5
»Es war ein Fehler«, wiederholte Wells. »Ich habe einen Fehler gemacht.«
Exley, Shafer und Duto saßen ihm gegenüber an einem Konferenztisch in einem kleinen, fensterlosen Raum, der nicht ganz dem üblichen Bürostandard entsprach. So gab es zum Beispiel keine Uhr, dafür starrte aus jeder Ecke eine Kamera, die bewusst sichtbar angebracht war, und die Wände waren mit einer schalldämmenden Polsterung ausgekleidet. Theoretisch diente die Polsterung dazu, jeden Versuch zu vereiteln, Gespräche zu belauschen, die in diesem Raum geführt wurden. In der Praxis signalisierten sie dasselbe wie die Kameras in der Ecke. Wells dachte: Das ist ein ernst zu nehmender Raum und du steckst in ernsten Schwierigkeiten. Etwas abseits an der Wand saß ein Mann im Anzug. Auch wenn er sich nicht vorgestellt hatte, hielt ihn Wells für einen Rechtsanwalt. Welche Aufgabe der halslose Sicherheitsbeamte in Zivilkleidung hatte, dessen Hand auf der Glock an seiner Hüfte lag, musste Wells nicht erst raten.
Niemand hatte auch nur versucht, freundlich zu sein. Die Wachen am Tor hatten ihn von Kopf bis Fuß durchsucht, ehe sie ihn einließen. Dann war er ein zweites Mal durchsucht worden, ehe er zu Exley und Shafer geführt wurde, die ihn nicht mit einer Umarmung sondern mit Handschlag begrüßt hatten, als wäre er nur von einem dreitägigen Verkaufsgespräch nach Detroit zurückgekehrt. Das überraschte ihn nicht.
»John«, hatte Shafer gesagt. »Wir haben ein paar Fragen an Sie.« Wells glaubte, dass in Exleys Augen kurz noch etwas anderes aufgeflackert war, als sie einander wiedersahen, aber es war sofort wieder verschwunden. Wenn sie sich freute, ihn zu sehen, verbarg sie es gut.
Nachdem er den Sportplatz des YMCA verlassen hatte, hatte er sich eine Fahrkarte für den Greyhound-Bus von Missoula nach Washington gekauft, seine letzte Möglichkeit, allein zu sein, ehe sich die Welt wieder zu drehen anfangen würde. Sobald er in Washington D.C. ankäme, würde er die CIA anrufen. Vor zwei Wochen hatte er sich mit Sawahiri in Peschawar getroffen. Diese zwei Wochen Freiheit nach all diesen Jahren am Rande der Welt erschienen ihm nur fair.
Im Bus hatte sich Wells schwer und ruhig zugleich gefühlt, als wäre sein Blut durch eine kühlere, beruhigendere Flüssigkeit ersetzt worden. Während er im Koran blätterte, zählte er auf, was er in den letzten Jahren verloren hatte. Seine Mutter. Seine Exfrau. Seinen Sohn, wenn auch nicht für immer, wie er hoffte. Aber er hatte immer noch Gelegenheit, sein Land vor jenen Männern zu beschützen, die glaubten, dass ihnen der Koran einen Freibrief ausstellte, es zu zerstören.
Jetzt war er wütend auf sich selbst. Die Welt hatte sich weitergedreht, ohne dass er es gemerkt hatte. Drei Stunden, nachdem der Greyhound-Bus in den heruntergekommenen Busbahnhof von Washington eingefahren war, hatte er die Nachrichten aus Los Angeles gehört. Sofort wusste er, dass er schon bei seiner Ankunft in Hongkong die Agency kontaktieren hätte sollen. Der Anschlag würde die Zweifel innerhalb der CIA zum Überkochen bringen, die man ihm ohnehin bereits entgegenbrachte.
So hatte er beschlossen, ruhig zu bleiben, was auch immer man ihm sagen würde. Er würde sie davon überzeugen müssen, dass sie ihm vertrauen konnten, denn er würde keine zweite Chance bekommen. Deshalb umriss er seine Jahre in der Nordwestprovinz und ging mit ihnen die Wochen seit seiner Abreise aus Islamabad durch: wo er sich aufgehalten hatte, wohin er gereist war, welchen Namen er benutzt hatte bei der Einreisebehörde am Kennedy Airport. Er erzählte ihnen von seinem Treffen in Peschawar mit Sawahiri, Khadri und Farouk, und wie sie ihn ohne genau definierte Aufgabe in die USA geschickt hatten.
»Nicht nach Los Angeles?«, hakte Duto nach.
»Nein.«
»Das heißt, Sie wussten nichts von Los Angeles?«
»Natürlich nicht.«
So ruhig er konnte, entschuldigte er sich: dafür, dass er in das Land eingereist war, ohne sie zu informieren; dafür, dass er sie nicht von Peschawar aus kontaktiert hatte; dafür, dass er Bin Laden nicht getötet hatte. Und er erklärte alles, so gut er konnte. Aber er wusste, dass er das Einzige, das sie in Wirklichkeit von ihm wollten, nicht hatte: Informationen über den letzten Anschlag – und über den nächsten.
Auf der anderen Seite des Konferenztisches fühlte Exley, wie sich ihr Magen verkrampfte. Duto war Wells noch nie zuvor begegnet. Er konnte also nicht wissen, welchen Preis Wells dort drüben bezahlt hatte. Da ging es nicht nur um die Falten in seinem Gesicht oder die Narbe auf seinem Arm. Auch wenn das Selbstbewusstsein noch nicht aus seinen Augen verschwunden war, hatte es sich mit etwas anderem vermischt, mit einer Demut, die sie nie zuvor gesehen hatte.
Außerdem ergab Wells’ Geschichte einen Sinn. Er wollte seine Familie besuchen und ein paar Tage allein sein. Selbst wenn Duto das nicht verstand, sie verstand es. Das war doch kein Verbrechen. Am liebsten hätte sie Duto am Arm gepackt und ihm gesagt: Sehen Sie denn nicht, dass er auf unserer Seite steht? Vermutlich gäbe es keine bessere Möglichkeit, um ihren geringen Einfluss augenblicklich zu verlieren. Duto hatte eindeutig beschlossen, dass Wells wertlos war, auch wenn er immer noch loyal zur CIA stand. Er hatte weder den Anschlag vom 11. September, noch die beiden Attentate in Los Angeles verhindert. Also weg mit ihm.
Wenn sie ihm jetzt sagte, dass sie die Wahrheit in Wells’ Augen sehen konnte, würde sie augenblicklich nach Ottawa versetzt werden, um das kanadische Parlament zu überwachen. Eine wahrlich glorreiche Aufgabe. Deshalb schwieg sie, während Duto Frage auf Frage abfeuerte. Schließlich öffnete sich die Tür und Dutos Assistent kam herein und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Ich bin gleich zurück«, erklärte Duto, während er hinausging.
Sobald Duto fort war, sah Wells zu Exley und Shafer hinüber. Wie gern hätte er gewusst, ob sie ihn ebenso hassten wie Duto. Aber er würde sie nicht in diesem Raum fragen, solange die Aufnahmebänder liefen und der Rechtsanwalt Notizen machte. Einerseits wollte er sie nicht kompromittieren, und andererseits war er nicht sicher, ob ihm die Antwort gefallen würde.
»John«, sagte Exley schließlich, wobei sie sich kurz vorbeugte.
Das war alles, was sie sagte. Aber es war genug. Augenblicklich fühlte Wells, wie sich eine Feder in ihm entspannte.
Als Duto wieder in den Raum kam, hielt er einen durchsichtigen Plastikbeutel für Beweisstücke in der Hand, der mit einem beschrifteten Aufkleber versehen war. »Was ist das?«, fragte er, während er den Beutel auf den Tisch knallte.
Wells’ Koran.
Sie hatten also sein Zimmer durchsucht. Selbstverständlich hatte er ihnen den Namen des Hotels genannt, in dem er in der Nacht zuvor eingecheckt hatte. »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl gehabt, oder haben Sie die Tür aufgebrochen? «, erkundigte sich Wells ruhig.
Duto deutete auf das Buch.
»Ich bin Muslim«, erklärte Wells, »das ist mein Koran.«
Shafer ließ den Kopf in die Hände sinken.
»Sie sind Muslim?«, fragte Duto. »Wann ist denn das passiert? «
»John«, fiel Exley ein, »in Ihrer Akte steht, dass Sie Religion studiert …«
»Halten Sie den Mund, Jennifer«, fuhr Duto sie an, ohne den Blick von Wells abzuwenden. Dann beugte er sich über den Tisch und spie die Worte regelrecht aus: »Sie sind konvertiert? Wann?«
Wells gab Exley eine Sekunde Zeit, um sich zu verteidigen, aber sie ließ die Gelegenheit ungenützt. »Das ist nicht von einem Tag zum anderen passiert.«
»Sie geben also zu, Muslim zu sein?«
»Ja«, antwortete Wells ruhig. Er würde sich von diesem Mistkerl nicht dazu reizen lassen, seine Fassung zu verlieren. »Ich bekenne mich schuldig, Muslim zu sein.«
»Sie Idiot!«
»Sie können mich nennen, wie Sie wollen«, gab Wells gelassen zurück.
