6. Es bleibt in der Familie
Zuvor in einem anderen Teil der Stadt
Nico trippelte vorsichtig die Treppenstufen herunter, die von Romys Wohnung in die Detektei führten, wo Brock und Romy auf ihr Erscheinen warteten. Sie kam sich wirklich wie der Lockvogel vor, den sie darstellen sollte. Sie musste sich immer wieder sagen, dass es für einen guten Zweck war. Sie wollten schließlich einen wahnsinnigen Mörder stellen, der schon mindestens zwölf junge Frauen auf dem Gewissen hatte.
„Hier bin ich.“, verkündete sie überflüssigerweise, da ihre Freunde ihr natürlich schon gespannt entgegen blickten.
Sie blieb in einiger Entfernung stehen und
hielt die Hände ruhig, die sie eigentlich zu gerne benutzen würde,
um sich zu bedecken. Romy hatte ihr mit dem Make-up und den Haaren
geholfen, um sie dann zum Umziehen allein zu lassen. Ihre Locken
waren nun mit Gel gebändigt und eng an den Kopf gelegt, so dass ihr
kindliches Gesicht dadurch betont wurde und ihre Augen groß und
arglos dreinblicken würden, wären sie nicht im Smokey-Eyes-Stil mit
rauchig braunem Lidschatten betont. Ihre vollen Lippen leuchteten
in einem satten Dunkelrot, das den Ton des Ensembles
widerspiegelte, das sie trug.
Romy hatte gemeint, dass dieser Rotton ihr besonders gut stand und
ihr einen Hauch Verruchtheit verlieh. Wenn es um Clubs ging, dann
kannte sie sich als ehemalige Go-Go-Tänzerin natürlich am besten
aus, so dass Nico ihr in dem Punkt vertraute. Sie sollte ja
appetitlich und einladend aussehen.
Das Bustier und der dazu passende Mini-Rock wurden mit
Reißverschlüssen geschlossen und sparten an Stoff, wo es nur ging.
Die schwarzen Stiefel mit den dicken Profilsohlen und dem festen
Blockabsatz hätten gut zu einer Motorradbraut gepasst, da sie mit
schweren Schnallen geschlossen wurden. Damit würde sie auch einen
sicheren Stand haben, falls es nötig werden sollte, sich seiner
Haut zu wehren. Auf jeden Fall signalisierte die gesamte
Kombination: Komm und nimm mich, ich bin mehr
als willig!
„Meine Fresse!“
Brock lehnte sich weit auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch
zurück, auf den er sich gemütlich gelümmelt hatte, die Bierflasche,
die er gerade hatte an die Lippen setzen wollte, stellte er blind
auf dem Tisch ab, da er Nico nicht aus den Augen lassen wollte.
Seine Erwartungen waren eindeutig übertroffen worden.
Romy hob die Hand an den Mund und starrte
genauso fasziniert auf ihr Werk, da sie es ja bisher nicht in
seiner ganzen Pracht hatte bewundern dürfen.
„Oh, mein Gott! Wir können dich wirklich gleich an der nächsten
Ecke abstellen… Fühlst du dich überhaupt wohl in den Sachen?“,
fragte sie dann doch etwas besorgt nach, weil es das Mädchen nicht
gewöhnt war, sich so zu präsentieren. Das war noch einen Zacken
schärfer, als Cat sie zur Hochzeit ausgestattet hatte. Diesem
Outfit fehlte jegliche Eleganz, es sprach nur die niedersten
Instinkte an. Sie selbst hatte ja nicht gewusst, wie das Ganze am
Ende wirken würde.
Nico schob das tiefrot schimmernde
Kussmündchen vor, weil sie ja nicht auf den Lippen herum kauen
sollte und stützte die Hände auf der nackten Taille ab, bevor sie
begann, an sich herum zu zupfen oder sich zu bedecken.
