Neunzehntes Kapitel
Noch zwei Tage. Zwei weitere Tage voller Hitze, Regen, Schweiß, Fliegen, Schlangen, Eidechsen, Spinnen, Ratten und zankenden Männern. Erienne bekam in der ersten Nacht kaum ein Auge zu, und die zweite war nicht viel besser. Sie verbrachte die Tage damit, ins Wasser des Ix zu starren, während der Führer mit ihnen den Hauptstrom verließ und unzählige Windungen, Nebenflüsse und Zuflüsse entlangfuhr. Am Ende des zweiten Tages verlor sie endgültig die Übersicht und konnte sich nur noch grob am Sonnenstand orientieren.
Es musste sich um eine komplizierte Art von Folter handeln, deren Zweck sie allerdings nicht ergründen konnte. Das Land war die Hölle auf Erden. Der Himmel bombardierte sie mit Regentropfen, die selbst durch die Kapuze ihres Mantels noch stachen, und überall lauerten große und kleine Tiere darauf, sie zu töten, falls sie eine falsche Bewegung machte. Sogar die bunten Frösche konnten, wie Ren ihr fröhlich erklärt hatte, unversehens ihrem Leben ein Ende setzen.
Wann immer sie an Land gingen, sei es, um nur eine Pause einzulegen oder um die gefürchtete zweite Nacht zu verbringen, hatte Erienne Angst, sobald sie auch nur einen Fuß auf den Boden setzte, einen Arm ausstreckte, um sich festzuhalten, oder sich auf einen Baumstamm setzte, um am Feuer etwas zu essen. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie wäre nicht in der Lage gewesen, ein Gespräch zu führen. Ihre Konzentration wurde durch jedes Rascheln und jedes Knacken im Unterholz und jeden Ruf eines Tiers gestört. Als Magierin war sie momentan nicht zu gebrauchen, und Denser und Ilkar wurden allmählich ärgerlich, weil sie die Sprüche zum Reinigen und die sanften Heilsprüche praktisch allein erledigen mussten.
Sie versuchte sich einzureden, dass nicht überall Gefahren lauern konnten, und dass sie einfach nur überempfindlich auf die fremdartige Situation reagierte. Sie beobachtete die anderen: Ren und Ilkar, die sich hier anscheinend sehr wohl fühlten; Kayloor, der den Wald achtete und hier zu Hause war; Hirad und der Unbekannte, die das Unvermeidliche mit gewohnter stoischer Gleichmut hinnahmen, und Thraun, der den Wald liebte und dessen Jagdinstinkte schärfer waren denn je. Zwischen den Bäumen war er in seinem Element.
Sie konnte sich an Denser und Darrick halten, von denen sie, ohne fragen zu müssen, wusste, dass sie sich hier ebenso fremd fühlten wie sie selbst. Die einzige andere Möglichkeit war, sich in sich selbst zurückzuziehen, was sogar noch stärker schmerzte, weil sie dabei ständig an Lyanna denken musste. Sie saß nicht mehr täglich am Grab ihrer Tochter, doch die Unterbrechung des unmittelbaren Kontakts konnte die Erinnerungen nicht vertreiben. Ihre Verzweiflung war so groß wie eh und je, und die seltenen Augenblicke, in denen sie freudige Erinnerungen hatte, waren wie Oasen in der Wüste. Doch sie konnte nicht weinen. Nicht hier. Dieser Ort verstand ihre Schmerzen nicht, und ihre Tränen und ihr Zorn wären verschwendet.
Um sich während der Bootsfahrt abzulenken, versuchte sie sich vorzustellen, was unter ihnen lag. Ilkar und Ren hatten sich mit garstigen Schilderungen gegenseitig überboten, und sie hatte alles geglaubt, wodurch ihre Ängste weiter genährt wurden. Die Fleisch fressenden Fische, die Blut aus zehn Meilen Entfernung wittern konnten. Die dreißig Fuß langen Krokodile mit Kiefern, die stark genug waren, um einen Plattenpanzer zu knacken. Die unsichtbaren Geschöpfe, die sich ins Fleisch eingruben und Eier legten, damit die Maden sich am Blut der Opfer fett fressen konnten.