»Darauf können Sie sich, verdammt noch mal, verlassen.«
»Beruhigen Sie sich, Vinny«, fiel Shafer ein.
Duto sah zu Shafer hinüber, sagte jedoch nichts. Wells fragte sich, ob die beiden Männer die Show guter Cop/böser Cop für ihn abzogen.
»Erzählen Sie uns, was passiert ist«, forderte ihn Shafer auf.
»Sie wissen doch von meiner Großmutter«, begann Wells. »Um in die Camps aufgenommen zu werden, behauptete ich, gläubiger Muslim zu sein. Aber je besser ich den Islam kennenlernte, umso mehr fühlte ich mich von ihm angezogen.«
»So sind Sie konvertiert?«
Müdigkeit und Leere überfielen Wells, so wie ihn am Grab seiner Mutter ein Gefühl grenzenloser Leere überkommen hatte. Aber an diesem Tisch würde er keine Schwäche zeigen. Dass sein Glaube mittlerweile schwankte, würde er Duto gewiss nicht erzählen. »Ich bin konvertiert, oder ich wurde aufgenommen. Wie auch immer man es nennen will. Der Islam ist ganzheitlicher als das Christentum – er ist nicht bloß eine Religion, sondern eine Lebensweise.«
»Ja, nur dass Ihre Lebensweise weder Freiheit noch Demokratie kennt«, fiel Duto ein.
»Die Türkei ist eine Demokratie«, gab Wells zurück.
»Nicht, wenn man Ihre Männer gewähren lässt.«
»Ich hasse diese Männer ebenso wie Sie«, sagte Wells. »Sie haben den Koran verdreht. Aber auch das Christentum ist nicht perfekt. Warum töten wir nicht alle und überlassen es Gott, sich seine Leute auszusuchen. Wissen Sie, woher dieser Ausspruch stammt?«
»Klären Sie mich auf, Sie Allwissender.«
»Vor achthundert Jahren griff eine katholische Arme die christliche Sekte der Katharer in der französischen Stadt Béziers an. Aber die Armee hatte ein Problem. In Béziers lebten neben den Katharern auch Katholiken. Deshalb fragten die Soldaten den Abt, der sie befehligte: ›Was sollen wir tun, wenn wir in die Stadt hineingelangen? Wie sollen wir unsere Katholiken von den Katharern unterscheiden?‹ Wissen Sie, was der Abt antwortete?«
»Fahren Sie einfach fort«, knurrte Duto mit gerötetem Gesicht.
»Er sagte: ›Tötet alle. Der Herr wird die Seinigen schon erkennen.‹«
»Gut, und jetzt halten Sie den Mund, Wells«, stieß Duto hervor, der aufgestanden war und sich so über den Tisch gelehnt hatte, dass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von Wells’ Gesicht entfernt war. »Sie kommen hierher, erzählen verdammte Parabeln, oder wie diese Geschichten heißen mögen, und das in einer Nacht, in der Ihre Kumpel Los Angeles in die Luft gejagt haben? Wenn ich will, dass Sie mir Nachhilfeunterricht in Geschichte geben, werde ich Sie darum bitten. Oder suchen Sie etwa nach Konvertierungswilligen? Dann wären Sie ja noch dümmer, als ich bisher dachte. Und das ist fast unmöglich.«
Diesmal täuschte Duto seine Wut nicht nur vor, dachte Wells. War er vielleicht zu weit gegangen?
»Vinny … «, fiel Shafer ein.
»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Ellis, würde ich den Mund halten«, schnaubte Duto, ohne den Blick von Wells abzuwenden.
»Die meisten Muslim wollen gar nicht, dass Bin Laden siegt«, erklärte Wells. »Sie unterstützen ihn nur, weil sie sich uns so fremd fühlen.«
»Wie Sie.«
Allmählich fragte sich Wells, ob ihn Duto tatsächlich für einen Verräter hielt. »Das habe ich nicht damit gemeint.«
»Wollen Sie noch eine Rede halten, John?«
Wells schwieg.
»Gut«, sagte Duto. »Ein letztes Mal: Wissen Sie irgendetwas über vergangene Nacht?«
»Nein. Aber irgendetwas steht bevor«, erklärte Wells. »Vielleicht nicht unmittelbar, aber es kommt.«
»Großartiger Tipp«, kommentierte Duto.
»Uns allen würde es gut tun, ein wenig zu schlafen«, sagte Shafer. »Wir haben ein Zimmer für Sie, John.«
Wells nickte. Schlafen war eine großartige Idee.
»Heute Morgen werden wir Sie an die Box hängen«, sagte Duto.
Wells benötigte eine Sekunde, um zu begreifen, was er meinte. Einen Lügendetektor. Über den Tisch hinweg betrachtete er seine Inquisitoren: Duto hatte seine Meinung unzweifelhaft kundgetan. Shafer: ein zerknittertes Hemd, Haare, die in alle Richtungen standen. Alles an ihm wirkte unordentlich bis auf die ruhigen Augen, die Wells ansahen, als wäre er ein missglücktes Experiment. Und Exley. Jenny. Sorgenfalten lagen auf ihrer Stirn. Diese wunderschönen blauen Augen. In ihnen glaubte Wells Mitgefühl zu lesen. Aber er konnte sich auch täuschen.
Als sie sprach, war ihre Stimme ruhig. »Sie haben keine Wahl, John. Und wir auch nicht.« Dann schwieg sie wieder, als wartete sie darauf, dass ihr Duto erneut einen Seitenhieb verpasste.
Dass sie recht hatte, wusste er. Die CIA brauchte den Lügendetektortest einerseits als bürokratische Rückendeckung und andererseits, weil sie grundsätzlich an die Macht der Box glaubte. Die Agency ging immer noch davon aus, dass die zackigen schwarzen Linien des Lügendetektors die Wahrheit enthüllten, das kostbarste Juwel auf Erden. Wenn er dem Test nicht zustimmte, würde man ihm nie wieder glauben. Möglicherweise verhafteten sie ihn sogar. Wenn Wells auch nicht wusste, wofür. Vielleicht wegen Besitzes falscher Dokumente. Vielleicht ließen sie ihn auch nur in irgendeinem Winkel verrotten. Aber sie würden ihm nie wieder glauben.
Selbstverständlich bestand auch die Möglichkeit, dass sie ihm nach erfolgreich bestandenem Lügendetektortest nicht glaubten. Immerhin wussten sie, dass er die Box austricksen konnte. Darauf hatte man ihn trainiert.
»Ist das nicht kafkaesk?«, fragte Wells.
»Für mich sieht das mehr nach Catch 22 aus«, meinte Shafer.
Wells konnte das Lachen nicht unterdrücken.
»Das ist nicht lustig«, fuhr ihn Duto an.
»Jenny hat recht«, sagte Wells. »Hängen Sie mich an die Box.«
Während sich Duto erhob, griff er nach Wells’ Koran. »Wollen Sie den zurückhaben, John?«
»Ist das eine Art von Test?«, fragte Wells. »Ja.«
»Ich verstehe«, sagte Duto, während er das Buch verächtlich über den Tisch schleuderte. »Für Sie ist es wohl etwas Besonderes.«
Exley blieb allein am Konferenztisch zurück. Den Kopf in die Hände gestützt, ließ sie die Szene Revue passieren, als ihr Duto gezeigt hatte, wo ihr Platz war. Er hatte sie nicht bloß angeknurrt oder Wells verflucht. Nein, er wollte Wells zeigen, dass er die Nummer eins war. Allerdings hatte er die falsche Strategie gewählt, Wells ließ sich nicht einschüchtern. Aber das war Dutos Entscheidung. Dann hatte er seinen Standpunkt klargelegt, indem er auf das schwächste Glied losgegangen war. Auf sie. Männer waren intuitiv Mistkerle. Niemand hatte es gewagt, sie zu verteidigen, nicht einmal Wells, dem sie zu helfen versucht hatte. Denn im Haifischaquarium rettete man zuerst sein eigenes Leben. Vielleicht hatten die anderen auch gar nicht bemerkt, was geschehen war, denn Duto hatte vor allem Wells in die Mangel genommen. Aber sie konnte einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken.
Wo war ihr Selbstbewusstsein geblieben? Sie wusste es genau. Die Scheidung, die endlosen Arbeitsstunden … und das Gefühl, dass ihr ganzes Engagement letztlich gleichgültig war. Manchmal beneidete sie die Al-Quaida-Kämpfer um ihre Sicherheit. Sie waren immer im Unrecht, ohne je an sich zu zweifeln.
Wells’ Zimmer war mit einem Doppelbett ausgestattet, besaß ein getrenntes Badezimmer mit Stahldusche und Toilette und hatte sogar ein schmales Fenster auf den üppig grünen Campus der Agency. Abgesehen von den Kameras in den Ecken konnte man es kaum als Zelle erkennen. »Spitzenklasse«, sagte er zu Dex, dem Wächter aus dem Konferenzzimmer.