„Ich weiß nicht recht, solange ich nicht daran denke, wie ich
aussehe, geht es eigentlich. Seid ihr sicher, dass es nicht besser
wäre, wenn du die Rolle des Köders übernimmst? Ich meine… Man sieht
mir doch bestimmt an der Nasenspitze an, dass ich das nicht ernst
meine.“
Brock erhob sich lachend von seinem Stuhl und
stellte sich neben Romy, die zwar auch clubtauglich aber nicht so
aufreizend wie Nico angezogen war.
„Für das Ekelpaket, das wir jagen, bist du genau richtig,
Schätzchen. Der schert sich einen Dreck um die Persönlichkeit der
Mädchen. Du entsprichst eben viel mehr dem Beuteschema. Du siehst
aus wie eine Highschoolgöre, die auf Abenteuer aus ist. Weder
Männlein noch Weiblein, die auf dich abfahren, werden sich Gedanken
darüber machen, ob die Unschuldsmiene echt ist oder nicht, die
werden dir alle an die Wäsche oder viel mehr unter die Wäsche
wollen, was ja wirklich nicht schwer erscheint.“, gab er seine
fachmännische Meinung zum Besten und grinste Nico spöttisch an, die
sich sichtlich Mühe gab, sich nicht unter seinem anzüglichen Blick
zu winden.
„Ihr seid die Profis. Ich denke lieber nicht genauer darüber nach, welche Gedanken andere bei dem Anblick hegen.“, meinte Nico mit einem kleinen Seufzen, da sie doch ziemlich nervös war. Immerhin ging es um einen gefährlichen Einsatz, der in den Bereich der neuen Riege fiel, da Romy den Fall in ihrer Detektei gemeinsam mit Brock bearbeitete.
Sie hatten durch Romys Fähigkeiten den Opfertypus eingrenzen können, da sie natürlich die Opfer hatte sehen können, die der Polizei entgangen waren. Sehr junge, sehr zierliche und eher mädchenhafte Frauen waren dem Serientäter zum Opfer gefallen, weshalb die Wahl des Köders auf Nico gefallen war. Romy konnte nicht sagen, wohin die Frauen gebracht worden waren, da der Täter sie in seinem Wagen immer betäubt oder ohnmächtig geschlagen hatte. Das Bild von ihm war auch nicht besonders deutlich gewesen, da die meisten Opfer ziemlich angetrunken gewesen waren. Auf jeden Fall wirkte er nicht bedrohlich, viel eher schmächtig und vertrauenerweckend. Eine besonders gefährliche Mischung.
„Wir sind immer in der Nähe und bleiben in Verbindung, Nico. Halte dich einfach an den Plan. Romy sucht in den Läden immer wieder Kontakt, sie weiß, worauf es bei Undercover-Arbeit ankommt, pass dich ihr einfach an. Okay?“
Brock machte diesmal keine Witzchen und sah
ihr ernst in die Augen, weil er wusste, wie er sie am besten
beruhigen konnte. Sie hatte sich schließlich nicht zum Spaß
verkleidet. Romy wirkte in solchen Sachen einfach zu abgebrüht, so
dass sie sich dann nicht darauf verlassen konnte, dass ihr Fisch
den Köder auch schnappte. Seine Opferwahl sprach für ein geringes
Selbstbewusstsein und Romy war einfach zu weiblich, um wie ein
Mäuschen zu wirken.
Das hier war sein letzter offizieller Fall für die New Yorker
Polizei, danach würde Inspector Wolfe in den vorzeitigen Ruhestand
treten. Kollegen und Vorgesetzte vermuteten inzwischen eine schwere
Krankheit oder das Burnout-Syndrom hinter seiner Entscheidung.
Brock hielt sich bedeckt. Die Gerüchte machten es ihm leichter,
sich nach der Lösung seines letzten Falles unauffällig aus dem
Polizeidienst zu verabschieden. Er hatte nun
einen viel interessanteren Job gefunden.
Greenwich Village, Club „XandY“
Brock zündete sich bestimmt die zwanzigste
Zigarette des Abends an, sie waren inzwischen im vierten Club
eingetrudelt und er wurde langsam nervös, da es Zeit für ihren
Täter wurde, sich ein neues Opfer zu schnappen. Er schlug niemals
länger als zwei Tage vor Vollmond zu. Immer im Village und immer in
Clubs, in denen hauptsächlich Homosexuelle verkehrten. Die „Gay and
Lesbian Community“ war deshalb schon auf die Barrikaden gegangen
und der Polizei brannte der Kittel.
