Zuhause
Ich kann nicht beschreiben, wie merkwürdig es mir erschien, nachts die Petersham Road entlangzugehen und schließlich bei meinem eigenen Haus anzukommen –
noch dazu mit einem Morlock an meiner Seite!
Das Haus hatte eine Terrasse, große Schiebefenster, einen ziemlich stillos ge-schnitzten Türrahmen sowie eine Veranda mit Repliken griechischer Säulen. An der Vorderfront befand sich eine Treppe, die zum Keller hinabführte und von einem verzierten, schwarzlackierten Metallgeländer begrenzt wurde. Das ganze Haus stellte im Grunde eine ärmliche Kopie der wirklichen herrschaftlichen Anwesen im Grünen bzw. der Terrasse auf der Hügelkuppe dar. Dennoch war es ein großes,
geräumiges und gemütliches Haus, das ich als junger Mann zu einem Spottpreis erworben hatte und das ich nicht aufzugeben gedachte.
Ich ging an der Vordertür vorbei und zur Rückseite des Hauses. Hinten befanden sich Balkone mit filigranen, weiß gestrichenen Eisengeländern, die nach Westen hinausgingen. Ich konnte die jetzt dunklen Raucher-und Eßzimmerfenster erkennen (ich überlegte mir, daß ich nicht wußte, welche Uhrzeit wir jetzt hatten), aber ich hatte irgendwie den Eindruck, daß hinter dem Raucherzimmer etwas fehlte. Es dauerte einige Augenblicke, bis ich des Rätsels Lösung fand – das unerwartete Fehlen einer Sache ist weitaus schwieriger zu begründen als ihr plötzliches Vor-handensein – es war nämlich die Stelle, an der ich später ein Bad anbauen würde.
Hier, im Jahre 1873, mußte ich mich noch in einem Zuber waschen, der immer von einem Diener in mein Schlafzimmer gebracht wurde!
Und in diesem ungünstig geschnittenen Wintergarten, der von der Rückseite des Hauses abstand, befand sich mein Laboratorium, in dem – wie ich in gespannter Erwartung sah – immer noch Licht brannte. Alle Gäste waren bereits gegangen, und die Dienerschaft hatte sich schon zu Bett begeben; aber er – ich – arbeitete noch immer.
Ich erlitt ein emotionales Chaos, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, daß es irgendein anderer Mensch bisher auch erlebt hatte; hier war mein Zuhause, und doch konnte ich keinen Anspruch darauf erheben!
Ich kehrte zur Vordertür zurück. Nebogipfel stand etwas abseits auf der men—
schenleeren Straße; er schien darauf bedacht, sich von den Treppenstufen fernzuhalten, denn die Grube, in die sie hinunterführten, war stockdunkel, selbst mit der Brille.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, beruhigte ich ihn. »Es ist ganz normal, daß sich in solchen Häusern die Küche und andere Räume unter der Erde befinden ...
Die Stufen und das Geländer sind wirklich solide.«
Der mit seiner Brille anonym wirkende Nebogipfel betrachtete mißtrauisch die Stufen. Ich führte seine Bedenken darauf zurück, daß er nicht wußte, wie robust die Technologie des neunzehnten Jahrhunderts war – ich hatte ganz vergessen, wie fremdartig ihm meine primitive Ära vorkommen mußte – aber trotzdem störte
mich etwas an seiner Haltung.
Ich erinnerte mich mit Unbehagen an ein Streiflicht aus meiner Kindheit. Mein Elternhaus war groß, aber verschachtelt – und deshalb mit geringem Wohnwert –, und es verfügte über unterirdische Gänge, die vom Haus zu den Stallungen, Wirt-schaftsgebäuden etc. führten: solche Passagen waren üblich bei den Häusern jener Zeit. In regelmäßigen Abständen waren schwarzlackierte, runde Gitter in den Boden eingelassen, welche die zu den Gängen führenden Belüftungsschächte ab—
deckten. Ich erinnerte mich jetzt an die Angst, die ich als Kind vor diesen in den Boden getriebenen Gruben gehabt hatte. Vielleicht waren es wirklich nur schlichte Belüftungsschächte gewesen; aber was, wenn sich die Einflüsterungen meiner
kindlichen Phantasie bewahrheitet und sich eine knöcherne Hand zwischen diesen Stäben hindurchgeschoben und mich am Knöchel gepackt hätte?