»Ich mache nur, was man mir sagt.«
»Sie und alle anderen.«
»Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen. Ich komme morgen Früh wieder«, sagte Dex, ehe er ging. Die Tür schloss sich mit einem elektromagnetischen Klicken, das Wells sagte, dass er eingeschlossen war.
Seit Missoula hatte Wells nur die wenigen Stunden zwischen seiner Ankunft mit dem Greyhound-Bus bis zu seiner Befragung geschlafen. Bevor er sich jedoch niederlegte, öffnete er noch seinen Koran und rezitierte die besonders schönen Verse der 94. Sure:
Im Namen Allahs, des Erbarmers, des
Barmherzigen!
Haben Wir dir nicht deine Brust geweitet
und dir deine Last abgenommen
die schwer auf deinem Rücken lastete
und deinen Namen erhöht?
Also, wahrlich, mit der Drangsal
geht Erleichterung einher
wahrlich, mit der Drangsal geht Erleichterung einher.
Also, wenn du mit allem fertig bist, dann mühe dich ab
und begehre die Nähe deines Herrn.
Als er danach zu Bett ging, fiel er sofort in Schlaf.
Während sich Wells hinter einem Felsbrocken verbarg, kam ein mit einer schwarzen Robe bekleideter Mann auf ihn zu, der eine Peitsche in der Hand hielt. Knall! Schon zuckte die Peitsche in seine Richtung. Die Luft war schwer und stickig. Über seinem Kopf kreischten Fledermäuse. Er war in einer Höhle gefangen; nur ein ferner Lichtschein zeigte ihm, wo die Außenwelt begann. Aber der Mann in der schwarzen Robe versperrte ihm den Fluchtweg. Wer war er? Khadri? Duto? Bin Laden? Wells wäre in Sicherheit, wenn er diese Frage beantworten könnte. So duckte er sich tiefer hinter den Felsbrocken.
Krach! Jetzt stürzte die Höhle ein. Die Wände bebten. Ein schwerer Stein fiel von der Decke und schlug krachend neben ihm auf dem Boden auf. Rauch stieg ihm in die Augen. Der Mann war verschwunden. Als Wells versuchte, zum Eingang der Höhle zu laufen, zog sich das Licht zurück und der Boden unter seinen Füßen verwandelte sich in Schlamm. Er stolperte und fiel in den Morast, der ihn bedeckte und in Mund und Nase eindrang, sodass er keine Luft bekam …
Als er aufwachte, erkannte er, dass ihn Shafer an der Schulter rüttelte.
»Tut mir leid«, sagt Shafer. »Ich habe mich selbst hereingelassen. Sie hatten offenbar einen Albtraum.«
»Ich habe nie Albträume«, gab Wells zurück. Dieser war zumindest leicht zu deuten. Er hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Was für ein Schock.
»Die meisten hätten Albträume, nach dem, was Sie erlebt haben. Aber die meisten hätten das gar nicht überlebt, was Sie durchgemacht haben.«
»Ich bin nicht wie die meisten.«
»Seien Sie nicht so empfindlich.«
Augenblicklich fühlte Wells, wie Wut in ihm hochstieg. »Wollen Sie mir sagen, dass sie mich nur am Leben gelassen haben, weil ich auf ihre Seite gewechselt bin?«
»Ob Sie es glauben oder nicht, John, aber ich meinte es als Kompliment.«
»Ich verstehe. Jeder muss seine Aufgabe erfüllen, Ellis«, gab Wells zurück. »So wie Duto der böse Cop ist, sind Sie mein wahrer Freund.«
»Duto weiß nicht, dass ich hier bin. Und ich bin nicht sicher, ob ihn das so glücklich machen würde. Wir haben einige Meinungsverschiedenheiten.«
»Ach wirklich?«, sagte Well. »Zum Beispiel?«
»Nun, ich halte ihn für einen Mistkerl der Sonderklasse, während er sich für einen der Extraklasse hält.«
Wells lachte. »Solange Sie mir die Ansprache ersparen, dass ich mir vieles leichter mache, wenn ich Ihnen alles gleich jetzt erzähle.«
»Wären wir wirklich der Meinung, dass Sie die Seiten gewechselt hätten, würden wir Sie um einiges schlechter behandeln. « Bei diesen Worten trat Shafer einen Schritt zurück und deutete auf ein Hemd und ein Paar Jeans auf dem Stuhl. »Das sind Ihre Sachen aus dem Hotel.«
»Ellis …« Wells brach ab. Er wollte Shafer fragen, wo Exley stand, aber das würde er sie selbst fragen.
»Ja?«
»Danke«, sagte Wells.
»Der Lügendetektortest ist in einer Stunde«, sagte Shafer mit einem Blick auf seine Armbanduhr.
»Bin ich ein Gefangener, Ellis?«
»Das entscheiden die Rechtsanwälte. Sagen wir, Sie sind unser Gast.«
»So wie im Hotel California?«
»Damit zeigen Sie nur, wie alt Sie sind, John«, meinte Shafer, während er die Tür öffnete.
»Sie ist gar nicht abgesperrt?«
»Nicht für mich«, gab Shafer zurück, während er hindurchtrat und die Tür hinter sich schloss.
Seit seiner Ausbildung bei der CIA hatte Wells keinen Lügendetektortest mehr gemacht. Überrascht stellte er fest, dass ein Flachbildcomputermonitor auf dem Schreibtisch des Prüfers die Papier-und-Nadel-Box ersetzt hatte. Abgesehen davon hatte sich der Raum nicht verändert: beige Wände, ein dick gepolsterter Stuhl und ein offensichtlich halb durchlässiger Spiegel an der entlegenen Wand des Raums.
»Nehmen Sie Platz«, forderte ihn der Prüfer auf, ein knallhart wirkender Kerl Anfang fünfzig, mit den kräftigen Unterarmen und dem unfreundlichen Blick eines Geschützführers der Marine. Nachdem er an Wells’ Arm eine Blutdruckmanschette angelegt hatte, zog er Gummibänder um seine Brust fest und setzte an jedem seiner Finger eine Elektrode an. »Schieben Sie das Hosenbein hinauf.«
Nach kurzem Zögern rollte Wells die Jeans hoch. Der Prüfer kniete vor seinem linken Bein nieder, schob die Socke hinunter und zog einen Rasierer aus der Tasche. »Stillhalten.« Nachdem er eine Stelle an Wells’ Wade glatt rasiert hatte, befestigte er dort eine weitere Elektrode. Dann trat er zurück, um seinen Monitor zu prüfen.
»Wie heißen Sie?«, fragte er in scharfem Ton, als wäre Wells ein Gefangener.
Nur mit Mühe gelang es Wells, sich zu beherrschen, indem er sich den Gipfel des Lost Trail Passes in den Bergen von Montana in Erinnerung rief.
»Das ist leicht: Mörder«, sagte er. »Und wie heißen Sie?«
»Sie können mich Walter nennen. Wie heißen Sie?«
»Walter und wie weiter?«
Wells wusste, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder er riss sich die Elektroden vom Leib und spazierte hinaus – dann stand er wieder genau dort, wo er begonnen hatte – oder er beantwortete Walters Fragen. »John Wells.«
»Wo sind Sie geboren?«
»In Hamilton, Montana.«
»Wann?«
»Am 6. Juli 1969.«
»Haben Sie Geschwister?«
»Nein.«
Langsam arbeitete sich Walter durch Wells’ Leben voran: Er fragte nach dem Namen seiner Lehrerin in der ersten Klasse, nach der Marke und dem Modell seines ersten Autos usw. Manchmal schritt er schnell voran, manchmal langsam, wobei er zwischendurch immer wieder einen Schluck aus einer Wasserflasche nahm, während er über die nächste Frage nachdachte, oder vorgab, über sie nachzudenken. Als die Luft im Raum immer schlechter wurde, fragte sich Wells, ob man absichtlich die Klimaanlage ausgeschaltet hatte, damit er sich unbehaglich fühlte. Dennoch blieb er geduldig, denn er wusste, dass Walter ihn irritieren und ablenken wollte, sodass die eigentlichen Fragen danach beinahe wie eine Erholung wirkten. Schließlich begannen sie.
»Wann waren Sie das erste Mal in Afghanistan?«
»Im Jahr 1996.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich glaube nicht, dass ich so etwas vergessen würde.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Ich meine, nicht für die CIA.«
»Sie meinen, wann mich Osama nach meinem College-Abschluss angerufen hat, um mir einen Job anzubieten? Meinen Sie diesen Zeitpunkt? Ach, kommen Sie, Walter.«
Walter schwieg.
»Ich war vor 1996 nie in Afghanistan«, sagte Wells. »Und ich war ausschließlich auf Anordnung der Central Intelligence Agency in Afghanistan.«
»Wie sind Sie in das Land hineingekommen?«
»Ich bin nach Islamabad geflogen und habe dort eine Mitfahrgelegenheit über die Grenze gefunden. Das ist die übliche Route.«
»Was war Ihre Tarnung?«
»Ich arbeitete als Nichtoffizieller.« Als Nichtoffiziellen bezeichnete man in der CIA einen Agenten, der keine offizielle Beziehung zur US-amerikanischen Regierung besaß, im Gegensatz zu jenen, die im Rahmen des Außenministeriums oder einer anderen Bundesbehörde tätig waren. »Ganz und gar nichtoffiziell. Ich war ein Rucksacktourist, ein Schmalspurjunkie. «
»Waren Sie nervös?«
»Ich war viel zu dumm, um nervös zu sein«, antwortete Wells lachend.
