18

Die Straße war leer, und am Himmel brach eben erst die Morgendämmerung an. Die Sirenen waren noch mindestens siebenhundert Meter entfernt. Zu dieser frühen Stunde war selbst das New York Police Department mit seinen fünfunddreißigtausend Cops nur dünn besetzt. Als Wells zu seinem Pick-up lief, fröstelte er in der kalten Nachtluft.

In seinem Wagen griff er mit zitternder Hand nach einem sauberen T-Shirt und seiner Sanitätsausrüstung. Sobald er das T-Shirt übergezogen hatte, klopfte er vier, fünf, sechs große weiße Tabletten aus der Cipro-Flasche in die Hand und schluckte sie trocken hinunter, wobei er sich hoch aufrichtete. Cipro war ein starkes Breitbandantibiotium. Ob es auch gegen die Pest half, wusste er nicht. Aber er hoffte, sich eben ein paar Stunden Zeit erkauft zu haben. Trotzdem musste er so schnell wie möglich ein Krankenhaus aufsuchen.

Wells fiel die Spielshow Der Preis ist heiß ein, die er als Kind oft gesehen hatte. Damals hatte Bob Barker die Kandidaten aufgefordert, den Preis des Gewinns zu schätzen, ohne dabei zu hochzugehen. »Wer am nächsten liegt, ohne drüber zu sein«, hatte Barker immer gesagt. Ein ähnliches Spiel spielte Wells jetzt mit der Pest. So nahe zu kommen, wie es möglich war, ohne die Grenze zu überschreiten.

Als er den Zündschlüssel umdrehte, sprang der Motor des Pick-ups an. Bei der ersten Ampel bog er rechts ab – nach Süden – , dann noch einmal rechts. Nach Westen, in Richtung Manhattan. Sobald Khadri erfuhr, was mit seinen Männern passiert war, würde er seine gelbe schmutzige Bombe zünden, was auch immer das war. Und dass er bald davon erfahren würde, stand fest. Denn die Medien würden gewiss über das Blutbad in Apartment 3C berichten.

 

Während die Sonne in seinem Rückspiegel aufging, fuhr Wells über die Willis Avenue Bridge nach Manhattan. Es war Zeit, die Kavallerie herbeizurufen. Als er auf seinem Mobiltelefon die Notrufnummer 911 wählte, meldete ein Piepton, dass die Batterie beinahe leer war.

»911 Notfalldienst.«

»In der 146th Street in der Bronx gab es eine Schießerei.«

Er hörte, wie die Beamtin etwas in ihre Tastatur tippte. »Ja, Sir. Die Einheiten des Notdienstes sind bereits informiert.«

»Sorgen Sie dafür, dass sie für biologische Gefahren ausgerüstet sind. Das Apartment ist pestinfiziert.«

»Pest?«

»Ja.«

»Sind Sie sicher …«

»Ja«, antwortete er und legte auf.

Wie er Duto oder Shafer erreichen konnte, wusste er nicht, aber er erinnerte sich an die Nummer des Servicedesks von Langley, der immer besetzt war. Nach dem ersten Läuten meldete sich ein Mann.

»Station.« Diese seltsame Tradition, sich als ›Station‹ zu melden, hatte sich seit Gründung der CIA erhalten.

»Hier spricht John Wells.«

»Wie kann ich Ihnen helfen, Mr Wells?«

»Ich muss mit Vinny Duto sprechen.« Wieder piepste sein Telefon.

»Hier gibt es niemanden mit diesem Namen«, gab der Mann ruhig zurück. »Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Nummer gewählt haben?«

Verzweifelt schlug Wells auf das Lenkrad. Selbstverständlich verband ihn der Mann nicht einfach weiter. Vermutlich hatte er seinen Namen nie zuvor gehört. Und Wells kannte nicht mehr die Notfallcodes, die Agenten benützten, um gegenüber dem Schalterbeamten ihre Identität nachzuweisen.

Er hustete heftig und spie einen dicken Speichelklumpen auf den Beifahrersitz des Rangers. Zumindest war er immer noch grau. Sobald er Blut hustete, würde ihn nicht einmal Cipro retten.

»Hallo? Hallo?« Als er merkte, dass der Mann aufgelegt hatte, rief er erneut an.