Sie stellte sich den Krieg unter der undurchdringlichen Oberfläche vor. Das Blinken der Schuppen im Tanz des Lebens. Und als sie einmal eins der gepanzerten Biester aus dem Fluss hervorschnellen sah, um sich einen Tapir zu schnappen, der Wasser trank, beflügelte auch dies ihre Phantasien, bis sie sich vorstellte, ihre schlimmsten Albträume könnten jeden Augenblick wahr werden: Es könne jederzeit ein Kopf mit riesigen Reißzähnen durch den Rumpf des Bootes brechen und sie alle hinabziehen und töten.
Doch am Nachmittag des dritten Tages war ihre Reise vorbei, und sie landeten an einem flachen, von Palmen und nickenden Gräsern gesäumten Strand, auf dem drei Dutzend oder mehr Fischerboote und offene Kanus lagen.
»Hier bin ich zu Hause«, sagte Ilkar. Er sprang an Land und starrte den Strand an.
»Das wird aber auch Zeit«, sagte Hirad. Er folgte ihm und stellte sich, die Hände in die Hüften gestemmt, neben ihn.
Erienne war vor allem erleichtert. Sie wollte endlich wieder unter einem Dach und auf einer festeren Unterlage als in einer Hängematte schlafen. Es dämmerte schon, sie war müde und hungrig und konnte das Pochen im Kopf nicht mehr als vorübergehenden Kopfschmerz abtun. Es hatte schon vor Tagen begonnen. Sie konnte nur hoffen, endlich etwas Abgeschiedenheit und Sicherheit zu finden, um es genau zu untersuchen.
»Es ist schön hier«, sagte Ren und legte Ilkar einen Arm um die Hüften.
Ein Schwarm Papageien mit roten Rücken flog über ihnen zu den von Wolken verhüllten grünen Anhöhen und den Wasserfällen, die man in der Ferne gerade eben erkennen konnte.
»Natürlich«, sagte Ilkar.
»Er wird uns gleich erzählen, dass wir jetzt nur noch fünf Meilen durch einen sumpfigen Wald voller Schlangen laufen müssen, bis wir vor seiner Haustür stehen«, grollte Denser, doch er lächelte dabei. Er sah sich zu Erienne um und wurde wieder ernst. »Wie geht es dir, Liebste?«
»Was für eine dumme Frage«, antwortete Erienne. Sie fand seine Nähe und sein Mitgefühl tröstlich.
»Du weißt schon, was ich meine.«
»Später«, sagte sie.
»Das Dorf liegt direkt hinter der Anhöhe dort«, erklärte Ilkar. Er deutete zum Ufer hinauf, wo ein gut ausgetretener Kiesweg begann, den der Schlamm zu überschwemmen drohte.
Erienne blickte in die Richtung, in die Ilkar zeigte, und sah hier und dort eine Rauchwolke in den Himmel steigen. Es wurde wieder sehr heiß, der Schweiß kitzelte auf ihrer Haut, und sie sehnte sich auf einmal nach winterlicher Kälte. Sogar der Regen war zu warm, dass man ihn genießen konnte.
Der Unbekannte und Aeb hatten unter Kayloors finsteren Blicken ihre Ausrüstung abgeladen.
»Lasst uns gehen«, sagte Hirad. »Ich kann den Regen schon riechen.« Er schulterte seinen Rucksack und sah ihren Elfenführer scharf an. »Es war mir wirklich ein Vergnügen.«
»Achtet den Wald. Cefu beobachtet euch«, sagte Kayloor in gebrochenem Balaianisch.
»Es kann sprechen«, sagte Hirad.
