12
Als Wells die Tür zu seinem Apartment öffnete, sah er, dass Sami sein Arsenal von Pistolen und Messern auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte, wie eine Einladung, auf die man eine Antwort erwartete. Abgesehen davon schien die Wohnung unberührt zu sein, was Wells nicht überraschte. Immerhin war Sami als ehemaliger jordanischer Polizist ebenfalls ein Profi wie Qais.
»Wollen wir das Maghrib gemeinsam beten?«, fragte Wells, wobei er das arabische Wort für das Abendgebet verwendete.
»Was ist mit deinen Nachbarn?«, erkundigte sich Qais. Durch die Wände hörte man, wie in dem dröhnenden Fernseher in der Nachbarwohnung die Scherze monoton in aufgenommenes Gelächter übergingen.
»Wendell ist fast achtzig und halb taub«, sagte Wells. »Solange wir leise sind, ist es kein Problem.«
Sobald er den Teppich ausgelegt hatte, sprachen die drei Männer gemeinsam das Abendgebet. Danach aßen sie. Auf dem Weg nach Hause hatte Wells an einem 7-Eleven angehalten und vorbereitete Sandwiches und große Becher Kaffee gekauft. Er war ausgehungert, und Qais und Sami vermutlich auch. Dennoch bereitete ihm der abgestandene Truthahnsandwich kein Vergnügen, denn er wusste, dass der Countdown lief, noch während er kaute. Nachdem er den letzten Bissen geschluckt hatte, sah er auf die Uhr. Neun Uhr. Ihm blieben noch vier, bis längstens sechs Stunden. So angestrengt er auch nachdachte, er fand keinen Ausweg. Einerseits durfte er West nicht töten, andererseits wusste er, dass ihm Khadri nie vertrauen würde, wenn West am Leben blieb.
Mit einer Vorbereitungszeit von einer Woche – selbst ein Tag hätte genügt – hätte er Exley warnen können. Dann hätten die CIA und FBI selbst eine Falle aufgestellt. Sie hätten Qais und Sami geschnappt und Wells laufen gelassen. Vermutlich hätten sie verkündet, dass Qais und Sami im Haus umgekommen waren und West erschossen oder verwundet worden war. Khadri hätte das akzeptieren müssen, da er es in keiner Weise prüfen konnte.
Aber jetzt konnte Wells nicht einmal West warnen. Qais und Sami würden ihm die ganze Nacht über auf Schritt und Tritt folgen. Auch sie wussten, dass diese Mission einzig dazu diente, Wells’ Loyalität auf die Probe zu stellen. Selbstverständlich könnte er Qais und Sami gleich hier töten. Aber dann würde er sämtliche Informationen verlieren, über die sie vielleicht verfügten, und die Spur zu Khadri würde enden. Da war es besser, er übergab sie den Behörden. Allerdings war das nicht so einfach. Immerhin würden sie nicht tatenlos zusehen, wenn er jetzt zum Telefon griff, um die Notrufnummer 911 anzurufen.
Wells fragte sich, ob er Wests Tod nicht einfach zulassen, vielleicht selbst den Abzug drücken sollte, wenn Qais es von ihm verlangte. Dies war ein Krieg, und West war einst Soldat gewesen. Und nicht bloß irgendein Soldat, sondern General. Mit knapp siebzig Jahren hatte er ein volles Leben gelebt. Vielleicht verstand er es ja sogar.
Sofort verwarf Wells diesen Gedanken wieder. Er musste sicherstellen, dass West die Nacht überlebte. Sowohl zu seinem Besten als auch zu dem des Generals. Es gab Grenzen, die durfte er nicht überschreiten. Er durfte nicht jene Menschen ermorden, deren Schutz ihm anvertraut war. Er durfte nicht Gott spielen und einen seiner Landsleute opfern in der Hoffnung, andere dadurch zu retten. Nein. Er musste West retten, ohne dass seine Tarnung aufflog, für die er so lang gearbeitet hatte.