»Station.«

»Bitte, verbinden Sie mich mit Duto. Oder mit Ellis Shafer. «

Der Mann zögerte. Dutos Name war allgemein bekannt, Shafers Name nicht. »Würden Sie mir noch einmal Ihren Namen sagen?«

»John Wells. Ich bin Agent. Meine Notfallkennung lautet Red Sox.«

»Tut mir leid, Mr Wells. Ich habe keine Möglichkeit, Ihre Notfallkennung zu prüfen. Was auch immer das ist. Wenn Sie mir noch etwas sagen wollen, dann tun Sie es bitte.«

»Hören Sie, ich habe die Codes nicht mehr, aber bitte glauben Sie mir.«

»Mr Wells, man wird Sie zurückrufen. Können wir Sie unter dieser Nummer erreichen?«

»Nein. Die Batterie ist fast leer.«

»Mr Wells …«

»Sagen Sie ihnen, dass sie eine Suchfahndung nach ›dem Gelben‹ einleiten sollen.«

»Nach dem gelben Was?«

»Das ist eine schmutzige Bombe«, erklärte Wells, der sich nur noch verwirrt und müde fühlte. Das Cipro und die Pest kämpften in ihm gegeneinander, und die Pest wusste sich zumindest zu behaupten. »Ich weiß, dass das alles nicht sehr vernünftig klingt, aber mehr habe ich nicht. Der Gelbe. In Montreal gibt es noch einen Mann namens Tarik, der mit Lungenpest infiziert ist, einen Wissenschaftler …«

»Danke, Mr Wells. Man wird Sie zurückrufen.«

Klick. Sein Akku war endgültig leer. Selbst wenn der Mann die Nachricht an die richtigen Stellen weiterleitete, konnte ihn die CIA nicht erreichen. Für eine Weile war er auf sich allein gestellt.

 

Auf seinem Weg nach Hause hielt Khadri bei einem durchgehend geöffneten Imbiss auf der Webster Avenue, um ein Steak mit Eiern zu essen. Er war vollkommen ausgehungert und konnte es kaum erwarten, dass seine Männer morgen die Reise antraten. Nichts konnte den Plan jetzt noch verhindern.

Als er in Ghazis Garage fuhr, hörte er die erste Meldung im Radio. »Aus 1010 WINS hat uns eine Eilmeldung erreicht. In einem Apartmenthaus an der 146th Street in South Bronx gab es eine Schießerei. Die Polizei hat den Häuserblock abgeschlossen, und wie Nachbarn berichten, wurden mindestens zwei Männer auf Bahren abtransportiert. Bleiben Sie dran. Sobald wir weitere Einzelheiten haben, berichten wir wieder über dieses wichtige Ereignis.«

Khadri schüttelte den Kopf erst langsam und dann immer schneller, bis alles um ihn verschwamm und er aufhören musste. »Nein«, sagte er leise. »Nein.« Er lehnte sich in den Fahrersitz zurück, atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Wie konnte er nur so ein Narr sein? Was hatte der Amerikaner in dem Apartment getan?

Er musste das Schlimmste annehmen: dass Wells seine Männer getötet und die Polizei gerufen hatte. Nach so vielen Jahren hatte ihn Wells überlistet und seine Arbeit zunichte gemacht. Die Pest würde jetzt nie das Apartment verlassen. Khadri verfluchte sich für seine Arroganz. Und John Wells, diesen verlogenen Ungläubigen. Allah würde Wells sicher in das heißeste Feuer der Hölle schicken, und er verdiente es, mit ihm dieses Schicksal zu teilen, weil er die Gelegenheit vergeben hatte.

Aber es war nicht nur die Pest. Der Gelbe war auf Ghazis Namen registriert. Sobald die Polizei Ghazi identifiziert hätte, könnte sie das Fahrzeug leicht zu ihm zurückverfolgen. Er musste die Bombe noch heute Morgen zünden, ehe die Polizei diese Verbindung entdeckte. Er sah auf die Digitaluhr des Lincoln: 6:29 Uhr. Bisher hatte Khadri nicht die Absicht gehabt, bei dem Anschlag zu sterben. Er wollte den Gelben in einer Garage in der Nähe des Zielorts abstellen und bereits in Mexiko sein, wenn die Bombe hochging. Jetzt konnte er dieses Risiko nicht mehr eingehen. Er würde die Bombe selbst zünden müssen.

