Simon Taylor begutachtete die bunten Broschüren, die im Reisebüro auf allen Regalen lockten. Eine Assistentin hatte ihn bemerkt, strich sich den Rock glatt und setzte ihr schönstes Lächeln auf.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Sie roch nach billigem Make-up aus der Wühlkiste »zwei für zehn Pfund«. Ihre Wangen leuchteten in einem künstlichen Pfirsichton. Sie war hübsch wie eine bemalte Porzellanpuppe, hübsch, aber nicht ganz echt.
Simon merkte, wie er errötete. Es kam nicht oft vor, dass hübsche Frauen ihn ansprachen und Sir nannten.
»Ich hätte gern diesen Prospekt hier und dann bitte noch den da drüben.«
Beides waren Werbebroschüren für Südamerika. Er hatte gehört, dass das der Ort war, an den man sich zurückzog, wenn man verfolgt wurde – insbesondere von der Polizei.
»Hier bitte, meine Karte«, sagte sie und strahlte ihn an. »Wenn Sie alles durchgelesen haben, rufen Sie mich einfach an.«
Er erwiderte, das würde er machen. Er hatte nicht die geringste Absicht, sie anzurufen. Er würde diese Broschüren in aller Ruhe auf einer Parkbank studieren, irgendwo weit weg, wo ihn niemand – am allerwenigsten seine Mutter – sehen konnte. Im Internet hatte er sich bei seinen Recherchen bereits »Abgelegene Ferienorte in exotischer Ferne« angeschaut. Nun würden ihm die bunten Bilder bei der Entscheidung helfen.
Er kaufte sich bei Greggs eine warme Pastete und bei Starbucks einen Caffè latte. Die Arbeit konnte ihm gestohlen bleiben. Er hatte den Kram satt bis obenhin. Na, er würde jedenfalls, überlegte er und lächelte in den klaren blauen Himmel hinein, |239|bald nicht mehr arbeiten müssen. Wenn alles nach Plan verlief.
In der Woche war der Royal Victoria Park ziemlich menschenleer. An den Wochenenden und in den Schulferien wimmelte er von Eltern und Kindern. Simon ließ sich auf einer leeren Bank nieder, stellte die fettige Papiertüte und den Styroporbecher neben sich ab.
Er konnte einfach nicht aufhören zu lächeln. Es war erstaunlich, wie viele Leute zurücklächelten: ein älteres Paar, eine Frau, die ein Baby in einem Kinderwagen vor sich herschob, und ein Mann mit schäbiger Kleidung und grau meliertem Bart, wahrscheinlich irgendein Dozent von der Uni.
Simon lächelte immer noch, als er nach seinem Mobiltelefon griff und die Taste für die Wahlwiederholung drückte.
»Ich warte noch auf meinen Anteil.«
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung fand er richtig aufregend. Es war wie beim Angeln, wenn man einen Wurm am Haken hatte. Erst fand er das Gefühl ganz toll, aber nach einer Weile schien das Schweigen doch ein wenig zu lange zu dauern. Simons Lächeln gefror. Ein nervöser Knoten ballte sich in seiner Magengrube zusammen. Die Panik war nicht weit.
»Haben Sie gehört? Ich will meinen Anteil haben.« Er mimte den knallharten Burschen. Allerdings fühlte er sich keineswegs so. Gewieft sein, das war für ihn kaum mehr als ein Wort. Irgendwie hatte er es nie geschafft, so clever zu sein wie die anderen.
Diesmal wurde das Schweigen nach einer Weile unterbrochen.
»In Ordnung. Wo?«
Sie mussten sich treffen. Er wünschte, das ließe sich vermeiden. Es war gefährlich, aber unumgänglich. Er hatte sorgfältig alle Optionen gegeneinander abgewogen. Am besten war ein Ort voller Menschen. Aber zu öffentlich durfte er auch wieder nicht sein. Das Treffen musste irgendwo stattfinden, wo niemand die Transaktion bemerken würde. Es musste bequem zu erreichen sein, am besten zu Fuß. Er entschied sich für den idealen Ort.
»Im Theatre Royal gibt es heute eine Nachmittagsvorstellung. |240|Kaufen Sie zwei Karten für Plätze nebeneinander. Hinterlassen Sie eine für mich an der Kasse. Gehen Sie schon hinein. Ich geselle mich dann zu Ihnen.«
Die Leitung war tot.
Simon seufzte erleichtert. Das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. Er schob den Ärmel hoch und schaute auf die Uhr. Neunzig Minuten bis zum Vorhang. Da hatte er noch jede Menge Zeit, um sich in Ruhe vorzubereiten und von den Dingen zu träumen, die da kommen würden.
Die Planung für das größte Projekt, das er je in Angriff genommen hatte, hatte ihm Appetit gemacht. Er breitete die Hochglanzbroschüren auf dem Schoß aus, zog die warme Pastete aus der Papiertüte und nahm den Deckel vom Kaffeebecher. Alles lief nach Plan.
