Gottesdienst

Heute gehen wir in die Kirche. Am Heiligabend gehe ich immer hin, weil das Krippenspiel so schön ist. Ganz traditionell wird das in unserer Kirche gezeigt. Mit Maria und Josef und dem Kindlein auf Stroh, mit den Hirten und den drei Weisen aus dem Morgenland, mit „O, du fröhliche“ und „Ihr Kinderlein kommet“. Wie es sich für Weihnachten gehört.

Wir müssen früh los, sonst sind die besten Plätze weg. Um drei sollten wir spätestens da sein, um fünf Uhr beginnt der Gottesdienst.

Wenn ich nur wüsste, was ich anziehen soll.

Was sollen die Leute denken, wenn man nicht vernünftig angezogen ist. Chic muss es sein, besonders Heiligabend trifft man die meisten Bekannten.

Hoffentlich takelt Tamara sich nicht so auf. Wenn sie in ihrem roten Nerzmantel käme, das gäbe Getuschel. Mit Nerz kämen die Leute zurecht, aber nicht in rot. Ich werde das graue Kostüm anziehen. Tamaras Freund wird doch wohl einen Schlips tragen? Das gehört sich Weihnachten so.

Meine Güte, ist das hier schon voll.

Typisch, Meiers haben direkt auf dem Kirchplatz geparkt, damit jeder sieht, was für ein dickes Auto sie fahren. Woher die bloß jedes Jahr das Geld für einen neuen Wagen haben? Sicher gibt’s bei denen Tütensuppe und trocken Brot, irgendwo müssen sie ja Abstriche machen. Und wie sie aufgedonnert ist! Trägt man Minirock und Stöckelschuhe in der Kirche? Und knallroten Lippenstift? Bisschen viel für meinen Geschmack.

Helga Müller sieht aus wie ihre eigene Oma. Steppweste und Halstüchlein – damit man den Speck an den Hüften und die Jahresringe am Hals nicht sieht? Und diese Frisur!

Siekers müssen mindestens seit Mittag hier sein, sonst hätten die keinen Platz in der ersten Reihe bekommen. Immer vorneweg, diese Leute, wenn es um die Kirche geht, aber die Kinder sind vom Gymnasium geflogen. Da hat die ganze Frömmigkeit nichts genutzt.

Ist das die Möglichkeit? Kalle und Doris sind auch hier! Die hocken jeden Abend im Sachsenkrug. Ich sehe sie vom Küchenfenster aus rein- oder rausgehen. Da saufen sie Pils und Kurze und heute gehen sie in die Kirche. So eine Doppelmoral. Weiß doch jeder, dass sie den Pastor nicht ausstehen können.

Muss das denn sein, dass die Tellermanns mit allen Kindern kommen? Acht Stück, und sogar das Baby ist dabei. Also, wenn das schreit und die Andacht stört, werde ich mich beschweren.

Da ist Pastor Geldmacher. Der müsste sich auch mal wieder die Haare schneiden lassen. So lange Koteletten gehören sich nicht für einen Geistlichen.

„Ja, hier sind noch zwei Plätze frei.“ Konnten die nicht eher kommen? Jetzt muss die ganze Reihe wegen denen aufstehen.

Huch, ist das voll geworden! Ja, ja, Heiligabend gehen sie alle in die Kirche. Möchte mal wissen, wie viele an einem normalen Sonntag hier sind.

Ich kann sonntags leider nicht. Das ist der einzige Tag, an dem ich auch mal ausschlafen kann.

Der vor mir hat einen Eiterpickel im Nacken, wie eklig. Und die Frau daneben stinkt nach Haarspray, das ist nicht zum Aushalten. Dabei hat sie Schuppen. Sie sollte aufs Haarspray verzichten oder keinen dunklen Mantel tragen.

„Tamara, gib mir mal das Programmheft.“

Die hätten den Text vom Vaterunser draufschreiben können. Das kann ich heute auch nicht mehr auswendig. Ist schließlich über dreißig Jahre her, seit ich beim Konfirmandenunterricht war. So lange kann ich mir keine Texte merken.