»Ja, und du auch«, sagte Ilkar. »Leider manchmal zu viel. Er hat dir nur einen guten Rat gegeben.«
»Wer ist Cefu schon wieder?«
»Der Gott des Blätterdachs, Hirad«, sagte Erienne.
Ilkar lächelte. »Schön, dass mir wenigstens einer von euch zuhört. Vergesst nicht, was ich euch gesagt habe. Die Leute werden euch anstarren. Sie wollen nicht, dass ihr hier seid. Reagiert nicht darauf. Lasst euch von Ren und mir führen. Und starre nicht zurück, Hirad.«
»Ich?« Hirad war der Inbegriff verletzter Unschuld.
»Ja, du«, sagte Ilkar. »Es gilt als Angriff, wenn du zu lange den Blickkontakt hältst. Verzichte darauf, bis sie dich akzeptiert haben. Ich meine es ernst. Kommt jetzt.«
Er führte sie die Uferböschung hinauf. Der Rabe und Ren hielten sich dicht hinter ihm, als die nächste Regenfront über den Fluss heranfegte und sie abermals durchnässte. Es lohnte sich nicht einmal, sich zu beeilen, so viel hatten sie inzwischen gelernt. Und der Regen vertrieb wenigstens die Fliegen.
Taanepol, Ilkars Heimatdorf, dessen Namen man annähernd mit »Stadt am Fluss« übersetzen konnte, war eine Ansammlung von etwa zweihundert mit Blättern gedeckten Holzhütten auf einer Lichtung, die von den Elfen im Einklang mit dem Wald gerodet worden war. An drei Seiten war die Lichtung von Bäumen umgeben, zur vierten hin, wo das Gelände allmählich zum Fluss hin abfiel, war der Blick frei.
Es war offenbar keine organisierte Siedlung, wie man sie aus Balaia kannte, denn es gab kein erkennbares Zentrum und kein Gebäude, das irgendwie bedeutender gewirkt hätte als die anderen. Die Häuser waren in kleinen Gruppen lose um freie Flächen angeordnet, auf denen Feuergruben angelegt worden waren. Dort waren auch Tische und Bänke aufgestellt worden, Kochutensilien und Jagdgeräte lagen herum. Jedes Haus hatte eine breite, gedeckte Veranda. Die Dächer waren schräg aufgesetzt, um das Regenwasser in flache Rinnen zu leiten, die es bergab in Richtung des Ix zurückführten.
Als sie sich dem Dorf näherten, glaubte Erienne trotz des Regens, der ihr die Sicht nahm, eine Art Graben am Rand des Dorfes zu erkennen, der von zusammengebundenen Baumstämmen überbrückt wurde. Ilkar erklärte ihnen, was sie vor sich sahen.
»Hier dürften etwa fünfhundert Elfen leben, von denen schätzungsweise jeweils die Hälfte beim Fischen, auf der Jagd oder auf dem Feld ist. Einige reisen auch nach Balaia und lassen sich zu Magiern ausbilden, wenn sie sich dazu berufen fühlen. Ich weiß, dass es etwas chaotisch aussieht, aber wie alle anderen Dörfer wurde auch dieses ursprünglich von einer einzigen Familie gegründet und ist gewachsen, als andere aufgenommen wurden und sich hier niederließen.«
»Warum hat die Entwicklung diesen Verlauf genommen? « , fragte der Unbekannte. »Ich nehme an, es hatte mit Schutz zu tun?«
»Genau. Die Stammesgeschichte der Elfen von Calaius war nicht weniger von Kriegen erschüttert als die der Wesmen. Wie auch immer, dies ist eine der größten Siedlungen, die es so tief im Wald überhaupt gibt.«
»Wie kommt es eigentlich, dass ihr den Wald abhacken dürft, während Kapitän Neunmalklug einen Anfall bekommt, sobald wir nur einen Zweig knicken?«
»Das liegt daran, Hirad, dass es unser Land ist. Wir wurden hier geboren, und wir kümmern uns um das Land. Es gibt keine willkürliche Zerstörung. Wir sind gut für den Wald, Fremde zerstören ihn«, sagte Ilkar. »Wie ich schon sagte, respektiere den Glauben der Elfen, und du wirst keine Probleme bekommen.«
Es war tatsächlich eine Art Burggraben. Er hatte senkrechte Seitenwände, war mindestens sechs Fuß tief und etwa acht Fuß breit. An fünf Stellen führten Holzbrücken hinüber.