»In Kabul wusste man also, dass Sie kamen.«
»Hatten wir das nicht schon?«
»Sie standen bereits vor Ihrer ersten Mission mit der Al-Quaida in Kontakt.«
»Vor meiner ersten Reise hatte ich nicht einmal von Osama Bin Laden gehört.«
Die Antwort schien Walter zufriedenzustellen. Nun ging er mit Wells die Einzelheiten seiner ersten Reise nach Kabul und Kandahar durch. Wells antwortete mechanisch, wobei er im Geist Afghanistan vor sich sah: den schweren süßlichen Duft einer am Spieß gebratenen Ziege, das klägliche Stöhnen eines erschöpften Pferdes, das zu Tode gepeitscht wurde, weil es den Wagen nicht mehr ziehen konnte. Die Afghanen, die gleichzeitig so gastfreundlich und so grausam sein konnten.
Walters Fingerschnippen riss Wells aus seinen Tagträumen. »Konzentrieren Sie sich!«
»Dürfte ich etwas Wasser haben?« Wells widerstrebte es, darum zu bitten, aber er war entsetzlich durstig. Als Walter eine weitere Flasche aus seiner Tasche zog, trank Wells gierig daraus. Zum ersten Mal fühlte er eine Verbundenheit mit diesem Mann. Sie waren beide Profis, die ihren Job erledigten. Selbstverständlich war es Walters Absicht, dass er sich so fühlte.
»Was haben Sie während dieses ersten Aufenthalts in Kabul gemacht?«
»Ich habe versucht, Informanten zu werben. Ohne jeden Erfolg.«
»Was ist schiefgelaufen?«
»Wo soll ich beginnen? Ich sprach kaum Paschtun. Im Rahmen der amerikanischen Gesetze durfte ich niemanden auf schmutzige Weise rekrutieren. Können Sie sich diesen Geniestreich vorstellen, Walter? Ich war gerade erst siebenundzwanzig Jahre alt und sollte Kerle herumkriegen, die einander seit tausend Jahren belogen.«
»Sie haben nicht einen einzigen Agenten angeworben.«
»Ich habe es nicht einmal versucht. Damit wäre meine Tarnung aufgeflogen, und sie hätten mich getötet.«
Walter ging auf Wells zu. »Wann wurden Sie über den 11. September informiert?«
Der abrupte Wechsel nach einer Serie angenehmer Fragen war ein alter, aber sehr effektiver Trick. Wells’ Puls stieg. »Wie alle anderen habe ich im Nachhinein davon erfahren.«
»Warum haben Sie die CIA nicht vorher gewarnt?«
Ein weiterer alter Trick bestand darin, so zu tun, als hätte man die negative Antwort des Befragten nicht gehört. »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nicht vorab davon wusste.«
»Sie haben also versagt.«
»Ich habe versagt.«
»Welche Rolle haben Sie bei den Anschlägen von Los Angeles gespielt?«
»Ich war nicht daran beteiligt.«
Walter trat einen Schritt zurück und sah auf den Monitor. »Sie lügen.«
»Nein.«
»Die Box sagt, dass Sie lügen.«
»Dann funktioniert sie nicht richtig.«
»Wann sind Sie in die USA eingereist?«
»Vor einer Woche.«
»Sie lügen schon wieder.«
»Nein«, sagte Wells, während er ablehnend den Kopf schüttelte.
»Wie viele Menschen haben Sie getötet?«
»Ungefähr fünfzehn.«
»Ungefähr?«, wiederholte Walter spöttisch.
»Ich führe nicht Buch.«
»Amerikaner?«
»Nein.«
»Wie viele Amerikaner, John?«
»Keine. Nie.«
Die Fragen wurden nun in schnellerer Abfolge gestellt. »Aber Sie wollen Amerikaner töten.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ist das nicht das Ziel der Al-Quaida? Und Sie sind doch ein Agent der Al-Quaida.«
»Ich habe mich auf Anordnung der Agency in die Al-Quaida eingeschleust.«
»Hat Ihnen die Agency den Befehl erteilt, zu konvertieren?«
»Nein.«
Walter beugte sich vor, sodass sein Gesicht dicht vor Wells war. »Besitzt die Al-Quaida Massenvernichtungswaffen?«
»Ich glaube nicht.«
»Sie glauben nicht?«, fragte Walter in einem Tonfall, als wäre Wells ein aufsässiger, aber nicht allzu kluger fünfjähriger Junge. Wells wäre am liebsten aus dem Stuhl aufgesprungen und hätte Walter das Genick gebrochen.
Stattdessen antwortete er mit ruhiger Stimme: »Derartige Waffen in die Finger zu bekommen hatte für sie oberste Priorität. Aber ich habe nie einen Beweis dafür gesehen, dass es gelungen wäre.«
»Sie haben sich all diese Jahre innerhalb der Al-Quaida bewegt und wissen nicht, ob sie Massenvernichtungswaffen besitzt? Dann sind Sie aber kein guter Agent.«
»Damit haben Sie vermutlich recht.«
»Vielleicht haben Sie aber auch die Seiten gewechselt.«
Augenblicklich sprang Wells auf und riss die Elektroden und die Blutdruckbandage ab. Beinahe gleichzeitig öffnete sich die Tür, und Dex kam herein, die Hand auf der 9mm-Pistole. »Entspannen Sie sich«, sagte er.
»Sagen Sie Vinny, dass diese kleine Show zu Ende ist«, sagte Wells, während er sich wieder setzte. »Sie können mich fragen, was immer Sie wollen. Sie können mich auch gern als Idiot beschimpfen, aber nennen Sie mich nie wieder einen Verräter.« Während Dex, noch immer mit der Hand auf der Pistole, auf der Ecke des Schreibtisches Platz nahm, verließ Walter den Raum.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Wells. »Sie führen nur Befehle aus.«
Im angrenzenden Raum beobachteten Exley und Shafer durch den halb durchlässigen Spiegel die Befragung gemeinsam mit Regina Burke, einer weiteren Prüferin, der in Echtzeit der Datenstrom des Tests übertragen wurde.
Im Verlauf der Befragung beugte sich die kleine Frau mit kurzem grauem Haar immer näher zu ihrem Bildschirm und markierte gelegentlich mit der Maus eine der Linien, die über den Monitor liefen. Exley wünschte, sie könnte die Antwortdiagramme lesen. Aber man musste kein professioneller Lügendetektorprüfer sein, um zu erkennen, dass Walter Wells unter die Haut gegangen war.
Als Wells explodierte, griff Regina zum Telefon. »Bitte informieren Sie Mr Duto, dass der Befragte den Test abgebrochen hat.« Nach einer kurzen Pause sagte sie »Danke« und legte auf. »Dutos Sekretärin sagt, dass er in wenigen Minuten hier sein wird.«
»Und?«, fragte Shafer, als Walter den Raum betrat.
»Er sagt die Wahrheit«, erklärte Regina.
»Das ist richtig«, bekräftigte Walter.
»Wie sicher sind Sie?«, erkundigte sich Exley.
»Man kann nie hundertprozentig sicher sein«, sagte Regina. »Aber seine Antworten sind psychologisch vereinbar. Er hat auch unter Stress nicht zugemacht, wie es der Fall gewesen wäre, wenn er versucht hätte zu lügen.«
»Wenn er uns täuscht, dann ist er wirklich gut«, meinte Walter. »Aber ich glaube, dass er loyal ist.«
Exley betrachtete Wells, der mit ernstem, entschlossenem Gesichtsausdruck in den hal bdurchlässigen Spiegel starrte. Unter dem wachsamen Blick von Dex schlenderte er immer wieder von einer Ecke in die andere. Vor ein paar Wochen hatte Exley mit ihren Kindern den Zoo von Washington besucht. Wells erinnerte sie nun an die kontrollierte Wut des Tigers, der ebenfalls in seinem Käfig auf und ab stolziert war. Wenn wir nicht aufpassen, wird er seine Wut nicht mehr lange unter Kontrolle halten können, dachte sie.
Mit grimmigem Gesicht hörte sich Duto Walters Bewertung an. »Sie haben zugelassen, dass er den Test abbricht? Sie lassen sich von dem Kerl sagen, was Sie zu tun haben?«
»Es gibt nichts zu finden«, gab Walter zurück. »Er lügt nicht.«
»Vielleicht ist er auch nur zu clever für Sie. Vielleicht benötigt er Zwangsmaßnahmen.«
Zwangsmaßnahmen. Das magische Wort. Zwangsmaßnahmen stand für Wochen ohne Schlaf in einer winzigen Zelle ohne Heizung und Fließwasser, für sensorische Deprivation in einem dunklen, fensterlosen Raum, bis Halluzinationen einsetzen. Zwangsmaßnahmen waren nicht mit Folter gleichzusetzen, kamen ihr aber schon ziemlich nahe.
