MÜNCHEN
Als Clara am nächsten Morgen erwachte, war sie aus irgendeinem Grund glücklich. Der Zipfel strahlend blauen Himmels vor ihrem Schlafzimmerfenster versprach einen sonnigen Oktobertag, und sie fühlte sich ausgeruht, entspannt und erfüllt von dieser morgendlichen Leichtigkeit, die daher rührte, dass die üblichen Alltagsgedanken, verbunden mit dem Gefühl drohender Verpflichtungen, noch nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen waren. Es befand sich noch in der fedrigen, gewichtslosen Schwebe zwischen Schlaf und Erwachen, und Clara blieb still liegen, blinzelte mit halbgeschlossenen Augen in den blauen Himmel und versuchte, dieses Gefühl so lange wie möglich auszukosten. Dann sprang sie aus dem Bett und stellte sich eine Viertelstunde unter die heiße Dusche. Mit Elise im Schlepptau spazierte sie später zum samstäglichen Markt bei der Mariahilfkirche und kaufte Salat, Äpfel, einen Kürbis, frisches Brot, Weintrauben, Käse und einen großen Strauß Herbstblumen. Nach einem ausgiebigen Frühstück in ihrer Küche und einer Zigarette am offenen Wohnzimmerfenster mit Blick auf die Kastanie vor ihrem Haus überlegte sie, was sie mit diesem so unverhofft schön begonnenen Wochenende anfangen sollte. Unweigerlich fiel ihr dabei die graue Mappe in ihrer Tasche ein, die noch darauf wartete, gelesen zu werden, und ihr Gespräch mit Pater Roman gestern Abend. Sie schüttelte den Kopf und schloss das Fenster. Das konnte warten. Zwei arbeitsfreie Tage sollten es werden. Das Gefühl von heute Morgen nach dem Aufwachen hielt noch immer an, und sie hatte keine Lust, es sich von dem beklemmenden Gefühl, das sich in der Sache Ruth Imhofen unweigerlich einstellen würden, verderben zu lassen. Noch bevor sie sich einen einzigen Zweifel erlaubte, ging sie in den Flur, um Mick anzurufen.
Kommissar Gruber saß an diesem Samstagvormittag ebenfalls in seiner Küche und las die Zeitung. Ab und zu hob er den Kopf und beobachtete seine Frau Irmgard, wie sie schweigend den Frühstückstisch abräumte. Sie trug Radlerhosen in Pink und Schwarz und ein passendes Stirnband. Ihr Hintern sah grotesk groß in dem glänzenden enganliegenden Stoff aus, und auch die Jacke, die sie darüber trug und die aus diesem neuen Material war, das angeblich so warmhielt und unbedingt hatte sein müssen, hätte mindestens zwei Nummern größer gehört.
Sie sieht aus wie eine Qualle, dachte Gruber böse. Wie eine fette Qualle im Taucheranzug. Früher hatte er die runden Formen seiner Frau gemocht. Hatte sie drall und üppig gefunden. Sexy halt. Wahrscheinlich hatte er ihr das zu selten gesagt. Es waren ja immer die Männer schuld, weil sie zu wenig redeten, zu wenig zärtlich, aufmerksam oder was sonst noch alles waren. Dass sie vielleicht einen Scheißjob hatten und Geld verdienen mussten, damit sich die gnädige Frau ein neues Westerl oder Bluserl kaufen konnte, das interessierte ja niemanden.
Radltreff nannte sich die Veranstaltung, zu der seine Frau neuerdings immer samstags mit ihrem neuen Montainbike fuhr, mühsam ihren fetten Arsch auf dem winzigen Sattel im Gleichgewicht haltend. Dann radelte sie mit dem Adi und der Gitti, dem Rolf und dem Wolfgang und noch ein paar Weibern in ihrem Alter durch den Englischen Garten, an der Isar entlang bis nach Wolfratshausen. Gruber vermutete seit längerem, dass bei diesen Treffen noch was anderes lief als nur die Radelei. Doch seit ein paar Tagen wusste er es genau. Die Gitti, angeblich die beste Freundin seiner Frau, hatte es ihm gesteckt.
»Du weißt schon, dass die Irmgard was mit dem Adi hat, oder?«, hatte sie ihm letzte Woche in der Kneipe, wo sie sich alle manchmal trafen, ins Ohr geflüstert und dabei mitfühlend seinen Arm gedrückt.
Der Adi war es also. Gruber hatte vage genickt und seinen Arm weggezogen.
Doch die Gitti hatte weiterreden wollen: »Also ich versteh’ das ja gar nicht, mit diesem Adi, was sie nur an dem findet, wo ihr beide doch immer so verliebt wart …«
Da war er einfach aufgestanden und gegangen.
Adolf Wimbacher, der Versicherungsvertreter. Stirnglatze, Bauchansatz. Er kannte ihn nur flüchtig. Und seine Frau schlief mit ihm. Immer samstags nach dem Radltreff. Und wer weiß, wie oft unter der Woche, er war ja sowieso nie da. Da konnten sie sogar im Ehebett vögeln, und er würde es nicht merken. Gruber stand auf und stellte seinen Teller in die Spüle. Eigentlich fand er Irmgard immer noch sexy, besonders in dieser engen Jacke. Und gegen einen großen Hintern gab es auch nichts zu sagen.
Er drehte sich von ihr weg und nahm seine Jacke vom Haken hinter der Tür. »Ich muss noch mal ins Büro«, sagte er.
Irmgard nickte gleichgültig und schob sich eine lose Haarsträhne unter das Stirnband.
Er blieb stehen, wartete, wollte etwas sagen. Etwas Besonderes, etwas, mit dem sie wieder anfangen konnten. Zu reden und überhaupt. Doch er wusste nicht, wie er es anstellen sollte. »Viel Spaß beim Radeln«, sagte er und kam sich erbärmlich dabei vor.