»Rechnen die Bewohner denn mit Angriffen?«, fragte Erienne.
»Eigentlich nicht«, sagte Ilkar. Er drehte sich um und lächelte sie durch den Regenguss an. Sein schwarzes Haar klebte auf dem Kopf. Er blieb auf der Brücke stehen. »Der Graben hält unsere Tiere drinnen und einige der unerwünschten draußen.«
Erienne hielt den Atem an. Im Graben stand etwa eine Handbreit Wasser, das vor Leben zu wimmeln schien. Eidechsen, Nagetiere, Schlangen – sie konnte sie dort unten deutlich sehen – huschten oder glitten hierhin und dorthin oder wollten die Wände hochklettern. Dutzende Tiere trieben sich im Graben herum, so weit sie sehen konnte.
»Eine Spinne lässt sich dadurch aber kaum aufhalten, oder?«, sagte der Unbekannte.
Ilkar zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich nicht, aber wir füllen den Graben ab und zu mit einem milden Laugensalz. Die Tiere mögen es nicht. Am Morgen räumen wir dann auf und bringen sie in den Wald zurück, wo sie hingehören.«
»Ist es so schlimm?«, fragte Darrick.
»Wenn sich die Verhältnisse nicht stark verändert haben, dann wechselt es«, erklärte Ilkar. »Vor allem ist es ein Schutz für die Kinder. Sie müssen erst lernen, vernünftig mit Tieren umzugehen und Ärger aus dem Weg zu gehen. Manche dieser Tiere geben dir keine zweite Chance.«
Erienne marschierte entschlossen über die Brücke, hinter der sie sich entschieden sicherer fühlte. Sie konnte das alles gut verstehen. Doch als wäre sie vom Licht in den Schatten getreten, schlug ihr jenseits der Brücke sofort die Feindseligkeit der Elfen entgegen.
Im Dorf war jede Bewegung eingefroren. Kinder kamen gerannt, bis sie durch Rufe aufgehalten wurden. Erwachsene bewegten sich vorsichtig und wie von gemeinsamen Gedanken gesteuert. Waffen waren nirgends zu sehen, sie waren auch nicht nötig, um die Botschaft zu übermitteln. Die meisten Dorfbewohner trugen einfache dunkle Oberteile und Hosen. Alle waren tief gebräunt, hatten markante Gesichter und blickten finster.
»Sind die immer so gastfreundlich?«, fragte Hirad.
»Jetzt ist der Augenblick gekommen, den Mund zu halten«, sagte Ilkar scharf. Erienne sah den Unbekannten ins Zentrum der Gruppe treten, auf einer Seite war Aeb und auf der anderen Hirad. Sie selbst blieb mit Denser hinter ihnen. Darrick hatte gesehen, wie sich die Linie bildete, und trat rechts neben Hirad. Auch Thraun reihte sich instinktiv ein. Seine Hand ruhte gelassen auf dem Knauf des Schwerts, das er inzwischen trug. Er ahmte Darricks Haltung nach. Nur Ren stand etwas abseits. Hin und her gerissen zwischen Ilkar und dem Raben wusste sie nicht recht, wohin sie sich wenden sollte. Keiner von ihnen betastete nervös seine Waffen, doch sie waren bereit.
Wider Willen und trotz ihres benebelten Zustandes war Erienne beeindruckt. Es war mehr als zwei Jahreszeiten her, seit sie das letzte Mal zusammen gekämpft hatten, und doch waren ihre Instinkte so stark wie eh und je. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich in der Mitte des Raben geborgen. Vielleicht hatte Denser Recht. Vielleicht war dies der Beginn ihrer Genesung.