Hoffentlich hält Pastor Geldmacher die Predigt nicht so lang. Dann kriege ich nämlich das Essen vor acht nicht fertig. Irgendwann will ich ja mal Feierabend haben, auch wenn ich mich freue, dass Tamara und Hassan bis zum zweiten Feiertag bei mir sind.

Das ist das erste Jahr, in dem ich ohne die Kinder Weihnachten feiere. Die werden sich umgucken, wenn sie heute bei dreißig Grad am Strand sitzen. Heiligabend auf Ibiza. Das ist doch kein Weihnachten. Kein Tannenbaum, kein Gottesdienst, keine Geschenke. Ob sie wenigstens anrufen und mir ein schönes Fest wünschen?

„Nein, Tamara, ich weine nicht, ich hab was im Auge.“ Hassan ist Türke. Der hat sicher noch nie ein richtiges ostwestfälisches Weihnachten erlebt. Ich bin gespannt, wie es ihm gefällt.

Darf so ein Moslem überhaupt in unsere Kirche? Ich meine, von mir aus schon und Pastor Geldmacher hat auch nix dagegen, aber der Guru oder Rabbi oder wie der Vorbeter bei denen heißt, erlaubt der das? Ach, soll mir egal sein, der Mann ist erwachsen und wird wissen was er tut. Ein erwachsener Moslem wird nicht fragen müssen, wenn er mal in eine richtige Kirche gehen möchte, das ist ja keine Sünde. Auch bei denen nicht. Es geht los. Die Orgel klingt noch genauso so schön wie früher. Da kommen immer noch Leute!

„Pünktlichkeit ist eine Zier“, hat meine Mutter immer gesagt. Zum Gottesdienst geht man rechtzeitig los.

Ach herrje, hinter mir sitzt Eva Hansmeier, die blöde Kuh von der Lottoannahmestelle. Daneben sitzt ihr Mann. Und wo sind die Kinder? Ich kann sie nirgends sehen. Ob die am Heiligabend zu Hause sitzen und auf die Eltern warten? Die armen Kinder. Das ist sowieso eine sehr komische Familie. Sie geht arbeiten und er spielt den Hausmann. Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll, ist doch irgendwie unnatürlich.

Mitsingen kann ich leider nicht, ich bin heiser. Der da drüben bewegt auch nur den Mund.

Wann fängt das Krippenspiel denn an? Früher fing das viel früher an.

Hach. Ist das schön. Wie damals. Ich hab auch mal die Maria gespielt. Als Konfirmandin. Ergreifend war das, als die ganze Gemeinde singend vor mir stand und über mir der gelbe Strohstern leuchtete.

Ob die Kinder von heute auch noch ein Gefühl für heilige Momente haben? Ich glaube nicht. Die wünschen sich doch gar nichts mehr, die bestellen nur noch. Und die Eltern reißen sich sonst was auf, um alles richtig und rechtzeitig ranzuschaffen.

Das ist doch … aber natürlich! Fast hätte ich ihn nicht erkannt, Oliver Hansmeier spielt einen der Hirten. Geht der denn schon zum Konfirmandenunterricht? Deswegen sitzen die Eltern hinter mir allein. Und der Bruder ist einer der Weisen aus dem Morgenland. Typisch, haben sich mal wieder alle reingedrängt. Reichte doch, wenn einer aus der Familie dabei wäre, muss doch nicht gleich die halbe Sippe mitspielen.

Wo ist eigentlich die Frau von Pastor Geldmacher? Die muss doch hier sein, als Pfarrersfrau. Bestimmt sitzt sie in der ersten Reihe, die Familie vom Pfaffen kriegt doch überall ne Extrawurst. Neulich beim Bäcker kam sie nach mir rein und vor mir dran. Ist das richtig? Nein, ist es nicht.

Ich hab nichts gesagt, dagegen kommt man sowieso nicht an. Ich kann sie nirgends sehen.

