MÜNCHEN
Bei Rita war es warm und gemütlich. Clara rauchte eine Zigarette und trank einen Cappuccino dazu, obwohl sie eigentlich keine Lust darauf hatte. Elise bekam heute kein Croissant, obwohl sie ihre blutunterlaufenen Augen mit einem herzzerreißenden Blick zwischen Clara und den Objekten der Begierde auf der Theke hin und her wandern ließ. Doch selbst ein bittendes »Wuff!« konnte Clara nicht erweichen. Streng sah sie ihren Hund an: »Du musstest ja heute Männerwade zum Frühstück haben! Das hast du jetzt davon.«
Als Rita sich zu ihr setzte und eine ihrer langen, dünnen Zigaretten anzündete, knurrte Clara: »Ich hasse es, alles juristisch sehen zu müssen. Es kotzt mich an.«
Rita lachte. »Gute Arbeitseinstellung für eine Anwältin.« Dann wurde sie ernst. »Gibt es ein Problem, cara?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nur der übliche Mist, und ich steigere mich da rein. Aber ich habe so ein mieses Gefühl bei dieser Geschichte, so als ob ich sie eigentlich gar nicht hören wollte …« Sie schüttelte den Kopf: »Von Anfang an. Von dem Augenblick an, als dieser Arzt angerufen hat.«
Sie verstummte betrübt, dann sah sie an sich hinunter, ihre abgewetzte Jeans, ihren alten grünen Pullover, den sie in der Eile heute Morgen übergezogen und gleich angelassen hatte, und mit einem Mal kam er ihr schäbig vor, unpassend. Unvermittelt fragte sie: »Findest du mich lächerlich?«
Rita hob ihre dunklen Augenbrauen bis an den blondierten Pony: »Wie bitte?«
»Sag schon, ehrlich, findest du mich …«, sie zögerte, suchte nach einem Wort für das Gefühl, das sie seit Gesas Besuch heute Morgen nicht mehr losgelassen hatte. »… zu alt für alte Jeans, zu sehr auf jugendlich getrimmt, als ob ich irgendetwas verpasst hätte …?«
Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre dichten, unordentlichen Haare und ließ sie dann traurig sinken. Vielleicht war es das, was Gesa gemeint hatte? Vielleicht war sie irgendwann stehen geblieben in ihrem Denken und Fühlen, in ihrer Art, sich zu kleiden? Auf dem Stand von fünfundzwanzig vielleicht? Fühlte sich immer noch so wie damals, glaubte immer noch, die ganze Welt stünde ihr offen. Hatte nicht erkannt, dass es nicht mehr so war? Vielleicht sollte sie sich ein graues Designerkostüm kaufen, die Haare nach oben stecken und Perlenohrringe tragen? Sie unterdrückte einen Würgereiz. Bloß das nicht.
Ganz in ihre eigenen düsteren Betrachtungen versunken, hatte sie Ritas Reaktion auf ihren Ausbruch von Selbstzweifel gar nicht mitbekommen. Rita hatte zuerst erstaunt gelauscht, ihre Augenbrauen waren dabei noch ein wenig höher gerutscht und ganz unter ihrem Pony verschwunden. Dann hatte sie laut und herzhaft gelacht. »Dio mio, was hast du denn heute zum Frühstück gegessen? Wer hat dir bloß so einen Schwachsinn eingeredet?«
Sie lachte noch immer, dann nahm sie Clara an der Schulter und drehte sie so, dass sie in die Fensterscheibe sehen musste. Undeutlich zeichnete sich ihre und Ritas Gestalt gegen den düsteren Regenmorgen ab.
»Schau dich an! Das bist du: Clara! Tutt’ a posto, eh!«
Clara musterte die verschwommenen Schemen. Draußen plätscherte der Regen in die Rinnsteine, und Passanten hasteten mit hochgezogenen Mantelkrägen und mürrischen Gesichtern vorbei. Sie lächelte ihrem vagen Spiegelbild zaghaft zu und spürte, wie die düstere Stimmung sich ein wenig lichtete. Tutto a posto. Alles in Ordnung. Es war nicht wichtig, was Gesa sagte. Sie konnte auch in zwanzig Jahren noch mit rosa gefärbten Haaren und quietschgrünem Minirock herumlaufen, wenn es ihr Spaß machte. Es gab niemanden, der es ihr verbieten könnte. Sie drehte sich wieder zu Rita um, und jetzt war ihr Lächeln fast das alte. »Hättest du wohl noch ein Croissant für mein Stinktier übrig?«
Zurück in der Kanzlei konnte sie sich immer noch nicht entschließen, den Koffer mit Ruth Imhofens Unterlagen zu öffnen. Irgendetwas hielt sie davon ab. Sie bearbeitete halbherzig ein paar Akten, unterzeichnete die von Linda geschriebenen Schriftsätze und stocherte dann so lange im Ofen herum, bis Willi sie gereizt anfuhr, sie solle doch mit Elise einen Gang um den Block machen, wenn sie nichts Besseres zu tun hätte. Clara nahm ihn beim Wort. Unterwegs kam ihr eine Idee, wie sie sich sozusagen mit Erfolgsgarantie auf einen anderen Stern schießen konnte: Sie würde sich Schuhe kaufen!
Zwei Stunden später kam sie deutlich beschwingt mit Tüten beladen in die Kanzlei zurück. Sie hatte ihre kleinen, einschlägigen Lieblingsläden durchstöbert und mehr Schätze erstanden als ein Paar neue Schuhe. Willi und Linda waren gerade in ihrer Mittagspause, und Clara breitete die Trophäen auf ihrem Schreibtisch aus: Ein paar Stiefel aus graubraunem Schlangenlederimitat, höllisch spitz und todschick, eine neue Jeans, die ihren Po zumindest laut Inga, der Verkäuferin, äußerst knackig wirken ließ, und die teure braune Lederjacke aus dem Schaufenster gleich nebenan, um die sie bereits seit Wochen sehnsüchtig herumgeschlichen war. Sie packte die Sachen zusammen und ging damit in ihre winzige Kanzleitoilette, um sich umzuziehen. Jetzt, jetzt konnte der Tag noch mal von neuem beginnen.