Den Wortwechsel zwischen Ilkar und den Dorfbewohnern konnte sie nicht verstehen, doch sie stellte sich so auf, dass sie die Einheimischen gut im Blick hatte und ihre Körpersprache beobachten konnte. Sie betrachtete Ilkar, der aufrecht stand wie ein Ladestock, und hatte absolutes Vertrauen zu ihm.
Ilkar selbst fühlte alles andere als Vertrauen. Der julatsanische Magier, der seine Heimat das letzte Mal gesehen hatte, bevor die Eltern der Rabenkrieger zur Welt gekommen waren, hatte diesen Augenblick im Geist immer wieder durchgespielt, seit sie in Herendeneth an Bord gegangen waren. In seinen Träumen hatte er lächelnde Gesichter und ausgebreitete Arme gesehen, als er über die Brücke zum Haus seiner Familie schritt – der verlorene Sohn, der endlich heimkehrt. Doch sobald er wach war, hatte er sich eingestehen müssen, dass Misstrauen das Lächeln überdecken würde, und dass die Elfen ihn und diejenigen, die er mitgebracht hatte, keineswegs mit offenen Armen empfangen würden.
Etwas wie dies hatte er jedoch keinesfalls erwartet. Ihre Gesichter zeigten keine Verwirrung. Einige erkannte er wieder, andere waren zu jung. Sie waren auch nicht überrascht. Was er sehen konnte, waren Zorn und Furcht. Er betrachtete die Elfen, die direkt vor ihm standen, und sah Nachbarn und Angehörige seiner großen Familie. Einige waren stark gealtert, andere nicht. Von seinen nächsten Angehörigen, seinen Eltern und, weniger überraschend, von seinem Bruder, war weit und breit nichts zu sehen.
Ilkar blickte hinter sich und bemerkte die Formation, die der Rabe eingenommen hatte. Es war natürlich unnötig, doch es gab ihm Sicherheit und Selbstvertrauen. Und mehr als alles andere bestätigte ihm dies, wer in Wirklichkeit seine Familie war. Sie stand hinter ihm, nicht vor ihm. Ren sah ihn etwas hilflos an. Er lächelte sie an und gab ihr zu verstehen, sie solle einfach bleiben, wo sie war. Dann nickte er Hirad zu und bedankte sich leise, ehe er sich wieder an die Dorfgemeinschaft wandte.
Er formte mit beiden Armen einen weiten Bogen vor seinem Gesicht und verhakte die Zeigefinger, um das Blätterdach anzudeuten. Es war ein uralter Gruß, der von den meisten der etwa dreißig versammelten Dorfbewohner eher reflexartig als aus echter Freundschaft erwidert wurde.
»Hallo, Kild’aar«, sagte Ilkar. Die Elfenfrau in mittleren Jahren war eine entfernte Verwandte väterlicherseits. Sie stand beinahe im Zentrum der Gruppe und hatte die Arme abweisend unter den Brüsten verschränkt. Das pechschwarze Haar war mit einem nassen Tuch bedeckt, und die leichte Kleidung klebte an ihrem schmalen Körper. Sie wirkte sehr müde, die schräg stehenden, ovalen Augen waren gerötet, und sie hatte tiefe Krähenfüße. »Ich bin gekommen, weil ich Hilfe brauche. Dürfen meine Freunde und ich die Gastfreundschaft von Taanepol in Anspruch nehmen?«
Ilkar war dankbar für die traditionelle Eröffnungsformel, die immer gehalten wurde, wenn ein Elf ein Dorf im Regenwald besuchte. Dabei wurde der Grund des Besuchs genannt, und wenn gewünscht auch die Bitte um Unterkunft vorgetragen. Kild’aar trat mit ernstem Gesicht vor.
