Das Tal der Themse
Die Zeiger meiner Chronometeruhren wirbelten herum. Die Sonne verwandelte sich in einen Feuerstrahl und gerann dann zu einem strahlenden Bogen, und der Mond war ein wirbelndes, fluktuierendes Band. Die Bäume zitterten durch die Jahreszeiten, fast so schnell, daß ich die Übergänge bald nicht mehr erkennen konnte.
Der Himmel nahm eine wunderbare tiefblaue Färbung an, wie bei der Dämmerung
im Hochsommer, und er war völlig wolkenlos.
Die großen, durchsichtigen Konturen meines Hauses verschwanden bald aus
meinem Gesichtsfeld. Die Landschaft wurde amorph, und erneut ergoß sich das
glänzende Zeitalter der Architektur wie eine Flut über Richmond Hill. Ich erkannte keine der Besonderheiten, welche die Konstruktion von Nebogipfels Geschichte charakterisiert hatten: die Aufhebung der Erdrotation, die Errichtung der Sphäre um die Sonne usw. Jetzt beobachtete ich, wie diese Flut satten Grüns über die Hü-
gel strömte und dort verharrte, ohne vom Winter ausgeblendet zu werden; und ich wußte, daß ich diese glücklichere Zukunft erreicht hatte, in der Britannien von einem wärmeren Klima begünstigt wurde – es war wieder ein wenig wie im Paläozän, dachte ich mit einem Anflug von Nostalgie.
Ich hielt sorgfältig Ausschau nach den Beobachtern, aber ich sah keine Spur von ihnen. Die Beobachter – diese immensen, unvorstellbaren Intelligenzen, Auswüch-se der großen Riffe der Intelligenz, die in der Optimalen Historie beheimatet sind –
hatten mich jetzt freigegeben und mein Schicksal wieder in meine Hände gelegt.
Ich spürte deswegen eine grimmige Zufriedenheit, und – als der Tageszahler auf meinen Uhren zweihundertundfünfzig Millionen überschritt – zog ich vorsichtig am Bremshebel.
Ich warf noch einen letzten Blick auf den Mond, der seine Phasen durcheilte und dann in Dunkelheit versank. Ich erinnerte mich, daß ich zusammen mit Weena
diesen letzten Abstecher zum Grünen Porzellanpalast gemacht hatte, kurz bevor die Zeit anbrach, die von den kleinen Eloi als Dunkle Nächte bezeichnet wurde: diese absolute Finsternis, als die Morlocks hervorgekrochen kamen und sich die Eloi gefügig machten. Was für ein Narr war ich doch gewesen! dämmerte mir jetzt; wie ungestüm, unüberlegt – wie rücksichtslos ich mich gegenüber der armen
Weena verhalten hatte –, sich in einer so gefahrvollen Zeit auf eine derartige Expedition zu begeben.
Nun, dachte ich mit einer gewissen Grimmigkeit, jetzt war ich zurückgekehrt; und ich war entschlossen, entweder die Fehler meiner Vergangenheit zu bereinigen oder bei diesem Versuch unterzugehen.
Ruckend fiel die Maschine aus dem grauen Wallen, und Sonnenlicht überflutete mich, schwer und warm und plötzlich. Die chronometrischen Anzeigen standen
still: es war der Tag 292495940 – exakt der Tag im Jahre 802701 n. Chr., an dem ich Weena verloren hatte.
Da saß ich nun exponiert auf dem vertrauten Hügel. Das helle Licht der Sonne brannte herab, und ich mußte die Augen beschirmen. Weil ich die Maschine vom Garten hinter dem Haus anstatt vom Laboratorium aus gestartet hatte, befand ich mich jetzt vielleicht sechzig Fuß näher an diesem kleinen Rhododendron-Gebüsch als bei meiner ersten Landung hier. Hinter mir, ein Stück weiter hangaufwärts, sah ich das bekannte Profil der Weißen Sphinx mit ihrem für alle Zeiten eingefrorenen, undurchsichtigen ansatzweisen Lächeln. Das Bronzepodest war wie immer dick
mit Grünspan überzogen, obwohl ich erkennen konnte, daß bei meinen vergebli—
chen Versuchen, in die Kammer einzudringen und die gestohlene Zeitmaschine
wiederzuerlangen, die Intarsien an einigen Stellen flachgeklopft worden waren; und dort, wo die Morlocks meine Maschine in den Sockel geschleift hatten, war die Grasnarbe gefurcht und zerrissen.