Wie sie bereits befürchtet hatte, waren die Unterlagen äußerst umfangreich. Neben den beiden dicken Akten, die das Strafverfahren betrafen, gab es ungefähr ein Dutzend Krankenakten, dazu zahlreiche Notizen und Schreiben von Dr. Lerchenberg selbst und einen unscheinbaren grauen Ordner aus Kunstleder, von dem sie noch nicht wusste, was er enthielt. Sie fing mit der Strafakte an. Nach zwei Stunden, zwei weiteren Tassen Kaffee und einer Zigarettenpause hatte sie sich ein ungefähres Bild von dem gemacht, was damals vorgefallen war.
Ruth Imhofen war 1983 mit einem jungen Mann namens Udo Reimers liiert gewesen, so wie es auch in der Zeitung gestanden hatte. Nach einer Party in ihrer Wohnung war es offenbar zum Streit gekommen. Ruth hatte Reimers mit einer Steinskulptur niedergeschlagen, und er war noch in der Wohnung gestorben. Es gab keine direkten Tatzeugen. Ruths Bruder hatte die Polizei gerufen.
Clara runzelte die Stirn. Wie passte Johannes Imhofen hier ins Bild? War er auch Partygast gewesen? Clara hielt das für unwahrscheinlich: Nach dem, was sie von den Geschwistern bisher wusste, glaubte sie kaum, dass Johannes Imhofen Interesse an einer von Ruths Partys gehabt hatte.
Sie blätterte weiter. Im Tatortbefundbericht der Polizei stand zu lesen, dass der Tote im Flur vor dem Badezimmer gelegen hatte. Weiter wurde festgestellt, dass die Badezimmertür abgeschlossen gewesen und von außen gewaltsam eingetreten worden war. Ruth habe beim Eintreffen der Polizei neben dem Toten gesessen und sei nicht ansprechbar gewesen. Untersuchungen ergaben einen Alkoholgehalt von 1,9 Promille im Blut, dazu Spuren von Kokain, Haschisch und Valium. Im Waschbecken des Badezimmers hatte man eine leere Medikamentenpackung gefunden. Außerdem hatte sich Ruth Imhofen im Badezimmer offenbar immer wieder erbrochen. Als die Polizei sie mitnahm, sagte sie mehrmals: »Ich habe ihn umgebracht!« Johannes Imhofen sagte aus, Ruth habe gegen vier Uhr morgens bei ihm angerufen und ihn gebeten, zu kommen, »es sei etwas passiert.« Er habe die Situation so vorgefunden und sofort die Polizei gerufen. Hier wurde am Rande angemerkt, dass Herr Imhofen deutlich erschüttert war und ärztlich betreut werden musste. Die Spurensicherung ergab unzählige Fingerabdrücke in der gesamten Wohnung, auf der Tatwaffe jedoch befanden sich ausschließlich die Abdrücke Ruth Imhofens. Aussagen der Zeugen bestätigten, dass die Skulptur auf der Kommode neben der Badezimmertür gestanden hatte.
Clara betrachtete das Foto in der Akte. Eine schlanke, abstrakte Frauengestalt aus weißem Stein, vermutlich Marmor, an der Unterseite blutverklebt. In der Vergrößerung waren Haare in dem dunkel geronnenen Blut zu erkennen. Das rechtsmedizinische Gutachten führte dazu aus, ein einziger, heftiger Schlag gegen die Schläfe habe zu Verletzungen im Schädelinneren geführt. Todesursache sei eine massive Hirnblutung gewesen.
Es war auch ein Foto des Opfers in der Akte. Ein junger Mann mit Vollbart und langen, ungepflegten Haaren. Ein Foto zeigte seine rechte Schläfe in Großaufnahme, offenbar nachdem die Wunde in der Rechtsmedizin gereinigt worden war: Man sah den tiefen Abdruck einer Kante in der aufgeplatzten Haut direkt neben dem Haaransatz. Die Verletzung am Opfer sei deckungsgleich mit der Tatwaffe, und die Fingerabdrücke auf der Tatwaffe passten genau zur notwendigen Griffhaltung.
Das Gericht ordnete noch am selben Tag die Unterbringung Ruth Imhofens in der forensischen Abteilung des zuständigen Bezirkskrankenhauses an, da »dringende Gründe für die Annahme sprächen, dass die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen worden sei, und überdies die öffentliche Sicherheit eine sofortige Unterbringung erforderlich mache.« Als Begründung dieses Beschlusses führte es nicht nur den Zustand der Täterin zum Zeitpunkt der Tat und deren »offensichtliche Abhängigkeit von bewusstseinsverändernden Betäubungsmitteln und Medikamenten« an, sondern auch die Tatsache, dass ihr Bruder bereits vor einem Jahr darauf hingewirkt hatte, dass sich seine Schwester in psychiatrische Behandlung begeben solle, und beantragt hatte, dass ihm die Vormundschaft für sie übertragen werde. Der Antrag sei zwar damals abgelehnt worden, und Ruth Imhofen hatte sich einer Behandlung verweigert, die neuen Umstände bestätigten jedoch die Annahme, dass die Beschuldigte unter einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung leide und eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle.
Es folgte das Gutachten der Sachverständigen Dr. Thiele, das Clara schon kannte. Auf der Grundlage dieses Gutachtens kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass Ruth Imhofen »aufgrund einer dauerhaft vorliegenden krankhaften seelischen Störung sowie einer zum Zeitpunkt der Tat gegebenen Intoxikationspsychose, verursacht durch chronischen und akuten Missbrauch von Alkohol, illegalen Drogen sowie Medikamenten, unfähig war und ist, das Unrecht der Tat einzusehen und danach zu handeln …«
Das Gericht hatte daraufhin die dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt angeordnet und wegen festgestellter Schuldunfähigkeit keine Anklage gegen Ruth Imhofen erhoben. Insoweit hatte die Zeitung recht gehabt: Ruth Imhofen war nie wegen des Todes von Udo Reimers angeklagt und verurteilt worden. Sie war stattdessen nach Schloss Hoheneck gekommen.