Wie sehr er auch nachdachte, ihm fiel nichts ein. 911 anrufen? Unmöglich. Qais erschießen? Unmöglich. West erschießen? Unmöglich. West warnen? Unmöglich. Exley anrufen? Unmöglich. 911 anrufen? Unmöglich …
Als Sami eine Karte von Buckhead auf dem Tisch ausbreitete, konzentrierte er sich wieder auf das, was in der Küche geschah. Rechtlich gehörte die Region an der Nordwestecke der Stadt zu Atlanta. In Wirklichkeit war Buckhead ein luxuriöser Vorort, wo die bessere Gesellschaft in weitläufigen Häusern wohnte, die von der Straße durch eine mit Bäumen gesäumte Auffahrt getrennt waren. Wells hatte in dieser Gegend oft als Gärtner gearbeitet.
»Hier ist es«, sagte Sami und deutete auf einen roten Aufkleber, kaum einhundert Meter von der Kreuzung von Northside Drive und Mount Vernon Road entfernt.
Qais zog einen braunen Ordner aus seinem Laptopkoffer. »Dem Grundbuch zufolge hat er das Anwesen im Jahr 2001 für 2,1 Millionen Dollar gekauft«, erklärte er. »Drei Etagen mit einem Gästehaus daneben.«
»Für 2,1 Millionen Dollar? Dann zahlt die Armee besser, als ich mich erinnere. Haben wir Fotos von ihm?«
Qais legte Fotos von West vor, die aus dem Internet stammten. Wells erkannte den General sofort: ein großer, kahlköpfiger Mann mit dicken, wulstigen Lippen und unzähligen Falten auf der Stirn. »Woher wissen wir, dass er heute Nacht zu Hause ist?«
Qais sah auf ein anderes Papier. »Er wird zu Hause sein. Heute Abend wird er bei einem Galadinner in einer Stadt namens Roswell von der Georgia Defense Contractors Association eine Auszeichnung für seine beruflichen Leistungen erhalten.«
»Das liegt nördlich von hier.«
»Und morgen Nachmittag hält er im City Club im Zentrum von Atlanta eine Rede. Er wird zu Hause sein.«
Wells konnte keine Einwände vorbringen. »Wie steht es mit Leibwächtern?«
»Er hat nur einen«, informierte Sami.
»Bist du sicher?«
»Ich habe ihn beobachtet. Wenn er in seinem Jimsy ausfährt« – das war arabischer Slang für einen GMC Suburban – »dient ihm sein Leibwächter als Fahrer. Er schläft auch im Haus.«
»Vermutlich eher im Gästehaus«, sagte Qais.
In Wells’ Bewusstsein blitzte ein noch unvollständiger Plan auf. Vielleicht gelang es ihm doch, Qais und Sami zu trennen.
»Ja«, stimmte er zu. »Vermutlich im Gästehaus.« Dann wandte er sich an Sami. »Bist du sicher, dass West nicht mehr Sicherheitsleute hat?«
»Ich habe immer nur den einen Leibwächter gesehen.«
Offenbar hatte Khadri tatsächlich die Absicht, dass alle überlebten, dachte Wells. Einerseits überraschte es ihn, dass West so wenig abgesichert war, andererseits war er schon seit längerem im Ruhestand, wo ihn wohl seine Anonymität am besten schützte.
»Das Haus hat rundum einen Zaun mit einem Einfahrtstor«, erklärte Sami. »Diese Fotos habe ich letzte Woche aufgenommen. « Dabei breitete er einige Fotos auf dem Tisch aus. Der Zaun bestand aus einer Ziegelsteinmauer mit niedrigen verzierten Spitzen darauf. Auf einem Hügel etwa dreißig Meter dahinter stand ein großes georgianisches Haus. Eine Auffahrt trennte das Haus vom Gästehaus. Sami deutete auf den Zaun.