Es war eine komische Vorstellung, daß diese andere Maschine jetzt gerade ein paar Yards entfernt in dieser dunklen Kammer stand, während ich auf dieser bis ins kleinste Detail perfekten Kopie saß, die im Gras glitzerte!
Ich demontierte die Steuerhebel, steckte sie ein und stieg von der Maschine ab.
Anhand der Position der Sonne schätzte ich, daß es vielleicht drei Uhr nachmittags war, und die Luft war warm und feucht.
Um einen besseren Überblick zu gewinnen, ging ich vielleicht eine halbe Meile in südöstlicher Richtung, zu der Erhebung, die Richmond Hill gewesen war. Zu meiner Zeit hatte sich dort die Terrasse befunden, mit ihrem teuren Grundstück und dem weiten Blick auf den Fluß und das Land im Westen; jetzt zog sich ein aufgelockertes Wäldchen über den Hügelkamm – von einer Terrasse war nichts zu sehen, und ich konnte mir vorstellen, daß selbst die Fundamente des Hauses durch die Aktivität der Baumwurzeln beseitigt worden sein mußten – aber trotzdem, genauso wie 1891, fiel das Land höchst anmutig nach Süden und Westen ab.
Da stand eine Bank aus diesem gelben Metall, das ich schon früher gesehen hat-te; es war zu Rost korrodiert, und die Armstützen gaben Aufschluß über das Aussehen der Wesen eines lange untergegangenen Mythos. Eine Nessel mit großen
Blättern, die einen schönen braunen Farbton aufwiesen, hatte sich dort breitge-macht, aber ich schob sie zurück – sie hatte keine Dornen – und ich setzte mich hin, denn mir war bereits warm, und ich schwitzte.
Die Sonne stand ziemlich tief am Himmel, im Westen, und ihr Licht brach sich an den verstreuten Gebäuden und den Gewässern, von denen die grüne Landschaft durchsetzt war. Wabernde Hitze lag über dem Land. Die Zeit und die geduldige Evolution der Geologie hatte diese Landschaft im Vergleich zu meiner Zeit verändert; aber ich konnte noch einige Landmarken identifizieren, auch wenn sie modifiziert worden waren. Und noch immer lag eine verträumte Schönheit über dem
vom Dichter besungenen ›unvergleichlichen Tal der Themse‹. Das silberne Band des Flusses hatte sich ein Stück von mir zurückgezogen; wie an früherer Stelle schon ausgeführt, hatte die Themse sich begradigt und verlief jetzt direkt von Hampton nach Kew. Und sie hatte sich tiefer in ihr Tal geschnitten; somit befand sich Richmond jetzt hoch über einem breiten Tal, etwa eine Meile vom Wasser
entfernt. Ich glaubte, Glover's Island als eine Art baumbestandener Knolle im Zentrum des alten Flußbettes auszumachen. Die Petersham Meadows hatten ihr altes Profil weitgehend beibehalten; jetzt lagen sie jedoch hoch über dem Wasserspiegel des Flusses, und ich konnte mir denken, daß sie nun viel weniger an eine
Marschlandschaft erinnerten als zu meiner Zeit.