Clara stützte ihren Kopf in beide Hände und dachte nach. Es klang ungerecht. Es klang so, wie es auch in der Zeitung gestanden hatte: Ein junger Mann wird erschlagen, und die Täterin muss dafür nicht einmal ins Gefängnis. Im Gegenteil, sie wird in einer teuren Privatklinik therapiert. Auf Kosten der Steuerzahler. Für den Toten gab es keine Therapie. Für ihn gab es gar nichts mehr. Sein Leben hatte mit dreiundzwanzig Jahren geendet. Aus. Vorbei.
Andererseits … wäre es zu einem Prozess gekommen, wie hätte die Anklage gelautet? Totschlag, höchstens, wahrscheinlich sogar ein minder schwerer Fall wegen möglicher vorausgegangener Aggressionen des Opfers, Clara dachte dabei an die eingetretene Badezimmertür, jeder Verteidiger hätte versucht, auf eine Notwehrsituation zu plädieren, dazu wäre verminderte Schuldfähigkeit gekommen, im Übrigen war auch das Opfer alkoholisiert gewesen … mehr als ein paar Jahre, wenn überhaupt, hätte Ruth Imhofen niemals absitzen müssen.
Clara stand auf und öffnete das Fenster hinter ihrem Schreibtisch. Es hatte zu regnen aufgehört, doch die Wolken hingen noch immer tief über der Stadt. Es war kalt und ungemütlich.
Was war gerecht?
Clara konnte sich nichts vorstellen, was es rechtfertigen würde, jemanden wegen einer solchen Tat unter diesen Umständen für vierundzwanzig Jahre einzusperren. Weder in ein Gefängnis noch in eine Klinik. Sie verstand es nicht. Sicher gab es Fälle, in denen Menschen so schwer psychisch gestört waren, dass sie ihr Leben lang in psychiatrischer Betreuung bleiben mussten. Aber Ruth Imhofen? Das Wenige, das sie von ihr bisher erlebt hatte, ließ keine Schlüsse auf eine solche Erkrankung zu. Und überhaupt: Waren denn so schwere geistige Erkrankungen, die es notwendig machten, jemanden Jahrzehnte in einer Klinik zu belassen, überhaupt heilbar? Und warum jetzt, nach so langer Zeit? Und was für eine Schweinerei war es, die Ralph Lerchenberg aufgedeckt hatte? Stand sie damit in Zusammenhang?
Clara schloss das Fenster und kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie packte die Strafakten weg und zog sich eine der grünen Klinikmappen heraus. R. Imhofen 1983 - 1986 stand auf dem Deckblatt. Sie blätterte darin, fand jedoch wenig Aussagekräftiges. Endlose Aufzeichnungen, in denen detailliert die Medikamente aufgelistet waren, die Ruth in dieser Zeit verabreicht worden waren. Clara staunte über die Menge und die vielen unterschiedlichen Bezeichnungen, die ihr allesamt nichts sagten. Dann folgten Berichte über Therapien, Gesprächsprotokolle und kaum entzifferbare handschriftliche Bemerkungen des jeweils behandelnden Arztes. An manchen Tagen des Jahres 1984 war am Rand der Protokolle mit einem roten Stift ein Kürzel vermerkt: CS 1 ZE oder CS 2 ZE. Clara blätterte neugierig weiter und fand heraus, dass sich diese Kürzel über einen Zeitraum von ca. acht Monaten erstreckten und sich die Zahlen kontinuierlich erhöhten. Beim letzten Mal gab es keine Zahl, sondern stattdessen die Buchstaben AB. Danach gab es keinen Vermerk CS mehr, auch nicht in den folgenden Jahren. Überhaupt nahmen die Berichte über die Patientin R. Imhofen nach diesem ersten Ordner der Jahre 83 - 86 auffällig ab, wie Clara beim raschen Durchblättern feststellte. Es war, als ob der anfängliche Enthusiasmus beim Versuch, die Patientin zu therapieren, mehr und mehr nachgelassen habe, ohne dass sich dafür eine Erklärung in den Akten fand. Clara las nichts über eine Verschlechterung oder auch eine Verbesserung ihres Zustandes. Ab und zu waren längere Berichte eingefügt, die alle gleich klangen und nichts aussagten, zumindest nichts, was Clara verstehen konnte. Hatte man erkannt, dass es keine Heilung gab? Doch das widersprach der Tatsache, dass Ruth am Ende entlassen worden war. Oder hatte man sich nicht mehr gekümmert, hatte sie einfach - vergessen?
Clara schüttelte heftig den Kopf. So etwas war nicht möglich. Dafür gab es die Vormundschaftsgerichte, die den Zustand der Patienten, die in solchen Kliniken zwangsweise untergebracht waren, regelmäßig zu überprüfen hatten. Sie sprang auf und zog sich ihr Gesetzbuch aus dem Regal. Hastig blätterte sie in den dünnen Seiten nach der richtigen Vorschrift. Und sie hatte sich nicht getäuscht: Bei einer Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt hatte das Gericht spätestens nach vier Jahren einen externen, neutralen Sachverständigen zum Zustand des Patienten zu hören und zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine weitere Unterbringung noch gegeben waren.
Sie nahm sich die Krankenakten nochmals vor.
Als sie schließlich in mühseliger Kleinarbeit alle Ordner sorgfältig durchgeblättert und alle Gutachten gelesen hatte, war es bereits dämmrig geworden. Sie hatte den ganzen Nachmittag über diesen Unterlagen zugebracht. Jetzt spürte sie, wie ihr Magen vernehmlich knurrte. Doch sie beachtete ihn nicht. Sie glaubte herausgefunden zu haben, worauf auch Ralph Lerchenberg vor ihr gestoßen war. Sie hatte die Schweinerei, wie er sich ausgedrückt hatte, entdeckt, und sie fand diese Bezeichnung noch zu milde für die Ungeheuerlichkeit, die hier passiert war:
Sämtliche für das Gericht bestimmten Begutachtungen im Laufe der Jahre waren entgegen den gesetzlichen Vorschriften von Ärzten der Klinik selbst durchgeführt worden, und zwar immer unter Oberaufsicht von Frau Dr.Thiele, die 1983 in dem Prozess das Gerichtsgutachten erstellt hatte und die Klinik Hoheneck damals leitete. Auch spätere Beurteilungen unter ihrem Nachfolger Dr. Selmany stützten sich auf dieses erste Gutachten von 1983. In ihrem Befürworten der Fortdauer der Unterbringung in Schloss Hoheneck bezogen sich die Ärzte teilweise wortwörtlich auf die Formulierungen von Frau Dr. Thiele, ohne auf neue Entwicklungen im Krankheitsverlauf einzugehen oder gar eigene Diagnosen oder abweichende Beurteilungen anzuführen.