Bei diesem Gedanken wurde Khadri flau im Magen. Aber er schob seine Angst beiseite. Bisher hatte er immer seinen Dschihadis das Paradies versprochen. Jetzt würde er selbst erfahren, ob Allah ihn erwartete. Mit diesem Gedanken stieg Khadri aus dem Lincoln.

 

In Langley wurde Wells’ Nachricht an Joe Swygert weitergegeben, den Chef des Nachtdienstes. Die Warnung beunruhigte Swygert: Der Anrufer kannte die Prozeduren innerhalb der CIA, aber nicht die derzeitigen Codes. Außerdem ergab die Information keinen Sinn. Auf keiner der täglichen Notfalllisten, auf denen die wichtigsten aktuellen Bedrohungen aufgeführt waren, wurde ein gelber Anschlag erwähnt.

Seufzend sah er erneut auf die Meldung. Die Leute vom Servicedesk erhielten jedes Jahr mehrere solche Anrufe von Verrückten, die irgendwie die Telefonnummer herausgefunden hatten. Auch als er das CIA-Verzeichnis der dritten Geheimhaltungsstufe durchsuchte, fand er keinen John Wells. Gleichzeitig wusste er, dass das noch nicht aussagekräftig war, denn die Geheimhaltungsklassen endeten nicht bei Stufe 3.

Swygert sah auf seine Uhr: 6:32 Uhr. In drei Jahren hatte er Duto nur zweimal geweckt: einmal, als Farouk Saul von der schmutzigen Bombe erzählte, und ein zweites Mal, als ein Agent nach einem Treffen mit einem hochrangigen Maulwurf innerhalb der chinesischen Regierung bei einem verdächtigen Autounfall in Beirut ums Leben kam. Solange keine weitere wichtige Meldung eintraf, würde er weder Duto noch Shafer anrufen.

 

Khadri schlängelte sich auf der Major Deegan in südlicher Richtung durch die Bronx. Der Verkehr wurde bereits dichter: mit Gemüsekisten beladene LKWs, um die Regale der Lebensmittelläden wieder aufzufüllen, Sattelzüge von McDonald’s, auf deren Seitenflächen gigantische Big Macs aufgemalt waren. Khadri fuhr langsam. Er beabsichtigte, sein Ziel gegen acht Uhr zu erreichen. Auch wenn er lieber noch zugewartet hätte, bis sich die Gebäude im Zentrum mit Menschen gefüllt hatten, konnte er sich diese Verzögerung nicht mehr erlauben. Schon bisher hatte er einen hohen Preis für seine Arroganz gezahlt. Es war besser, früh zuzuschlagen, als geschnappt zu werden und die Chance ganz zu vergeben.

 

Um 7:03 Uhr parkte Wells seinen Ranger an einem Taxistandplatz auf der 44th Street in Manhattan, dicht an der Kreuzung mit der 11th Avenue. Er ignorierte das Hupen der Taxis, während er sich die Hände und das Gesicht mit der letzten Flasche Wasser wusch, die er in der Nacht zuvor gekauft hatte. Nun fühlte er sich nur noch krank und schwach. Seine Hustenfälle kamen mittlerweile in kürzeren Abständen. Wenn er eine Chance haben wollte zu überleben, würde er schon bald intravenöse Antibiotika benötigen, die wesentlich stärker waren als das Cipro.

»Das ist jetzt dein Auftritt«, murmelte er zu sich. Ob er Evan je wiedersehen würde? Vermutlich nicht. Aber wenn er Khadri nicht fand, würden heute viele Väter und Mütter ihre Kinder nie wiedersehen. »Pass auf ihn auf«, murmelte Wells. »Was auch immer heute geschieht, pass auf ihn auf.« Es war ihm gleichgültig, ob er zum Gott der Muslime oder der Christen betete, und vermutlich war es dem Gott selbst auch gleich.