»Er ist nur zwei Meter hoch und hat keinen Stacheldraht. «
»In Buckhead sicher nicht«, sagte Wells. »Die Nachbarn würden es nicht zulassen. Wie groß ist das Anwesen?«
»Einhundertzwanzig Meter lang und sechzig Meter breit.«
Etwas weniger als einen Hektar groß, rechnete Wells im Geist. »Groß genug, um ungestört vorzugehen«, sagte er. »Wie steht es mit Hunden?«
»Ich glaube, er hat einen Hund. Zumindest habe ich mehrmals einen Hund bellen gehört.«
Wells schüttelte den Kopf. Hunde stellten ein echtes Problem dar, denn sie bedeuteten Lärm. »Ist er verheiratet? Hat er Familie?«
»Er ist geschieden«, antwortete Qais. »Etwa ein Jahr nach seiner Pensionierung. Seine Frau lebt in Houston.«
»Hat er nur eine Frau?«, scherzte Wells.
Qais lächelte. »Nur eine.«
Gut. Dadurch verringerte sich die Gefahr, Fehler zu machen. »Khadri will, dass es heute geschieht? Muss es wirklich heute Nacht sein?«
Qais nickte. »Er hat gemeint, du würdest es verstehen.«
»Ich verstehe es«, gab Wells nickend zurück.
»Ich kenne diese Gegend von meiner Arbeit als Gärtner«, sagte er, wobei er auf die Karte deutete. »Die Region wirkt ruhiger, als sie ist. Die Mount Vernon ist eine breite Straße mit viel Verkehr. Wir können einen Abschneider quer durch die Gärten nehmen und das Grundstück auf diesem Weg auch wieder verlassen, wenn es sein muss. Dann kommen wir noch rechtzeitig zurück, um ein paar Stunden zu schlafen, ehe Qais wieder nach Detroit fliegt.«
Zwei Stunden lang besprachen sie die Einzelheiten der Mission. Wells hätte gern mehr Zeit und viel mehr Informationen gehabt, um zu planen. Zum Beispiel einen Grundriss des Hauses, um zu wissen, wo West schlief. Angaben darüber, wie viele Polizeiwagen und private Sicherheitsdienste in diesem Viertel patrouillierten und auf welchen Routen. Ob West eine Waffe besaß, und wenn ja, wo er sie aufbewahrte. Stattdessen wusste er nicht einmal, ob das Haus über eine Alarmanlage verfügte und ob diese mit dem Zaun verbunden war. Sie würden schnell vorgehen und das, was ihnen an Informationen und Feuerkraft fehlte, mit Geschwindigkeit wettmachen müssen. Außerdem mussten sie bereits fort sein, wenn die Polizei eintraf, um sie festzunehmen. Wells ging davon aus, dass ihnen ab ihrem Eintreffen beim Haus höchstens fünf Minuten Zeit blieben, selbst wenn das Haus über keine Alarmanlage verfügte. Deshalb sollten sie mit drei Minuten rechnen. Wenn die Gegenspieler mit großem Aufgebot auffuhren, war eine Flucht praktisch unmöglich. Vor allem in feindlichem Gebiet wie in Buckhead.
»Sobald wir Sirenen hören, ziehen wir uns zurück«, sagte Wells. »Augenblicklich.«
Langsam führte Wells Qais und Sami an seinen Plan heran und überließ es ihnen, die Einzelheiten auszuarbeiten, damit sie nicht merkten, wie viel davon von ihm stammte.
»Es reicht«, sagte Qais schließlich. »Ich habe schon das Gefühl, wieder in eurem FBI zu sein. Außerdem wissen wir alle, dass jeder Plan nutzlos wird, sobald wir drin sind. Das ist immer so.«
»Stimmt«, bekräftigte Wells, »aber wir sollten zumindest so tun, als würde er funktionieren.« Abgesehen von seiner persönlichen Situation gefielen ihm die beiden Männer. Und wenn sie morgen auf dem Flug nach Guantanamo aufwachten, müssten sie sich selbst die Schuld dafür geben.
Sami hatte für sich und Qais schwarze Pullover und Hosen gekauft, ähnlich wie die Kleidung, die Wells in dem Armeeladen erworben hatte.