Zu keinem Zeitpunkt hatte das Gericht dies bemängelt oder einen eigenen Sachverständigen beauftragt. Nach jedem Gutachten war der Empfehlung des Arztes Folge geleistet und die Unterbringungsanordnung entsprechend verlängert worden. Ohne Rückfrage und ohne persönliche Anhörung der Patientin durch das Gericht.
Clara wurde kalt, als sie die Tragweite dieser Entdeckung begriff: Ruth Imhofen war wegen eines einzigen Gutachtens vor vierundzwanzig Jahren bis vor wenigen Wochen in dieser Klinik eingesperrt gewesen und wäre es noch immer, wenn sich Ralph Lerchenberg nicht für sie eingesetzt hätte. Niemanden hatte es interessiert, niemand hatte es überprüft, niemand hatte wissen wollen, was mit dieser Frau passierte. Und Ralph Lerchenberg, der Einzige, den es gekümmert hatte, hatte sein Engagement mit dem Leben bezahlt.
Clara klappte hastig den letzten Ordner zu, der abrupt im Frühsommer dieses Jahres aufhörte, offenbar zu dem Zeitpunkt, an dem Ralph Lerchenberg Ruths behandelnder Arzt geworden war. Was hatte Lerchenbergs Frau gesagt? Am 4. Juli, dem Geburtstag seiner kleinen Tochter, war er zu spät nach Hause gekommen. Er hatte den Geburtstag seiner Tochter verpasst, und jetzt würde er keinen Geburtstag von ihr mehr erleben. Clara wurde übel. Sie schob den Ordner vom Tisch und barg ihr Gesicht in den Händen. Ihre Finger waren eiskalt, und ihre Wangen brannten, als ob sie Fieber hätte.
Es war still in der Kanzlei. Willi und Linda waren längst gegangen, und auf Claras Frage, ob Willi vielleicht Lust habe, sich mit ihr später auf ein Bier zu treffen, war er verlegen geworden und hatte schließlich etwas vor sich hin gemurmelt, was so klang, als wollten er und Linda noch ins Kino gehen. Linda hatte daneben gestanden und war puterrot geworden. An einem anderen Tag hätte sich Clara für die beiden gefreut. Linda bemühte sich seit ewigen Zeiten um Willi, und Clara hatte immer gehofft, dieser Idiot würde es endlich einmal bemerken. Vor ein paar Monaten hatte es einmal so ausgesehen, als hätte er sich endlich ein Herz gefasst: Er war mit Linda ins Murphy’s gegangen. Obwohl das Pub nicht gerade ein Ort war, an dem es sich besonders romantisch turteln ließ, hatten die beiden nur Augen für sich gehabt. Seitdem jedoch war Clara nichts aufgefallen, was auf einen Fortschritt dieser zarten Annährung hingedeutet hätte. Dass es nun ausgerechnet heute sein musste, versetzte ihr einen dünnen, aber schmerzhaften Stich, und ihr halbherziges, um Fröhlichkeit bemühtes »Viel Spaß!« klang bitter und schmeckte auch so.
Clara packte die Krankenmappen zurück in den Koffer. Sie sahen so unschuldig, so nichtssagend aus, dass Clara sie am liebsten in den Ofen geworfen hätte. Doch das ging natürlich nicht. Sie musste sie aufheben, und sie musste etwas unternehmen. Im Geiste formte sich bereits eine Schadensersatzklage, doch der Gedanke daran erleichterte sie nicht. Stattdessen stiegen Bilder eines jahrelangen Prozesses vor ihr auf, eine Phalanx von Anwälten in dunklen Anzügen und ebensolchen Gesichtern, meterweise Aktenordner, Beweisanträge, stundenlange Verhandlungen und dazwischen Ruth Imhofen, stumm, langsam, im Jogginganzug.
Die Übelkeit wurde stärker. Sie musste etwas essen. Ihr Blick fiel auf den grauen Ordner im Koffer, den sie sich noch nicht angesehen hatte, und sie nahm ihn heraus und schob ihn in ihre Tasche. Eine gute Lektüre für das Wochenende, das vor ihr lag. Einen Augenblick lang war sie versucht, Mick anzurufen, doch dann schüttelte sie den Kopf und holte sich ihren Mantel. Nicht jetzt. Nicht in dieser Verfassung. Sie würde mit ihm nur über den Fall reden wollen, etwas, was sie sich vorgenommen hatte, niemals zu tun. Und sie würde sich an ihm festhalten wollen, hoffen, dass er sie tröstete, aufbaute, ablenkte. Eine kleine, verführerische Stimme meldete sich und fragte unschuldig: Warum nicht? Dafür sind Freunde schließlich da? Doch sie wollte nicht. Sie wollte nicht schwach sein, und sie brauchte keine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Müde rief sie nach Elise, knipste die Lichter aus und schloss die Kanzlei ab.
Es hatte aufgeklart, und die Luft war beißend kalt. Clara ging langsam Richtung Isar und wandte sich dann in Richtung Fraunhofer Straße. An einer Gastwirtschaft blieb sie stehen und spähte durch die Scheiben. Direkt am Fenster saß ein Mann mit aufgezwirbeltem Schnurrbart und ließ sich einen Schweinsbraten schmecken. Im gleichen Moment fiel ihr der leere Kühlschrank in ihrer Küche ein. Sie hatte wieder vergessen einzukaufen.