Wolfe grinste hämisch und ließ seinen Zippo zuklappen, da die
Flamme symbolisch seine Gedanken widergespiegelt hatte. Er kniff
die Augen zusammen und warf dem Kerl, der es gerade wagen wollte,
sich neben ihm breit zu machen, einen warnenden Blick zu. Er war
nicht in der Stimmung für Anmachen oder wenig dezente Einladungen
in die Toilettenräume des Clubs und würde lieber nicht checken,
welche Farbe das Tuch hatte, das dem Typen aus der hinteren Tasche
seiner Lederhose hing. Romy fand das Ganze sehr zum Lachen, da er
ihr ja damals mit einem gewissen Gerücht das Leben zur Hölle
gemacht hatte, wofür sie das jetzt als Revanche betrachtete.
Er zog genüsslich an der Zigarette, die nun
niemals einen Schaden an seiner Lunge anrichten würde, war das
nicht praktisch? Allerdings rauchte er nicht, wenn er mit Nico
abhing, die zog nur das Näschen immer kraus, ohne ein Wort darüber
zu verlieren, dass sie der Rauch störte.
Sie würde mal eine verdammt gute Mutter
werden.
Sie kriegte ihn jedenfalls dazu,
ohne große Worte, ein braverer Junge zu sein. Wenn das so
weiterging, dann fraß er dem süßen Fratz bald richtiggehend aus der
Hand.
Brock hustete nach dem nächsten Zug, als wäre es sein allererster,
allerdings lag das eher an dem Anblick, den ihm die zwei Grazien
boten, auf die er heute Abend ein wachsames Auge hatte.
Romy hatte wie in jedem anderen Club eine Anmachattacke gestartet,
damit ja auch schön klar wurde, dass Nico vom anderen Ufer war.
Inzwischen schien sich die Kleine sehr entspannt zu haben, so dass
sie sich nicht unwillkürlich versteifte, als Romy hinter ihr
stehend die Arme um ihre Taille legte und etwas in ihr Ohr
flüsterte.
Brock hätte sich gern den Kragen gelockert,
obwohl er gar kein Hemd trug sondern nur ein schwarzes, ärmelloses
Shirt, das weder seinen mächtigen Brustkorb noch den ausgeprägten
Bizeps seiner Oberarme verharmlosen konnte. Er hatte schon gemerkt,
dass das Training besser denn je anschlug und musste sich
wahrscheinlich bald neue Anzüge besorgen, wenn er noch ein paar
Zentimeter mehr an Umfang gewann. Und das alles ohne Anabolika, die
unschöne Nebenwirkungen gehabt hätten.
Klasse, sie gingen auf die
Tanzfläche!
Brock schnipste energisch nach der Bardame und orderte ein weiteres
kühles Blondes, mit dem er den kleinen Brand bekämpfen wollte, der
in seinem Inneren tobte. Klar, die beiden waren zwar in festen (in
Romys Fall in sehr festen) Händen, das änderte aber nichts daran,
dass sie verdammt scharf waren. Rein platonisch
betrachtet natürlich. Brock grinste dreckig und lehnte sich
bequem mit dem Rücken an die Bar und sah dem Treiben der beiden
Frauen auf der Tanzfläche zu.
Romy hatte ihre Pflicht getan und setzte sich leise lachend auf den Barhocker neben Brock, der ihr jedoch nur einen flüchtigen Blick schenkte, da er ihre Tarnung nicht gefährden wollte, sie waren einfach zwei Fremde, die ein lockeres Gespräch führten. Nico war auf der Tanzfläche zurückgeblieben, da sie keine weitere Ermunterung brauchte, um etwas aus sich heraus zu gehen. Es schien beinahe, als wäre sie in Trance. Romy selbst hatte es mehr mit Hip Hop oder Vocal House, wenn es darum ging, die Hüften kreisen zu lassen, aber Nico war bei diesen trommellastigen Rhythmen völlig in ihrem Element.