»Wir sehen aus wie eine Pantomimetruppe«, scherzte Wells, sobald sie sich umgezogen hatten.
»Eine Pantomimetruppe?«, fragte Sami.
»Wie diese Jungs, die ausschließlich Schwarz tragen und … ach, vergiss es.«
Sami hatte auch eigene Waffen mitgebracht: Pistolen Kaliber .45 mit Schalldämpfern, sowie eine H&K-Maschinenpistole, die im Grunde ein Maschinengewehr mit gekürztem Lauf und einem 32-Schuss-Magazin war. Die H&K war ungenau und protzig, aber gleichzeitig eine Waffe mit hässlicher Wirkung. Außerdem konnten Dschihadis Maschinenpistolen nicht widerstehen, erinnerte sich Wells. Sie hatten wohl zu viele Filme gesehen. Die Pistolen Kaliber .45 waren ein guter Fang, denn sie feuerten Spezialpatronen mit Unterschallgeschwindigkeit ab, sodass sie mit einem zusätzlichen Schalldämpfer so leise waren, wie eine Waffe nur sein konnte.
Wells hakte nicht nach, woher Sami die Waffen hatte. Da sie brandneu aussahen, fragte er sich einen Augenblick lang, ob vielleicht die CIA hinter der Mission steckte, um mit diesem verrückten Plan seine Loyalität zu prüfen. Vielleicht erwartete ihn nicht West, sondern Vinny Duto in dem Haus.
Aber Khadri selbst hatte Qais und Sami zu ihm geschickt, und wenn Khadri ein Maulwurf für die USA war, hätten sie Bin Laden schon längst festgenommen und die Al-Quaida zerstört. Nein. Die Waffen waren echt, sie waren geladen, und West war allein in diesem Haus. Wenn es Wells nicht gelang, ihn zu retten, würde er heute Nacht sterben.
Sie würden beide Autos nehmen, den Ranger und den Lumina, von dem Qais versicherte, dass er nicht zu ihnen zurückverfolgt werden konnte, falls sie ihn stehenlassen mussten. Sami hatte ihn sorgfältig geputzt, um alle Fingerabdrücke zu entfernen. Um nicht auf den ersten Blick aufzufallen, wenn sie von einem Streifenwagen aufgehalten würden, legten sie die Pistolen und Schimasken in den Kofferraum des Lumina. Allerdings war Wells der Ansicht, dass jeder Cop einen Vorwand finden würde, um in den Kofferraum zu sehen, wenn er nach Mitternacht in Buckhead auf drei wie ein SWAT-Team gekleidete Männer stieß, von denen zwei Araber waren.… Vermutlich war es das Beste, vorsichtig zu fahren.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte Wells zu Sami. »Kein Wettrennen. «
»Nam. Verstanden.«
Dann beteten sie noch einmal und riefen Allah an, dass er sie segnen möge und ihnen Gelegenheit geben möge, den Zorn des Islams über den ungläubigen General zu bringen. Wells hoffte, dass Allah diesem gemeinsamen Gebet ebenso wenig Aufmerksamkeit schenkte, wie seinen eigenen Gebeten am Grab seiner Eltern.
Kurz vor ein Uhr nachts fuhren sie los. Wells und Qais im Pick-up und Sami dahinter im Lumina. Trotz der Gefahr – oder vielleicht gerade deshalb – lagen Wells’ Hände ruhig auf dem Lenkrad, und er atmete langsam und gleichmäßig. Wie er in diese Lage gekommen war, war nun einerlei. Auch er als Person war jetzt unwichtig. Nun zählte nur noch die Mission.
Sie fuhren über die I-285 nach Westen. Bis auf die Sattelschlepper, die durch die Nacht jagten, war der Highway nahezu leer. Dann ging es auf der Mount Vernon nach Südwesten, auf der Powers Ferry nach Südosten und auf der Mount Paran wieder nach Südwesten. Mit jeder Richtungsänderung nahm der Verkehr ab, bis sie völlig allein waren. Schließlich zogen sie noch eine langsame Schleife um den Block, auf dem das Anwesen des Generals lag, um nach Sicherheitsstreifen und Häusern Ausschau zu halten, bei denen zu viele Lichter brannten, Hunde bellten, oder Ehemänner brüllten. Aber die braven Bürger von Buckhead schliefen alle oder gaben vor zu schlafen.