Clara zögerte und warf einen unschlüssigen Blick auf Elise. Sie hatte heute, von dem morgendlichen Marsch zur Kanzlei einmal abgesehen, herzlich wenig Auslauf bekommen. Elise beantwortete ihren Blick mit treuherzigem Augenaufschlag und einem freundlichen Schnauben. »Wollen wir erst noch ein bisschen Gassi gehen, Schätzchen?«, fragte Clara versuchsweise, aber Elise reagierte nicht wirklich enthusiastisch: Sie setzte sich auf ihr Hinterteil und sah Clara unsicher an. Damit war die Sache entschieden. Clara kraulte ihren Hund lächelnd hinter den Ohren und öffnete die Tür zur Gastwirtschaft. Sie setzte sich an einen Tisch in der Ecke, und als die Bedienung kam, deutete sie auf den Mann am Fenster: »Ich hätte gerne das Gleiche wie der Herr, bitte.«
Nachdem sie den ersten tiefen Schluck von dem dunklen Weißbier getrunken hatte, das die junge Frau ihr daraufhin brachte, fiel ihr der Mann an der Theke auf. Sein breiter Rücken war gebeugt, die Schultern hochgezogen, und er hatte beide Hände um ein Glas Helles geschlungen. Er wirkte einsam, wie er dort ganz allein an der leeren Bar saß und in sein Bier starrte. Clara erkannte ihn, noch bevor sie seinen kahlen Hinterkopf registrierte: Es war Pater Roman. Sie wollte schon aufstehen, doch dann hielt sie inne und blickte zögernd auf ihren Tisch, wo das Besteck schon auf den Schweinebraten wartete. Sollte sie nicht zuerst etwas essen und ihn erst dann ansprechen? Für ein Gespräch wie das, das sie mit dem Pater zu führen hatte, war ein leerer Magen nicht gerade dienlich.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen: Die Bedienung kam und brachte ihre Bestellung. Clara atmete tief ein, als sie das große Stück saftigen Fleisches mit knuspriger Kruste und dunkler Soße betrachtete, und sie seufzte angesichts des Kartoffelknödels, der sich ohne Kraftanstrengung mit der Gabel auseinanderdrücken ließ und in duftende, gabelgerechte Happen zerfiel. Sie tunkte einen davon in die Soße und schob ihn sich mit geschlossenen Augen in den Mund. Manchmal gab es wichtigere Dinge als die Arbeit.
Als sie eine halbe Stunde später ihren Teller geleert und noch die letzten Soßenreste mit einem extra dafür aufgesparten Stück Knödel sorgfältig aufgewischt hatte, saß Pater Roman noch immer an seinem Platz. Nur das Glas Bier vor ihm hatte sich zwischenzeitlich erneuert. Clara versuchte unauffällig, den Hosenbund ihrer neu erworbenen Jeans mit zwei Fingern ein wenig zu lockern, und überlegte flüchtig, ob sie sich nicht doch gegen die Knackigkeit und für eine Nummer größer hätte entscheiden sollen. Dann stand sie auf und ging zu Pater Roman an die Bar. Er fuhr zusammen, als Clara ihn ansprach.
Sie deutete an ihren Tisch. »Hätten Sie nicht Lust, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten, Herr Dr. Tenzer? Ich glaube, wir sollten uns einmal gründlich unterhalten.«
Sie lächelte ihn freundlich an, doch Pater Roman ließ sich davon nicht täuschen. Er warf ihr einen vorsichtigen Blick zu, als erwarte er, jeden Augenblick gebissen zu werden, zuckte aber dann ergeben mit den Schultern, packte sein Bier und folgte Clara.
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie das Gutachten geschrieben haben, das zu Ruths Entlassung geführt hat?«, begann Clara ohne Umschweife, kaum dass sie sich gesetzt hatten. »Warum wollten Sie mir weismachen, dass Sie Ruth nicht kennen, dass Sie von der ganzen Sache keine Ahnung haben?«
Sie spürte, wie die Gelassenheit, die mit Schweinebraten und Weißbier über sie gekommen war, rapide schwand.
Pater Roman starrte auf seine Hände. »Ich hatte meine Gründe.«
»Davon gehe ich aus«, gab Clara trocken zurück. »Wenn Sie so freundlich wären, Ihr Geheimnis mit mir zu teilen, könnten wir uns vielleicht gemeinsam überlegen, wie wir weiter vorgehen.« Sie zündete sich eine Zigarette an und rauchte ein paar Züge schweigend. Dann fügte sie wie beiläufig hinzu: »Ich habe übrigens alle Unterlagen gelesen, die Ralph Lerchenberg hatte. Seine Frau hat sie mir heute gebracht.«
Pater Roman sah sie an. Seine Augen waren gerötet, er sah aus, als ob er schon längere Zeit nicht mehr gut geschlafen hatte. »Dann wissen Sie also Bescheid?«
Clara nickte grimmig. »Das hätten wir auch einfacher haben können, nicht wahr?«
Der Mann hob zweifelnd die breiten Schultern. »Als ich erfuhr, dass Ralph tot war, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich hatte keine Ahnung, inwieweit er Sie bereits eingeweiht hatte oder ob die ganzen Unterlagen womöglich in die falschen Händen geraten waren … Ich hatte sogar geglaubt … befürchtet, dass die Klinik … ach egal.« Er machte eine resignierte Handbewegung und verstummte.
»Ralph Lerchenberg hat das Vormundschaftsgericht mit all diesen Versäumnissen in der Klinik konfrontiert, nicht wahr?«, fuhr Clara fort, »und er hat das Gericht vor allem auf seine eigene, jahrelange Schlamperei hingewiesen, auf die Mitschuld der Richter, auf die Möglichkeit einer Strafanzeige …«
Pater Roman nickte. »Gleich nachdem er es herausgefunden hatte, ist Ralph persönlich zu der zuständigen Richterin gegangen und hat mit ihr über den Fall gesprochen. Er wollte verhindern, dass diese Dinge in einem Prozess breitgetreten werden, aus Angst, die Anwälte der Klinik würden ihm die Worte im Mund umdrehen und alles wäre umsonst gewesen. Zuerst sollte Ruth aus Hoheneck herauskommen, und erst dann wollte er gegen die Klinik vorgehen.« Er sah sie an. »Mit Ihrer Hilfe, wenn Sie es hätten übernehmen wollen.«
»Und Sie haben für ihn das Gutachten verfasst, damit das Gericht auch aus medizinischer Sicht etwas in der Hand hatte, um Ruth so schnell wie möglich entlassen zu können.«
Pater Roman nickte vage. »Ja. Das habe ich«, murmelte er und trank einen hastigen Schluck von seinem Bier, als wolle er einen bitteren Geschmack wegspülen.