„Der Song passt total, oder nicht?“
Romy grinste in ihr Wasserglas und behielt Nico auch im Auge, die
zum Glück die Blicke ihrer Verehrerinnen gerade nicht bemerkte. Man
fühlte sich in der Regel von Frauen weniger bedroht, obwohl einige
der Damen hier sich ziemlich energisch ranschmissen.
„Passt wie die Faust aufs Auge auf das Dream
Team… Kriegerin, Löwin und Adler?", zitierte Brock eine der
Liedzeilen.
"Verdammt, hat sie etwa getankt?!”, fragte Brock mit großen Augen,
als Nico nun völlig enthemmt loslegte und sich nicht mehr um
Zuschauer oder sonst was scherte.
Romy grinste amüsiert: „Nein, keinen Tropfen. Sie ist nur endlich aufgetaut, das dauert bei ihr immer ein wenig länger, aber wenn sie mal loslegt… Das hat mehr von einem rituellen Tanz, oder so… Aber was erwartest du, deine Herrin ist schließlich die Erde. Wenn der Vulkan mal ausbricht, dann ist er nicht mehr aufzuhalten.“ Sie ließ die Augen über Nicos Zuschauer gleiten, konnte aber keine verdächtige Person entdecken, wie schon in den Clubs zuvor. In einer solchen Umgebung gingen die Harmlosen eben unter, da musste man immer zwei oder drei Mal hinsehen.
Brock behielt die nächsten Gedanken lieber für sich, allerdings grüßte er Damon in Gedanken, dem der Spaß hier entging, der ja eigentlich keiner war. Es war vielmehr eine gute Übung, was seine zukünftigen Aufgaben betraf. Die anderen Clubs hatte er Kollegen überlassen. Jeweils zwei Beamte in den Clubräumlichkeiten und auf den zugehörigen Parkplätzen hielten Ausschau nach jungen Frauen, die auf den Tätertypus passen könnten.
„Hey, der Typ da ist ein Immaculate!“, raunte
Romy Brock zu und deutete die Richtung mit ihrem Kinn an.
Brock folgte dem Hinweis aus den Augenwinkeln und entdeckte den
(rein äußerlich betrachtet) jungen Mann im schicken Anzug, der sich
unterhalb der erhöhten DJ-Box aufhielt und Nico ziemlich fasziniert
beobachtete. Er blieb allerdings auf Abstand und wich zur Seite,
als ihn ein Lederkerl anmachen wollte.
„Er kommt hierher an die Bar. Ich mach mich mal dünn, falls er doch auf ein anderes Vögelchen anspringen möchte. Meinst du, er kommt in Frage?“, fragte Brock skeptisch, weil er einen der ihren eigentlich nicht in Verdacht hatte. Die Angriffe waren einfach zu animalisch gewesen.
Romy sah an sich herunter und tat so, als
würde ihr knappes Top nicht richtig sitzen, um es an den richtigen
Stellen zurecht zu zupfen.
-Kann sein… Die Bilder waren alle so
verschwommen. Dunkelhaarig in jedem Fall und das Gesicht harmlos
normal. Wir werden das ja gleich sehen. Wünsch mir
Glück!-
Ein kleiner Schauer rann ihr den Rücken herunter, da sie den Täter
endlich nur zu gern dingfest machen würde. Und falls es noch so ein
Kerl sein sollte wie Sterling, dann würde es ihr die reinste Freude
sein, ihm in den Hintern zu treten. Es gab eben auch unter den
Immaculate miese Dreckschweine, das durften sie nicht außer Acht
lassen.
. . .
Nico vergaß für die paar Minuten auf der
Tanzfläche alles um sich herum. Es war tatsächlich, als würde sie
ihre Trommeln bearbeiten, sie erreichte einen leichten
tranceartigen Zustand und die innere Anspannung fiel von ihr ab.