Wells sah auf die Uhr. 1:33 Uhr. Eine bessere Gelegenheit gab es nicht.
»Jetzt«, sagte er zu Qais.
»Jetzt.«
Nachdem Wells als vereinbartes Zeichen die linke Hand aus dem Fenster gestreckt hatte, parkte er den Pick-up vor einem halb fertigen Ziegelhaus um die Ecke von Wests Haus. Aus dem Kofferraum des Lumina nahmen sie die Waffen und Masken. Wells griff nach seiner Glock und einer mit einem Schalldämpfer versehenen 45er für Sami; Qais schnappte sich die andere 45er und die H&K. Dann stiegen sie in den Chevy, rollten um die Ecke und hielten vor Wests Haus.
Sami stellte die Schaltung auf Parkstellung, ließ aber den Motor laufen. Dann zogen sie die Masken und Handschuhe an. Schließlich steckte sich Wells die Glock in das Holster an der Hüfte, während sich Sami die H&K wie der Bösewicht in einem Steven-Seagal-Film über die Brust hängte. »Fünf Minuten Maximum«, sagte Wells. »Und wenn wir Sirenen hören, sind wir augenblicklich draußen.«
»Wissen wir«, gab Qais zurück.
»Nam.«
Wells sah auf die Uhr: 1:34:58 … 1:34:59 … 1:35:00.
»Allahu akbar«, sagte Wells. »Los!«
Rasch stiegen sie aus dem Wagen, schlossen leise die Türen und rannten zum Zaun.
Wells erreichte ihn als Erster. In einer einzigen fließenden Bewegung zog er sich hoch, schwang sich darüber und landete nach dem Sprung geschmeidig am Boden. Falls der Zaun tatsächlich einen Alarm auslöste, dann zum Glück nur einen stillen Alarm. Dadurch würden die Nachbarn ein paar Sekunden länger schlafen. Qais folgte schnell, nur Sami wurde vorübergehend gestoppt, als sich seine H&K am oberen Rand des Zauns verfing, was in Filmen nie geschah.
Der Rasen war so saftig grün und perfekt geschnitten wie ein Footballfeld vor dem ersten Spiel der Saison. Wells sah sich im Garten nach einem Hund um, aber der Rasen war leer. Dann hörte er das Bellen. Je weiter Wells auf das große weiße Haus zurannte, umso lauter wurde es.
Als er nach dem Knauf an der Eingangstür griff, sah er wieder auf die Uhr: 1:35:20. Er würde sich fünfzehn Sekunden Zeit geben, um das Schloss zu knacken. Wenn es ihm nicht gelänge, würden sie ein Fenster einschlagen. Aber sobald er den Knauf drehte, öffnete sich die Tür von selbst. Sie war unversperrt. Seltsam, aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Hund bellte mittlerweile schon unablässig, und so wie er klang, war er groß und direkt hinter der Tür. Sie würden sich schnell um ihn kümmern müssen.
Qais erreichte gerade in dem Augenblick die Veranda, als sich Sami endlich vom Zaun befreien konnte. Diese Verzögerung war Wells nur recht. Sami lief den Hügel empor, aber vom Haus weg zum Gästehaus, wie sie geplant hatten.
»Der Hund«, sagte Wells. Qais nickte bloß und hob die Pistole, während Wells den Türknopf drehte und die Tür mit einem Fußtritt aufstieß.
Augenblicklich sprang ein großer massiger Rottweiler mit weit geöffnetem Maul auf Qais zu. Dieser schoss den Hund erst in die Brust und versetzte ihm dann einen Fausthieb. Winselnd sprang der Hund noch einmal hoch, um sein Revier zu verteidigen. Diesmal schoss ihn Qais zwischen die Augen. Das große Geschoss zerschmetterte den Schädel des Rottweiler. Haarbüschel, Gehirn und Blut verteilten sich auf der Veranda. Im nächsten Moment brach der Hund nieder und war still. Qais Augen glitzerten hinter der schwarzen Maske.