Clara betrachtete den großen Mann nachdenklich. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt, und er hatte die wimpernlosen Augen zusammengekniffen, so als würde er etwas Winziges vor ihm auf der Tischplatte betrachten. Plötzlich fiel Clara dieser Kommissar wieder ein. Wie hatte er geheißen? Gruber. Gift-und-Galle-Gruber. Clara lächelte bei dem Gedanken an Ruths Worte. »Was hat dieser Kommissar gegen Sie?«, fragte sie.
Roman Tenzer lachte.
Es war ein bitteres, verzweifeltes Lachen und jagte Clara einen Schauer über den Rücken. Irritiert wartete sie, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Als er endlich verstummte und sich wieder Clara zuwandte, waren seine Augen noch stärker gerötet als zuvor. »Wie Sie ja jetzt wissen, bin ich eigentlich Arzt«, begann er nach einem Zögern. »Facharzt für Psychiatrie, genauer gesagt.«
Er hielt einen Moment inne und hob lauschend den Kopf, als hörte er selbst diesen Titel zum ersten Mal.
»Ich war viele Jahre in der forensischen Abteilung einer psychiatrischen Klinik hier in der Stadt tätig. Sicherheitsstufe A.« Er hob die Arme. »Meterhohe Zäune, Stacheldraht, vergitterte Fenster. Ein Gefängnis wie andere Gefängnisse auch. Nur dass die Insassen zusätzlich zu den Gittern außen auch noch ihre inneren Gefängnisse mit sich herumschleppen. Dort habe ich auch Ralph Lerchenberg kennengelernt. Er machte ein Praktikum während des Studiums, und nach dem Examen fing er bei uns an.«
Pater Roman trank sein Bier aus und wischte sich mit der Hand den Mund ab.
»Ich habe in dieser Zeit viele Gutachten erstellt, unzählige Stunden bei den Gerichten zugebracht …«
Er schüttelte den Kopf, dann fuhr er leise fort. »Ich hätte rechtzeitig aufhören sollen. Man kann diese Arbeit nicht endlos machen. Ich konnte es nicht. Irgendwann ist Schluss. Die Verantwortung hat mich fast erdrückt, die Prognosen, die man zu stellen hatte: Ist er geheilt? Kann er mit seiner Krankheit umgehen? Wird er es wieder tun? Was wird passieren, wenn dies und wenn das …«
Seine Stimme wurde lauter, erregter: »Und dann der ständige Druck der Öffentlichkeit. Die Worthülsen der Presse, ihr hysterisches Gekreische: Recht auf Sicherheit, Gefährdung der Allgemeinheit! Die geschürte Angst der Bürger, all dieser normalen Menschen.«
Er unterbrach sich abrupt und wandte sich Clara zu: »Wussten Sie eigentlich, dass der Anteil der Sexualstraftaten in Deutschland konstant bei 1% der Gesamtkriminalität liegt und sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert hat? Vergleichen Sie diese Zahl mal mit der Berichterstattung durch die Medien! Wenn man danach geht, möchte man meinen, hinter jedem Busch sitzt ein Kinderschänder.«
Pater Roman hob die Hand und bestellte ein neues Bier. Als die Bedienung das Glas brachte, trank er es in großen Schlucken fast zur Hälfte aus, bevor er weitersprach. »Ich war womöglich schon lange nicht mehr in der Lage, auf diese Art weiterzuarbeiten, nur wollte ich es nicht wahrhaben. Vor ein paar Jahren ist es dann passiert. Der Supergau, den man immer vor Augen hat, der einen nächtelang nicht schlafen lässt und vor dem jeder Gutachter am meisten Angst hat, auch wenn es natürlich keiner zugibt: Ich hatte einen jungen Mann als Patienten. Er hatte kurz hintereinander zwei junge Frauen brutal vergewaltigt. Drei Jahre war er mein Patient. Er hat gut mitgearbeitet, hat sich sehr bemüht. Seine Kindheit war eine Katastrophe gewesen, er war selbst jahrelang missbraucht worden, der klassische Fall.«
Er stockte, rieb sich über seinen kahlen Schädel und seufzte.
»Ich war mir sicher, wo ich nicht hätte sicher sein dürfen. Aber wann kann man jemals wirklich sicher sein? Wenn man anfängt, sich diese Frage zu stellen, muss man aufhören, dann kann man diesen Beruf nicht mehr ausüben. Jedenfalls habe ich ihm eine günstige Prognose erstellt, und er ist auf mein Gutachten hin entlassen worden. Er war keine zwei Wochen draußen, da fand man die Leiche eines Mädchens, mehrfach vergewaltigt und erdrosselt. Von meinem Patienten. Gruber hat in diesem Fall ermittelt, daher kennt und verabscheut er mich.«
Er schluckte und schloss die Augen.
»Das Mädchen war zwölf.«
Clara erwiderte nichts. Das Lokal hatte sich zwischenzeitlich gut gefüllt, doch das Lachen und die Gesprächsfetzen, die zu ihnen drangen, schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Ungebeten drängten sich ihr Bilder auf, ein totes Mädchen, irgendwo verscharrt im Gebüsch, Suchhunde, Bereitschaftspolizei, Kommissar Gruber mit den scharfen, dunklen Augen und dem bitteren Zug um den Mund. Das Gutachten, der Moment, in dem Pater Roman die Nachricht vom Tod des Mädchens bekam … Clara wandte den Blick von dem Mann ab, der so verzweifelt aussah, als habe sich diese ganze Geschichte erst gestern ereignet. Abwesend streichelte sie über Elises warmen Kopf. Die Dogge hatte sich im Bemühen, eine gemütlichere Schlafstellung unter der Bank zu finden, aufgerichtet und saß neben ihr, die große Schnauze fast auf Tischhöhe. Mit einem genussvollen Seufzer bettete sie ihren Kopf auf Claras Oberschenkel und schloss wieder die Augen. Clara streichelte weiter und wartete.