Nachdem er sich die Red-Sox-Kappe tief ins Gesicht gezogen hatte, steckte er Ghazis Pistole in den Hosenbund und verdeckte sie mit seinem T-Shirt. Blinzelnd stieg er aus dem Auto hinaus in das trübe Morgenlicht. An den Wagen gelehnt, überlegte er, wohin er gehen sollte. Im Radio hatte er die Meldung von der Schießerei in Apartment 3C gehört, aber noch keinen Hinweis auf eine Großfahndung der Polizei, keine Straßenblockaden oder heulenden Sirenen. Offenbar war Exley noch immer bewusstlos, oder niemand hatte seinen Anruf in Langley mit dem Blutbad in dem Apartment in Verbindung gebracht. Vermutlich würden die CIA und das NYPD bald den Zusammenhang erkennen. Wahrscheinlich schon in den nächsten Stunden. Aber das war vielleicht nicht schnell genug.

Einen Augenblick lang überlegte er, ob er in die nächste Polizeistation gehen und erklären sollte, wer er war, um sie zu ersuchen, eine Fahndung nach Khadri auszuschreiben. Aber die Cops würden nicht sofort Alarm geben, nicht auf das Wort eines zerzausten Mannes von der Straße, der sich als CIA-Agent ausgab und eine Geschichte über Pest und eine schmutzige Bombe erzählte. Sein persönliches Auftauchen würde eine Alarmfahndung vielleicht nur verzögern. Vor allem, weil sich die Cops vorwiegend dafür interessieren würden herauszufinden, in welcher Weise er an der Schießerei beteiligt war. Nein. Sobald die Polizei eine öffentliche Fahndung nach ihm oder Khadri einleitete, würde er sich stellen und die Antibiotika erhalten, die er benötigte. Bis dahin würde er auf der Straße bleiben und versuchen, den Gelben zu finden, was auch immer das sein mochte.

Wohin sollte er sich wenden? Das Gebäude der Vereinten Nationen und der New Yorker Börse waren zu gut bewacht. Das Empire State Building? Das Citigroup Center? Das Time Warner Center? Grand Central Station? Dann erinnerte sich Wells, was ihm Khadri bei ihrem Treffen im Piedmont Park von Atlanta gesagt hatte: »Ist es nicht eine aufregende Stadt? Vor allem der Times Square?« Der Times Square war der einzige Ort, den Khadri je namentlich erwähnt hatte. Es war die bekannteste Adresse auf der ganzen Welt. Außerdem war sie viel leichter zu erreichen als andere Orte. Ja, der Times Square war Ground One.

Selbstverständlich könnte er sich irren. Vielleicht hasste Khadri das Empire State Building aus Gründen, die er nicht kannte. Außerdem konnte sich Wells nicht einmal sicher sein, ob der den Gelben erkennen würde, wenn er ihn sah. Aber mehr Möglichkeiten hatte er nicht. Er konnte zum Times Square gehen oder sich der Polizei stellen.

»Times Square«, sagte Wells laut. Nur vier Blocks östlich von seinem jetzigen Standort. Entschlossen drehte er sich um und ging in die aufgehende Sonne.

 

Die Cops in der 146th Street erkannten rasch, dass es sich bei dem Massaker in Apartment 3C um mehr handelte als einen verunglückten Drogendeal. Augenblicklich entsandte das NYPD Antiterroreinheiten, um das Gebäude zu durchsuchen. Das NYPD benachrichtigte auch die New Yorker Zentrale des FBI, um nachzufragen, ob dort etwas über die Männer in diesem Apartment bekannt war. Die FBI-Beamten teilten mit, dass keiner der Männer auf den zentralen Terror-Watchlists aufschien, was aber noch nichts bedeutete. Die Detectives hätten sehr gern die Frau befragt, die man im Gang gefunden hatte. Nur leider befand sie sich zurzeit im Operationssaal. Der Mann, der an den Radiator gekettet war, weigerte sich auszusagen.

Wells’ Pestwarnung wurde an die Kommandozentrale im Hauptquartier der Polizei an der Police Plaza in Manhattan weitergeleitet. Die Polizisten vor Ort wurden gewarnt und eine Spezialeinheit für Biogefahren zu dem Gebäude entsandt, um es auf Kontaminationen zu testen, was beim Eintreffen einer Bioterrorwarnung die Standardvorgehensweise war. Die Beamten im Gebäude gerieten jedoch nicht in Panik, denn falsche Bioterrormeldungen waren in New York an der Tagesordnung.