Im Büro schlug er die Akte Imhofen auf. Sie bestand aus zwei Teilen, dem neuen, dünnen Ordner, der den Mord an Johannes Imhofen betraf, und einem dicken Ablageordner aus dem Archiv, der Fall Udo Reimers. Sie hatten die Akte der Staatsanwaltschaft nicht bekommen, angeblich war sie unauffindbar, aber zum Glück hatte es im Archiv eine komplette Zweitabschrift dieses alten Falles gegeben. Auf diese Sesselfurzer der Justizverwaltung hatte man sich ja noch nie verlassen können.
Er betrachtete das Foto von Ruth Imhofen, es war dasselbe, das in der Zeitung abgedruckt gewesen war, und verglich es mit der Frau, die er letzte Woche befragt hatte. »Die ist doch total kaputt«, murmelte er vor sich hin. »Fix und fertig ist die.« Die altbekannte, hilflose Wut stieg in ihm auf, als er an den verdammten Arzt dachte, der dabeigesessen und so getan hatte, als sei alles in bester Ordnung. Und dann diese Anwältin! Gruber konnte Anwälte nicht ausstehen. Sie waren die Pest. Obwohl es schon eine Ewigkeit her war, seit er auf der Polizeischule gewesen war, kamen ihm beim Anblick eines Vertreters dieser verhassten Berufsgruppe immer wieder die Verhaltensregeln für den Umgang mit Verteidigern in den Sinn, die man ihnen damals versucht hatte beizubringen: »Der Verteidiger ist ein Organ der Rechtspflege und arbeitet nicht gegen die Strafverfolgung, sondern für den Beschuldigten.« So eine gequirlte Scheiße. Ein anderer Satz fiel ihm dazu ein: »Der Verteidiger darf mit rechtsstaatlichen Mitteln die Wahrheit verhindern«, so hatte es allen Ernstes im Lehrbuch gestanden.
Ein feines Team hatte diese verrückte Imhofen da beisammen mit dieser rothaarigen Furie und dem Herrn Doktor Tenzer. Ihn hatte fast der Schlag getroffen, als er seinen Namen unter dem Gutachten gelesen hatte, mit dem die Imhofen entlassen worden war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man diesem Arzt damals die Zulassung entziehen müssen, mindestens. Lange waren ihm die Bilder des Mädchens nicht aus dem Kopf gegangen, ein Kind, missbraucht und weggeworfen wie ein Sack Müll. Und dann die Eltern. Wie sie ihn angesehen hatten. Sie hatten eine Erklärung gefordert, von ihm, von wem sonst? Er hatte ihnen keine geben können. Nichts hatte er ihnen geben können. Keinen Trost, keine Hoffnung. Die Frage war einfach offen geblieben, für ihn genauso wie für die Eltern: Warum hatte man diesen Mann nur aus der Klinik entlassen? Warum? Warum nur?
Und da saß er dann, zehn Jahre später, dieser arrogante Arzt im lässigen Sakko, und wieder hatte er ein Gutachten gemacht, das falsch gewesen war. Wieder hatte er ein Leben auf dem Gewissen. Wie konnte man damit nur weiterexistieren? Manche Menschen schwimmen eben immer oben. Wie die Fettaugen in der Suppe. Das hatte seine Mutter schon immer gesagt.
Gruber blätterte durch die Akte. Diese Ruth Imhofen war schuldig. Er wusste es, er spürte es. Und er würde es beweisen. Daran konnte auch diese Anwaltstussi nichts ändern. Die ganz besonders nicht. Er zog aus dem Posteingangsfach die Kopie eines Schreibens, das ihm sein Kollege hatte zukommen lassen: Die Strafanzeige eines Journalisten gegen Frau Rechtsanwältin Niklas wegen Körperverletzung. Es war sogar ein ärztliches Attest angefügt, das dem Opfer eine Prellung des Nasenbeins und ein Hämatom unter dem Auge bescheinigte und ihn für drei Tage arbeitsunfähig schrieb. Na ja, das mochte übertrieben sein, wie diese Atteste es meistens waren, aber in diesem Fall war ihm das ganz recht. Er schob das Blatt in die Akte und lächelte zufrieden.
Als Clara sich am Montag auf den Weg in die Kanzlei machte, war sie so beschwingt wie lange nicht mehr. Der Oktober hatte sich mit einiger Verzögerung doch noch darauf besonnen, dass er gemeinhin als »golden« bezeichnet wurde, und tat jetzt sein Bestes, um dieser Beschreibung gerecht zu werden: Er tauchte die Stadt in ein strahlendes, verheißungsvolles Morgenlicht. Claras Locken leuchteten mit dem Laub der Kastanien um die Wette, und ihre sonst so blasse Haut war nach der vielen Sonne und frischen Luft am Wochenende zart gerötet. Mick hatte nach ihrem Anruf am Samstagmorgen einen Freund gebeten, ihn im Pub zu vertreten, und hatte sie mit seinem alten, klapprigen Riesenjeep spontan zu einem Ausflug in die Berge abgeholt. Sie waren stundenlang an einem See spazieren gegangen und hatten in einer Pension übernachtet. Am nächsten Tag waren sie mit der Seilbahn auf einen Berg gefahren, was nicht nur Elise an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht hatte: In der an beiden Seiten offenen Gondel war nur Platz für zwei Personen bzw. eine Dogge und höchstens eine Person gewesen und weit und breit kein Platz, sich zu verkriechen. Elises verzweifelte Versuche, es trotzdem zu tun, hatten die Kabine bedenklich zum Schwanken gebracht und bei Clara für einen heftigen Schweißausbruch gesorgt.
