Zeitreise

Es gibt drei Dimensionen des Raumes, in denen man sich frei bewegen kann. Und die Zeit ist einfach eine Vierte Dimension: in jeder wichtigen Hinsicht identisch mit den anderen drei, bis auf die Tatsache, daß unser Bewußtsein dazu gezwungen ist, sich stetig in ihr weiterzubewegen, wie mein Stift über diese Seite.

Wenn man nur – so hatte ich bei meinen Studien zu den besonderen Eigenschaften des Lichts spekuliert – wenn man nur die vier Dimensionen von Raum und Zeit anders konfigurieren könnte – z. B. Länge durch Zeit ersetzen – dann könnte man so leicht durch die Korridore der Geschichte streifen wie mit einem Taxi in der Stadt herumfahren!

Das im Material der Zeitmaschine eingelagerte Plattnerit war der Schlüssel zu ihrer Funktionsfähigkeit; das Plattnerit ermöglichte es der Maschine, auf eine spezi-elle Art und Weise in eine neue Konfiguration der Raumzeit zu rotieren. Deshalb berichteten Augenzeugen, die den Start der Zeitmaschine verfolgt hatten – wie z.

B. mein Schriftsteller –, daß sie gesehen hätten, wie das Gerät vor seinem Verschwinden aus der Jetztzeit erratisch rotiert hätte; und deshalb litt der Zeitreisende

– also ich – an durch die Zentrifugal-und Corioliskraft induzierten Schwindelgefühlen, die mich glauben ließen, von der Maschine abgeworfen zu werden.

Aber trotz all dieser Effekte hatte der durch das Plattnerit verursachte Spin eine andere Qualität als ein normaler Wirbel oder die langsame Drehung der Erde.

Die Wahrnehmung bei dieser Rotation unterschied sich grundlegend von den anderen Varianten, denn der Zeitreisende hatte die Illusion, absolut ruhig im Sattel zu sitzen, während die Zeit an der Maschine vorbeiraste – es war nämlich eine Rotation aus der Raumzeit heraus.

Als sich Dunkelheit über den Tag legte, fielen die verschwommenen Konturen des Laboratoriums von mir weg, so daß ich mich schließlich in der freien Luft befand.

Ich reiste wieder durch diesen Abschnitt in der Zukunft, in dem das Laboratorium vermutlich zerstört worden war. Die Sonne schoß wie eine Kanonenkugel über den Himmel, viele Male in der Minute, und beleuchtete die schwache, skelettartige Suggestion eines Gerüstes um mich herum, das aber bald verschwand und mich am freien Hang zurückließ.

Meine Geschwindigkeit durch die Zeit erhöhte sich. Das Flackern von Tag und

Nacht verschmolz zu einem tiefblauen Zwielicht, und ich konnte den Mond sehen, der seine Phasen durcheilte wie ein Kinderkreisel. Und als sich die Geschwindigkeit nochmals steigerte, verwandelte sich die Kanonenkugel-Sonne in einen Lichtbogen, der sich durch den Raum spannte, ein Bogen, der am Himmel auf und ab

zuckte. Um mich herum spulten sich die Jahreszeiten ab, die durch sukzessives schneeweißes Gestöber und Frühlingsgrün markiert wurden. Schließlich erreichte die Beschleunigung ein Maximum, und ich trat in eine neue, tiefe Stille ein, in der nur die jährlichen Zyklen der Erde selbst – der Umlauf um die Sonne mit den Extremen der Sonnenwende – wie ein Herzschlag über der sich entwickelnden Landschaft pulsierten.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich in meinem ersten Bericht die außergewöhnliche Stille referiert habe, in die man bei einer Zeitreise eintaucht. Das Singen der Vögel, das entfernte Rattern des Verkehrs über das Kopfsteinpflaster, das Ticken der Uhren – sogar das schwache Atmen der Struktur eines Hauses selbst – all diese Dinge bilden einen komplexen und unbewußten Hintergrund unseres Lebens. Aber jetzt, herausgerissen aus der Zeit, wurde ich nur von meiner eigenen Atmung begleitet und von der Zeitmaschine, die unter meinem Gewicht wie ein Fahrrad leise