Exley beschloss, dass sie entweder jetzt reden oder gleich ihren Rücktritt bekannt geben könne. »Das dürfen Sie nicht tun, Vinny«, sagte sie mit ruhiger Stimme.
»Habe ich Sie um Ihre Zustimmung gebeten?«
»Es geht gar nicht darum, dass er amerikanischer Staatsbürger ist und dass derartige Maßnahmen illegal sind. Er kann uns helfen.«
»Muss ich es für Sie noch mal buchstabieren?«, schoss Duto zurück. »Er hat uns seit langem keine Informationen geliefert. Und diese Sache mit dem Islam hat das Fass nun wirklich zum Überlaufen gebracht.«
»Aber er ist auch der einzige Agent, den wir je innerhalb der Al-Quaida platzieren konnten«, konterte Exley.
»Jetzt ist er nicht mehr drin. Außerdem lügt er, was sein Treffen mit Sawahiri betrifft. Und selbst wenn es wahr ist, was hat es ihm eingebracht? Ein paar Dollar und einen Flug in die Heimat? Sie trauen ihm genauso wenig wie ich.«
Nun hatte Duto den wahren Grund für seine harten Maßnahmen gegenüber Wells offenbart, dachte Exley. Ihm war es egal, ob Wells loyal war. Seiner Meinung nach hatte Wells versagt, und Duto würde alles tun, um sich von diesem Versagen zu distanzieren.
»Vinny, Zwangsmaßnahmen sind inakzeptabel«, fiel nun Shafer ein.
»Inakzeptabel für wen?«
»Lassen Sie die Sache fallen.«
»Wem wollen Sie davon erzählen, Ellis?«, fragte Duto angewidert. »Ihren Freunden im Senat? Der Post?« Dann blickte er sich im Raum um, als würde er Regina, Walter und Exley zum ersten Mal sehen und sich vorstellen, was sie als Zeugen aussagen würden. »In Ordnung«, lenkte Duto schließlich ein. »Er kommt zurück an die Box.«
»Er hat bereits bestanden«, warf Shafer ein. »Warum unterhalten wir uns nicht morgen freundlich mit ihm? Vielleicht erfahren wir mehr über Khadri und Farouk. Vielleicht kann Wells den einen oder anderen Namen mit einem Gesicht zusammenfügen. Vielleicht weiß er ja mehr, als er glaubt.«
»Das bezweifle ich. Ist das Ihre offizielle Empfehlung, Ellis? «
»Wenn Sie so wollen.«
»Schreiben Sie sie nieder, dann werde ich darüber nachdenken. Vielleicht sollten wir Mr Wells überhaupt nicht festhalten. Was halten Sie davon, wenn wir ihn kommen und gehen lassen, wie es ihm gefällt?«
Exley sah, dass dieser Vorschlag Shafer erstaunte.
»Solange er unter Überwachung steht«, meinte Shafer. »Vielleicht mit einer elektronischen Fußfessel.«
»Eine elektronische Fußfessel. Das wird ihm gefallen. Schreiben Sie das auch gleich in Ihre Empfehlung.« Dann wandte sich Duto an Walter. »Heute Nachmittag erwarte ich einen vollständigen Bericht über den Lügendetektortest. Danke.« Nach diesen Worten verließ Duto den Raum.
Exley war beeindruckt und angewidert zugleich. Diese Kerle spielten ihre bürokratischen Spiele mit solcher Härte, dass man darüber nur allzu leicht vergaß, wer der eigentliche Feind war.
Shafer hatte die Kontrolle über Wells erhalten, dafür hatte Duto Shafer gezwungen, seine eigene Position aufs Spiel zu setzen. Doch all diese internen Streitigkeiten brachten den Jugendlichen, die in Los Angeles gestorben waren, überhaupt nichts.
»Kommen Sie, wir holen unseren Jungen«, sagte Shafer.
Im Gang, der die beiden Räume verband, hielt Shafer an und beugte sich zu Exley. »Wenn wir jetzt da hineingehen, dann sagen Sie John nicht, dass er den Lügendetektortest bestanden hat. Seien Sie nicht zu freundlich zu ihm.«
»Warum?«
»Vertrauen Sie mir einfach. Ich will nicht, dass er sich zu sicher fühlt.«
Warum hatte er sich dann die Mühe gemacht, ihn Duto abzujagen?, fragte sie sich. Shafer war nicht bereit, es ihr zu sagen, und sie würde nicht fragen. Irgendetwas Wichtiges war eben geschehen, und sie wünschte, sie wüsste, was es war.
In dieser Nacht übersiedelte Shafer Wells in ein abgesichertes Haus der Agency im Stadtviertel Capitol Hill in Washington. Von außen sah es wie jedes andere heruntergekommene Stadthaus aus. Im Inneren war jeder Raum mit Kameras und Alarmanlagen ausgestattet. Die Überwachung erfolgte jedoch unauffällig. Nachts saßen zwei Aufpasser vor dem Haus, und Wells selbst trug eine elektronische Fußfessel, die seinen genauen Standort übermittelte.
Jeden Tag fuhr Dex Wells zu einem Gespräch mit Shafer und Exley, die sich ihm gegenüber zurückhaltend, aber kaum freundlich verhielten. Niemand erwähnte den Lügendetektortest, und auch er fragte nicht danach. Zumeist erläuterte er die Struktur der Al-Quaida und versuchte, anhand von Überwachungsfotos Mitglieder der Organisation zu identifizieren. Allerdings war er sicher, dass man ihm weder allzu neues noch allzu wertvolles Material zeigte. Als er Khadris Oxford-Akzent erwähnte, zeigte ihm Shafer Fotos von jedem einzelnen arabischen Studenten, der in den letzten zwanzig Jahren eine der führenden britischen Universitäten besucht hatte. Keines stimmte überein. Auch der Name Omar Khadri tauchte in keiner NSA-Datenbank auf, wie man ihm sagte. Wer auch immer Khadri war, eines stand fest: Es war ihm gelungen, unbemerkt zu bleiben, was ihn sehr gefährlich machte.
Innerlich schäumte Wells vor Wut, weil er zum Nichtstun gezwungen war. Mit keinem Wort hatte er den E-Mail-Account erwähnt, den Khadri für ihn eingerichtet hatte, und ihn auch nie verwendet, aus Angst, dass die CIA augenblicklich versuchen würden, Khadri zu schnappen, sobald er ihm eine Nachricht sandte. Denn das würde nicht klappen. Khadri traute Wells nicht, sonst hätte er ihn nicht über seine Pläne im Dunkeln gelassen. Wells würde sich Khadris Vertrauen erst verdienen müssen, und er wollte gar nicht darüber nachdenken, was das konkret bedeuten würde. Außerdem hatte Khadri den nächsten Anschlag – welcher Art auch immer – gewiss so geplant, dass er auch ohne ihn durchführbar war. Man musste Khadris gesamtes Netzwerk in einem einzigen Schlag aufrollen, und das würde nur von innen gelingen. Um Khadri zu Fall zu bringen, müsste sich Wells frei bewegen können, und genau dazu war er jetzt nicht imstande.
Exley und Shafer erzählten Wells auch nicht viel über die Untersuchungen der Bombenattentate von Los Angeles, aber er musste auch gar nicht nachfragen. Aus der Times und der Post wusste er, dass die Untersuchungen nicht allzu gut liefen. Die Zeitungen waren voll von den Kommentaren anonymer FBI-Agenten über die Schwierigkeiten, diesen Fall zu knacken, weil die Täter weder identifiziert noch verhört werden konnten. Auf CNN und Fox beschuldigten die üblichen Großredner das FBI und die CIA, weil sie die Anschläge nicht verhindert hatten, und debattierten darüber, ob dies nun der Beginn einer neuen Terrorwelle war, oder ein einmaliges Ereignis. Wells glaubte, die Antwort auf diese Fragen zu kennen. Aber schon nach einer Woche des Entsetzens und improvisierter Gedenkfeiern schienen die meisten Menschen – und vor allem außerhalb von Südkalifornien – die Anschläge vergessen zu haben.
»Ich bin nur froh, dass es nicht schlimmer gekommen ist«, sagte ein Mann in der Times. »Das ist der Preis dafür, dass wir Amerikaner sind.« Der Mann wäre vermutlich nicht so anmaßend, wenn er wüsste, was sich tatsächlich in der CIA und den anderen Agenturen abspielte, die ihn schützen sollten, dachte Wells. All die Verschwendung, die Bürokratie, die Ineffizienz … Es musste nicht zu derartigen Anschlägen kommen. Man konnte sie verhindern. Und anstatt mitzuhelfen, dass solche Attentate erst gar nicht passierten, war er in diesem abgesicherten Unterschlupf zum Nichtstun verurteilt, nur weil er nicht bereit gewesen war, Vinny Dutos Arsch zu küssen.
Nach zwei nutzlosen Wochen, beschloss er auszubrechen. Vielleicht machte er einen Fehler, aber hatte er eine andere Wahl? Was, wenn ihn Khadri bereits kontaktiert hatte und ein weiterer Anschlag unmittelbar bevorstand?
