CADAQUÉS
Mein Geliebter,
es war ein Fehler, sie anzugreifen. Natürlich war es das. Du hättest es mir gesagt, nicht wahr? Aber ich hätte es auch selbst wissen können. Sie ist die neue Herrscherin im weißen Schloss. Die Schneekönigin. Mir wurde schlecht, als sie es mir heute sagten. Ich habe ihnen vor die Füße gekotzt. Auf ihre weißen Schuhe. Sie haben geflucht. Später ist sie selbst gekommen. Sie hatte mir ein sanftes Lächeln mitgebracht, eines von dieser Sorte, wie sie die Puppen in den Spielwarengeschäften haben. Ihre Stimme hat keine Farbe, ich kann ihre Stimme nicht sehen. Das macht mir Angst, ich kann sie nicht erkennen. Hallo, Schneekönigin, habe ich zu ihr gesagt, ich wollte nicht, dass sie meine Angst sieht. Aber ich glaube, ihre Wasserpfützenaugen können sowieso nur die Dinge sehen, die sie sehen wollen. Sie hat mir etwas von einer neuen Therapie erzählt, die sie in Amerika getestet hätten, bei Menschen mit ähnlichen Problemen wie ich sie habe. Habe ich Probleme?, habe ich gefragt und gelacht, ich bitte Sie, das sind doch keine Probleme … Sie hat nicht mitgelacht. Das Puppenlächeln auf ihrem Gesicht war festgeklebt. Sie hätte erst rausgehen müssen und ein anderes holen. Wahrscheinlich hat sie irgendwo in ihrem Zimmer eine Schachtel mit verschiedenen Gesichtsausdrücken, die sie bei Bedarf aufkleben kann auf ihr Eisgesicht. Ich habe sie nach der Schachtel gefragt. Sie hat nicht reagiert, natürlich nicht. Man darf hier alles tun, Leute angreifen, kotzen, schreien, sogar in die Hose pinkeln, aber ironisch sein oder witzig, das geht nicht. Sie verstehen das nicht.
Der Mann lächelte traurig, als er die letzten Zeilen las. Er strich fast zärtlich über das Papier und stellte sich dabei vor, er streichle ihr Gesicht. Ihre hohen Wangenknochen, die sie so arrogant wirken ließen, den großen Mund, der unaufhörlich reden konnte. Er sah ihre dunklen Augen funkeln, spöttisch, voller Humor.
Er erinnerte sich an eine Ausstellung die sie damals an der Kunstakademie mit organisiert hatten. Verrückte Dinge waren dabei gewesen, aber den Vogel hatte Ruth abgeschossen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatte sich einen großen Käfig gebaut und an der Decke der Eingangshalle aufgehängt, wie einen dieser alten Kanarienvogelkäfige aus Holz. Dort hatte sie sich hineingesetzt, nur mit BH und Slip bekleidet, und jedes Mal, wenn ein Besucher hereinkam, wurde er mit einem schrillen Pfeifen aus einer Flöte und herabrieselndem Stroh begrüßt. Die Leute waren von der Frau im Vogelkäfig mehr irritiert gewesen, als er es sich damals hatte vorstellen können. Er hatte geglaubt, um zu schocken bräuchte es etwas Plakativeres, Ekelerregendes, Krieg, Blut, Gewalt, all das, was sich auch die üblichen Verdächtigen ausgedacht hatten. Doch Ruths »Vogelperspektive«, wie sie ihre Aktion schlicht nannte, wirkte viel verstörender, beunruhigender als alles andere. Die Leute versuchten, mit ihr zu sprechen, doch sie blies nur auf der Flöte. Ab und zu griff sie zwischen den Gitterstäben heraus und nahm einen Schokoriegel oder eine Banane entgegen, die ihr manche Besucher hinaufreichten, als wäre sie tatsächlich ein Tier im Zoo.
Und dann die feierliche Eröffnungsrede, immer wieder unterbrochen von Ruths wenig melodiösem Flötenspiel. Der etwas hilflos wirkende Bürgermeister und daneben, im dunkelblauen Anzug, Ruths Bruder, frischgebackener Stadtrat, Ehrgeizling und Karrierist, wie er im Buche stand, mit zornrotem Gesicht. Am nächsten Tag war das Foto in allen Zeitungen zu sehen gewesen: Die Schwester des Stadtrats, halbnackt im Käfig, mit einer Banane in der Hand. Danach avancierte Ruth für eine Zeitlang zum Liebling der Feuilletons, gab Interviews, in denen sie mal Kluges, mal komplett Unsinniges von sich gab, und posierte Gitanes rauchend in ihrem »Atelier«, einer heruntergekommenen ehemaligen Autowerkstatt in Giesing. Dabei wurde jeder ihrer Sätze, jede ihrer Handlungen in Beziehung zu ihrem Bruder gesetzt. Genüsslich wurde ihr im Grunde eher halbherziges Engagement in der Friedensbewegung ausgewalzt und zum Gegenpol des politischen Engagements ihres Bruders, eines glühenden Strauß-Anhängers, hochstilisiert. Als sie anlässlich einer Demonstration vorübergehend festgenommen wurde, zierte am nächsten Tag ein Bild die Boulevardzeitungen, in der sie zusammen mit ihrem acht Jahre älteren Bruder als Kinder beim Baden in der Isar zu sehen war. Der schwarze Hannes und seine Krawallschwester in besseren Tagen lautete die spöttische Bildüberschrift.
Danach war das Interesse an Ruth langsam wieder verebbt, war von anderen Geschichten verdrängt worden. Ruth hatte das gleichgültig hingenommen, so wie ihr auch der Rummel um ihre Person im Grunde gleichgültig gewesen war. Sie war immer auf der Suche nach etwas anderem gewesen, etwas, das ihr die Aufmerksamkeit der Medien nicht geben konnte. Er selbst hatte nie wirklich verstanden, was Ruth so ruhelos, so unstet sein ließ. Sie war wie ein flatterhafter kleiner Vogel, hielt es bei keinem Thema lange aus, konnte sich für vieles gleichzeitig begeistern, und eine Woche später erinnerte sie sich kaum noch daran. Sie malte wunderbare Bilder, die von innen heraus zu leuchten schienen, und versteckte sie hinter einer alten Plane in ihrer Werkstatt. »Ach das dumme Zeug«, gab sie achselzuckend zurück, wenn man sie danach fragte, und es konnte passieren, das sie einem eines der Bilder in die Hand drückte: »Nimm’s mit, wenn es dir gefällt.«
Und dann gab es seltene Momente, in denen sie still wurde, sich ihre Aufmerksamkeit ganz auf einen Punkt richten konnte. Auf einen Stein, den sie von der Straße aufgehoben hatte, auf die Wassertropfen am Fenster oder eine Kerbe in der Tischplatte. Irgendwann hing dann eine kleine Zeichnung irgendwo bei ihr an der rauen Werkstattwand oder steckte bei ihm in der Brieftasche, auf die sie den Stein, den Wassertropfen oder die Kerbe gezeichnet hatte, detailgetreu mit feinen, sicheren Bleistiftstrichen.
Der Mann stand endlich auf und steckte die Briefe zurück an ihren angestammten Platz. Damals hatte es angefangen. Mit dieser Aktion auf der Ausstellung, damit hatte das Verhängnis begonnen.