Claras Röte vertiefte sich, als sie an die anderen schönen Dinge dachte, die sie noch getan hatten und die ganz erheblich dazu beitrugen, dass sie heute Morgen wie auf Wolken über die Isarbrücke schwebte und nicht einmal mit der Wimper zuckte, als Elise ungezogenerweise mitten auf den Bürgersteig einen großen Haufen machte und Clara mit Hilfe einer Plastiktüte und unter den strengen Augen einer Passantin die Hinterlassenschaft entfernte und mit spitzen Fingern in den nächsten Mülleimer fallen ließ.
In der Kanzlei erwartete sie Linda mit dem Telefonhörer in der Hand. »Ihre Mutter. Sie hat schon zweimal angerufen!«, flüsterte sie und drückte den Vermittlungsknopf. Ein fröhliches Klingeln ertönte auf Claras Schreibtisch.
»Ja doch!«, murrte Clara und hechtete nach oben. Auf ihrem Schreibtisch wuchs ein Baum. Zumindest sah es so aus. Ein dicker Ast lag quer über ihren Akten und bröselte alte Blätter und Rindenkrümel auf Ordner und Papiere. Clara grabschte darunter und bekam das Telefon zu fassen. Ihre Mutter teilte ihr mit, dass am Nachmittag Ralph Lerchenberg beerdigt werden würde. Clara überlegte kurz, dachte an Lerchenbergs Frau und seine beiden kleinen Töchter und schluckte. Doch sie versprach, zu kommen. »Bis dann.« Ihre Mutter klang zufrieden, als sie sich verabschiedete.
Clara musterte ratlos den Ast, der mit seinen knorrigen Ästen den Bildschirm verdeckte. Auf ihrer Schreibtischunterlage krabbelte eine einsame Ameise. »Was soll das?«, rief sie zu Linda hinunter, doch es war Willi, der antwortete.
Mit einer Tasse Tee war er gerade aus der Küche gekommen und grinste: »Das waren Herr Kravic und seine Frau.«
Clara stöhnte. Die Eheleute Kravic waren langjährige, jedoch wenig geliebte Mandanten von ihr, emsige Querulanten, die - wenn es nach ihnen gegangen wäre - schon die halbe Stadt verklagt hätten. Clara war es bisher immer gelungen, mit Geduld und indem sie ihnen eine ganze Menge wichtig und ernsthaft klingenden anwaltlichen Blödsinn erzählte, die Klagen auf ein halbwegs erträgliches Maß zu reduzieren und sich auf die Fälle zu beschränken, die wenigstens ein Fünkchen Erfolgsaussicht in sich bargen.
»Was nun schon wieder? Hat der Ast Frau Kravic heimtückisch angegriffen?«, fragte sie und hob das Corpus Delicti von ihrem Tisch.
»Fast erraten! Der Angriff galt jedoch nicht Frau Kravic, sondern ihrem Toyota Corolla, der durch den Ast am Dach verkratzt wurde, als sie auf dem Weg zur Fußpflege war. Sie möchten jetzt die Fußpflegerin auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verklagen.« Willis Grinsen wurde breiter, als er Claras erschüttertes Gesicht sah. »Herr Kravic hat den Täter gleich erkennungsdienstlich behandelt.«
Er deutete auf das Ungetüm, das Clara neben das Fenster gelehnt hatte, wo es sehr dekorativ wirkte. Sie folgte Willis Blick und bemerkte erst jetzt, dass einer der ausladenen Äste an der Spitze sorgfältig mit gelbem Leuchtklebeband umwickelt war.
Clara schaute Willi Hilfe suchend an. »Ich habe im Moment wirklich sehr viel um die Ohren, könntest nicht du … ausnahmsweise …?«
Willi schüttelte entschieden den Kopf. »Das kannst du vergessen.« Er quetschte sich hinter seinen Schreibtisch, schob einen Stapel dicker Kommentare vorsichtig auf die Seite und platzierte seine Teetasse daneben. »Ich habe ihnen gesagt, du hast die ganze Woche Termine bei Gericht, deshalb kannst du dich frühestens am Freitag bei ihnen melden. Sie waren sehr beeindruckt davon, dass du so eine viel beschäftigte Anwältin bist.«
Clara atmete auf. Sie würde sich um Herrn und Frau Kravic kümmern. Aber nicht heute, nicht jetzt. »Danke!« Sie wischte mit der Hand die Brösel von ihrem Tisch und warf die Blätter in den Papierkorb. Die Ameise hatte sich irgendwo verkrochen. Sie fühlte sich sicher einsam hier, so ohne ihren Staat, überlegte Clara flüchtig. Dachten Ameisen? Überlegten sie, wohin es sie verschlagen hatte? Suchten sie einen Weg zurück zu ihrem Volk? Na ja, vielleicht gab es doch noch wichtigere Dinge, als über das Schicksal einer Ameise nachzudenken. Sie stand auf, um sich einen Kaffee zu holen.
Als sie ein paar Stunden später in der S-Bahn nach Starnberg saß, fielen ihr die Eheleute Kravic wieder ein, und sie musste lächeln. Wer weiß, ob ihre Nerven diesen Beruf auf Dauer ausgehalten hätten, wenn unter den vielen bedrückenden Dingen, die bei ihr landeten, nicht immer wieder einmal auch ein Ehepaar Kravic gewesen wäre.
Der Friedhof von Starnberg lag ein wenig außerhalb des Ortes auf einem Hügel mit Blick auf den See. Die Trauergemeinde war groß, und Clara, die zusammen mit ihrer Mutter und zwei Kirchenvorstandsmitgliedern in den hinteren Reihen stand, versuchte zunächst vergeblich, Frau Lerchenberg zu erspähen. Erst als sich die Reihen der Trauernden ein wenig lichteten, sah sie die rundliche Gestalt im eleganten, schwarzen Kostüm.
