Die Neue Weltordnung
Als wir Gödel verlassen hatten, jagten sich meine Gedanken. Ich beschloß, mich nie wieder über Mathematische Philosophen zu mokieren, denn dieser seltsame
kleine Mann war weiter in Zeit und Raum vorgestoßen und hatte ein größeres Verständnis erworben, als es mir in meiner Zeitmaschine jemals gelungen war! Und ich wußte, daß ich Gödel auf jeden Fall bald wieder besuchen mußte... denn ich war überzeugt, daß ich wirklich in einem Winkel dieser Kiste eine Flasche mit diesem seltenen Plattnerit gesehen hatte!
Gegen sechs kehrte ich wieder zu unserem Haus zurück. Ich wurde von der im
Raucherzimmer versammelten Truppe mit lautem Hallo begrüßt. Der Morlock
brütete noch immer über seinen Aufzeichnungen – er schien diese gesamte Zu—
kunftswissenschaft der Quantenmechanik aus seinem lückenhaften Gedächtnis
rekonstruieren zu wollen –, aber er sprang auf, als ich eintrat. »Hast du ihn gefunden? Gödel?«
»Habe ich.« Ich lächelte ihn an. »Und – ja! – wir hatten recht.« Ich schaute Filby an, aber der arme alte Kerl döste über einem Magazin und konnte uns nicht hören.
»Ich glaube, daß Gödel über etwas Plattnerit verfügt – diese Briten des Jahres 1938 haben das offenbar noch nicht mitbekommen!«
»Ah.« Das Gesicht des Morlocks war so ausdruckslos wie immer, aber er hieb in einer definitiv menschlichen Geste mit der Faust auf die Handfläche. »Dann besteht Hoffnung.«
Jetzt kam Moses zu mir herüber; er gab mir ein Glas, in dem sich mit Wasser gestreckter Whisky befand. Dankbar schluckte ich den Drink hinunter, denn es war auch jetzt noch heißer als am Vormittag.
Moses kam noch ein wenig näher, und wir drei – Moses, Nebogipfel und ich –
steckten die Köpfe zusammen und konferierten leise. »Ich bin auch zu einem
Schluß gekommen«, verkündete Moses. »Als da wäre?«
»Daß wir hier raus müssen – egal wie!« Moses erzählte mir, was er an diesem
Tag erlebt hatte. Nachdem es ihm in seinem Gefängnis langweilig wurde, hatte er unsere Wachen in ein Gespräch verwickelt und die Zeit in der Gesellschaft dieser jungen Soldaten verbracht. Einige von ihnen waren Mannschaftsdienstgrade, andere jedoch Offiziere; und alle, die mit unserer Bewachung oder sonstigen Aufträgen auf dem Institutsgelände betraut waren, erwiesen sich als intelligent und gebildet.
Sie schienen Moses ins Herz geschlossen zu haben und luden ihn in einen nahege-legenen Pub ein – das Queen's Arms in Queen's Gate Mews – und dann hatten sie sich mit Rikschas ins West End bringen lassen. Bei einigen Drinks hatten diese jungen Leute offenbar lebhaft ihre Ideen – und das Konzept ihres Modernen Staates – mit dem Fremden aus der Vergangenheit diskutiert.
Was mich betraf, so war ich froh, daß Moses seine Ängstlichkeit abzuschütteln schien und sich nun für die Welt interessierte, in die es uns verschlagen hatte. Fasziniert folgte ich seinen Ausführungen.
»Diese jungen Leute sind alle sehr sympathisch«, sagte Moses. »Kompetent –
pragmatisch – und tapfer. Aber ihre Ansichten...!«
Der große Zukunftsentwurf – so hatte Moses erfahren – bestand in der Planung.