Das Lied endete, doch irgendwie wurde es dunkel um sie herum. Die
Lichter waren anscheinend noch weiter gedimmt worden. Die tanzende
Menge wogte wie eine homogene Masse und sie konnte keine Gesichter
mehr erkennen, als trügen sie alle plötzlich Strumpfmasken. Nico
drehte sich ein Mal im Kreis und lief dann unsicheren Schrittes
durch die Menschen hindurch, ohne genau zu wissen, wohin sie
ging.
Ihr Atem ging noch von der Anstrengung des Tanzes etwas schneller
und ihr kam der Gedanke, die Waschräume anzusteuern, wo sie kaltes
Wasser finden würde, mit dem sie sich abkühlen konnte. Sie fühlte
sich leicht beschwipst, obwohl sie nichts getrunken
hatte.
Nico stützte sich an der Wand des langen, schlauchartigen Ganges
ab, als sie ihn endlich erreicht hatte. Er schien sich meilenweit
in die Tiefe zu erstrecken und die Gäste, die ihr entgegen kamen,
erschienen in der Ferne wie winzige Puppen. Nico kicherte leise
über diesen Gedanken und ging langsam an der Wand entlang. Schritt
für Schritt.
„Miss… ist Ihnen nicht gut?“, hörte sie eine Stimme aus weiter Ferne fragen, die sie nicht einordnen konnte.
„Es… ist alles in Ordnung, Danke…“, wiegelte sie ab, wurde aber dann um den Ellenbogen gefasst. War das nötig? Hatte sie geschwankt oder tat das nur der Boden unter ihr?
Sie griff nach dem Arm, der sie stützte und fasste schweren Baumwollstoff an, die Farbe war gräulich, wenn ihre Augen sich nicht täuschten. Der Mann trug einen Overall, stellte sie fest, als sie den Blick zu seinem Gesicht anhob. Er war nicht viel größer als sie selbst und lächelte sie freundlich an. Ein junger Lieferant?
„Kommen Sie… Ich bringen Sie an die frische Luft. Hier entlang, dann geht es Ihnen bald besser.“, sprach er mit einschmeichelnder Stimme auf sie ein.
„Okay…“, gab Nico nach, der nun schwarz vor
Augen wurde. Dann explodierten die Bilder und sie verlor völlig die
Orientierung. Sie hörte das Flattern von Flügeln und das Trippeln
von Mäusefüßchen. Mitten in dieser dunklen Wolke blitzten Lichter
auf und rissen Lücken in die scheinbar lebendige dunkle
Masse.
Nico bekam nicht mit, wie der junge Mann im Overall sie über den
Hintereingang hinaus in die Nacht führte und dann in Richtung eines
dunklen Vans.
„Du hast zu viel getrunken, nicht wahr, du kleine Schlampe?!“ flüsterte er heiser in ihr Ohr, als er sie ziemlich unsanft gegen die Tür geworfen hatte, um seinen Wagenschlüssel aus der Tasche zu fischen.
Nico stöhnte leise, aber nicht weil sie sich
der Gefahr bewusst war, in der sie schwebte. Sie spürte nicht
einmal, wie seine Hände gierig ihre Taille umspannten, bevor er sie
mit erstaunlicher Kraft in den Laderaum warf, der innen mit
Matratzen ausgelegt war, die mit Plastikfolie verkleidet waren, als
rechnete der Fahrer damit, eine große Sauerei anzurichten. Es roch
irgendwie modrig, obwohl man den Wagen wahrscheinlich erst vor
kurzem mit einem scharfen Chlorreiniger ausgewaschen
hatte.
Er packte die schlaffen Handgelenke seines neuesten Opfers und
legte ihr die Handschellen um, deren Ketten er in den Seiten des
Wagens fest geschweißt hatte. Am Anfang hatte er noch versucht, die
Frauen auf die nette Tour zu verführen, doch inzwischen war der
rasende Hunger in ihm so übermächtig, dass er sie lieber wehrlos
haben wollte. Essen auf Rädern. In seine
Augen trat ein fanatischer Funke, während sich sein Gesicht zu
einer hämischen Fratze verzog.
Nico indessen versuchte, einen Sinn in den
Bildern zu finden, die auf sie einstürmten. Sie hatte keinerlei
Anzeichen für die Vision verspürt, obwohl sie hellwach gewesen war.