Sie weinte ungeniert, ohne sich um die Tränen zu kümmern, die ihr über die Wangen liefen. Ihre Kinder hielt sie mit beiden Armen fest umklammert. Es waren zwei Mädchen, die größere von beiden, mit Pferdeschwanz und dichtem Pony, weinte genauso regungslos wie ihre Mutter, das kleine Mädchen trug zwei dünne Zöpfchen und blickte mit großen, verständnislosen Augen umher. Beide hatten Britta Lerchenbergs helle Haare geerbt. Ein Mann kam auf das Grab zu und warf eine Schaufel Erde hinein. Dann ging er auf die Witwe zu und wollte ihr die Hand reichen. Britta Lerchenberg ergriff sie nicht. Einen Augenblick lang verharrten beide wie Standbilder, er mit ausgestreckter Hand, die blonde Frau starr, mit verweinten Augen. Und dann spuckte sie ihn an.
Clara zuckte unwillkürlich zurück, genauso wie der Mann, der sich jetzt mit einer hastigen Handbewegung das Gesicht abwischte. Die umstehenden Trauergäste begannen zu flüstern, jemand machte eine schnelle Bewegung von hinten auf die Frau zu, ein älterer Herr mit gepflegtem Schnurrbart und gramverzerrtem Gesicht, Ralph Lerchenbergs Vater, wie Clara vermutete. Er legte den Arm um seine Schwiegertochter, beruhigend, stützend. Doch es war nicht nötig, Britta Lerchenberg zu stützen. Sie stand aufrecht und starrte den Mann, den sie gerade angespuckt hatte, noch immer unverwandt an. Endlich wandte sich dieser ab und ging.
Clara betrachtete ihn neugierig. Sie war sich sicher, dass es Dr. Selmany war. Er war nicht besonders groß, schlank, mit dunklen Haaren und ausgeprägten Geheimratsecken. Ein ziemlich gut aussehender Mann mit scharf geschnittenen Zügen und einer Adlernase. Ein paar Meter vom Grab entfernt blieb er stehen und kramte in den Taschen seines Mantels nach einem Taschentuch.
Clara ging auf ihn zu. »Guten Tag, Dr. Selmany«, sagte sie.
Er sah sie misstrauisch an, während er sich mit dem Tuch über das Gesicht rieb. »Ja?«
Clara stellte sich freundlich lächelnd vor. »Wir haben vor ein paar Tagen telefoniert. Es ging um Ruth Imhofens Krankenunterlagen.«
»Ach ja, Sie sind diese Anwältin, nicht wahr?« Er war unsicher, bemühte sich vergeblich um eine würdige Haltung, was angesichts der Tatsache, dass er gerade in aller Öffentlichkeit angespuckt worden war, ein eher schwieriges Unterfangen darstellte.
»Was wollen Sie denn noch?« Es sollte barsch klingen, doch die Angst dahinter war deutlich zu hören.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass sich die Angelegenheit erledigt hat, Sie brauchen nicht weiter nach den Unterlagen zu suchen.« Claras Stimme war noch immer zuckersüß. Sie wusste genau, dass Dr. Selmany keine Sekunde damit verschwendet hatte, für sie nach irgendwelchen Unterlagen zu suchen.
»Äh, ja, gut …« Er hob den Kopf, seine Unsicherheit war einer gewissen Wachsamkeit gewichen. »Wie meinen Sie das, erledigt?«, fragte er zögernd.
»Die Akten sind wieder aufgetaucht. Ich habe sie bereits gelesen.« Und dann fügte sie aufgrund einer plötzlichen Eingebung noch bedeutungsvoll hinzu: »Alle!«
Es war fast erschreckend anzusehen, wie blass Selmany bei diesen Worten wurde.
»Sie … haben … Sie wissen …«, krächzte er heiser und lockerte mit zwei Fingern seine Krawatte, als bekäme er keine Luft mehr.
Clara musterte den Arzt interessiert. Mit einer so heftigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Er würde doch wohl nicht umkippen? Doch gerade als sie sich nach möglichem Beistand umsah, packte Dr. Selmany sie am Arm. Clara fuhr herum. »Lassen Sie mich sofort los!«, fauchte sie ihn böse an.
Dr. Selmany gehorchte augenblicklich. Mit einer beschwichtigenden Geste hob er beide Hände. Er hatte sich jetzt wieder gefangen. »Frau Anwältin, entschuldigen Sie, ich wollte nur … wir …« Er sah sich hektisch nach der Trauergemeinde um, die sich jetzt langsam in ihre Richtung bewegte, und senkte die Stimme. »Wir sollten uns noch einmal eingehend über die Sache unterhalten.« Er klang schmeichelnd. »Es wird Ihr Schaden nicht sein …«
Clara sah ihn an. »Wissen Sie was?«, fragte sie langsam, und als Dr. Selmany hoffnungsvoll den Kopf hob, warf sie ihm einen verächtlichen Blick zu: »Ich hätte gute Lust, Ihnen zu zeigen, was ich von Ihnen halte, doch Frau Lerchenberg hat das schon ganz trefflich erledigt.«
Dr. Selmany fuhr zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Seine Augen verengten sich, und mit einem Mal sah er überhaupt nicht mehr gut aus. »Sie machen einen großen Fehler, Frau Niklas«, zischte er, und dann platzte es aus ihm heraus: »Dr. Lerchenberg dachte auch, er wäre so ungemein klug, und er war sich ja so sicher …« Er verstummte unvermittelt, ihm war bewusst geworden, was er eben gesagt hatte.
Claras Mund verzog sich zu einem kalten Lächeln, obwohl ihr eher zum Schreien zumute war. »Ach, und da haben Sie ihn - bums - gegen einen Baum fahren lassen?« Als er nicht antwortete, meinte sie: »Bei mir müssen Sie sich etwas Besseres einfallen lassen, ich habe nämlich kein Auto.«
Sie drehte sich um und ließ ihn stehen. Mit schnellen Schritten verließ sie den Friedhof und hatte dabei das unangenehme Gefühl, dass sich Dr. Selmanys Blicke in ihren Rücken bohrten.