Jetzt fiel mir auf – ich vermute, daß etwas an Nebogipfels vorsichtiger Pose das alles ausgelöst hatte –, daß tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesen Luftschächten meiner Kindheit und den unheimlichen Quellen der Morlocks bestand... War das am Ende der Grund, weshalb ich im Jahre 657208 dieses Mor—
lockkind derart mißhandelt hatte?
Ich bin kein Mensch, der sich gerne mit den Untiefen seines Charakters konfrontiert sieht! Ziemlich unfair pöbelte ich Nebogipfel an: »Ich dachte eigentlich, daß ihr Morlocks die Dunkelheit liebt!« Dann wandte ich mich von ihm ab und ging zur Vordertür hoch.
Es war alles so vertraut – und doch so unheimlich fremd. Bereits auf den ersten Blick konnte ich tausend kleine Abweichungen gegenüber meiner Zeit, achtzehn Jahre später, feststellen. Da war z. B. der hängende Sturz, den ich später erneuern ließ, und dort die leere Stelle, an der ich eines Tages den gebogenen Lampenhalter anbringen würde, auf Initiative von Mrs. Watchets.
Erneut realisierte ich, welch eine bemerkenswerte Angelegenheit so eine Zeitreise war! Man hätte nach einem Flug über Tausende von Jahrhunderten die drama—
tischsten Umwälzungen erwarten können – und die waren auch wirklich eingetreten – aber selbst dieser kleine Hüpfer über zwei Jahrzehnte hatte mich zu einem Anachronismus werden lassen.
»Was soll ich tun? Soll ich auf dich warten?« Mir fiel wieder die stumme Gegenwart des neben mir stehenden Nebogipfel ein. Mit seiner Brille und meiner umgehängten Jacke wirkte er gleichermaßen komisch und auffallend! »Ich glaube, daß es zu gefährlich ist, wenn du draußen bleibst. Was, wenn dich ein Polizist sieht? – er könnte dich für einen Einbrecher halten. Wenn du dann noch verhaftet würdest...« Ich war mir nicht schlüssig, ob die Aussichten eines Morlocks in einem Polizeirevier des Jahres 1873 eher schlecht oder amüsant zu beurteilen waren!
»Und was ist mit Hunden? Oder Katzen?« Ohne den Schutz seiner Morlock—
Technik war Nebogipfel nämlich ziemlich hilflos; er hatte seine Reise durch die Zeit genauso unvorbereitet angetreten wie ich meine erste Tour. »Ich frage mich, wie der Normalbürger der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts wohl auf einen Morlock reagieren würde. Er würde ihn vermutlich zu einem schmackhaften Braten verarbeiten... Nein, Nebogipfel. Alles in allem glaube ich, daß du bei mir am sichersten bist.«
»Und der junge Mann, den du besuchen willst? Wie wird er reagieren?«
Ich seufzte. »Nun, ich bin schon immer mit einem scharfen und flexiblen Verstand gesegnet gewesen. Glaube ich jedenfalls! – Vielleicht werde ich es bald herausfinden. Außerdem könnte deine Gegenwart mich – ihn – von der Richtigkeit
meiner Ausführungen überzeugen.«
Und ohne mir eine weitere Verzögerung zu gestatten, zog ich an der Klingelschnur.
Im Haus hörte ich Türenschlagen und einen gereizten Ruf: »Ist ja gut, ich komme schon!« – und dann Schritte, die auf dem kurzen Flur klapperten, der das übrige Haus mit meinem Laboratorium verband.
»Das bin ich«, zischte ich Nebogipfel zu. »Er. Es muß schon spät sein – die Diener liegen bereits im Bett.«
Ein Schlüssel rasselte im Türschloß.
»Deine Brille«, zischte Nebogipfel.
Ich riß mir das auffällige Teil vom Gesicht und stopfte es in die Jackentasche –
gerade in dem Moment, als die Tür aufging.
Da stand ein junger Mann, dessen Gesicht wie ein Mond im Licht der Kerze
glühte, die er in der Hand hielt. Er musterte mich flüchtig, der ich unvollständig bekleidet dastand; und seine Inspektion von Nebogipfel fiel noch oberflächlicher aus. (Soviel zu meiner Beobachtungsgabe, derer ich mich immer gerühmt habe!)
»Was, zum Teufel, wollen Sie? Ist Ihnen klar, daß es ein Uhr nachts ist?«
Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen – aber die kurze Ansage, die ich mir zurechtgelegt hatte, war mir schon wieder entfallen.
Da stand ich also meinem sechsundzwanzigjähri-gen Alter ego gegenüber!