Die großen Gebäude dieses Zeitalters standen verstreut in der Gegend, mit ihren komplexen Fassaden und hohen Säulen, elegant und verwaist: sie wirkten wie lange architektonische Knochen, die aus der grünbewachsenen Flanke des Hügels
hervorstachen. In einer Entfernung von einer Meile sah ich dieses große Gebäude, eine Masse aus Granit und Aluminium, zu dem ich an meinem ersten Abend hin-aufgeklettert war. Hier und da erhoben große Figuren, so schön und rätselhaft wie meine Sphinx, den Kopf aus dem weiten Grün, und überall erblickte ich die Kuppeln und Schornsteine, die Signaturen der Morlocks.
Überall waren die Blumen dieser Letzten Tage, mit ihren leuchtenden weißen
Blüten und glänzenden Blättern. Nicht zum erstenmal erinnerte mich diese Landschaft mit ihren außergewöhnlichen und schönen Blüten, ihren Pagoden und in das Grün geschmiegten Kuppeln an den Königlich Botanischen Garten meiner Zeit in Kew; aber es war ein Kew, das sich jetzt über ganz England erstreckte und verwil-dert und ungepflegt geworden war.
Am Horizont stand ein großes Gebäude, das mir früher noch nicht aufgefallen
war. Es verlor sich fast im Dunst, der im Nordwesten hing, in Richtung des modernen Windsor; aber es war zu weit entfernt und unscharf, als daß ich irgendwelche Details hätte erkennen können. Ich nahm mir vor, eines Tages einen Ausflug nach Windsor zu machen, denn wenn irgend etwas aus meiner Zeit die Evolution und
den Verfall der dazwischenliegenden Jahrtausende überlebt hatte, dann war es sicherlich ein Relikt dieses massiven normannischen Schlosses.
Ich drehte mich um und sah, wie die Landschaft in Richtung des modernen Banstead hinabfiel, und ich erkannte dieses Muster aus Wäldchen und Hügeln, hier und da vom Glitzern eines Gewässers unterbrochen, das mir auf meinen früheren Expeditionen vertraut geworden war. Und genau in dieser Richtung – vielleicht
zwanzig oder fünfundzwanzig Meilen entfernt – lag der Grüne Porzellanpalast. Ich schaute in diese Richtung und glaubte, eine Andeutung der Zinnen dieses Bauwerk zu erkennen; aber meine Augen waren auch nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren, und so war ich mir nicht sicher.
Ich hatte zusammen mit Weena diesen Palast aufgesucht, auf der Suche nach
Waffen und anderen Utensilien, mit denen ich den Kampf gegen die Morlocks aufnehmen konnte. Und wirklich, wenn meine Erinnerung nicht trog, schlich ich –
mein früheres Ich – jetzt noch innerhalb dieser polierten grünen Wände umher!
In einer Distanz von etwa zehn Meilen schob sich eine Barriere zwischen mich und den Palast: ein dunkler Wald. Selbst im Tageslicht war er ein dunkler, unheimlicher Farbtupfer, mindestens eine Meile tief. Mit Weena auf dem Arm hatte ich diesen Wald beim erstenmal wohlbehalten durchquert, denn wir hatten das Tageslicht abgewartet, um diese Passage zu wagen; aber beim zweitenmal, nach unserer Rückkehr vom Palast (heute nacht!) würden meine Ungeduld und Müdigkeit die Oberhand behalten. Entschlossen, so schnell wie möglich zur Sphinx zurückzukehren und mich an die Wiedererlangung meiner Maschine zu machen, würde
ich auch im Dunklen durch den Wald hetzen – und mich den Morlocks ausliefern.
Ich wußte, daß ich von Glück sagen konnte, diese Dummheit nicht mit dem Leben bezahlt zu haben; und was die arme Weena betraf...
Aber ich verdrängte jetzt diese Schuldgefühle, denn meines Wissens war ich ja hier, um das alles wiedergutzumachen. Ich hatte zwar keine Waffen, aber ich hatte ja auch nicht vor, mit den Morlocks zu kämpfen – darüber war ich hinweg –, sondern ich wollte nur Weena retten. Und um das zu erreichen, so kalkulierte ich, brauchte ich wohl keine schwereren Waffen als meinen Verstand und meine Fäuste.