»Als Kind dieses Dorfs bist du willkommen, und ebenso das Kind der Drech, das bei dir ist«, sagte sie und nickte Ren zu. »Die Fremden müssen jedoch gehen. Jetzt sofort.«
Ilkar erschrak über Kild’aars heftige Antwort.
»Meine Bitte bezieht sich auf uns alle«, wandte Ilkar ein. »Auf Calaianer und Balaianer gleichermaßen. Julatsa steht kurz vor der Zerstörung. Das Herz ist vergraben, und es sind nicht mehr genügend Magier in Balaia, um es zu bergen, damit es wieder zu schlagen beginnt und das Kolleg wieder zum Leben erwacht. Welche Konsequenzen hätte es für die Elfen auf Calaius, wenn es zerstört würde? Bitte, lasst uns alle aus dem Regen herauskommen und reden.«
»Die julatsanische Magie hat nichts mit denen zu tun, die neben dir stehen«, sagte Kild’aar.
»Wenn du mich nicht anhörst, wirst du nie erfahren, wie sehr du dich irrst«, erklärte Ilkar. »Kild’aar, haben sich die Dinge denn in meiner Abwesenheit so sehr verändert, dass du die Hand der Freundschaft nicht mehr ausstrecken kannst?«
»Das ist gut möglich«, entgegnete Kild’aar. »Hier ist ein großes Verbrechen verübt worden. Fremde tragen die Schuld. Und jetzt sucht die Krankheit das Dorf heim. Du hast die angebundenen Fischerboote gesehen. Sie liegen dort, weil es nicht genug Leute gibt, um sie zu bemannen. Wer kann schon sagen, ob die Fremden nicht die Krankheit mitgebracht haben? Wer kann schon sagen, dass diejenigen, die bei dir stehen, nicht diejenigen unterstützen, die sich die Entweihung haben zuschulden kommen lassen?«
Ilkar hob eine Hand. »Warte, warte. Das verstehe ich nicht.« Er sah Kild’aar an und betrachtete die ängstlichen, zornigen Gesichter hinter ihr. »Wir haben schon in Ysundeneth von der Krankheit gehört, als wir vor drei Tagen dort gelandet sind, doch was wurde entweiht?«
»Ysundeneth hat die Krankheit?« Kild’aar ignorierte seine Frage und sah sich zu ihren Leuten um. »Da kommen oft Fremde hin.« Sie zuckte mit den Achseln.
»Aber nicht hierher«, sagte Ilkar. »Und es ist vielleicht nicht einmal die gleiche Krankheit. Warum lässt du unsere Magier nicht nach den Kranken sehen? Wir haben auch in Ysundeneth den Elfen geholfen.«
Kild’aar seufzte. »Um ehrlich zu sein, wir sind sehr nervös«, sagte sie. »Wir können keine Ursache und kein Heilmittel finden, und die Krankheit schlägt willkürlich zu. Morgen könnte ich das Opfer sein oder sonst irgendjemand. Die Ersten sind schon gestorben.«
»Dann lass uns versuchen, euch zu helfen«, flehte Ilkar. »Diese Leute hinter mir sind mehr als nur Freunde. Ich liebe sie wie meine Familie. Sie sind gute Leute, und ich schwöre bei jedem Geschöpf im Wald, das sie nichts mit der Entweihung zu tun haben.« Er hielt inne. »Kild’aar, was ist entweiht worden?«
Die Elfenfrau wirkte auf einmal viel älter und erschöpfter und nagte an der Unterlippe. »Aryndeneth«, flüsterte sie.
»Was?« Ilkars Mund wurde trocken. Der Regen, der auf seinen Kopf trommelte, war vergessen.
»Was ist geschehen?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Kild’aar. »Aber wir wissen, dass Al-Arynaar getötet wurden.« Sie hielt inne. »Einen Moment.«
Ilkar nickte und sah zu, wie sie sich umdrehte und leise mit einer Gruppe junger und alter Elfen sprach. Er sah, wie sie nickten und die Köpfe schüttelten, sah, wie sie mit den Fingern zeigten, und hörte scharfe Antworten. Am Ende war jedoch klar, dass Kild’aar sich durchgesetzt hatte.