Es war Mitte April, und überall in Washington standen die Kirschbäume in voller Blüte. Die ersten Gewitterstürme waren schon als Vorboten auf den heißen Sommer über die Stadt hinweggefegt. An diesem Freitagabend war es jedoch für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl, sodass Wells eine Jacke anzog, als er aus dem Haus ging und nach Westen in Richtung Kapitol spazierte. In der Hand verbarg er einen Papiersack mit einem Hammer und einem Schraubenzieher, die er am Tag zuvor gekauft hatte. Eine schwarze Ford-Limousine, die drei Häuser weiter geparkt hatte, folgte ihm, wie immer, wenn er das Haus verließ. Am nächsten Block setzte sich ein weiterer Ford in Bewegung.
Seit Shafer ihn in diesem Haus untergebracht hatte, war Wells jeden Abend spazieren gegangen. Mittlerweile war er sicher, dass die Überwachung damit endete – keine Verfolger zu Fuß, keine echten verdeckten Autos, keine Heckenschützen, keine Schnüffler. Er war fast beleidigt. Offenbar wussten sie nicht, wie leicht sie ihn verlieren konnten. Vielleicht kümmerte es sie auch nicht. In einem kleinen Laden auf der A-Street kaufte er sich eine Cola und spazierte dann wieder heimwärts, wobei ihm die beiden Fords wieder folgten.
Kurz vor zehn Uhr setzte sich Wells auf die Treppe vor seinem Haus und wartete auf das richtige Taxi. Der Osten des Capitol Hills war noch nicht vollständig erneuert worden, sodass er zwar hin und wieder jemanden sah, der seinen Hund ausführte, aber die Straße lag ansonsten zumeist ruhig da. Während Wells von seiner Cola trank, lächelte er zu dem Überwachungsteam im Ford hinüber und konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen zu winken. Er fühlte sich wie ein Kind, das zum ersten Mal in diesem Sommer einen Kopfsprung machte.
Schließlich rollte ein Taxi mit abgedunkelten Scheiben durch die Straße. Perfekt. Wells winkte es heran. »Ist es in Ordnung, wenn ich vorn sitze?«
Der Fahrer, ein über fünfzigjähriger Schwarzer, musterte ihn von Kopf bis Fuß. Im Radio lief die Übertragung des Spiels Orioles gegen Red Sox, das eben in das elfte Inning ging. »Sicher. Aber passen Sie auf meinen Hut auf.« Auf dem Beifahrersitz lag ein brauner Filzhut.
Wells glitt auf den Sitz.
»Wohin?«
»Nach East Cap. Benning Road.«
»Da können Sie gleich wieder aussteigen.« East Cap lag drei Kilometer östlich des Capitol Hill, am anderen Ufer des Anacostia River, und zählte mit seinen Sozialbauten zu den ärmsten Vierteln von Washington D.C. Selbst tagsüber weigerten sich viele Taxifahrer, nach East Cap zu fahren.
Wells streckte dem Mann zwanzig Dollar entgegen. »Davon gibt es noch mehr.«
Der Mann betrachtete ihn misstrauisch. »Sind Sie auf der Suche nach Stoff?«
»Nein.«
»Denn dabei werde ich Ihnen nicht helfen.«
»Keine Drogen, ich schwöre es.«
»Nutten?«
»Keine Nutten.«
Nachdem dies geklärt war, fuhren sie los.
»Wie heißen Sie?«, fragte Wells.
»Walter.«
Unwillkürlich musste Wells lachen. Es klang wie ein kurzes, scharfes Bellen.
»Was ist so lustig an meinem Namen?«
»Nichts. Ich habe nur vor kurzem einen anderen Walter getroffen, der mir auch nicht vertraut hat.«
»Sie sind seltsam, wissen Sie das?«
Im Radio wurde der Schlagmann der Orioles ausgetauscht. »Sie mögen die Orioles lieber als die Nationals?«, erkundigte sich Wells.
»Ich bin zu lange schon ein Fan dieses Teams, um das noch zu ändern. Und Sie?«
»Ich bin ein Fan der Red Sox. Aber ich liebe zusätzliche Innings in jedem Spiel.«
»Immer noch besser als die Yankees.«
Sobald sie am RFK-Stadion vorüber waren, fuhren sie auf die Überführung über die Anacostia und 295. auf, einen viel befahrenen Highway, der parallel zum Fluss verlief. Die beiden Fords folgten. Erfreut stellte Wells fest, dass auf der East Cap in beiden Richtungen starker Freitagabendverkehr herrschte.
»Wissen Sie, dass uns jemand folgt?«
Wells gab Walter weitere zwanzig Dollar. »Es sind zwei. Freunde von mir. Wir spielen ein Spiel.«
»Ein Spiel«, wiederholte Walter mit einem Seitenblick auf Wells.
»Es heißt, verliere den Mann.«
»Ich habe keine Lust auf so eine Scheiße.«
»Wie wäre es mit weiteren einhundert Dollar?«
Walter schlug die Jacke auf und zeigte Wells einen ramponierten Revolver. »Allmählich gehen Sie mir auf den Geist.«
Wells schüttelte den Kopf. »Wie wäre es mit zweihundert? Das ist alles, was ich habe.«
Sie verließen die Überführung und fuhren den Hügel hinauf. »O Mann … erst steigen Sie in mein Auto …«, begann Walter kopfschüttelnd, während er Wells eindringlich musterte. »Sie sind doch kein Bulle?«
»Wenn Sie wollen, steige ich hier aus.«
Walter spitzte die Lippen. Wie es aussah, warf er im Geist eine Münze. Schließlich nickte er. »Hundert sind in Ordnung. Was kommt als Nächstes?«
»Wie gut kennen Sie sich in East Cap aus?«
»Besser als Sie, vermute ich. Ich bin hier aufgewachsen.«
Sie fuhren auf die Ampel an der Kreuzung von Benning und East Capitol zu. Jenseits davon führte ein weiterer Hügel zu den schlimmsten Wohngegenden der Stadt. Wie ein böser Traum hingen rechts von ihnen die Bäume eines verwachsenen Parks, den man wohl besser als Stadtwald bezeichnete, über die Fahrbahn. Hier gab es sicher noch Drachen.
»Okay. Bleiben Sie auf der East Cap, und fahren Sie schnell durch die Ampel. Sobald wir auf dem Hügel sind, suchen Sie nach einer Lücke im Verkehr, die die anderen nicht nützen können. Sie müssen aber sicher sein! Dann schwenken Sie nach links durch den Verkehr. Sobald wir außer Sicht sind, rolle ich mich aus dem Auto. Das sollte nur etwa drei Sekunden dauern. Wenn ich draußen bin, schließen Sie die Tür und fahren weiter. Wenn sie Sie einholen, lassen Sie sich ruhig an den Rand winken, aber machen Sie es Ihnen nicht zu leicht.«
»Sie wollen sich aus dem Auto rollen lassen?«
»Mir wird nichts passieren.«
Während die Fords einige Autos hinter ihnen angehalten hatten, warteten sie an der Ampel. Nun griff Wells nach dem Schraubenzieher, setzte ihn unter dem Knöchelband an und verdrehte es, bis das Plastik nachgab. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Was ist das?«, erkundigte sich Walter.
»Es gibt da dieses Lied aus den 90ern«, sagte Wells mehr zu sich als zu Walter. »›Time is All the Luck You Need‹.«
Walter schüttelte verärgert den Kopf. »Geben Sie mir den Hunderter, Mann.«
Wells gab ihm das Geld. Sobald die Ampel auf Grün sprang, stieg Walter kräftig auf das Gaspedal.
Mit dem Papiersack in der Hand rollte sich Wells aus dem Taxi, landete weich auf der Schulter, stieß sich von den Knien hoch und huschte augenblicklich hinter einen ramponierten schwarzen Jeep Cherokee. Das Taxi verschwand in der Ferne, und wie Wells sah, hatte Walter bereits die Tür geschlossen. Jetzt rasten auch die beiden Fords mit Blinklicht vorüber, aber ohne Sirene. Dann verschwanden auch sie.
Der Cherokee würde genügen. Keine Alarmanlage. Als Wells den Hammer gegen das Beifahrerfenster schlug, zerbrach es mit zufriedenem Knirschen. Nachdem er noch einmal ausgeholt hatte, um das Loch zu vergrößern, griff er hindurch und entsperrte die Fahrertür. Hastig lief er um den Jeep herum und glitt hinter das Steuer. Mit dem Schraubenzieher sprengte er die Lenksäule auf und drehte zwei Kabel zusammen. Schon beim zweiten Versuch sprang der Motor an. Nachdem sich Wells mit einem Blick auf die Straße versichert hatte, dass die beiden Fords nirgendwo zu sehen waren, fuhr er los.
Von einem Münztelefon auf der Massachusetts Avenue aus rief er Exleys Apartment an. »Hallo«, meldete sie sich bereits nach dem zweiten Läuten. Ihre Stimme klang ruhig und ein wenig rauchig. Als Wells sie kennenlernte, hatte sie geraucht, aber inzwischen hatte sie wohl aufgehört. Ein angenehmer Schauer lief Wells über den Rücken.
»Ich bin es«, sagte er.