Sie raste auf ein helles Licht zu, das sich langsam als Bild aus
der Vergangenheit heraus kristallisierte. Eine junge Frau, die ihr
den Rücken wies, und mit wehenden Haaren irgendwo stand, von wo man
einen Ausblick auf eine dichte Walddecke hatte. Sie drehte sich um
und ihre traurigen Augen waren das Erste, was Nico auffiel. Cat?
Sie war noch sehr jung, das Gesicht war noch kindlich gerundet und
von beinahe schmerzhaftem Liebreiz. Immer wieder fiel der Name
eines Jungen, das einzige, was sie in dem Gespräch zwischen den
beiden verstand, da es in einer exotisch fremden Sprache geführt
wurde. Dann liefen sie gemeinsam enge, sich windende Treppen
herunter und stiegen in einen Wagen, der über holprige Landstraßen
fuhr.
Nico fürchtete sich, als sie ausstiegen und den beißenden Geruch
nach Feuer inhalierte, worauf sie auch schon durch knackendes
Unterholz rannten. Ihr Herz schlug zum Zerspringen und dann wurde
sie unsanft auf den harten Waldboden niedergerissen. Sie riss den
Mund weit auf und danach explodierte der Schmerz in ihrem Gesicht
und in ihrem Hals.
„AAAAAAHHH!“, schrie Nico zeitgleich auf, als ihr Angreifer, der die Türen des Vans hinter ihnen geschlossen hatte, seine Fänge in die zarte Haut ihrer Halsbeuge bohrte. Wieder und wieder, als wollte er nicht trinken sondern wie ein wildes Tier essen.
Sie bäumte sich auf, als würde sie unter
Spasmen leiden und wollte die Arme zur Gegenwehr anheben, die
jedoch von den Ketten aufgehalten wurden. Entsetzt kam sie in der
Wirklichkeit an und fand sich als das nächste Opfer des irren
Serienkillers wieder. Sie brauchte einen Moment, um sich zu
sammeln, dann stemmte sie sich mit aller Kraft gegen die
Fesseln.
Mit einem lauten Knall gaben die Verankerungen der Kette nach und
gleichzeitig wurden die Türen des Vans mit Gewalt aufgerissen. Nico
vernahm ein bedrohliches Grollen, dann war der Druck auf ihren
Oberkörper verschwunden. Ihr Angreifer wurde wie eine Stoffpuppe
aus dem Wagen gezerrt und so heftig an die Backsteinwand neben dem
unbeleuchteten Hintereingang geworfen, dass man mehrere Rippen
unter dem Druck des Aufpralls knacken und brechen hörte.
Nico bedeckte die Wunden mit einer Hand und rappelte sich mühsam
auf, dann war Romy schon an ihrer Seite und half ihr die Glieder um
die Gelenke loszuwerden. Draußen tobte ein ungleicher Kampf
zwischen einem entfesselten Wolf und einem unkoordinierten Ghoul,
der noch brutaler wurde, als Brock einen kurzen Blick auf ihre
Verletzung erhaschen konnte. Es dauerte nicht lange und Brock hatte
ihm mit bloßen Händen das Genick gebrochen, ohne selbst mehr als
wunde Knöchel davon getragen zu haben, die natürlich sehr schnell
verheilen würden.
„Verdammt noch mal, Nico! Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?!“, fuhr er sie an, als er schließlich vor ihr stand, ihre Schultern umfasste und sie am liebsten für ihren vermeintlichen Leichtsinn bis zur Besinnungslosigkeit schütteln wollte. Seine Raserei ließ sofort nach, als sie entschuldigend zu ihm aufsah und er die Bisswunden mit den ausgefransten Rändern an ihrem Hals entdeckte.
Romy ließ die beiden allein, um Brocks Arbeit zu vollenden. Das Genick war vollkommen aus den Wirbeln gehoben, aber ein sauberer Schnitt würde sie trotzdem beruhigen. Den Rest würde dann die Sonne erledigen. Der Drecksack hatte das Recht, für immer zu schweigen.