Mit einem großen Schritt stiegen die Männer über den Kadaver des Hundes und betraten das Haus. Sofort schloss Wells die Tür. Es dauerte einen Moment, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Als sich Qais zu Wells umdrehte, holte Wells gerade zu einem Schlag mit der schweren Glock aus, die er am Lauf hielt. Qais versuchte noch, die Hand hochzureißen, um den Schlag abzufangen, aber die Glock kam zu schnell. Der Griff der Waffe traf seine Schläfe direkt neben dem Auge, wo der Schädel am weichsten war.
»La«, stieß Qais hervor – »nein« – ehe sein Gesicht schlaff wurde. Doch obwohl er schwankte, ging er nicht zu Boden.
Deshalb versetzte ihm Wells einen weiteren Hieb auf dieselbe Stelle. Diesmal fühlte er, wie die Pistole den Knochen durchbrach. Qais stieß denselben röchelnden Laut aus wie zuvor der Hund. Taumelnd verlor er das Bewusstsein, noch ehe er auf dem Boden aufschlug.
Wells’ Plan war einfach: die Dschihadis trennen. Anschließend Qais ausschalten, möglichst ohne ihn zu töten, damit er noch verhört werden konnte. Dann Sami ausschalten, ehe dieser Wests Leibwächter erreichte. Schließlich den Leibwächter entwaffnen, bevor er zu schießen begann, und West ausfindig machen, um ihm zu erklären, was hier geschehen war. Danach blieb ihm nur noch, Exley anzurufen und ihr alles zu erzählen. Die CIA sollte eine Geschichte konstruieren, die Khadri überzeugte, dass Qais und Sami während des Angriffs gestorben waren, und vielleicht sollte sie sogar Wests Tod vortäuschen. All dies musste geschehen, ehe die Polizei von Atlanta hier auftauchte und ihm den Kopf wegblies.
›Einfach‹ war vielleicht nicht das richtige Wort. Aber dieser Plan war das Beste, was ihm unter den gegebenen Umständen eingefallen war, und bisher hatte er funktioniert. »FBI!«, rief Wells die Treppe empor in der Hoffnung, dass West nicht die Nerven verlor und herunterschoss. Oder schlimmer noch, an einem Herzinfarkt starb.
»FBI! Bitte bleiben Sie ruhig, General …«
Keine Antwort.
»General …«
Im Haus blieb es still. Vielleicht verbarg sich West in seinem Schlafzimmer und rief gerade die Polizei an … allerdings erwartete Wells so etwas nicht von einem Drei-Sterne-General, nicht einmal, wenn er alt genug war, um Sozialhilfe zu empfangen. Egal, dachte Wells, ich muss weiter. Damit wandte er sich um und lief auf das Gästehaus zu.
Während er den Rasen querte, hörte er aus dem Gästehaus das Rattern von Samis H&K. Ein halbes Dutzend Schüsse, dann eine Pause und noch ein halbes Dutzend Schüsse, die in der feuchten Nacht Georgias widerhallten.
Als er wenige Sekunden später im Gästehaus eintraf, grinste ihn Sami breit an, während er die Maschinenpistole lässig in den Händen hielt. In den benachbarten Häusern leuchteten die ersten Lichter auf. So viel zu seinem Plan.
»Sami …«
»Das glaubst du nie«, sagte Sami auf Arabisch. »Wo ist Qais?«
»Im Haus, er sucht nach West.«
»Sieh dir das an«, sagte Sami zu Wells, während er sich zum Gästehaus umwandte.
Wells folgte seiner Aufforderung.
Sami hatte recht. Das hätte Wells nie geglaubt. Selbst in seinen kühnsten Fantasien hätte er nie so etwas erwartet. Beide waren da. Kein Wunder, dass die Eingangstür unverschlossen war. Kein Wunder, dass es im Haus still geblieben war. Und kein Wunder, dass sich Wests Ehefrau scheiden ließ, als er in den Ruhestand trat.