Sie ging den weiten Weg zurück in die Stadt, ohne auf ihre Mutter zu warten. Es tat ihr gut, durch die bekannten Straßen zu schlendern und dabei ihre Gedanken zu sortieren. Als Kind hatte sie es geliebt, ihre Großmutter zu besuchen. Am liebsten allein, ohne ihre lästigen Geschwister, die schon so groß waren und sich äußerst selten und dann immer nur sehr gnädig zu den Sonntagnachmittagsbesuchen herabließen. Und auch später noch, als Teenager, war sie immer gerne nach Starnberg gefahren. Oft war sie nach einem Streit mit ihren Eltern einfach in die S-Bahn gestiegen.
Ihre Oma hatte sie nie zurückgeschickt, auch nicht, wenn ihre Mutter oder ihr Vater erbost am Telefon darauf bestanden hatten. »Die Kleine bleibt jetzt erst mal eine Nacht hier«, hatte ihre Antwort stets gelautet, »dann könnt ihr euch wieder beruhigen.«
Clara war immer überzeugt gewesen, mit dem Wörtchen »ihr« meinte ihre Großmutter nur ihre Eltern, niemals sie. Sie durfte im ehemaligen Zimmer ihrer Mutter schlafen, im rosa geblümten Nachthemd ihrer Oma, und zum Frühstück gab es getoastetes Schwarzbrot mit Honig ans Bett, wenn nicht gerade Schule war. In diesem Fall war ihre Großmutter dagegen eisern und scheuchte sie in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett, damit sie ja pünktlich zurück in die Stadt kam.
Clara ging am See entlang über die Holzbrücke an der Bootswerft und dann quer über die große Wiese. In der Ferne zwischen den kahlen Bäumen sah sie schon die alte Villa ihrer Großmutter. Gesines silberner Audi parkte in der Einfahrt. Clara blieb stehen. Plötzlich kam es ihr nicht mehr so verlockend vor, mit ihrer Mutter noch eine Tasse Kaffee zu trinken, um die Beerdigung und ihre unangenehme Begegnung mit Dr. Selmany sacken zu lassen. Doch es war zu spät. Hinter ihr hupte es, und ihre Mutter fuhr winkend vorbei, neben sich und auf dem Rücksitz saßen die beiden Damen vom Kirchenvorstand.
Als Clara an diesem Abend nach Hause kam, war von ihrer morgendlichen Hochstimmung nicht mehr viel übrig geblieben. Das Kaffeekränzchen ihrer Mutter war anstrengend gewesen, die beiden Kirchendamen hatten sie unentwegt mit Fragen zu Ralph Lerchenberg gelöchert und die wildesten Mutmaßungen angestellt. Obwohl Clara nichts zu den Spekulationen beitrug, sondern nur nachdenklich ihren Kaffee trank, ab und zu nickte und zwischen zwei Bissen Schwarzwälderkirschtorte vage Antworten gab, waren am Ende beide sicher, dass der junge Doktor von dem finsteren Arzt mit dem ausländischen Namen irgendwie ermordet und dann ins Auto verfrachtet worden war, um es wie einen Unfall aussehen zu lassen.
Clara hätte ihnen gerne zugestimmt, doch andererseits wusste sie auch, dass es nicht so einfach war, einen Unfall vorzutäuschen, wie die beiden alten Damen meinten. Noch schwieriger würde es sein, es zu beweisen.
Eine der beiden, Frau Pronizius, die ihrem Yorkshireterrier mit roter Haarspange und fiesem Blick ein Tortenstückchen nach dem anderen zusteckte und der schlafenden Elise aus den Augenwinkeln misstrauische Blicke zuwarf, äußerte sogar die Vermutung, Dr. Selmany habe auch noch eine alte Dame aus ihrer Nachbarschaft auf dem Gewissen, die kürzlich offenbar ebenfalls verstorben war.
»Aber Esther, meine Liebe«, wandte Claras Mutter kopfschüttelnd ein. »Warum sollte jemand eine unschuldige alte Frau umbringen?«
Esther Pronizius zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich?« Und als ob dies schon als Motiv für einen Mord ausreichte, fügte sie noch hinzu: »Jedenfalls war sie auch so eine Psychoärztin.«
Die Reaktion ihrer Mutter auf diese abfällige Berufsbezeichnung und den sich daraus entspinnenden, üblichen kleinen Disput über Sinn und Unsinn von Psychotherapie »und all dem Zeugs, das es früher nicht gegeben hat«, folgte Clara nur mit halbem Ohr. Sie kratzte mit der Gabel die Sahnereste von ihrem Teller und grübelte über Dr. Selmany nach. Er war unglaublich erschrocken gewesen, als sie ihm gesagt hatte, sie habe die Unterlagen gelesen. Gab es möglicherweise noch mehr Leichen im Keller von Schloss Hoheneck? Die graue Mappe fiel ihr wieder ein. Sie musste sie heute Abend unbedingt lesen.
Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als ihre Schwester sie ansprach. »Was hast du gesagt?«, fragte sie zerstreut.
»Ich habe gefragt, wie es deinem jungen Liebhaber geht«, wiederholte Gesine und lächelte vergnügt.
»Du hast einen Liebhaber?«, fragte ihre Mutter erstaunt. »Davon hast du mir gar nichts erzählt.«
»Einen jungen Liebhaber?«, fragte Elsbeth Wiegerling, die Freundin von Frau Pronizius, und goss sich Sahne in den Kaffee. »Wie jung?« Sie zwinkerte anzüglich, und angesichts der Tatsache, dass sie schon auf die achtzig zuging, musste Clara lächeln, obwohl sie ihrer Schwester lieber an die Gurgel gefahren wäre. »Gemessen am Alter meiner Schwester ziemlich jung«, gab sie spitz zurück, und die alte Dame kicherte entzückt.
