Siebzehntes Kapitel
Die Dämmerung stand unmittelbar bevor. Ein heftiger Wolkenbruch, begleitet von spektakulären Blitzen und lautem Donner, hatte die Wachfeuer gelöscht und alle aus dem unruhigen Schlaf geweckt.
Yron ließ die Wächter ablösen, worauf sich halbwegs erfrischte Kämpfer zu den beiden noch intakten getarnten Elfenplattformen und den vier anderen verborgenen Posten begaben, die sie ein paar Fuß hoch in den Bäumen eingerichtet hatten. Es war wichtig, so früh wie möglich gewarnt zu werden.
Der Hauptmann hatte überhaupt noch nicht geschlafen, er hatte die ganze Nacht in der Tür des Tempels gestanden und sich Sorgen über den Angriff gemacht, der unweigerlich bald kommen musste. Vier Trupps von jeweils vier Männern hatten das Lager schon vor Stunden verlassen. Sie hatten sich weit von dem ausgetretenen Weg entfernt, ehe sie nach Norden zu den Booten liefen, die sie ein paar Tagesmärsche flussabwärts zurückgelassen hatten, oder den längeren Weg direkt zu den Schiffen in Angriff nahmen, die in der Flussmündung des Shorth vor Anker lagen. Sie hatten wichtige Informationen aus dem Tempel mitgenommen. Es war ein Risiko, aber da nicht klar war, mit wem sie es zu tun hatten und wo die Feinde standen, war Yron der Ansicht, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Die wichtigsten Informationen sollte die Gruppe überbringen, zu der Erys gehörte.
Als er die Männer, die noch da waren, einwies, hatte er nicht versucht, sie zum Narren zu halten, sie anzulügen oder irgendetwas zu beschönigen. Sie mussten so lange ausharren, wie sie konnten, und sich darauf gefasst machen, für das wichtige Ziel zu sterben. Die Elfen, mit deren Angriff sie rechnen mussten, würden nicht in großer Zahl kommen, aber sie waren extrem gefährlich. Er hatte seine Männer gewarnt, sich nicht von diesen schnellen, anmutigen Kämpfern überrumpeln zu lassen.
Außerdem mussten sie völlig ohne magische Unterstützung auskommen. Auch Stenys war bereits mit einer Gruppe von Läufern fortgeschickt worden. Seine magischen Fähigkeiten wurden eher gebraucht, um die Beute zu schützen, und sollten nicht dafür verschwendet werden, am Tempel das Unausweichliche hinauszuschieben.
Yron machte mit Ben-Foran eine letzte Runde durch die eilig aufgebauten Verteidigungsanlagen: Fallen mit Dornen, die vielleicht ein wenig zu flach waren, undurchdringliche Holzstapel, um die Angreifer auf Wege zu zwingen, die besser überschaubar waren, und einige Schlingen, die sonst dazu dienten, Tiere zu fangen; sie waren auf den Zugängen zum Vorplatz ausgelegt worden. Yron war überrascht, dass sie nicht schon während der Nacht angegriffen worden waren. In gewisser Weise war es ein Segen. So hatten sie für sich selbst und die Läufer kostbare Zeit gewonnen. Immer vorausgesetzt, die Läufer waren nicht schon längst zu Tode gehetzt worden. Wenn er ehrlich war, dann rechnete er damit, dass höchstens eine der Gruppen ihr Ziel erreichte, und die Chancen standen für Erys’ Gruppe am besten.
»Ihr hättet mitgehen sollen, Ben«, sagte Yron. Er empfand für den jungen Leutnant, der sich geweigert hatte, seinen kommandierenden Offizier zu verlassen, einen viel größeren Respekt, als er jemals zugeben würde.
»Ich bin Soldat«, erklärte Ben-Foran. »Ich bin nicht sehr geschickt, bestenfalls unbeholfen, aber ich kann kämpfen. Meine Fähigkeiten können wir hier besser gebrauchen.«
»Das sagt Ihr immer wieder.«
»Dann hört auf, mich daran zu erinnern, Hauptmann.« Er trank einen Schluck aus seinem Teepott.