Die Biogefahreneinheit des NYPD war eine von nur sechs zivilen Einheiten in den USA, die mit einer Prüfeinrichtung für Polymerase-Kettenreaktionen ausgestattet war, die auch Pest feststellen konnte. Der Test dauerte annähernd eine Stunde.

Um 7:26 Uhr lag das Ergebnis vor. Positiv.

 

Augenblicklich trat der offizielle Schneeballeffekt ein. Das Apartment 3C wurde zu einer möglichen Bioterrorzone erklärt und das Gebäude unter Quarantäne gestellt. Niemand durfte es betreten oder verlassen. Auch die Ärzte, die die Frau aus dem Gang operierten, wurden gewarnt. Sofort wurden ihr und dem namenlosen Mann, der in Apartment 3C festgenommen worden war, Blutproben abgenommen. Die Polizei schickte einen Bericht an das FBI, die JTTF und das Weiße Haus. Da begriff Joe Swygert, der Offizier vom Dienst in Langley, dass er augenblicklich Vinny Duto ausfindig machen musste, um ihm zu sagen, dass ein Mann namens John Wells angerufen hatte.

In wenigen Minuten fügte die JTTF die einzelnen Bruchstücke zusammen und erkannte, was auf den Straßen von New York bevorstand. Um 7:41 Uhr gab sie eine polizeiliche Suchmeldung an alle diensthabenden New Yorker Polizisten und FBI-Agenten aus, die darüber informierte, dass nach konkreten Hinweisen ein Terroranschlag mit einer vermutlich verstrahlten – sprich schmutzigen – Bombe unmittelbar bevorstünde. Die genaue Liefermethode der Bombe sei unbekannt, aber gelbe Taxis, Ryder-Trucks und Frachtwägen sollten als besonders gefährlich betrachtet werden. Der Bombenleger sei ebenfalls unbekannt, könnte jedoch den Namen Omar Khadri verwenden.

Eine getrennte Suchmeldung wurde für John Wells ausgegeben – weiß, männlich, Amerikaner, einen Meter achtundachtzig groß, etwa neunzig Kilogramm, dunkle Augen und Haare –, als Zeuge eines sechsfachen Mordes in der Bronx an diesem Morgen. Hastig suchte man in Langley nach einem Foto von Wells, um es an die Polizei und Fernsehsender weiterzugeben. Die Suchmeldung warnte die Beamten, dass Wells bewaffnet und gefährlich sein könne und dass er möglicherweise mit dem Pest-Virus infiziert sei.

Augenblicklich gab der Präsident höchste Alarmstufe für das Verteidigungszentrum für biologische Kriegsführung der Army und die geheimen Spezialteams, die sich mit atomaren und radiologischen Anschlägen auf amerikanischem Boden befassten. Der Pressedienst des Weißen Hauses rief die Fernsehstationen an und ersuchte um einen Termin um 8:30 Uhr, um eine Ankündigung von höchster nationaler Bedeutung zu machen.

Trotz all dieser Aktivitäten gab es drei Probleme:

Niemand besaß ein Foto von Khadri.

Niemand wusste, was ›der Gelbe‹ war.

Und es war ohnehin zu spät.

 

Um 7:43 Uhr lenkte Khadri den Gelben von der Central Park South in die 7th Avenue. Obwohl der Verkehr nur langsam vorankam, würde ihn selbst der hartnäckigste New Yorker Stau nicht davon abhalten, sein Ziel zu erreichen. Durch die hohen rechteckigen Fenster seines Fahrzeugs sah Khadri, wie sich die Ungläubigen auf dem Weg in ihre Büros auf den Bürgersteigen drängten, um ihre Geldbörsen weiter aufzufetten.

Wenn sie wüssten, welches Schicksal sie erwartete – das Feuer, die Asche, der tödliche Rauch –, dann würden sie nicht so eifrig danach streben, noch reicher zu werden. Aber für sie war es zu spät. Er warf erst einen Blick über die Schulter zurück und dann zu dem Zünder, der unter seinen Füßen verborgen war, damit ihn niemand sah. Diese Menschen würden auf Allahs Gnade hoffen müssen, denn von ihm hatten sie keine zu erwarten.