»John?«
»Warten Sie in fünf Minuten vor Ihrem Aufgang.« Dann legte er auf. Selbstverständlich war es ein Fehler, sie anzurufen, denn er sollte schon auf dem Weg nach New York sein. Dort würde er den Jeep irgendwo abstellen, das Geld holen, das er versteckt hatte und mit einer Greyhound-Linie, die nicht durch Washington D.C. kam, nach Atlanta fahren. Mit einem kaum zehn Sekunden langen Anruf konnte sie ihn aufhalten. Aber er musste sich von ihr verabschieden. Außerdem musste er sich davon überzeugen, dass er zumindest einem Menschen vertrauen konnte.
Sobald sie über die Straße auf den Jeep zuging, öffnete er die Tür und streckte ihr die Hand entgegen.
»Passen Sie auf die Glassplitter auf.«
Er hatte zwar versucht, sie auf den Boden zu fegen, war dabei aber nicht wirklich erfolgreich gewesen. Überrascht stellte er fest, dass sie einen kniekurzen Rock trug. Sie sollte öfter Röcke tragen, dachte er. Selbst die Taliban würden dem zustimmen. Nun, vielleicht auch nicht. Nachdem sie die letzten Glassplitter weggefegt und sich vorsichtig gesetzt hatte, fuhr er über die 13th Street nach Norden.
»Haben Sie den Wagen gestohlen?«
»Nur geborgt«, antwortete Wells, während er die Fahrzeugpapiere des Jeeps hochhielt. »Vermutlich schulde ich Elizabeth Jones ein paar Dollar.«
»Wohin fahren wir?«
»Wir fahren nirgendwohin. Ich wollte Sie nur für eine Minute sehen.«
»Wohin werden Sie dann fahren?«
»Fort.«
»John …«
Plötzlich begriff Exley. Shafer hatte dies hier genauso arrangiert wie Wells’ Reise in die Camps vor vielen Jahren. Weil er wusste, dass Duto aus Dummheit oder Bosheit alles unterbinden würde, was Wells beabsichtigte, hatte er Wells selbst übernommen. Dann drängte er ihn so in die Ecke, dass Wells glaubte, keine andere Wahl zu haben, als auszubrechen. Aus diesem Grund hatten sie ihm auch nicht gesagt, dass er den Lügendetektortest bestanden hatte, und hatten ihn auch danach an der kurzen Leine gehalten. Deshalb hatte Shafer Wells auch in dem nur dürftig abgesicherten Unterschlupf untergebracht und nicht an einem sichereren Ort. Nur auf diese Weise würde es Wells gelingen, sich davonzumachen.
»Es ist zu riskant«, sagte Exley. Was, wenn Duto die Bluthunde rief? Aber würde er das tun. Einerseits hielt er Wells nicht für gefährlich und andererseits würde es ihm großes Vergnügen bereiten zuzusehen, wie sich Shafer über den Verlust seines geliebten Schoßhündchens ärgerte.
»Ich weiß, was ich tue«, sagte Wells.
Weißt du das wirklich, John?, dachte Exley, während sie ihm die Hand auf den Arm legte.
Ihre Berührung entfachte in ihm ein solches Verlangen, dass er am liebsten den Jeep an den Straßenrand gefahren und sie hier und jetzt neben der Fahrbahn genommen hätte. Sollten doch die Nachbarn zusehen und die Cops rufen. Dann hätte Langley guten Grund, uns beide hinauszuwerfen, dachte er. In dem Augenblick nahm sie die Hand von seinem Arm.
»John? Ich habe mich etwas gefragt.«
»Ja?«
»Warum haben Sie Heather besucht?«
»Ich wollte nicht Heather sehen, sondern Evan.«
Während sie einen Moment lang schweigend nebeneinandersaßen, fragte sich Wells, ob er ihre Frage richtig verstanden hatte: Liebst du sie immer noch? Dann legte Exley ihre Hand wieder auf seinen Arm, und da wusste er, dass er recht hatte.
»Erzählen Sie mir eine Geschichte«, forderte er sie auf, um sich abzulenken und um noch ein wenig länger ihre Stimme zu hören, ehe er verschwand.
»Welche Art von Geschichte?«
»Irgendeine. Egal welche. Vielleicht etwas Persönliches.«
Was sollte sie ihm erzählen?, fragte sie sich. Für sie gab es ja nur die Arbeit. Sollte sie ihm erzählen, dass ihr Sohn sie bei ihrem letzten Wiedersehen angebrüllt und erklärt hatte, dass er Randy lieber hatte als sie? Oder dass sie das Radio in ihrem Schlafzimmer immer auf den Sportkanal stellte, obwohl sie für die Nationals nichts übrig hatte, nur damit sie, wenn sie um drei Uhr nachts aufwachte, aufdrehen und mit Sicherheit eine Männerstimme hören konnte?
»Sie wollen eine Geschichte hören«, sagte sie. »Okay.« Und bevor sie sich einbremsen konnte, begann sie zu reden. »Es geht um die Nacht, in der ich meine Jungfräulichkeit verlor. Ich war fünfzehn …«
»Fünfzehn?« Wells klang überrascht, dachte sie. Er wusste nicht, worauf er sich eingelassen hatte, und sie ebenso wenig. Immerhin hatte sie noch nie zuvor einem Mann davon erzählt, nicht einmal ihrem Ehemann.
»Wollen Sie, dass ich weitererzähle?« Irgendetwas drängte sie weiterzusprechen.
»Ja.« Diesmal klang seine Stimme wieder fest und ruhig.
»Ich war also fünfzehn. Meine Familie machte eine schwierige Phase durch. Mein Vater hatte immer schon getrunken, aber etwa zu dieser Zeit setzte er zum endgültigen Absturz an. Danach dauerte es noch fünf Jahre, bis er den absoluten Tiefpunkt erreichte, aber man sah bereits, worauf er zusteuerte. Mein Bruder Danny war als Student im ersten Jahr von der UCLA geworfen worden, weil er Stimmen hörte und seinen Zimmerkollegen mit einer Tabascoflasche auf den Kopf geschlagen hatte.«
»Mit einer Tabascoflasche?«
Sie lachte schneidend. »Ich weiß, das klingt lächerlich, aber es war keine dieser winzigen Flaschen, die man in Restaurants sieht. Es war eine große Flasche, die einigen Schaden anrichten konnte. Er wurde wegen schwerer Körperverletzung angeklagt und wäre sicher im Gefängnis gelandet, wenn wir den Richter nicht davon überzeugt hätten, dass er schizophren war. Was auch stimmte.«
»Ich wusste nicht einmal, dass Sie einen Bruder haben.«
»Er hat ein paar Jahre später Selbstmord begangen. Ich rede nicht gern darüber.«
Wells ging ein wenig vom Gas und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Exley.«
»Viele Schizophrene bringen sich um. Er konnte es einfach nicht mehr ertragen.« Sie schüttelte seinen Arm ab. Während sie weiter auf der 13th nach Norden fuhren, wurden die Apartmentblöcke allmählich von zweigeschossigen Häusern abgelöst, die man in der Nacht kaum unterscheiden konnte.