»Ihr hättet Euch entscheiden können zu überleben.«
»Ich habe mich für das Leben als Soldat entschieden«, sagte Ben-Foran. »Das schließt auch den Tod mit ein. Es ist ein Berufsrisiko.«
Yron bückte sich und überprüfte eine Schlinge. Er fragte sich, ob Ben-Foran wirklich so gelassen war, wie er tat. Bei den Göttern, Yron war es nicht, doch andererseits kannte er den Feind viel besser.
Die Schlinge war ausgezeichnet gelegt. Er rechnete nicht damit, dass sie wirklich jemanden fing, doch sie würde die Elfen aufhalten und zum Nachdenken bringen. Er leerte seinen Teepott.
»Sehr gut«, sagte er. »Wer hat sie gelegt?«
»Das war ich.«
Yron lächelte. »Eigentlich war es eine Zeitverschwendung, Euch das alles beizubringen, oder? Wem wollt Ihr Euer Wissen weitergeben? Irgendeiner untergeordneten Gottheit im Nachleben? Bei den Göttern, ich hätte Säufer werden sollen. Es ist doch alles viel einfacher, wenn man besoffen ist.«
»Lehren ist niemals eine Zeitverschwendung«, sagte Ben-Foran. »Man weiß ja nie, wann es Zeit wird zu sterben.«
»Keine Zeitverschwendung, nein? Dann kommt mal her, seht Euch das hier an und lernt. Es sei denn, Ihr habt etwas Wichtigeres zu tun.«
»Ich habe keine dringenden Termine, Hauptmann«, sagte Ben.
Yron führte ihn vom Vorplatz zur kleinen natürlichen Lichtung, auf der sie die Leichen der Elfen nach dem Angriff auf den Tempel abgelegt hatten. Er hörte, wie Ben scharf einatmete.
Es war noch nicht einmal vier Tage her, dass sie dort neun Leichen aufgestapelt hatten. Jetzt lagen dort nur noch einige einzelne Knochen und ein paar Fetzen Kleidung. Alles andere war verschwunden.
»Der Wald holt sich alles zurück«, sagte Yron. Seine leisen Worte waren voller Verehrung. »Wenigstens diesen Respekt hatten sie verdient.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Ben.
»Es ist ein Glaubenssatz der Elfen. Einer von vielen. Alles Leben kehrt im Tod in den Wald zurück. Alles wird gebraucht. Wir waren es ihnen schuldig, sie zu ehren und sie nicht zu verbrennen.«
»Oh, ich verstehe.«
»Im Regenwald gibt es keine Friedhöfe, Ben. Eine Leiche zu verbrennen, ist Verschwendung.«
Yron hörte ein winziges Geräusch. Es war kaum wahrnehmbar, aber er war sicher, dass es nicht von einem Tier stammte. Er legte einen Finger auf die Lippen und winkte Ben-Foran in den Schutz einer Pflanze mit breiten Blättern, die im Schatten einer Palme wuchs. Der junge Mann kannte seinen Vorgesetzten gut genug, um keine Fragen zu stellen.
Überrascht, dass er nicht längst tot war, beobachtete Yron die geschmeidigen Elfen, die nur wenige Schritte an ihnen vorbeigingen. Er konnte nicht umhin, ihre sparsamen Bewegungen zu bewundern. Sie waren nahezu unsichtbar, kaum mehr als Schatten auf dem Waldboden.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich zu Ben-Foran umdrehte und ihm bedeutete, sich still zu verhalten. Der junge Soldat sah ihn fragend an und nickte in Richtung der Elfen. Er hatte eine Hand auf den Schwertgriff gelegt.
Yron schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. Er sondierte den Boden vor seinen Füßen und machte sehr vorsichtig einen Schritt, um sich seinem Adjutanten zu nähern.
»Wir müssen die anderen warnen und ihnen helfen«, flüsterte Ben-Foran.
