isaak auf dem Scheiterhaufen zu opfern, bis hin zu den Missbräuchen und Repressionen heutiger Tage, muss auch unsere Antwort Nein lauten, wenn auch deutlich vernehmlicher.