Wenn der Moderne Staat nach den Vorstellungen der siegreichen Briten und ihrer Verbündeten errichtet war, würde eine Luft-und Schiffahrtsbehörde die Verfü-
gungsgewalt über alle Häfen, Flughäfen, Bergwerke, Ölfelder, Kraftwerke und
Minen übernehmen. Analog hierzu würde eine Transportverwaltung die Kontrolle über alle Schiffswerften der Welt ausüben und sie von Kriegsschiffen auf die Mas-senproduktion von stählernen Frachtschiffen umstellen. Das Alliierte Amt für Lo-gistik würde die Produktion von Eisen, Stahl, Gummi, Metallen, Baumwolle,
Wolle und Gemüse organisieren und die Massenfertigung von Bekleidung, elektrischen Bauteilen und Geräten sowie einer Reihe Chemikalien wiederaufnehmen.
Und die Lebensmittelbehörde...
»Gut!« sagte Moses. »Ihr habt jetzt einen Einblick bekommen. Ihr seht, daß dies das Ende des Privateigentums bedeutet; alle Ressourcen werden sich im Besitz des neuen Alliierten Weltstaates befinden. Die Ressourcen der Welt werden zunächst alle in den Wiederaufbau der verwüsteten Länder fließen und später zur Wohl-standsmehrung der Menschheit verwendet. Alles geplant, wie ihr seht, von einer weisen, allwissenden Clique – die sich nebenbei auch noch selbst wählen soll!«
»Von letzterem abgesehen hört sich das doch gar nicht so schlecht an«, sinnierte ich.
»Mag sein – aber diese Planung wird nicht bei den physikalischen Ressourcen
des Planeten enden. Sie umfaßt nämlich auch die menschlichen Ressourcen.
Und da wird es nämlich problematisch. Angefangen beim Verhalten.« Er sah mich an. »Diese jungen Leute schauen nicht mit dem größten Wohlgefallen zurück auf unsere Zeit«, erklärte er. »Wir leiden nämlich an einer ›profunden Laxheit des privaten Verhaltens‹ – wurde mir eröffnet! Diese neuen Typen schlagen den Weg zurück ein: Maßhalten bei Essen und Trinken, strikte Körperertüchtigung, eine ablehnende Haltung gegenüber der Freizeit und ein tiefes Mißtrauen gegenüber ästhetischen und sinnlichen Aspekten – insbesondere in bezug auf die Sexualität.
Sittliche Betriebsamkeit! – das ist das Gebot des Tages.«
Ich verspürte nostalgische Anwandlungen. »Ich schätze, daß sich damit die Aussichten für die Zukunft des Empire im Leicester Square deutlich verschlechtern.«
»Schon geschlossen! Niedergerissen! – um Platz für ein Eisenbahn-
Planungsbüro zu schaffen.
Und das ist erst der Anfang. In der nächsten Phase wird es erst richtig losgehen.
Wir werden die schmerzlose Beseitigung der ›betrüblicheren Arten von Defekte‹
erleben – wohlgemerkt, dies sind nicht meine eigenen Worte! – und auch die Steri-lisierung einiger Menschen, die andernfalls Merkmale weitergegeben hätten, die, ich zitiere, ›schlicht unerwünscht‹ sind.
In einigen Teilen Großbritanniens hat dieser Säuberungsprozeß offenbar schon begonnen. Sie verwenden ein Gas mit der Bezeichnung Pabst's Kinetogene...