Ein Dutzend Kugeln aus der H&K hatten bei West und dem Leibwächter eine ganze Menge Schaden angerichtet. Allerdings nicht genug, um zu verschleiern, was vor Samis Eintreffen im Gästehaus geschehen war. Der Leibwächter lag nackt quer über dem Bett. Ein eingecremtes Kondom war über die Spitze seines schlaffen Penis gestülpt. West trug ein mit Nieten besetztes ledernes Hundehalsband und etwas, das wie ein Lederkorsett aussah. Einer seiner Arme war mit Handschellen an das Bett gefesselt, der andere hing seitlich schlaff herunter. Offensichtlich hatte der Leibwächter noch versucht, ihn loszumachen, als Sami eintraf. Aber er war gescheitert. Und Wells ebenso.
Wieder sah Wells auf seine Uhr: 1:36:43. Das war jetzt nicht mehr wichtig. West war tot. Der Leibwächter war tot. Er würde nie imstande sein, der Polizei zu erklären, was hier geschehen war. Er würde allerdings auch Sami nie erklären können, was mit Qais geschehen war. Ihm blieb nur ein Ausweg aus diesem Schlamassel, und er hatte keine Zeit zu verlieren. Als er aus dem Gästehaus trat, drehte sich Sami zu ihm um.
»Kannst du …«
In dem Augenblick hob Wells die Glock und erschoss ihn. Einmal in die Brust und einmal in den Kopf, zur Sicherheit. Die H&K ließ er, wo sie lag, und griff stattdessen nach Samis Pistole. Ein guter Schalldämpfer könnte nützlich sein.
Während in der Ferne bereits Sirenen zu hören waren, rannte Wells zum Haus zurück. Er musste Qais erledigen. Qais wusste, dass er die Al-Quaida verraten hatte, und würde ihm die Schuld für diese Morde zuweisen, damit sich die CIA an seine Fersen heftete. Vermutlich würde die CIA irgendwann erkennen, dass Qais sie täuschte, aber nicht, wenn er klug genug war, immer nur kleine Einzelheiten über Wells preiszugeben, so als wollte er ihn wirklich beschützen. Nein, das durfte Wells nicht riskieren. Qais musste sterben.
Wieder stieg Wells über den toten Rottweiler. In der Eingangshalle lag Qais noch immer bewusstlos auf dem Boden, wie Wells ihn zurückgelassen hatte. Während er auf ihn hinabsah, stöhnte Qais kaum vernehmbar, als hätte er sein Schicksal bereits akzeptiert. »Inschallah«, sagte Wells leise.
Dann schoss er Qais einmal mit der 45er Pistole in den Hinterkopf. Ein schwaches Pop. Noch ein Mann tot. Schließlich tat Wells etwas, das er hasste. Er drehte Qais auf den Rücken und zielte mit der 45er direkt auf sein Gesicht. Nachdem er einen Schritt zurückgetreten war, damit das Blut seine Hose nicht befleckte, drückte er immer wieder ab, bis Qais’ Nase, Mund und Augen nur noch eine blutige Masse waren. Ein unkenntlicher Brei. Wells nahm an, dass ihn die Überwachungskameras auf dem Flughafen Hartfield gemeinsam mit Qais zeigten, und dass die Polizei diese Bänder so schnell wie möglich prüfen würde. Aber da Qais keinen Ausweis bei sich trug, hatte Wells nun dafür gesorgt, dass die Bänder der Polizei nicht viel nützten.
Während die Sirenen lauter wurden, lief Wells durch das Haus in die an der Rückseite gelegene Küche. Sobald er die Küchentür geöffnet hatte, sprintete er durch den Garten hinter dem Haus, zog sich am Zaun hoch und landete auf dem Kies hinter dem halb fertigen Ziegelbau.