Als die Ampel an der 85th Street auf Grün wechselte, stieg Khadri vorsichtig aufs Gas. Der Gelbe rollte los.

 

Wells lehnte sich an die Westseite des TKTS-Kiosks, der auf der Verkehrsinsel an der Nordseite des Times Squares aufgestellt war, auf der 47th Street zwischen 7th Avenue und Broadway. Nachmittags verkaufte man an diesem Kiosk Broadway-Tickets an Touristen, aber am Morgen war er geschlossen und damit der einzige leere Fleck in dem Menschenstrom, der sich zwischen der 47th und 42th Street erstreckte. Anstatt gegen die Menschenmassen anzukämpfen, würde Wells seine Kräfte schonen und an diesem Kiosk warten, von wo aus er alle Fahrzeuge überblicken konnte, die in südlicher Richtung vom Broadway und der 7th Avenue in den Times Square einfuhren.

Er wusste, dass er nicht mehr lang auf der Straße bleiben würde, und das nicht wegen der Pest in seinem Körper, sondern weil in den letzten fünf Minuten rund um ihn immer mehr heulende Sirenen von Polizeistreifen zu hören waren. Während Wells zusah, zogen zwei Cops ihre Pistolen und befahlen dem Fahrer eines Taxis auszusteigen, der vor dem Büro von Morgan Stanley an der Ecke von 47th Street und Broadway in zweiter Spur geparkt hatte. Die Nachricht war verbreitet. Bald schon würde er nicht mehr wichtig sein. Aber noch war es nicht so weit. Zitternd konzentrierte sich Wells wieder auf die 7th Avenue.

Aus irgendeinem Grund wusste er, dass Khadri in unmittelbarer Nähe war. Der Gelbe. Das musste eine Art von Fahrzeug sein, dachte Wells. Ein gelbes Taxi wäre möglich, aber etwas zu offensichtlich. Khadri hatte so selbstzufrieden gewirkt, als er ihm im Apartment davon erzählt hatte. Nein, kein Taxi und kein Truck. Ein Truck war zu groß und zu schwierig zu verbergen. Der Gelbe war etwas anderes, etwas, das groß genug war, um eine mächtige Bombe zu transportieren, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Was konnte das sein?

Eine Polizeistreife bog in die 47th Street ein und hielt vor ihm an. Die Polizisten betrachteten ihn neugierig. Schließlich rollte der Fahrer das Fenster hinunter.

»Alles in Ordnung, Kumpel? Du siehst ein wenig mitgenommen aus.«

»Alles in Ordnung«, gab Wells zurück, während er sich bemühte, nicht zu husten.

 

50th Street … 49th Street … 48th Street …

Während Khadri den Gelben nach Süden steuerte, klammerte er sich mit beiden Händen am Lenkrad fest, um seinen Adrenalinspiegel unter Kontrolle zu halten. Der Verkehr schob sich nun schon so langsam vorwärts, dass die Fußgänger auf den Bürgersteigen gleich schnell waren wie er. Aber das war ihm gleichgültig. Nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten. Seine Hände zitterten, jedoch nicht vor Angst. Vermutlich sollte er sich fürchten, aber er fühlte nichts als Erregung. Die Welt würde sich noch lange an diesen Tag erinnern.

 

An der Ecke von 47th Street und 7th Avenue kam der Verkehr vollständig zum Stillstand. Drei schwarze Lincoln-Limousinen, ein UPS-Lieferwagen, ein Range Rover, ein alter Volkswagen Jetta und ein kleiner Schulbus – den die Kinder in Montana ›Zwerg‹ nannten. Der Bus war leer bis auf den Fahrer, und trotzdem saß er tief auf den Rädern, als würde er eine schwere Last transportieren.

Als Wells erneut hinübersah, begriff er. Khadri. Dieser Ironiker. Natürlich. Niemand würde sich zweimal nach einem Schulbus umblicken.

Der Gelbe stand als Zweiter an der Ampel auf der Westseite der 7th Avenue, hinter einem Lincoln. Vielleicht zwanzig Meter entfernt. Drei Sekunden, wenn er rannte. Zehn, wenn er ging. Wells zog die Kappe tief ins Gesicht und ging nach Osten auf die 7th Avenue zu. Khadri hatte recht behalten, dachte er: Sie würden einander wiedersehen, aber nicht im Paradies, sondern auf dem Times Square.