»Sie müssen mich bald absetzen«, sagte sie. »Man wird mich auf meinem Mobiltelefon anrufen, um mir zu sagen, dass Sie verschwunden sind. Und wenn ich nicht annehme, wird man sich einige Fragen stellen. Wollen Sie nun den Rest meiner Geschichte hören oder nicht?«
»Sie wollen sie immer noch erzählen?«
»Ja. Seltsam, aber wahr.« Warum das so war, wusste sie nicht – oder vielleicht doch. Weil die Geschichte dann auch ihm gehören würde, als Geschenk, das sie keinem anderen Menschen machen würde, weil es intimer war als alles andere. »Ich war also fünfzehn, schwänzte die Schule, rauchte Hasch, rebellierte und trug Schwarz. Das gesamte Programm. Mein Bruder war verrückt, mein Vater ein Alkoholiker und meine Mutter ignorierte ich einfach, obwohl sie ihr Bestes gab. Einige Wochen vor meinem Geburtstag beschloss ich, dass ich unmöglich – unmöglich – mit sechzehn noch Jungfrau sein konnte. Ist das nicht ein großartiger Plan, John?«
»Glücklicher Freund.«
»Nein. Ich hatte damals keinen Freund. Außerdem wollte ich keinen Jungen von der Highschool. Ich wollte einen Mann. Einen, der mich richtig ficken würde. Auch wenn ich nicht wusste, was es bedeutete. Aber meine neuen Freundinnen, mit denen ich die Schule schwänzte, sprachen ständig über Jungs, die sie richtig fickten. Selbstverständlich wusste ich, dass einiges davon nur Gerede war, vermutlich sogar das meiste, aber einiges auch nicht. Etwa eine Woche vor meinem Geburtstag erzählte mir Jodie – eine meiner nettesten Freundinnen damals, die ein paar Jahre älter war als ich – von dieser Party, die sie besuchen wollte. Drüben in Oakland, jenseits der Bucht, wo auch Collegejungs kommen würden. Sie meinte, ich solle auch gehen. Und als sie am nächsten Tag absagte, bat ich sie um die Adresse. Meiner Mutter erzählte ich etwas von einem Konzert – ich erinnere mich noch, wie es mich freute, sie hereinzulegen, meine arme Mutter – und dann putzte ich mich auf und ging zu der Party.«
Er verringerte die Geschwindigkeit ein wenig. »Ist es ein Fehler von mir, wenn ich mir vorstelle, wie Sie damals ausgesehen haben müssen?«
»Oh, ich habe wirklich gut ausgesehen. Jetzt wo ich alt bin, kann ich es ja sagen: Ich war heiß. Und ich trug so einen kurzen Minirock mit Stiefeln … Meine Mutter muss wirklich vieles im Kopf gehabt haben, sonst hätte sie mich nie so aus dem Haus gelassen.«
»Sie sind nicht alt, Jenny.«
»Zu freundlich. Auf jeden Fall nahm ich den BART nach Oakland, denn um mit dem Auto zu fahren, war ich zu jung. Dann musste ich durch dieses miese Viertel, das vor der Bay Area liegt, wo jeder Quadratmeter Millionen Dollar wert ist. Und gerade, als ich nervös wurde, fand ich es. Eine mit riesigen Boxen verstärkte, laute, große Party in einem weitläufigen heruntergekommenen Haus. Einige Studenten aus Berkley waren da, einige Universitätsabsolventen, ein paar Kerle aus der Nachbarschaft und sogar einige Motorradfreaks, für die Oakland damals berühmt war. Wer eine Party schmiss, tat gut daran, auch die Leute aus der Umgebung einzuladen. Die Mädchen waren etwas jünger, aber alle zumindest schon auf dem College. Erst nahm ich mir ein Bier und machte ein paar Züge aus einer Wasserpfeife, die mindestens einen Meter zwanzig lang war, und dann machte ich mich auf die Suche nach Mr Right.«
»Jenny …«
»Zu spät. Jetzt will ich es bis zum Ende erzählen.« Sie wusste, dass sie ihm alles erzählen musste. Vielleicht um ihn zu provozieren, vielleicht aber auch, um ihn zu erregen. »Dann sah ich diesen blonden Kerl, ein Surfertyp, groß und attraktiv. Kein Rohling. Vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt. Während ich auf ihn zugehe – ich habe ihn schon fast erreicht –, packt mich dieser Kerl in schwarzem T-Shirt am Arm und drückt mich an sich. Seine Arme sind über und über mit Tätowierungen übersät. Er fragt mich, ob ich ein Bier will oder vielleicht etwas Härteres und steckt mir dabei seine Zunge fast bis in die Kehle. Aber ich schüttle ihn ab und gehe zu dem Surfer hinüber.
Der Blonde ist auch interessiert, und es dauert keine halbe Stunde, bis ich mit ihm oben in einem der Schlafzimmer bin. Wir packen ihn aus, und er ist gut und hart, und dann sage ich etwas Albernes wie ›Steck ihn mir hinein, du Hengst‹. Da schaut er mich an und fragt: ›Was hast du gesagt?‹. Und dann schaut er mich genauer an und fragt mich: ›Wie alt bist du überhaupt?‹. Im nächsten Augenblick ist er schon auf dem Weg zur Tür. Als ich sage: ›Aber ich will, dass du mich fickst, weil ich keine Jungfrau mehr sein will‹, flüchtet er regelrecht. «
»Das heißt also, dass Sie in dieser Nacht Ihre Unschuld nicht verloren haben.«
»Lassen Sie mich doch zu Ende erzählen, John. Sobald ich wieder unten bin, treffe ich auf Mr Tattoo und frage ihn: ›Wie wäre es jetzt mit dem Drink?‹. Zehn Minuten später besorgt er es mir im Keller auf dem Billardtisch mit einem Handtuch unter meinen Hüften. Denn das war seine größte Sorge im Hinblick auf meine Jungfräulichkeit. Dass ich den Filz vollbluten könnte, immerhin kannte er die Mieter des Hauses. Vermutlich hielt er kaum fünf Minuten durch, aber mir erschien es wie eine Ewigkeit. Zum Glück war ich noch feucht vom Surfer, sonst hätte es wirklich wehgetan.«
»Jenny …«
»Der Clou kommt noch. Als er fertig war und ich das Handtuch über und über mit Blutflecken beschmutzt hatte, warf er das Kondom neben mich auf den Billardtisch, zog die Hose hoch, drehte sich um und verschwand wortlos.«
Wells steuerte den Jeep an den Straßenrand. Mittlerweile hatte es leicht zu regnen begonnen, sodass sich die Windschutzscheibe beschlug und sich die Straßenlichter als Ringe auf der Scheibe spiegelten. Langsam fuhren Autos vorüber. Sie wurden von Männern und Frauen gelenkt, die in Einkaufszentren, Krankenhäusern oder Büros in der Stadt arbeiteten und ein anständiges, ruhiges Leben führten. Von Menschen, die er nie kennen lernen würde.
Warum, Jenny?, hätte er beinahe laut gefragt. Warum hast du das getan? Aber er hielt sich zurück. Sie hatte es getan, weil sie es wollte, und sie hatte es ihm erzählt, weil sie es wollte. Was gab ihm das Recht, sie zu verurteilen? Sein eigener Lebenslauf verlieh ihm auch nicht gerade viel moralische Autorität. »Warst du froh, dass du es getan hast?«, fragte er schließlich.
Als sie näher an ihn heranrückte, wusste er, dass er die richtige Frage gestellt hatte. »Ja. Obwohl ich nie wieder so etwas getan habe. Es ist, als würde man Säure verschütten. Ein kleiner Tropfen kann einiges zerstören. Auch wenn der Kerl glaubte, mir etwas genommen zu haben, gab in Wirklichkeit ich ihm etwas. Denn ich tat genau, was ich tun wollte. Vielleicht klingt das jetzt verrückt, aber so fühlte ich damals. Ich habe auch nie wieder mit ihm gesprochen. Ich wusste ja nicht einmal seinen Namen. Allerdings glaube ich, dass ich ihn Jahre später, nach meinem College-Abschluss, in Berkley wiedergesehen habe. Zum Glück saß ich in meinem Auto und fuhr einfach weiter. Das ist also deine Geschichte, John, und ich hoffe, dass sie dich warm hält, wo immer du auch hingehst«, schloss sie mit ihrem tiefen rauchigen Lachen.
Er sah sie an, wendete dann den Blick ab und sah wieder zu ihr hinüber. »Darf ich dich etwas fragen?«, sagte er schließlich mit kaum vernehmbarer Stimme.
»Solange du mich nicht um eine weitere Geschichte bittest. «
»Du bist damals nicht gekommen, ich meine, in der Nacht, bevor ich fortging, oder?«
»Nein, und ich wusste, dass du auch nicht kommen würdest. Wir vergeben unsere Chancen immer wieder. Und wenn du nicht beabsichtigst, noch mehr Zeit mit Vinny Duto zu verbringen, solltest du jetzt aufbrechen.«
»Jenny. Jennifer …«
Sie wusste, was er sie fragen würde, noch ehe er die Worte aussprach. Vielleicht sogar noch bevor sich der Gedanke in seinem Kopf bildete. »Ja, John.«
»Ja, was?«
»Ja, ich vertraue dir, John. Selbstverständlich. Warum hätte ich dir sonst erzählen sollen, was ich gerade erzählt habe?« Er schien ihr noch etwas anderes sagen zu wollen, unterließ es dann aber. Als er sich zu ihr beugte, glaubte sie für einen Augenblick, dass er sie küssen wollte. Sie hielt ganz still, ohne sich zu ihm oder von ihm weg zu neigen, gebannt, sehnsüchtig, wütend und ängstlich zugleich. Vor allem aber sehnsüchtig. Und dann küsste er sie, über Kilometer und Jahre hinweg. Es war ein keuscher Kuss, Lippe auf Lippe, der sich zu einem warmen, offenen, süßen Kuss entwickelte, bis sie die Kraft fand, sich loszureißen.
»Geh jetzt«, sagte sie.
»Hör zu. Kennst du den Park in Kenilworth, die Aquatic Gardens?«, fragte er. Die Aquatic Gardens waren ein kleiner Nationalpark am Ostufer des Anacostia River, in der Nähe des Stadtviertels, in dem Wells den Jeep gestohlen hatte.
»In East Cap?«
»Wenn ich dich brauche, werde ich dir eine Nachricht zukommen lassen, in der es heißt, dass alles ›glatt geht‹. Dann findest du mich dort.«
»Und was, wenn ich dich brauche?«
Wells schwieg. Als sie ihm schließlich mit der Hand über die Wange strich, hob er das Kinn, als würde er einen Segen erhalten.
»Pass auf dich auf, John.«
Wieder schwieg er eine Weile. Dann lachte er ein wenig reumütig. »Bis bald.«
Nachdem sie ausgestiegen war, zögerte er noch einen Augenblick, ehe er davonfuhr. Exley blickte dem Jeep nach, bis er nicht mehr zu sehen war, und auch dann sah sie immer noch in dieselbe Richtung. Als könnte sie ihn zurückbringen, indem sie einfach stehen blieb. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in diesem Jeep zu sitzen.
Bis bald, John.
Bitte.