»Wir kämen keine zwanzig Schritte weit«, widersprach Yron, dessen Lippen Bens Ohren beinahe berührten. Er sprach sehr leise. »Ich weiß, wie schwer es ist, aber die Götter haben uns aus irgendeinem Grund verschont, sonst wären wir längst tot. Wir setzen uns in Bewegung, wenn der Angriff beginnt, und folgen Erys.« Er hielt inne und sah Ben an. »Es wird nicht schön werden.«
Auum bewegte sich geschmeidig über den Waldboden, Duele und Evunn folgten ihm wie Schatten. Sie hatten nicht weit vom Lager der Fremden entfernt an einer Stelle, die frei war von ihrem Gestank, gerastet und gebetet. Den brutal freigehackten Weg, den der Wald bereits wieder zurückeroberte, hatten sie gemieden und sich an natürliche Pfade gehalten. Sie wollten in der Morgendämmerung am Tempel eintreffen, wenn Cefu besonders prächtig erstrahlte und ihre eigene Kraft besonders groß war.
Schon lange bevor sie einen von ihnen tatsächlich sahen, spürten sie die Fremden im Tempel. Der Wald war in Aufruhr, Tuals Geschöpfe waren ob dieser achtlosen Zerstörung erregt. Die TaiGethen spürten es tief in sich selbst. Es war, als habe Yniss sich abgewandt und seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Ziel gerichtet. Das Ungleichgewicht, das die Fremden in den Wald gebracht hatten, war nur ein kleiner Teil davon. Was Auum und seine Gefährten fühlten, ging viel tiefer, es berührte die Existenzgrundlage des gesamten Elfenvolks. Er spürte es in der Luft und schmeckte es im Regen. Es durchströmte ihn und störte die Mana-Spuren, und er hörte es im Rascheln des Windes im Blätterdach. Es war überall.
Auum empfand einen ungewohnten Anflug von Furcht. Die Harmonie war gestört. Er wusste, dass es ernst war, doch damit musste man sich später im Gebet und in der Kontemplation beschäftigen. Er und seine Tai hatten jetzt eine Aufgabe, und dies galt auch für die anderen, die sicher bald aus dem Süden kommen mussten. Einige waren gewiss schon in der Nähe. Auch die anderen Al-Arynaar wurden von dem Unbehagen herbeigerufen, das alle spüren mussten, manche stärker und manche schwächer.
Auf den letzten hundert Schritten waren Auums Sinne höchst wachsam und erlaubten ihm eine Wahrnehmung seiner unmittelbaren Umgebung, deren Schärfe sich ein Fremder nicht annähernd vorstellen konnte.
Wieder blieben sie stehen, um zu beten und ihre Gesichter zu bemalen. Wieder bespannten sie ihre kompakten Bogen, die ihre Pfeile so schnell verschießen konnten. Wieder pirschten sie sich an ihr Ziel an, und ihre Konzentration wurde nur durch die beiden Fremden gestört, die sich außerhalb der Angriffszone befanden.
Die Tai ignorierten sie vorerst. Wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatten und der Tempel den Al-Arynaar zurückgegeben worden war, dann würden sie diese beiden verfolgen und stellen. Sie mussten sicher sein, dass alle Eindringlinge tot waren.
Auum stieg mühelos über eine aufgespannte Schlinge von recht guter Qualität hinweg. Interessant, dass sie es mit so primitiven Fallen versuchten. Das schmeckte nach Verzweiflung, ebenso wie die Fallgruben voller Dornen, denen sie kurz danach auswichen. Ein Zischen ließ ihn innehalten. Er blickte nach links. Duele deutete auf die Bäume vor ihnen, wo sich Männer verborgen hatten. Es waren zwei, die den Zugang zum Tempel bewachten. Auum deutete auf sich selbst und dann auf die Bäume, ehe er auf Duele deutete und eine ausholende Bewegung machte, die von seinen Augen bis hinauf in die Zweige führte.
Duele nickte und eilte davon. Rechts neben ihm stand Evunn still wie eine Statue, selbst für Auum war er kaum zu sehen. Er dirigierte Evunn ein weniger weiter nach rechts, beide Elfen legten jetzt Pfeile in die Bogen. Es wurde still im Wald. Der Augenblick war gekommen.