Wenn die Prospekte nicht gewesen wären, hätte sich die Wartezeit lang hingeschleppt. Simon las den Namen auf der Karte, die ihm die Frau im Reisebüro gegeben hatte. Glenys Watkins. Sie hatte so nett gelächelt und wirklich gut gerochen. Natürlich würde er da wieder hingehen. Sobald er das Geld hatte, würde er die paar Habseligkeiten packen, die er mitnehmen wollte, und für immer die Tür hinter seinem Zuhause und seiner Mutter schließen. Dann würde er zum Busbahnhof gehen, den Bus nach Heathrow nehmen und mit der nächsten Maschine irgendwohin in Südamerika fliegen – egal wohin. Bei dem Gedanken an ein neues Leben, weit weg von seiner Mutter, wurde ihm ganz kribbelig. Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht. Vielleicht würde er Glenys fragen, ob sie mitkommen wollte? Schließlich wäre er dann reich. Echt unwiderstehlich!
Als es Zeit zum Gehen war, verfütterte er die letzten Krumen an die Tauben, die sich um seine Füße geschart hatten. Als umweltbewusster Bürger knüllte er die Papiertüte zusammen, in der er die Pastete mitgebracht hatte. Tüte und Becher wanderten in den Papierkorb.
Er bürstete sich noch die Krümel von der Hose und weckte damit erneut das gefräßige Interesse seiner gefiederten Freunde.
Er vergrub die Hände in den Taschen wie der tolle Kerl, der er |241|gern gewesen wäre, und spazierte leise pfeifend fort, die Reiseprospekte in die Manteltasche gestopft.
Vor dem Theater stand ein Reisebus. Mit viel Hilfe kletterte eine Gruppe von Senioren heraus und wurde ins Gebäude verfrachtet. Simon blieb ein wenig zurück und schaute sich mit milder Verachtung die grauhaarigen Mütterchen und schlohweißen Herren an. Manche hatte Spazierstöcke, andere Rollatoren. Bei diesem Anblick stahl sich ein selbstzufriedenes Grinsen auf seine Züge. Sie erinnerten ihn an seine gebrechliche und egoistische Mutter, die ihn tyrannisierte. Nie im Leben wollte er werden wie die da, niemals mit der Herde laufen wie ein altes Schaf, das zum Schlachter getrieben wird, mit dem Blick auf sehr viel Vergangenheit und kaum noch Zukunft.
Auf ihn wartete jede Menge Zukunft. Auch im Alter würde er unabhängig sein, denn er würde das nötige Kleingeld dafür haben. Und warm würde er es haben. Die meisten dieser südamerikanischen Länder hatten doch ein Klima, in dem man das ganze Jahr hindurch in Hemdsärmeln herumlaufen konnte. Er stellte sich vor, wie er den Glenys Watkins’ dieser Welt seinen gestählten Oberkörper vorführen würde. O ja! Für ihn ging es jetzt ganz steil bergauf!
Er schaute auf die Uhr. Er würde das Theater erst betreten, wenn die Saallichter ausgegangen waren und die Vorstellung jeden Augenblick beginnen würde.
Die Senioren und alle anderen Besucher bewegten sich im Foyer langsam in Richtung Zuschauerraum. Man kam sich in dieser Gesellschaft vor wie im Wartezimmer Gottes, schoss es ihm durch den Kopf. Sein sehnlichster Wunschtraum war früher gewesen, seine Mutter würde endlich das Zeitliche segnen. Dann hätte er die Wohnung und ihr Bankkonto geerbt – wie viel oder wenig dabei auch immer herausgesprungen wäre. Aber jetzt war alles anders. Nur Bares ist Wahres. Er konnte einfach nicht mehr darauf warten, dass sie sterben würde.
Inzwischen war die Menschenmenge bis auf zwei Leute verschwunden. Simon hielt Ausschau nach der Person, auf die er wartete. Er schaute noch einmal auf die Uhr. Sonst war niemand |242|gekommen. Entweder würde sein Kontaktmann die Verabredung nicht einhalten, oder er wartete bereits am Platz. Simon entschied sich für die zweite Möglichkeit. Davon hingen all seine Pläne ab.
Mit klopfendem Herzen und staubtrockenem Mund ging er zur Abendkasse. Eben reichte jemand der Kartenverkäuferin eine Tasse Kaffee. Geld einnehmen und Karten überprüfen, davon bekam man wohl Durst. Er wollte eigentlich darüber lachen, lächelte aber statt dessen munter weiter – wenn auch ein wenig nervös, weil vielleicht niemand aufgetaucht war.
Die Kassiererin stellte ihre Tasse ab und erkundigte sich, ob sie ihm helfen könnte.