Mit einer schnellen Bewegung zog er sich die Schimütze vom Kopf. Dann rannte er um das unfertige Haus herum und über die Auffahrt zu der Straße zurück, wo er den Pick-up geparkt hatte. Die Häuser auf dieser Seite waren noch dunkel. Ein glücklicher Zeitgewinn. In seinem Ranger setzte er sich die Red-Sox-Mütze auf und fuhr davon. Als er auf die Mount Vernon einbog, kam ihm eine Polizeistreife mit Blinklicht und heulender Sirene entgegen. Im Vorbeifahren musterte ihn der Polizist aufmerksam, ohne jedoch langsamer zu werden. So fuhr Wells frei in die Nacht hinaus.
Am Küchentisch in seinem Apartment versuchte Wells, das leichte Zittern seiner linken Hand unter Kontrolle zu bringen. Jetzt, wo der Adrenalinstoß nachließ, fühlte er sich einfach nur müde. Jenseits der Müdigkeit. Erschöpft bis auf die Knochen.
Im April hatte er dem Vernehmungsbeamten des Lügendetektortests gesagt, dass er sich nicht mehr erinnerte, wie viele Männer er getötet hatte. Das war gelogen. Er erinnerte sich an jeden Einzelnen. Jetzt musste er seiner Liste zwei weitere hinzufügen. Seine Gedanken wanderten zu dem ersten Hirsch zurück, den er vor vielen Jahren geschossen hatte. Nein, er hasste es nicht zu töten. Er war es leid. Er war es leid, darin gut zu sein. Er war es leid zu wissen, dass er es wieder würde tun müssen. Viel zu lange schon war er vom Tod umgeben.
Während er sich zwang, nicht mehr an den Tod zu denken, ballte er die Faust. Als er sie wieder öffnete, zitterte sie nicht mehr. Er durfte sich nicht die Schuld für die Geschehnisse dieser Nacht geben. Khadri hatte ihn in eine unlösbare Situation gebracht, und er hatte seine Karten so gut ausgespielt, wie er nur konnte. Er konnte nicht wissen, dass West bei seinem Leibwächter sein würde. »Niemals fragen, niemals etwas sagen«, murmelte er in der leeren Küche, während ein hässliches Lächeln über sein Gesicht glitt.
Kurz hatte er daran gedacht, Exley anzurufen, sich zu stellen und zu versuchen, alles zu erklären. Aber das war unmöglich. Die Dinge waren heute Nacht zu weit gegangen. Er war in die Ermordung eines Drei-Sterne-Generals verwickelt. So etwas ließ sich nicht unter den Teppich kehren. Selbst wenn ihm die CIA glaubte, hätte sie keine andere Wahl, als ihn einzusperren, oder ihn einfach verschwinden zu lassen. Nein, er konnte seinen Namen erst reinwaschen, wenn er ihnen Khadri brachte, tot oder lebendig. Nichts anderes würde ihn vor der CIA retten. Und nichts anderes würde ihn vor sich selbst retten. All dieses Töten musste einen Sinn haben.
Schnapp dir den Bösewicht, rette das Land, hol dir die Frau. So einfach war es.
»Ja, ich bin wieder auf dem richtigen Weg«, sagte er laut zu dem leeren Raum.
Ein Gutes hatte die Sache: Den Cops und dem FBI würde es größte Mühe bereiten herauszufinden, was heute Nacht geschehen war, dachte Wells. Außerdem würden sie darauf achten, keine Einzelheiten über die Morde an die Medien weiterzugeben, um nicht Wests Ruf zu zerstören.
Khadri würde also nur erfahren, dass Qais und Sami neben West und dem Leibwächter gestorben waren. Dadurch würde er Wells nicht mehr vertrauen als zuvor, aber auch nicht weniger. Vermutlich würde er bald von Khadri hören oder nie wieder. Und seine nächste Mission – sofern es eine nächste Mission gab – würde kein Testlauf sein. Als er Khadri heute im Park getroffen hatte, wirkte er, als würde ihm die Zeit davonlaufen.
Wells wusste nur allzu gut, wie sich Khadri fühlte.