Die beiden Bogensehnen sangen gleichzeitig, die Pfeile rauschten durch die Luft und trafen mit tödlicher Präzision ihre Ziele. Einem Mann wurde der Hals durchbohrt, dem anderen das Herz. Auum rannte sofort los und legte im Laufen den nächsten Pfeil ein. Er ignorierte die Toten, die neben ihm zu Boden fielen. Links von ihm flog ein Jaqrui flüsternd durch die Luft, auch der Aufschlag erreichte Auums empfindliche Ohren. Duele hatte die Plattformen erreicht.
Zwanzig Schritt vor ihnen hockte ein Fremder rechts neben dem Weg, der zum Tempel führte, in seinem Baumversteck und starrte in den Wald. Er wusste, dass jemand kam, doch er konnte nichts sehen. Als er den Mund öffnete, um einen Warnschrei auszustoßen, schossen Auum und Evunn gleichzeitig. Die Pfeile trafen den Fremden im Kopf und im Hals und warfen ihn vom Baum. Er stürzte mit lautem Krachen ins Gebüsch und war tot, bevor er die Fänge der Giftschlange spürte, die er aufgescheucht hatte.
Mit erneut gespanntem Bogen verließ er am Rand des Vorplatzes die Deckung und rannte auf der linken Seite zum Tempel, während Evunn sich rechts hielt. Drinnen im Tempel war ein Schrei zu hören, eine laute, verängstigte Stimme. Der Angriff verlief, wie sie es geplant hatten, die Fremden reagierten wie erwartet. Vier Bolzen von Armbrüsten wurden von der Tür des Tempels aus abgeschossen.
Auum hielt vier Finger hoch. Auf der anderen Seite wiederholte Evunn die Geste und hob ebenfalls vier Finger. Er hatte die gleiche Anzahl Bolzen gesehen. Dann fiel die Leinwand vor die Öffnung und verbarg die Fremden in der heiligen Falle, die sie sich selbst gestellt hatten und die sie allein schon durch ihre Anwesenheit entweihten. Er hörte Stimmen von drinnen herausdringen. Die Sprache konnte er nicht verstehen, doch sie schmerzte in seinen Ohren.
Er und Evunn zogen sich zum Rand des Vorplatzes zurück. Duele tauchte neben ihm auf.
»Fünf sind tot«, sagte er. »Mehr sind nicht hier draußen.«
Auum nickte. »Klettere.«
Duele rannte zum Tempel und blieb dabei außerhalb des Sichtfeldes der Schlitze in der Leinwand. Er fand Halt für seine Füße, wo es eigentlich keinen gab, und stieg rasch an der Seite des Gebäudes hoch bis aufs Kuppeldach. Er breitete Arme und Beine weit aus, um nicht abzurutschen, und schob sich wendig hinauf. Er bewegte sich nach links und rechts und spähte dabei durch sechs kleine Buntglasfenster ins Innere. Bei jedem schirmte er die Augen mit einer Hand ab. Als er zufrieden war, stieg er bis zum steinernen Türsturz herunter und hockte sich direkt über den Baumstamm, der das Segeltuch an Ort und Stelle hielt.
Auum gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er bereit war. Duele hob zwei Finger, und deutete unmittelbar links und rechts neben die Tür. Dann hob er zweimal vier Finger und machte mit flacher Hand eine sägende Bewegung von links nach rechts. Auum nickte wieder und sah zu Evunn hinüber. Er deutete zur Tür und zog die Hand nach rechts. Für Duele wiederholte er die sägende Bewegung.
Auum spannte den Bogen und rannte zur Tür, Evunn lief im gleichen Augenblick los. Im Nu hatten sie den glatten Stein und die Ranken auf dem Vorplatz überwunden. Als sie noch sechs Schritte vom Eingang entfernt waren, kippte Duele den Baumstamm aus der Befestigung über dem Türsturz. Auum schoss seinen Pfeil in die Dunkelheit ab, warf den Bogen weg, zog das kurze Schwert und nahm einen Jaqrui in die Hand, ehe er weitere drei Schritte gelaufen war.