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“. Das ist mir von der Tonlage her zu hoch. Der da drüben bewegt auch wieder nur den Mund, der singt auch nicht richtig.

Schon halb sechs. Wenn ich den Rinderbraten vor acht fertig kriegen will, wird’s Zeit. Es ist das erste Mal, dass ich Heiligabend kein Kassler mache, sondern Rind. Wegen Hassan. Der darf doch kein Schwein. Ob der das überhaupt merken würde, wenn man ihm Schweinefleisch…? Mit herzhafter Bratensauce…? Nein, das wär gemein. Moslem-Mägen vertragen sicher kein Schwein, kennen die ja nicht. Ich möchte auch keine Hundeessen, wie die Chinesen, auch wenn ich es nicht merken würde. Gott sei Dank hab ich die Kartoffeln schon geschält.

Wie lange dauert denn so ein Gottesdienst? Jetzt kommt noch die Predigt. Hat das früher auch immer so lange gedauert?

Früher war alles anders. Als die Kinder noch klein und wir eine richtige Familie waren. Einmal hab ich von Manni zu Weihnachten den Ring bekommen. Mit sieben Diamanten, und an jedem wichtigen Tag kam später einer dazu, bis der Ring rundum mit Steinen besetzt war. Als Symbol für die Ewigkeit, hat Manni gesagt. Ach, Scheiße. Ewigkeit. Was wird er heute seiner neuen Flamme schenken?

„Nein, Tamara, ich hab nichts, meine Augen tränen ein bisschen und die Nase läuft.“

Ich weiß noch, wie es Weihnachten war, als Manni und ich uns das Geländer für die Kellertreppe geschenkt haben. Das war so teuer, dass wir kein Geld für andere Geschenke hatten, nur die Kinder haben was bekommen. Manni war traurig, denn er hatte sich das Aquarium gewünscht. Mit dem Aquarium wär’s ja nicht zu Ende gewesen, es wären noch Pflanzen und Sand und Fische dazu gekommen. „Eins geht nur“, hab ich zu ihm gesagt, „aber so ein Geländer ist doch eine Anschaffung für die Ewigkeit.“ Schon wieder Scheiß-Ewigkeit.

Ich hab gesagt: „Wenn wir mal alt sind, können wir sagen: Weißt du noch? Das Kellertreppengeländer haben wir uns damals geschenkt und es war so teuer, dass wir uns nichts anderes leisten konnten. Das sind später schöne Erinnerungen“, habe ich gesagt. Heute ist alles Erinnerung. Auch Manni. Und das Haus mit dem Treppengeländer gehört heute diesen Russen.

„Nein, Tamara, es ist alles in Ordnung, wirklich.“

Wie? Schon zu Ende? Das war doch eben der Abschiedssegen, oder? Das hat ja gut geklappt, dann schaffe ich den Braten noch.

„Tamara, bitte! Du willst doch kein Klimpergeld in den Klingelbeutel werfen? Ich meine, du kannst es ja nicht wissen, dass Jochen Tellermann an der Tür steht und sammelt, den kennst du ja nicht. Schmeiß einen Schein rein, bitte! Ich gebe ihn dir zuhause wieder, aber bitte blamier mich jetzt nicht.“

„Guten Abend, Frau Hansmeier und fröhliche Weihnachten. Ja, die Predigt war wunderschön, und das Krippenspiel auch. Ich habe ihre Kinder so bewundert, so groß sind sie geworden und so schön haben sie gespielt.“

„Fröhliche Weihnachten, Herr Tellermann. Nein, das ist nicht großzügig, das ist doch selbstverständlich, die armen Straßenkinder in Bolivien.“

„Fröhliche Weihnachten, Herr Pastor Geldmacher, schön haben sie gesprochen! Ja, jetzt, wo die Kinder nicht mehr… und ich alleine…, komme ich wieder öfter in den Gottesdienst. Im gemeinsamen Gebet fühlt man sich immer wieder wunderbar geborgen.“