»Und stell dir vor, er ist Ire«, fuhr Gesine unbeirrt fort, und es klang so, als handelte es sich dabei um eine besonders abstoßende Krankheit. Sie warf Clara einen unschuldigen Blick zu: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du Mutter deinen Nick verheimlicht hast.«
»Ire? Ach, du meine Güte!« Claras Mutter schüttelte den Kopf. »Man möchte meinen, von diesen Landsmännern hättest du die Nase voll, Liebes!«
Clara spürte, wie sie rot wurde. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Esther Pronizius unterbrach sie.
»Irland soll ja ein sehr schönes Land sein, sagt man. Kulturell und überhaupt. Eine Wiege des Christentums. Wie hieß noch dieser Mönch? Du warst doch schon mal in Irland, Claraschätzchen, nicht wahr? Ich glaube mich zu erinnern …«
»Ich kannte einmal einen Franzosen«, wandte sich jetzt Frau Wiegerling an niemand Bestimmten, und ein versonnenes Lächeln spielte um ihren Mund. »Er hieß Jacques, oder war es Jean? Es war nach dem Krieg, Anfang der Fünfziger. Er nannte mich Elsie, und er trug immer so einen eleganten Hut …«
Clara legte die Gabel neben den Teller und faltete sorgfältig ihre Serviette. »Er heißt Mick«, sagte sie leise. »Und er ist, verdammt noch mal, kein Ire.« Niemand hörte sie. Als sie aufstand, hoben alle erstaunt den Kopf.
»Du gehst schon?«, fragte ihre Mutter und machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen, um sie hinauszubegleiten.
Clara winkte ab, und es gelang ihr sogar ein halbwegs aufrichtiges Lächeln. »Danke für den Kaffee. Ich muss noch mal in die Kanzlei.« Sie verabschiedete sich von den beiden Damen und warf ihrer Schwester eine spöttische Kusshand zu. »Gute Heimreise, Schwesterchen!«
Jetzt saß sie zu Hause an ihrem Schreibtisch, vor sich die graue Mappe aus dem Koffer, den ihr Britta Lerchenberg gebracht hatte. Neugierig schlug sie sie auf und blätterte durch die Seiten. Es waren chronologische Aufzeichnungen, teils getippt, teils handschriftlich, immer von der gleichen Person verfasst. Ein Protokoll oder etwas in der Art. Am oberen Rand war immer das Datum vermerkt und das gleiche Kürzel, wie sie es bereits in Ruths Krankenunterlagen gesehen hatte: CS. Es folgten detaillierte Zustandsbeschreibungen von Ruth, die jede einzelne Regung zu umfassen schienen.
Clara überflog die Seiten und runzelte die Stirn. Was sollte das bedeuten? Sie blätterte weiter. Ganz hinten in dem Ordner waren ein paar Kopien von wissenschaftlichen Aufsätzen eingeheftet, die meisten in Englisch. Sie stammten alle aus den Siebzigern, zwei deutsche Artikel waren 1978 und 1980 verfasst worden.
Clara begann beim ältesten Artikel eines amerikanischen Psychologieprofessors aus Massachusetts und kämpfte sich mühsam durch die fremden Fachausdrücke. Vieles davon war unterstrichen und mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. Clara verstand anfangs nur sehr wenig, der Artikel handelte offenbar von Untersuchungen, die an ehemaligen amerikanischen Kriegsgefangenen aus dem Koreakrieg durchgeführt worden waren. Der Autor bezog sich auf eine Studie aus den Sechzigern, die sich mit den Methoden der Folter und Gehirnwäsche des kommunistischen Regimes befasste.
An einem Satz blieb sie plötzlich hängen: »Wir sollten nicht zimperlich sein, die Erkenntnisse, die wir aus den Methoden und Möglichkeiten der Manipulation des menschlichen Gehirns gewonnen haben, auch auf unsere Wirklichkeit anzuwenden«, stand dort, und Clara überlegte, was hier wohl mit »unsere Wirklichkeit« gemeint sein könnte.
Sie wurde schnell fündig: Unumwunden stellte der Professor Überlegungen darüber an, wie sinnvoll es wäre, diese Methoden an Häftlingen in amerikanischen Gefängnissen zu testen. Jede Art von psychischer Folter wie beispielsweise das Vorenthalten von sensorischen Reizen, Isolationshaft oder ähnliche Methoden führten zu einem mental crack, einem Riss im geistigen Schutzmechanismus eines Menschen. Diese grundsätzlich negativen Auswirkungen der Folter könnten jedoch ins Positive umgewandelt werden, indem man diesen Riss dazu verwende, dem Kriminellen statt der unerwünschten Verhaltensweise ein von der Gesellschaft erwünschtes Verhalten einzuimpfen. Studien an Probanden hätten gezeigt, dass selbst bei kurzem Aufenthalt in einer Camera silens die Dinge, die ihnen währenddessen vermittelt worden seien, noch bis zu einem Jahr im Gehirn verankert geblieben seien, beispielsweise eine Vorliebe für ein bestimmtes Land, zu dem sie vor dem Versuch keinerlei Bezug gehabt hätten.
Clara zündete sich eine Zigarette an und starrte abwesend in die Luft. Folter, Gehirnwäsche … Versuche an Häftlingen … Sie versuchte, sich vorzustellen, dass so etwas möglich gewesen war, und zu ihrer Erschütterung fiel ihr diese Vorstellung nicht schwer. Guantanamo kam ihr unvermittelt in den Sinn und die Bilder von Gefangenen in orangefarbenen Anzügen mit Säcken über dem Kopf, am Boden kniend, gefesselt, in Käfigen aus Maschendraht. Eingesperrt ohne Prozess und ohne Aussicht auf Entlassung. Die perfekten Laborratten. Clara fröstelte. Sie ahnte, weshalb diese Artikel hier abgeheftet worden waren, doch es widerstrebte ihr, den Gedanken zuzulassen. In ihrem Kopf schrillte ein Alarm, der sie hartnäckig auf etwas hinzuweisen begann, und sie konnte ihn nicht länger ignorieren. Langsam blätterte sie zurück und las diese unheimlichen, weil so grauenhaft wissenschaftlichen Artikel noch einmal, Satz für Satz. Da, da stand das Wort, über das sie unbewusst gestolpert war: Camera silens: CS.