quietschte. Das Gefühl der Isolation war überwältigend – es war, als ob ich in ein fremdes, unheimliches Universum gestürzt wäre, durch dessen Wände unsere eigene Welt nur wie durch verschmutzte Fensterscheiben zu sehen war – aber in diesem neuen Universum war ich das einzige lebende Wesen. Ein profundes Gefühl

der Verwirrung ergriff Besitz von mir und erregte in Kombination mit der schwindelerregenden Wahrnehmung des freien Falls, die einen Sturz in die Zukunft immer begleitet, Gefühle tiefen Ekels und der Depression.

Aber jetzt wurde das Schweigen unterbrochen. Ein tiefes Murmeln, dessen

Quelle ich nicht ausmachen konnte, schien meine Ohren anzufüllen; es war ein leises Rauschen, wie das Geräusch eines großen Flusses. Ich hatte das schon bei meinem ersten Flug bemerkt; ich konnte mir seinen Ursprung zwar nicht erklären, aber es schien mir so, als ob es sich hierbei um eine Begleiterscheinung meiner unziemlichen Reise durch den gemächlichen Lauf der Zeit handeln würde.

Aber wie sehr sollte ich mich da irren – wie schon so oft bei meinen hastig auf-gestellten Hypothesen!

Ich schaute auf die vier chronometrischen Uhren und nahm eine Funktionsprüfung vor, indem ich mit dem Fingernagel auf jede tippte. Auch der Zeiger der zweiten Uhr, der die Tage in Tausender-Intervallen anzeigte, hatte sich schon aus seiner Ruhestellung wegbewegt.

Diese Uhren – treue, stumme Diener – waren denen von Dampfmaschinen entlehnt. Sie maßen eine bestimmte Scherspannung in einem mit Plattnerit dotierten Quarzbrocken, eine Spannung, die durch die Verzerrungseffekte der Zeitreise induziert wurde. Die Uhren zählten Tage – keine Jahre oder Monate oder Schaltjahre oder bewegliche Feiertage! – und das hatte auch seinen guten Grund.

Als ich meine Untersuchungen hinsichtlich der Durchführbarkeit von Zeitreisen begann und insbesondere der Notwendigkeit, dabei die Position der Maschine zu bestimmen, verbrachte ich eine beträchtliche Zeitspanne damit, eine brauchbare chronometrische Uhr anzufertigen, die gleichzeitig Jahrhunderte, Jahre, Monate und Tage darstellen konnte. Mir wurde bald klar, daß ich mit diesem Projekt wahrscheinlich länger zugange sein würde als mit der Konstruktion der Zeitmaschine selbst!

Ich entwickelte eine immense Aversion gegen die Eigenheiten unseres antiken

kalendarischen Systems, die aus einer Reihe von fehlerhaften Anpassungen herrühren: von den Versuchen, die Zeit für die Aussaat und die Wintermitte zu fixieren, die bis zu den Anfängen der menschlichen Gesellschaft zurückreichen. Unser Kalender ist eine historische Absurdität, die nicht einmal den mildernden Umstand der Präzision verdient – zumindest nicht im Rahmen der kosmologischen Zeitspannen, die ich überbrücken wollte.

Ich schrieb empörte Briefe an die Philosophical Transactions und später noch an die Times, in denen ich mit Reformvorschlägen aufwartete, die es uns ermöglichen würden, präzise und eindeutig auch in solchen Meßbereichen zu arbeiten, die für den modernen Wissenschaftler wirklich von Interesse sind. Zunächst einmal schlug ich vor, dieses unsinnige Hantieren mit den Schaltjahren zu vergessen. Das Jahr hat annähernd dreihundertfünfundsechzigeinviertel Tage; und dieses unglückliche