»Hey, Kumpel«, rief ihm der Cop nach. Aber Wells ging unbeirrt hinter dem Streifenwagen vorbei und durch die Taxis hindurch, die sich auf der 47th langsam weiterschoben.

Fünfzehn Meter. Ein schwerer Hustenanfall schüttelte ihn, ohne dass er auch nur versuchte, ihn zu verhindern. Wenn er diesen Bus nicht erreichte, würden die Menschen um ihn bald größere Probleme haben als die Pest.

»He, ich rede mit dir«, rief ihm der Cop immer noch freundlich hinterher.

Als Wells die Nordseite der 47th Street erreichte, wandte er sich nach rechts quer durch die Trauben von Männern in Anzügen, die nach Westen eilten, zum Bürogebäude von Morgan Stanley. Zehn Meter. Noch immer nicht nahe genug. Der Zünder lag sicher auf Khadris Schoß.

Wells griff nach der Pistole in seinem Hosenbund, hielt sie aber unter seiner Jacke versteckt.

Ein Blick über die Schulter sagte ihm, dass die Cops aus dem Streifenwagen stiegen. Nun begann er, auf den Bus zuzulaufen.

Sieben Meter. »Stopp!«, brüllte einer der Cops, aber die gewaltige Hupe eines UPS-Trucks übertönte seine Stimme. Nun konnte er Khadri auf dem Fahrersitz des ansonsten leeren Busses erkennen. Er saß gerade, mit hochgestrecktem Kopf, als könnte er schon das Paradies sehen.

Drei Meter.

 

Nur noch ein paar Sekunden, sagte sich Khadri. Dann würde die Ampel auf Grün schalten, und er würde noch zwei Blocks weiterfahren, bis ins Zentrum des Platzes bei der 45th Street … dort wäre sein Werk vollendet. Nur noch ein paar Sekunden. Zwei Blocks. Der Zünder lag zu seinen Füßen. Er gestattete sich nicht, ihn zu berühren, damit er nicht der Versuchung erlag, ihn zu früh zu drücken. Diese Mission sollte perfekt sein.

Dann entdeckte er den Mann mit der Red-Sox-Kappe, der mit einer Pistole in der Hand auf den Bus zulief.

Khadri schrie in animalischer Wut auf und griff nach dem Zünder ...

 

Wells’ erster Schuss durchschlug seine Brust und schleuderte ihn gegen das Fenster. Khadri fühlte keinen Schmerz sondern nur unendliche Wut. Er würde nicht zulassen, dass ihm die Kafirs dies wegnahmen. Noch einmal beugte er sich nach dem Zünder, der ihm so nahe war. Aber Wells stürmte unbeirrt auf ihn zu. Als er die Tür des Schulbusses mit dem Fuß aufstieß und in den Bus sprang, wusste Khadri, dass er versagt hatte.

Wells beugte sich über ihn, sodass sein heißer, fiebriger, verseuchter Atem Khadris Gesicht berührte. Da wusste Khadri, dass Wells der Engel des Todes war. Während er sich noch bemühte, wütend zu bleiben, holte ihn der schwarze Wind ein, und er schloss die Augen. Blut tropfte aus seinem Mundwinkel. Nach einem letzten qualvollen Rasseln in seiner Brust starb er.

Wells fühlte die Kugel, noch ehe er den Schuss hörte. Die Muskeln in seinem Rücken schienen zu explodieren. Er wirbelte herum und stürzte auf Khadri. Die Cops. Sie erledigten nur ihren Job. Sie schnappten den Bösewicht. Zumindest glaubten sie das. Nein. Er musste leben. Er war zu weit gekommen, um jetzt zu sterben. Auch er hatte seinen Job erledigt. All die Jahre in der Wildnis. Er versuchte, die Hände zu heben, aber die Anstrengung war zu viel für ihn.

Wells fühlte, wie sein Blut, sein heißes, verseuchtes Blut, in Schüben seinen Rücken hinunterlief. Als er die Augen schloss und die Welt um ihn schwarz wurde, galt sein letzter Gedanke Exley.