Nach einigen Minuten fuhr Pater Roman fort: »An dem Tag, als ich davon erfuhr, habe ich in der Klinik aufgehört. Die Leitung hatte sich zwar hinter mich gestellt, niemand von meinen Kollegen hat mir einen Vorwurf gemacht. Doch für mich spielte das keine Rolle mehr. Über ein halbes Jahr habe ich überhaupt nicht gearbeitet. In dieser Zeit sind mir plötzlich alle Haare ausgegangen, ohne dass es irgendeine medizinische Erklärung dafür gegeben hätte. Ich habe angefangen zu trinken, bekam Depressionen. Dann hat mich mein ehemaliger Doktorvater angesprochen, er suchte damals einen neuen Leiter für das Haus Maximilian. Er ist Jesuit. Ich habe sein Angebot angenommen, und dann wurde aus Dr. Tenzer irgendwann Pater Roman.« Er hob die Hände, resigniert, müde.
»Als Sie dieses Gutachten für Ruth Imhofen erstellt haben«, nahm Clara den Faden nach endlosen Minuten des Schweigens schließlich zögernd wieder auf, »wollten Sie … versuchten Sie … etwas wiedergutzumachen, oder?«
Pater Roman nickte, verzog dann aber das Gesicht. »Sie denken sicher, wie lächerlich, als ob man so etwas wiedergutmachen könnte …«
Clara wiegte nachdenklich mit dem Kopf. »Vielleicht ist Wiedergutmachung nicht das richtige Wort. Vielleicht geht es mehr um eine Art Gleichgewicht, um den Versuch, mit seiner Schuld, oder was man für seine Schuld ansieht, leben zu können.«
Pater Roman sah sie an. »Sie sind eine kluge Frau, Clara. Aber leider hat es nichts genützt. Es ist mir nicht gelungen, ein Gleichgewicht herzustellen, im Gegenteil, die Waagschale hat sich noch weiter gesenkt.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Clara unbehaglich.
Er seufzte. »Auch bei Ruth Imhofen war ich mir sicher. So sicher wie man sich nur sein kann …«
»Und jetzt? Sind Sie es nicht mehr?« Clara wusste nicht, ob sie die Antwort hören wollte.
Pater Roman sah sie nicht an. Stattdessen richtete er seine merkwürdig nackten, wimpernlosen Augen auf einen Punkt irgendwo in der Ferne und sagte schließlich zögernd: »Ich habe nicht nur Sie angelogen, sondern auch Kommissar Gruber. An jenem Sonntag, an dem Johannes Imhofen erschlagen wurde, war Ruth überhaupt nicht im Haus. Sie ist morgens schon nicht zum Frühstück erschienen, und am Abend ist sie erst gegen halb zwölf wieder aufgetaucht. Und sie weigert sich, zu sagen, wo sie war.«
Clara starrte ihn mit offenem Mund an. Ihre Hand, die gerade noch Elises Kopf gestreichelt hatte, verharrte mitten in der Bewegung.
Pater Roman fuhr fort: »Als gestern Morgen Gruber vor der Tür stand, hatte ich das Gefühl, es würde sich alles wiederholen. Ich konnte ihm einfach nicht die Wahrheit sagen, jedem anderen, aber nicht diesem Gruber!« Er senkte den Kopf und murmelte leise: »Ich bin davongelaufen. Gleich nachdem sie weg waren, habe ich Elmar gesagt, ich hätte einen wichtigen Termin beim Arbeitsamt, und dann bin ich in die nächste Kneipe und habe ein paar Schnäpse getrunken.«
Clara nickte langsam. Deshalb war er also nicht da gewesen, als die ganze Aufregung um Ruths Verschwinden passierte. Sie atmete einmal tief ein und wieder aus und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Sie konnte Pater Roman verstehen, doch mit dieser Lüge hatte er weder sich selbst noch Ruth einen Gefallen getan. Im Gegenteil. Sie dachte an Grubers Fragen, an die Zeugin, die Ruth angeblich vor der Villa gesehen hatte. Wahrscheinlich wussten sie es längst. Clara unterdrückte ein Stöhnen. Pater Romans Rolle in der Geschichte würde am Ende noch das kleinste Problem sein.
»Und jetzt glauben Sie, dass Ruth ihren Bruder umgebracht hat?«, wollte sie wissen.
Pater Roman seufzte tief. »Ich habe keine Ahnung. Und ich werde mich hüten, noch irgendetwas dazu zu sagen.«
Clara dachte nach. »Ich glaube, Sie verwechseln hier etwas. Ich habe Ihr Gutachten gelesen. Die einzige Frage, womit Sie sich zu befassen hatten, war, ob es gerechtfertigt war, Ruth Imhofen für vierundzwanzig Jahre in eine psychiatrische Anstalt zu stecken und sie auch weiterhin darin zu belassen.«
Pater Roman nickte langsam. »Das ist richtig, aber ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen …«
»Halten Sie Ruth Imhofen für geisteskrank, wahnsinnig, verrückt, also für psychisch so krank, dass sie in einer geschlossenen Anstalt bleiben muss? Halten Sie sie für ›nicht therapierbar‹, wie Dr. Selmany meint?«
»Nein! Natürlich nicht! Ich halte sie überhaupt nicht für krank!«, erwiderte Pater Roman heftig. »Das habe ich doch geschrieben …« Er klappte überrascht den Mund zu, als ihm die Bedeutung seiner Worte aufging.