Zusammen sprangen sie über den Stamm und rollten sich ab, als Armbrustbolzen durch die Luft zischten, wo sie gerade noch gestanden hatten. Duele schwang sich hinter ihnen vom Türsturz herab. Auum verharrte in der Hocke, seine Augen gewöhnten sich rasch an das Licht im Tempel. Von den Wänden und der Decke hallten die Rufe wider, Männer bewegten sich, Schwerter wurden gezogen, Armbrustschützen begannen hektisch nachzuladen. Sein Pfeil hatte das Ziel verfehlt, aber das spielte keine Rolle.
Er sprang nach links und überraschte die Männer, die direkt vor ihm standen und instinktiv einen Schritt nach vorn machten. Damit kamen sie Duele in den Weg, der gerade hereinkam. Auums Jaqrui pfiff durch die Luft, die Doppelschneide schlug ins Gesicht eines Armbrustschützen, der kreischend zurücktaumelte. Blut spritzte aus seinem Nasenrücken, und er hatte ein Auge eingebüßt. Auum zog einen neuen Jaqrui aus dem Beutel, als er seinen nächsten Gegner erreichte und die Furcht in den Augen des Fremden sah. Er schlug mit der Klinge zu und schlitzte dem Mann die Schulter und den Oberkörper auf, ehe dieser überhaupt an Gegenwehr denken konnte. Er versetzte ihm zusätzlich noch einen Tritt, der den Bauch des Mannes traf und ihn gegen die Wand des Tempels zurückschleuderte.
Links von ihm prallte ein Jaqrui gegen die Klinge eines Fremden, dass die Funken stoben. Auum rollte sich wieder ab, kam hoch und stach dem nächsten Mann die Klinge in den Schritt. Mit einer dritten Rolle wich er dem Schwertstreich eines Gegners aus, der hinter ihm den Steinboden traf, dann stand er wieder. Ein Fremder ging mit einem Langschwert auf ihn los. Der ungeschickte, viel zu langsame Angriff wurde leicht abgewehrt. Auum versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, dann zuckte seine Klinge und durchtrennte die Kehle des Mannes. Ein Tritt ließ den Gegner zu Boden gehen.
Mit ebenso schnellen wie sicheren Bewegungen rannte Auum zum letzten noch lebenden Armbrustschützen, der seine Waffe gerade wieder geladen hatte und anlegte. Auum sprang, seine Beine schwebten waagerecht in der Luft, und er traf den Schützen vor die Brust. Er hörte unter dem Aufprall Rippen brechen, der Mann grunzte vor Schmerzen. Auum landete und rollte sich wieder ab, drehte sich herum und stach dem Mann das Schwert in die Brust. Die Hilfeschreie verstummten.
Er stand auf und nahm sich einen Augenblick Zeit, mit der Tempelwand im Rücken das Geschehen zu überblicken. Zehn Gegner waren erledigt. Duele und Evunn kämpften Seite an Seite, ihre Schwerter bewegten sich so schnell, dass sie nur verschwommen zu sehen waren, und das Klirren der Waffen hallte laut im umschlossenen Raum. Blut machte den Boden rutschig. Zwei Männer gingen auf ihn los, einer hatte eine Schulterwunde. Beide waren vorsichtig. Es sollte ihr Ende sein.
Auum wich etwas zurück, zog einen weiteren Jaqrui aus dem Beutel und traf den Schwertarm des Verletzten kurz über dem Handgelenk. Der Mann ließ die Klinge fallen, drehte sich um und rannte zur Tür. Der Zweite griff weiter an. Auum stürzte ihm entgegen und ließ sich im letzten Moment fallen, um ihm die Beine wegzuschlagen. Der Mann prallte schwer auf den Boden, das Schwert fuhr nutzlos durch die Luft. Auum war im Nu über ihm und zerschmetterte ihm mit einem Schlag die Luftröhre.