»Bei der Camera silens (lat. schweigender Raum) handelt es sich um einen vollständig schallisolierten Raum ohne Tageslicht. Ein längerer Aufenthalt dort kann zu Halluzinationen und anderen Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsfähigkeit führen. Die Camera silens wurde und wird teilweise als Folterinstrument verwendet. Aus experimentalpsychologischen Untersuchungen weiß man mit Gewissheit, dass solche Bedingungen in kürzester Zeit Menschen physisch und psychisch zerrütten können.« Clara starrte auf die Internetseite, auf der sie die Definition gefunden hatte, und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Ihre Finger, die noch immer die längst schon heruntergebrannte Zigarette festhielten, zitterten. Deshalb war dieser elende Selmany also so erschrocken gewesen. Dieses Geheimnis zu wahren, war der Klinik einiges wert, darauf mochte sie wetten. Sie suchte weiter, klickte sich durch viele Seiten und erfuhr eine ganze Menge Dinge, die sie eigentlich gar nicht wissen wollte. Mit einer heftigen Handbewegung schaltete sie schließlich den Computer aus.
Angewidert schaute sie auf die graue Mappe vor ihr, die sie, nachdem sie wusste, worum es ging, nochmals gründlich studiert hatte. Man hatte Ruth Imhofen und vermutlich nicht nur sie über acht Monate regelmäßig in einen schallisolierten Raum gesperrt und dabei die Aufenthaltsdauer stetig erhöht. Clara wusste nicht, wie lange eine Zeiteinheit dauerte, am Ende war der Aufenthalt jedoch mit 20 ZE angegeben. Die »Therapie« und deren Auswirkungen auf die Patientin waren akribisch festgehalten. So hatte Clara schaudernd erfahren, dass die Patientin mit zunehmender Aufenthaltsdauer in immer kürzeren Abständen »gravierende Verhaltensstörungen« aufwies, die auch nach der eigentlichen »Behandlung« noch nachdauerten und eine stete Erhöhung der Medikamentendosis erforderlich machten.
Die Ärztin konstatierte eine zunehmende »emotionale Instabilität«, Verwirrtheit, Apathie und zeitliche und räumliche Desorientierung. Weiter war ein rapider Gewichtsverlust festzustellen. Diese Symptome wertete die Ärztin als positiv im Sinne der amerikanischen Forschungsansätze, da sich hieran der mental crack ausmachen ließe und damit die Möglichkeit einer therapeutischen Einflussnahme »zum Wohle der Patientin« eröffnet werde.
Nach acht Monaten endeten die Aufzeichnungen jedoch abrupt. Jemand hatte auf das letzte Blatt »Therapie abgebrochen« gekritzelt - und Schluss. Keine Auswertung, keine Begründung, keine Dokumentierung etwaiger »Heilerfolge«. Nichts.
Clara klopfte mit dem Stift auf die Mappe. »Da ist etwas schiefgegangen, irgendetwas ist aus dem Ruder gelaufen«, murmelte sie nachdenklich. Dann schaltete sie ihren Computer wieder ein.
Es war kurz nach eins, als sie sich endlich von ihrem Schreibtisch erhob und sich mühsam streckte. Über drei Stunden hatte sie noch damit verbracht, in Gesetzeskommentaren zu stöbern, nach Gerichtsentscheidungen zu suchen und die Informationen, die sie hatte, zu sammeln und aufzuschreiben. Jetzt brannten ihre Augen, und sie war so müde, dass sie glaubte, kaum noch aufrecht stehen zu können, aber sie hatte einen groben Klageentwurf und eine Strafanzeige gegen die Klinik fertig. Das reichte noch nicht, aber es war ein Anfang. Es war etwas, was sie tun konnte und womit es ihr gelang, sich von den Bildern zu lösen, die in ihrem Kopf umherspukten und ihr Gänsehaut verursachten.
Hoffentlich gelang es ihr, Ruth dazu zu bewegen, über das zu sprechen, was ihr in Schloss Hoheneck widerfahren war. Sie musste noch mal mit Pater Roman reden, brauchte detaillierte fachliche Informationen. Und sie musste die ehemalige Leiterin der Klinik zu fassen bekommen: Dr. Agnes Thiele. Sie war der Dreh- und Angelpunkt der ganzen widerlichen Geschichte. Sie hatte mit ihrem Gerichtsgutachten dafür gesorgt, dass Ruth Imhofen in Schloss Hoheneck untergebracht worden war, und sie war die Leiterin der Versuche gewesen. Kein Wunder, dass ihr Interesse daran, Ruth zu entlassen, gleich null gewesen war. In einem alten Ärzteverzeichnis, das Clara im Internet gefunden hatte, war als Wohnort Starnberg angegeben. Clara hatte im aktuellen Telefonverzeichnis nachgeschlagen, tatsächlich gab es in Starnberg eine Frau Dr. Agnes Thiele. Sie hatte sich die Adresse notiert. Ebenfalls aus dem Ärzteverzeichnis wusste sie, dass Frau Thiele Jahrgang 1930 war. Also war sie jetzt eine alte Frau, längst im Ruhestand. Vielleicht gelang es Clara, sie zum Reden zu bringen, vielleicht wollte die Ärztin reinen Tisch machen? Sicher war Ruth nicht die einzige Patientin gewesen, die man auf diese Weise misshandelt hatte. Vielleicht gelang es Clara, noch andere Leidensgenossen zu finden.