Clara lächelte. »Es gab also keinerlei Rechtfertigung dafür, Ruth weiter in der Klinik zu lassen. Sie haben vollkommen richtig gehandelt. Für das, was nachher passiert ist oder auch nicht, sind Sie nicht verantwortlich, weder moralisch noch rechtlich gesehen, egal was Gift-und-Galle-Gruber und die Zeitungen sagen werden.«
Pater Roman hatte bei ihrer Bezeichnung des Kommissars einen Augenblick lang verwirrt die Stirn gerunzelt, doch jetzt glätteten sich die Falten, und er warf Clara einen bewundernden Blick zu. »Donnerwetter«, sagte er, »ich beginne zu verstehen, weshalb Ralph Lerchenberg unbedingt Sie als Anwältin haben wollte.«
Clara wollte seine Hochachtung für ihre Argumentation nur ungern schmälern, doch sie musste es tun: »Das macht unser eigentliches Problem aber nicht unbedingt leichter, denn es bedeutet nur, dass wir es womöglich mit einer Mörderin zu tun haben, die während der Tat vollkommen bei Verstand war.«
Als Clara nach Hause ging, dachte sie über die letzten Worte nach, die Pater Roman beim Abschied gesagt hatte. Clara hatte ihn gefragt, ob er es tatsächlich für möglich halte, dass Ruth Imhofen vierundzwanzig Jahre zu Unrecht in der Klinik gewesen war.
Er hatte mit den Schultern gezuckt und gemeint, das könne er zwar nicht definitiv sagen, aber er hielte es für sehr wahrscheinlich.
»Also war Ruth die ganze Zeit vollkommen normal?«, hatte Clara ungläubig nachgehakt.
Pater Roman hatte gelächelt und zum ersten Mal an diesem Abend wieder Ähnlichkeit mit dem Mann gehabt, den sie in seinem Büro, in dem Frank Zappa neben dem Kruzifix hing, zum ersten Mal gesehen hatte.
»Was ist schon normal?«, hatte er zurückgefragt. »Wer entscheidet das? Sind Sie normal?«
Clara hatte ihn angesehen, und ihr war plötzlich merkwürdig zumute geworden. Als ob Grenzen und Wahrheiten, die man immer für unverrückbar gehalten hatte, plötzlich verschwammen. Unverrückbar. Verrückt. Ließ sich die Realität verschieben, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete? Gab es dann überhaupt noch so etwas wie Realität? War dann nicht alles subjektiv?
Ein Gefühl von Einsamkeit hatte sie bei diesen Gedanken plötzlich gepackt, das Gefühl, sie könne womöglich ihre Sicht der Dinge niemals wirklich mit jemandem teilen, nie eine echte Verbindung herstellen. Eine Leere, die ihr Angst machte und die sie versucht hatte, so schnell wie möglich abzuschütteln.
Sie vergrub ihre Hände tief in ihrer Jacke und brummte zu Elise gewandt: »Und ich dachte immer, mein Beruf wäre schwer.«
Die Reichenbachbrücke spannte sich leer und verlassen über den unsichtbaren Fluss. Clara blieb in der Mitte stehen, dort, wo sie meistens stehenblieb, und sah hinunter in die dunklen Isarauen. Ihre Füße taten höllisch weh, sie hatte sich in ihren neuen Stiefeln zwei dicke Blasen zugezogen, die jetzt aufgeplatzt waren und bei jedem Schritt scheuerten.
Elise lief weiter zu der Treppe, die auf die Wiese hinunterführte, und verschwand in der Dunkelheit.
»Ist unverrückbar das Gegenteil von verrückt?«, fragte Clara in die Nacht hinaus. »Vielleicht muss man zuerst verrückt werden, um an den richtigen Platz zu gelangen«, überlegte sie weiter und musste plötzlich lachen. Im Haus ihrer Großmutter, in dem jetzt ihre Eltern wohnten, hatte es im Flur einen schönen kleinen Nähtisch aus Mahagoni gegeben. In der Schublade waren viele kleine Fächer, voll mit bunten Garnspulen, Fingerhüten, Nadeln und seltsamen Knöpfen, die ihre Großmutter noch aufbewahrt hatte, auch als es das dazu gehörige Kleidungsstück schon längst nicht mehr gab. Clara hatte als Kind mit dem Tisch immer Kaufladen gespielt, ein Hirschhornknopf war ein Mandelzimtplätzchen gewesen und die kleinen weißen Wäscheknöpfe Zitronenbonbons. Im Laufe der Jahre war der Flur immer mehr zugestellt worden, und als ihre Großmutter gestorben war, hatte der kleine Tisch, eingezwängt zwischen einem billigen Schuhregal und einem wackeligen Kleiderständer, voll mit längst aus der Mode gekommenen Wintermänteln, von denen sich die alte Frau nicht hatte trennen können, ein kümmerliches Dasein gefristet. Ihren Eltern hatte der Tisch nicht gefallen, und sie hatten ihn bei ihrem Umzug nach Starnberg in die alte Remise zu den ausrangierten Hirschgeweihen und Landschaftsgemälden gestellt, wo er langsam verstaubte. Später, nachdem Clara aus Irland zurück nach München gekommen war und sich nach etlichen anstrengenden Zigeunerjahren in diversen WG’s endlich eine eigene Wohnung leisten konnte, hatte sie den Tisch mitgenommen. Dort stand er heute noch. Allein, ohne hässlichen Nachbarn, schlicht und schön an der Wand im Flur: Dem Nähtisch war das Verrückt-Werden recht gut bekommen.
Clara humpelte ein paar Schritte weiter und pfiff nach ihrem Hund. Das lange Stehen hatte ihren Füßen gar nicht gutgetan. Ihre Fersen brannten wie Feuer. Kurz entschlossen zog sie die Stiefel und ihre Strümpfe aus und lief barfuß weiter. Der Asphalt war eiskalt, und ihre Fußsohlen prickelten. Elise schnupperte an ihren nackten Füßen und warf ihr einen erstaunten Blick zu, bevor sie weiterlief. Als ein Auto vorbeifuhr, dachte Clara einen Moment lang über das Bild nach, das sie abgab, in einer kalten Oktobernacht barfuß durch München spazierend, die Schuhe in der Hand und eine kalbgroße Dogge an ihrer Seite. Ganz schön verrückt. Sie zuckte mit den Schultern, und das unbehagliche Gefühl, das sie bei dem Gespräch mit Pater Roman erfasst hatte, verflüchtigte sich endgültig. »Was ist schon normal?«, flüsterte sie leise, wackelte mit den Zehen und freute sich über die kleinen Steine, die sie unter ihren Füßen spüren konnte.