Viertel ist der Grund für diese ganze lächerliche Scharade mit dem Schaltjahre-sausgleich. Ich bot zwei Alternativmodelle an, um mit dieser Absurdität aufzuräumen. Wir könnten z.B. den Tag als Basiseinheit festsetzen und dann den Monat und das Jahr als ein Vielfaches des Tages definieren: beispielsweise ein Dreihundert-Tage-Jahr mit zehn Monaten zu je dreißig Tagen. Natürlich würde dann bald die Synchronisierung des Jahreszeitenzyklus mit der Jahresstruktur auseinander-brechen, aber in einer so entwickelten Zivilisation wie der unseren würde das wohl kaum ein größeres Problem darstellen. So könnte z. B. das Royal Observatory in Greenwich jedes Jahr einen Kalender mit den verschiedenen Sonnenständen her-ausgeben – Tag-und Nachtgleiche etc. – wie schon 1891 alle Kalender die beweglichen Feiertage der christlichen Kirchen aufgeführt hatten.

Wenn auf der anderen Seite der Jahreszeitenzyklus als Basiseinheit genommen würde, müßten wir einen Neuen Tag als den exakten Bruchteil – z. B. ein Hundert-stel – des Jahres definieren. Das würde allerdings bedeuten, daß der Tagesrythmus, unsere Hell-Dunkel-Perioden, an jedem Neuen Tag auf andere Zeiten fallen würde.

Aber was würde das schon ausmachen? Wie ich schon sagte, arbeiteten viele

Städte bereits auf einer Vierundzwanzig-Stunden-Basis. Und was den menschlichen Aspekt betrifft, so läßt sich das Führen eines schlichten Tagebuches leicht erlernen; mit Hilfe korrekter Aufzeichnungen brauchte man seine Schlaf-und

Wachphasen höchstens ein paar Tage im voraus festzulegen, ohne den Le—

bensrhythmus an sich zu beeinträchtigen.

Schließlich regte ich noch an, daß wir einmal zu dem Tag schauen sollten, an dem sich das Bewußtsein der Menschen von seinem Neunzehntes-Jahrhundert-Blickwinkel auf das Hier und Jetzt erweitert hat, und überlegen, wie die Dinge aussehen könnten, wenn wir in Zeiträumen von zehntausenden Jahren denken. Ich

stellte mir einen neuen Kosmologischen Kalender vor, der auf der Präzession der Tag-und Nachtgleiche beruht – dem langsamen Taumeln der Achse unseres Planeten unter dem schwankenden gravitationalen Einfluß von Sonne und Mond – ein Zyklus, der fünfundzwanzigtausend Jahre umfaßt. Mit einem solchen ›Großen

Jahr‹ könnten wir unser Schicksal eindeutig und präzise messen, jetzt und für alle Zeit. Die symbolische Bedeutung einer derartigen Korrektur, so argumentierte ich, würde weit über ihren bloßen Nutzeffekt hinausgehen – sie wäre eine geeignete Maßnahme, das heraufziehende neue Jahrhundert zu markieren – denn sie würde

der gesamten Menschheit signalisieren, daß das neue Zeitalter des Wissenschaftlichen Denkens begonnen hatte.

Es erübrigt sich zu sagen, daß meine Beiträge ohne Resonanz blieben, abgesehen von spöttischen Kommentaren in einigen Boulevardblättern, die ich jedoch ignorierte.

Nach all diesen Vorkommnissen gab ich meine Versuche auf, ein kalendarisch

gestütztes Chronometer-Zählwerk zu konstruieren, und verlegte mich statt dessen auf die simple Zählung von Tagen. Ich hatte schon immer ein Faible für Zahlen, und daher war es nicht schwer für mich, die von den Uhren angezeigten Tage im Kopf in Jahre umzurechnen. Auf meiner ersten Fahrt war ich bis zum Tag

292495934 gekommen, was sich – unter Berücksichtigung der Schaltjahre – als das Jahr 802701 n. Chr. herausstellte. Jetzt jedoch mußte ich so lange reisen, bis die Uhren den Stand von 292495940 Tagen anzeigten – der exakte Tag, an dem ich

Weena, und mit ihr einen großen Teil meiner Selbstachtung, verloren hatte, in den Flammen dieses Waldes.