»Eine Karte unter dem Namen Taylor. Jemand hat sie hier für mich hinterlegt.«
Sie suchte in einem kleinen Kästchen mit der Aufschrift »Reservierungen.«
»Ja, da hätten wir sie. Alles schon bezahlt.«
Simon nahm die Karte entgegen und bedankte sich. Sein Herz schien irgendwo im Hals laut zu pochen. So aufgeregt war er.
Die Karte war für einen Platz in der Loge vor dem ersten Rang. Mit verschwitzter Hand packte er das Messinggeländer und stieg die Treppe hinauf. Das Saallicht ging gerade aus, als er die Tür zur Loge öffnete und in die Dunkelheit trat. Die Vorstellung hatte bereits begonnen: die Premiere einer Wiederaufnahme von Hello, Dolly! Er verzog angewidert das Gesicht und hoffte, dass er die Sache schnell über die Bühne bringen würde. Er hasste Musicals. Er konnte einfach nicht begreifen, wieso jemand sich so etwas ansehen wollte. Anscheinend teilten viele Leute seine Meinung. Das Theater war halbleer. Die meisten Zuschauer saßen unten im Parkett. Im ersten Rang waren nur ein paar vereinzelte Gestalten auszumachen, wahrscheinlich die wenigen, die es überhaupt noch die Treppe hinauf schafften. Sein Platz befand sich in der einzigen Loge. Eine gute Wahl. Öffentlich, aber trotzdem im Schatten und ein wenig abseits.
Die Bühne war in strahlendes Scheinwerferlicht getaucht, das sich auch auf den nach oben gewandten Gesichtern der Zuschauer |243|und auf den verschnörkelten Verzierungen des Saales widerspiegelte.
In der Loge, die Simon gerade betreten hatte, saß eine Gestalt. Der Mann hatte sich nach vorn gelehnt und stützte die Arme auf das Geländer. Er hatte Simon hereinkommen hören und wies nun mit einer Handbewegung auf einen bereits heruntergeklappten leeren Sitz, der ihn erwartete.
Simons Gedanken explodierten wie ein Feuerwerk! Endlich war es so weit! Der große Augenblick war gekommen.
Simon richtete den Blick auf den Mann, den er hier treffen wollte, und nahm Platz. Er japste überrascht auf, denn er hatte ein scharfes Stechen im Oberschenkel verspürt. Wahrscheinlich eine Sprungfeder aus der Polsterung. Sonst nichts. Diese Sitze waren ja uralt. Höchste Zeit, dass hier mal renoviert wurde, überlegte er, und lehnte sich zurück.
Aber was machte es unter solchen Umständen schon, wenn man ein wenig unbequem auf einem alten Polster saß? Zudem spürte er den Schmerz auch gar nicht mehr. Eigentlich hatte er überhaupt kein Gefühl mehr im Oberschenkel. Er versuchte, sein Gewicht ein wenig zu verlagern, doch diese Sprungfeder hatte sich tief in sein Bein gegraben, und er konnte sich nur ein wenig bewegen. Er wollte sich zu seinem Gegenüber wenden und ihm mitteilen, wie er sich fühlte.
»Etwas …« Doch nun gehorchte ihm auch die Zunge nicht mehr. Eine schreckliche Taubheit kroch durch all seine Glieder nach oben. Ihm verschwamm alles vor den Augen.
Langsam, ganz langsam hob er die Hand, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Sie sank ihm nur schlaff in den Schoß. Die andere Hand hatte er schon an sein pochendes Herz gedrückt. Es schlug rascher und immer rascher, hämmerte gegen die Rippen.
Da hörte er eine Stimme. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich möchte die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter mich bringen. Ich hasse Musicals. Und es ist so heiß hier …«
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er spürte, wie sie ihn fest nach unten drückte. Dieses Ding, was immer es war, hatte |244|ihn praktisch aufgespießt, bohrte sich in sein Fleisch. Mit seinen letzten, schwindenden Gedanken wurde ihm klar, dass das keine Sprungfeder gewesen sein konnte. Er versuchte erneut, sich mit zitternder Hand die Stirn zu wischen – und griff daneben. Er wollte aufstehen, doch die Beine versagten ihm den Dienst. Der Zuschauerraum und die Bühne verschwammen zu einem Bild von Dunkel mit hellen Flecken, von vagen Schatten, Gespenstern der Vergangenheit.
Sein Nachbar hatte sich erhoben und verdeckte das Licht. Simons Hirn war inzwischen so taub und teilnahmslos wie sein Körper. Die Reiseprospekte fielen zu Boden. Die dunkle Gestalt bewegte sich zum Ausgang.
»Viel Spaß mit der Show, alter Junge.«
Eine Hand legte sich zum letzten Mal auf seine Schulter.
Simon starrte auf die Tänzer auf der Bühne, nahm sie aber nicht war. Er merkte auch nicht mehr, dass die Hand seine Schulter losließ. Simon Taylor war am Ende all seiner Reisen angekommen.