Nun. Ihr seht, daß sie anfangen, das menschliche Erbgut zu manipulieren.«
Nebogipfel nickte. »Diese Leute sind in all den Strömen der Zeit nicht die einzigen, die solchen Träumen nachhängen: Generation um Generation eine neue Spezies zu produzieren, die sich immer weiter vom Homo Sapiens entfernt...«
»Hm«, äußerte ich, »ich betrachte eine solche Normalisierung mit großem Miß-
trauen. Wäre es wirklich so erstrebenswert, daß die Zukunft der Menschheit von der ›Toleranz‹ der Engländer von 1938 abhängt? Sollte sie wirklich ihren langen Schatten über die kommenden Millionen Jahre werfen?«
»Seht ihr, es ist alles Planung«, resümierte Moses. »Und die einzige Alternative besteht nach ihren Worten in einem Rückfall in die chaotische Barbarei – in animalische Beliebigkeit und letztliche Auslöschung.«
Ich schaute Nebogipfel fragend an. »Sind die Menschen – die modernen Menschen – überhaupt zu solchen epochalen Taten imstande?«
Er rückte die Brille zurecht und blickte mich offen an. »Es wird Blutvergießen und Konflikte in einem bisher unvorstellbaren Maßstab geben – selbst gemessen an diesem langen, schrecklichen Krieg – wenn sich die Mehrheit der Welt dagegen wehrt, sich von diesen Alliierten Technokraten einen unausgegorenen Plan auf-zwingen zu lassen.«
Mein Blick traf sich mit dem von Moses, und ich erkannte dort einen gewissen heiligen Zorn, eine Wut auf die Dummheit der Menschheit, die auf meiner eigenen, jüngeren Seele lastete. Ich hatte der planlosen Weiterentwicklung der Zivilisation schon immer skeptisch gegenübergestanden, denn ich hatte den Eindruck, daß dieser ganze fragile Überbau eines Tages über seinen hirnlosen Erbauern einstürzen würde. Und diese Sache mit dem Modernen Staat hielt ich für eine extreme
Dummheit, die nach dem, was ich gehört hatte, wohl nur in einem Krieg enden
konnte! Es war, als ob ich Moses' Gedanken von seinen Augen ablesen könnte – er hatte seine Freak-Klamotten abgelegt und sich in eine jüngere Version von mir verwandelt, die mir jetzt auch äußerlich eher entsprach – und ich hatte mich ihm nie näher gefühlt, seit wir uns begegnet waren.
»Nun gut«, meinte ich dann, »die Sache ist entschieden. Ich glaube, daß niemand von uns eine solche Zukunft tolerieren könnte.« Die anderen schüttelten den Kopf, und ich erneuerte meine Entschlossenheit, diesen Zeitreisen ein für allemal ein Ende zu bereiten. »Wir müssen fliehen. Aber wie ...«
Und dann, noch bevor ich die Frage ausformuliert hatte, erbebte das Haus.
Ich wurde zu Boden geschleudert und knallte fast mit dem Kopf gegen den Tisch.
Es rumpelte – ein tiefes Knallen, wie eine zugeschlagene Tür, tief im Innern der Erde. Die Lampen flackerten, erloschen aber nicht. Überall um mich herum ertönten Schreie – der arme Filby wimmerte – und ich hörte das Klirren von Glas und das Klappern umstürzender Möbel.
Das Gebäude schien sich wieder zu beruhigen. Hustend, denn eine außerordentliche Staubwolke war aufgewirbelt worden, mühte ich mich auf die Füße. »Seid ihr alle in Ordnung? Moses? Morlock?«
Moses kümmerte sich bereits um Nebogipfel. Der Morlock schien unverletzt,
aber er war unter einem umgekippten Bücherschrank eingeklemmt.
Ich überließ sie sich selbst und sah nach Filby. Der alte Bursche hatte Glück gehabt; es hatte ihn nicht einmal aus seinem Sessel gehauen. Aber jetzt war er aufge-standen und ging zum Fenster, durch das ein Sprung verlief.
Ich erreichte ihn und legte den Arm um seine gebeugten Schultern. »Filby, mein guter Freund – komm mit.«
Aber er ignorierte mich. Er deutete mit einem gekrümmten Finger auf das Fenster, wobei Tränen durch die Staubschicht auf seinem Gesicht strömten. »Schau.«
Ich beugte mich näher zum Fenster und blendete mit den Händen den Schein der elektrischen Lampen aus. Die Aldis-Lampen der Schwätzmaschine waren erloschen, wie auch viele Straßenlampen. Ich sah viele Leute in Panik umherrennen –
ein umgestürztes Fahrrad – einen Soldaten mit angelegter Gasmaske, der Schüsse in die Luft feuerte... und dort, etwas weiter entfernt, stand eine Säule gleißenden Lichts; es erleuchtete einen Ausschnitt der Straßen, Häuser, eine Ecke des Hyde Park; Leute standen in seinem Schein, blinzelten wie Eulen und hielten sich die Hände vor das Gesicht. Über ihnen setzte sich das Licht in der Luft fort, eine vertikaler Zylinder herumwirbelnden Staubs.
Diese strahlende Säule war Tageslicht. Die Kuppel hatte einen Riß bekommen.