Ich hatte in einer Reihenhaussiedlung in der Petersham Road gewohnt, in dem Abschnitt unterhalb von Hill Rise, ein Stück vom Fluß entfernt. Jetzt, da mein Haus schon lange zerstört war, saß ich auf einem freien Hang. Die Flanke von Richmond Hill erhob sich hinter mir, eine vor Urzeiten entstandene geologische Formation.

Die Bäume erblühten und schrumpften erzitternd zu Stümpfen zusammen, wobei

ihre jahrhundertelange Existenz zu einigen Herzschlägen komprimiert wurde. Die Themse war ein Band aus silbrigem Licht, geglättet durch meine Reise durch die Zeit, und sie grub sich ein neues Bett: der Fluß schien sich in Gestalt eines großen, trägen Wurmes durch die Landschaft zu winden. Neue Gebäude erhoben sich wie

Rauchsäulen: manche stiegen sogar um mich herum auf, an der Stelle meines alten Hauses. Einige dieser Gebäude verblüfften mich durch ihre Größe und Eleganz.

Die Richmond Bridge meiner Zeit war längst verschwunden, aber ich erblickte

einen neuen Bogen, vielleicht eine Meile lang, der sich freischwebend durch die Luft und über die Themse spannte; und da stießen Türme in die flimmernde Luft, um deren schlanke Silhouetten sich enorme Massen legten. Ich wollte schon meine Kodak nehmen und versuchen, diese Phantasmen zu fotografieren, aber ich wußte, daß die durch die Zeitreise in Mitleidenschaft gezogenen Bildplatten zu licht-schwach waren, um irgend etwas abbilden zu können. Die architektonische Technologie, die ich hier sah, schien mir so weit von den Möglichkeiten des neunzehnten Jahrhunderts entfernt zu sein wie die großen gotischen Kathedralen von den Römern oder Griechen. Sicherlich, überlegte ich, hatten die Menschen dieser zu-künftigen Zeit es vermocht, dem gnadenlosen Zug der Schwerkraft Fesseln anzulegen; denn wie sonst hätten sich diese großen Strukturen in den Himmel erstrecken können?

Doch nicht lange, und die große Themsebrücke setzte braune und grüne Flecken an, die Farben des vergänglichen, zerstörerischen Lebens, und – mit einem Blinzeln, so schien es mir – brach sie im Mittelpunkt ein und kollabierte zu zwei nackten Stümpfen an den Ufern. Wie alles Menschenwerk, so sah ich, waren auch diese großen Strukturen vergängliche Schimären, der Vergänglichkeit anheimgegeben, verglichen mit der äonenlangen Geduld des Landes.

Ich fühlte mich der Welt außerordentlich entrückt, ein erhabenes Gefühl, das durch die Zeitreise verursacht wurde. Ich erinnerte mich an die Neugier und den Überschwang, den ich verspürt hatte, als ich zum erstenmal durch diese Träume der Zukunftsarchitektur gerast war; ich dachte zurück an die kurze, fieberhafte Spekulation über die Errungenschaften dieser zukünftigen Menschheit. Jetzt wußte ich es besser; jetzt wußte ich, daß ungeachtet dieser großen Leistungen die

Menschheit unweigerlich zurückfallen würde, unter dem unerbittlichen Druck der Devolution, in die Dekadenz und den Niedergang der Eloi und Morlocks.

Ich war betroffen davon, wie unwissend wir Menschen sind – oder uns selbst

machen –, was den Lauf der Zeit betrifft. Wie kurz unser Leben ist! – und wie bedeutungslos die Ereignisse, die unser kleines Selbst beschäftigen, wenn man sie aus der großen plastischen Perspektive der Geschichte betrachtet. Wir sind weniger als Eintagsfliegen, hilflos angesichts der permanenten Kräfte der Geologie und Evolution – Kräfte, die unerbittlich walten, und doch so langsam, daß wir uns im Alltagsleben ihrer Existenz nicht einmal bewußt sind.

Zeitschiffe
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