»Bring deine Freunde, wenn sie es wirklich sind, ins Haus deines Vaters. Sie können sich vom Topf über dem Feuer etwas zu trinken nehmen, wenn sie wollen. Ich erwarte dich. Es gibt etwas, das du sehen musst.«
»Und was ist mit meinen Eltern?«, fragte Ilkar. Es war die Frage, die sie erwartet hatte und der er schon viel zu lange ausgewichen war.
»Was denkst du, Ilkar? Du warst zu lange fort.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir hätten jemanden wie dich hier gebraucht, und du hast nicht einmal eine Nachricht geschickt, dass du noch lebst.«
Sie drehte sich um, entfernte sich und nahm die anderen Dorfbewohner mit, die sich murmelnd in kleineren Gruppen zerstreuten. Ilkar wandte sich wieder an den Raben und bemerkte Rens Blick.
»Hast du es gehört?«, fragte er sie.
Sie nickte und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Alles in Ordnung?«
»Wir haben uns noch nie gut verstanden«, sagte er. »Ich hätte zurückkommen müssen, als man mich gebraucht hat.«
»Das meinte ich aber nicht.«
»Ich weiß«, sagte er. Im Grunde wusste er aber selbst nicht genau, wie er sich fühlte. Er war nicht sicher, ob er damit gerechnet hatte, seine Eltern noch lebend vorzufinden. Die Eröffnung, dass sie nicht mehr lebten, hatte ihn traurig gestimmt, doch er war nicht sehr bekümmert.
»He!«
Ilkar wandte sich an Hirad. Der Barbar stand mit ausgebreiteten Armen und nach oben gedrehten Handflächen im Regen. Aus seinem langen, dunklen Haar tropfte es, und es sah nicht so aus, als würde der Regen bald aufhören.
»Es tut mir Leid, Hirad.«
»Wenn du genügend elfisch geschwatzt hast, könntest du uns vielleicht mal in das große Geheimnis einweihen. Wollen sie uns fertig machen, oder dürfen wir uns ein wenig trocknen?«
»Nun, ich musste feilschen«, sagte Ilkar. Er ging zu Hirad und tätschelte dessen nasse Wange. »Sie fanden, du seist zu hässlich, um in ein so schönes Dorf eingelassen zu werden. Immerhin gibt es hier Kinder.«
Denser lachte laut auf und umarmte Erienne. Auch sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Diese Bemerkung entschädigte für vieles. Hirad drehte sich zu dem Xeteskianer um.
»Du hast noch nicht gehört, was sie über diesen Pilzbefall sagen, den du einen Bart nennst«, sagte er zu Denser.
»Wenigstens verschreckt der keine kleinen Kinder.«
»Aber nur, weil sie es nicht verstehen. Mir macht es eine Heidenangst, dass du denkst, er könnte attraktiv sein.«
»Lasst uns aus dem Regen verschwinden«, sagte der Unbekannte. »Ich weiß nicht, wie ihr es seht, aber ich bin diese Schauer so langsam leid.«
Ilkar nickte. Wieder hatten ein paar Sätze des großen Mannes ausgereicht, um sie zur Ordnung zu rufen.
»Folgt mir. Und bringt nichts durcheinander. Ihr werdet gleich mein Haus sehen.«
Er nahm Rens Hand und führte sie durchs Dorf. Er war nicht sicher, was ihnen bevorstand, und die skeptischen Blicke der Dorfbewohner machten es nicht leichter. Es gab so viel mehr zu tun, als er angenommen hatte. Er seufzte. Eigentlich war es ein ganz einfacher Plan gewesen. Hierher kommen, ausgebildete Magier suchen und ein wohlwollendes Netzwerk schaffen, das sie unterstützte. Er hätte es gleich wissen sollen. Wenn der Rabe im Spiel war, dann war es niemals einfach.