Diese Klage musste so hieb- und stichfest sein wie nur irgend möglich. Sie würde eine Menge Staub aufwirbeln, da konnte sie nicht riskieren, wegen unzureichender Beweise oder medizinischer Ungenauigkeiten zu scheitern. Ihr wurde ein wenig schwindlig, als sie daran dachte, was vor ihr lag. Sie würde Willi bitten, den Fall mit ihr zusammen zu bearbeiten. Er war der Tüftler unter ihnen, der Besonnene, der Lücken in der Argumentation und mögliche Fallstricke ausmachen konnte wie kein anderer. Sie schenkte sich ein großzügiges Glas Whiskey ein. »Ich krieg’ dich an den Eiern, Selmany«, flüsterte sie und trank einen großen Schluck, der in ihrer trockenen Kehle wie Feuer brannte. »Du wirst keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen, wenn ich mit dir fertig bin, das verspreche ich dir.«
Claras hektische Aktivitäten zur Vorbereitung einer Klage gegen die Klinik konnten das Entsetzen über ihre Entdeckung jedoch nur vorübergehend eindämmen. Als sie im Bett lag, kamen die Bilder in unverminderter Deutlichkeit zurück. Das Wort Folter verfolgte sie in ihre Träume hinein, leuchtete in einem kalten neongrünen Flimmern über den verschwommenen Bildern von endlosen Gängen und engen, leeren Kammern. Sie träumte von Schreien, die in ihren Ohren hallten, und ihr war, als würde sie festgehalten, auf einem Stuhl gefesselt, und sie erkannte, dass es ihre Schreie waren, die sie hörte. Irgendwann kroch das Wort in sie hinein, drang in ihre Ohren und Nasenlöcher, breitete sich hinter ihren Augäpfeln aus wie ein Parasit und klopfte und hämmerte gegen ihren Schädel: Folter! Folter! Folter!
Clara erwachte stöhnend und mit heftigem Herzklopfen. Ihre Gliedmaßen waren so sehr in die Bettdecke verwickelt, dass sie sich nicht bewegen konnte, was sie für einen Augenblick in helle Panik versetzte. Wie eine Verrückte strampelte sie sich frei und blieb schließlich schwer atmend und schweißgebadet auf dem leeren Bett liegen. Obwohl es erst kurz nach fünf war, konnte sie nicht wieder einschlafen. Nach ein paar halbherzigen Versuchen stand sie schließlich auf und kochte Kaffee. Fröstelnd saß sie auf ihrem Küchenstuhl und wärmte ihre Hände an der heißen Tasse.
Sie versuchte erneut zu begreifen, was sie gestern gelesen hatte. Sie versuchte es in ihren Alltagsverstand einzuordnen. Es war nichts, was irgendwo, vielleicht geschehen sein mochte, weit weg, in einem fremden Land, einer längst vergangenen Zeit oder mit welchen Beschwichtigungen auch immer man sich sonst zu beruhigen versuchte, wenn man Ähnliches in der Zeitung las oder ein abstoßendes Foto zu Gesicht bekam. Kein fremdes Land, kein Krieg, keine »andere Kultur«. Nichts von alldem. Hier vor ihrer Haustür, im reichen, beschaulichen Starnberg, war so etwas möglich gewesen. Man hatte einen hilflosen Menschen, der eigentlich der rechtsstaatlichen Kontrolle und Obhut unterlag, zu einem Versuchstier gemacht. Der Staat hatte ihn diesen Ärzten ausgeliefert. Und vergessen.
Clara spürte, wie ihr übel wurde. Die Küche schien plötzlich kleiner zu werden, die Wände rückten zusammen, sie würden sie zerquetschen, wenn sie hier sitzenblieb. Sie begann hektisch zu atmen, hyperventilierte und merkte, wie ihre Hände zu kribbeln begannen und ihr schwindlig wurde. Hastig sprang sie auf und lief ins Bad. Dort übergab sie sich, würgte und hustete krampfhaft, nichts als Kaffee und Galle. Erschöpft blieb Clara neben der Kloschüssel sitzen. Ihr Nacken war schweißnass, und sie zitterte. Ein Whiskey, kam ihr plötzlich in den Sinn, ein kleiner Schluck Whiskey, nur zur Beruhigung …
»Nein!« Wie ein großes Stoppschild erschien dieses Wort vor ihren Augen, und im gleichen Moment verebbte das Bedürfnis. Sie atmete tief ein, dann stand sie auf. Ihre Beine waren wacklig, und ihr Herz klopfte noch immer heftig in Höhe ihres Halses. Sie konnte jeden einzelnen Schlag schmerzhaft spüren. Mit klammen Fingern zog sie sich aus und kletterte in die Duschkabine.
Elise hatte Claras hektische Morgenaktivitäten von ihrem sicheren Platz im Flur aus interessiert beobachtet. Als Clara jetzt aus der Dusche stieg, sprang sie auf und rieb sich zur Begrüßung an ihren nassen Beinen, was zur Folge hatte, dass eine ganze Menge loser Haare an Claras feuchtem Oberschenkel kleben blieb. »Also wirklich!« Clara schob Elise weg und versuchte, die Hundehaare mit dem Handtuch abzurubbeln. Natürlich war es vergeblich, so ähnlich, als wolle man die Krümel auf ihrer durchgesessenen Wohnzimmercouch einzeln herunterpflücken. Also noch mal unter die Dusche.
Sehr sauber, aber nicht unbedingt frisch, machte sich Clara eine halbe Stunde später auf den Weg in die Stadt, um zu frühstücken. Sie brauchte Menschen um sich, wollte nicht einsam in ihrer Küche sitzen bleiben und riskieren, dass sich deren Wände noch einmal auf sie zubewegten. Rita versprach Trost und Rettung. Ein großer Cappuccino mit einer Wolke schaumiger Milch, ein dickes Schokoladencroissant und vielleicht noch eines mit Crema, dieser unvergleichlich buttrigen Vanillecreme … damit würden sich die Gespenster, wenngleich nicht vertreiben, so doch besänftigen lassen.