Der Anführer der Tai rannte dem fliehenden Fremden hinterher und holte ihn rasch ein. Er hatte schon einen Jaqrui in der Hand und den Arm zum Wurf gekrümmt, doch dann verzichtete er auf den Wurf. Der Mann kreischte direkt vor ihm, kam am Rand des Vorplatzes rutschend zum Stehen und begann sich rückwärts zu bewegen. Aus dem Schatten tappte ein Panther, der ihn nicht aus den Augen ließ. Hinter dem schönen Tier folgte ein pechschwarz gekleideter Elf, der sein Gesicht je zur Hälfte schwarz und weiß bemalt hatte. Elf und Panther waren eins. Sie waren Krallenjäger, ihr Bewusstsein war verknüpft und unwiderruflich verbunden.
Auum nickte ihnen zu und kehrte zum Tempel zurück. Der Fremde hatte keine Fluchtmöglichkeit mehr.
Drinnen waren bereits alle Feinde tot. Evunn hatte sich eine kleine Schnittwunde an der Schulter zugezogen, und Duele war am Schenkel verletzt. Es war nichts. Der Wald würde für die Heilung sorgen, und Yniss würde sie für das, was sie getan hatten, beschützen.
Auum ging zu seinen Tai. »Wir werden diesen Tempel von ihrem Blut reinigen und ihre Knochen Tual opfern. Wir werden ruhen. Aber zuerst wollen wir beten.«
Die Tai drehten sich um und wollten vor der Statue von Yniss niederknien, doch plötzlich hielten sie inne. Wie gegen seinen Willen angezogen, trat Auum vor und stieg über den Leichnam eines Fremden hinweg. Er bückte sich am Becken und schrie auf. Ein Zorn stieg in ihm auf, den zu beherrschen er gar nicht erst versuchte. Sein Herz sang in seiner Brust von Tod und Verderben, sein Gesicht brannte, und alle seine Muskeln verkrampften sich. Er zitterte am ganzen Körper. Doch er konnte den Blick nicht vom verstümmelten Arm der Statue wenden. Er sah es wie durch einen Schleier, sein Bewusstsein war unfähig, die Ungeheuerlichkeit dieses Anblicks zu verarbeiten.
Duele sprang ins Becken und tauchte, kam wieder hoch, als er seine Suche am Grund des Beckens beendet hatte, und zog sich aus dem Wasser. Die Bemalung lief ihm in Strömen über das Gesicht, seine Augen waren klein, und er hatte sichtlich Mühe, überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen.
»Die Hand ist dort unten.«
»Dann kann die Statue wieder in Ordnung gebracht werden«, sagte Auum. Doch seine Erleichterung war nicht von Dauer.
»Ein Teil des Daumens fehlt. Er ist nicht im Becken.«
Auum hockte sich auf die Hacken und starrte den Wasserstrahl an, der aus der zerstörten Röhre unter Yniss’ Handgelenk ins Becken fiel. Der Fluss des Wassers war falsch.
»Dann werden wir ihn finden«, sagte er. »Durchsucht den Tempel. Durchsucht die Leichen, sucht überall.«
Draußen war ein leises Knurren zu hören, darauf folgte ein Schrei, der abrupt abbrach.
»Die Krallenjäger werden uns helfen«, sagte Auum.
»Und wenn wir den fehlenden Teil nicht finden?«
»Dann fangen wir einen der Fremden lebendig. Und er wird der Erste sein, der für das büßt, was sie hier getan haben.«
Auum stand auf. Die Al-Arynaar würden bald kommen. Und noch weitere Zellen der TaiGethen. Sie konnten einstweilen noch viel tun, sie konnten den Tempel säubern und die Hand aus dem Becken bergen, doch die Statue wäre erst wieder heil, wenn der Daumen gefunden war. Und bis dahin würde Yniss ihnen seine Gunst entziehen.
Auum spürte eine tödliche Kälte, die sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Er kannte die Schriften. Er kannte die Konsequenzen. Eine Träne rann über seine Wange.