„Es tut mir leid, Brock… Ich hatte eine Vision, ganz plötzlich… Ich wollte doch nur kurz auf die Toilette…“, stammelte sie und ließ sich erleichtert gegen ihn sinken, als er seine starken Arme um sie legte.
„Ich hab dich gehen sehen. Du hast viel zu lange gebraucht und dann bin ich dir auch sofort nach. Romy und ich waren kurz von einem anderen Verdächtigen abgelenkt… Du hast mir einen ziemlichen Schreck versetzt! Mach das ja nie wieder, Süße!“
Nico nahm einen zittrigen Atemzug und lehnte
ihre Stirn gegen seine starke Schulter, auf deren Halt sie sich
immer würde verlassen können.
Als Romy hinter ihnen auftauchte, Nico saß noch auf der Ladefläche,
hatte sie sich einigermaßen von dem Schreck erholt. Sie hätte sich
gut selbst wehren können, allerdings nicht während sie von einer
heftigen Vision heimgesucht wurde. Jetzt wurde ihr auch klar, dass
sie wirklich einen Wolf an ihrer Seite brauchte.
„Was war das für eine Vision?“, fragte Brock
gerade nach.
Nicos Körper spannte sich wieder an und sie erreichte ein Ruf, den
sie nicht hörte sondern vielmehr fühlte.
„Cat… es ging um… Cat! Ich glaube, sie braucht mich. Aber da war noch etwas anderes… Das waren irgendwie zwei Visionen auf einmal, die sich mit der Wirklichkeit vermischt haben… Ich muss schnell in die Fortress! Kümmert ihr euch um den Rest? Vielleicht täusche ich mich auch… Die Bilder waren so unklar…“
„Du gehst nirgendwo hin, wenn nicht jemand
dort auf dich wartet, hörst du? Diese Visionen gefallen mir gar
nicht, wenn du dabei total die Orientierung verlierst. Ich versohl
dir den Hintern, wenn du irgendwelche Kapriolen machen solltest!“,
mahnte Brock sie streng und Nico konnte nur müde lächeln.
„Sicher nicht… Der Angriff gerade reicht mir völlig. Ich will nur
sicher gehen, dass es Cat gut geht. Wahrscheinlich ist sie sicher
zuhause bei Nathan und ich habe es nur falsch
verstanden.“
Nico reckte sich und küsste Brock auf die Wange, dann hatte sie
sich in die Sicherheit der der Krankenstation in die Fortress
entmaterialisiert.
Nico hatte sich kaum das bereits geronnene
Blut von den Bisswunden gewischt und sie mit Pflastern bedeckt, als
sie erneut ein Ruf ereilte, diesmal noch viel eindringlicher als
zuvor. Sie hörte ihren Namen und spürte starke Schmerzen. Nico
rannte zu einem der Schränke und zog eine der gut bestückten
Arzttaschen heraus, die alles enthielten, was sie für eine schnelle
Behandlung von Verletzungen benötigte.
Nico hatte schon gespürt, dass Catalina nicht im Haus war, also
suchte sie den mentalen Kontakt, den sie aber nicht richtig
herstellen konnte. Nervös versuchte sie es bei Nathan, den sie
leichter erreichen konnte, falls es Cat nicht gut ging. Er war ein
starker Sender und Empfänger.
. . .
„Willst du sie nach Hause bringen?“, fragte Rys hinter seinem Rücken, doch dafür war keine Zeit mehr. Cat verlangte eindringlich nach Nico und Nathan wusste instinktiv, dass sie eine Fahrt zurück in die Fortress sicher nicht überleben würde.
„Nein.“, erwiderte er knapp, um im nächsten
Moment Nicos mentalen Ruf zu beantworten.
Sie musste sofort kommen. Sofort. Nathan war in höchstem Maße um
die Gesundheit seiner sonst so starken Soulmate besorgt. Er musste
nun seine ganze körperliche Kraft aufbringen, um sie auf dem Tisch
zu halten. Binnen Sekunden war sie schweißgebadet und wehrte sich
gegen ihn. Die Pranken der Löwin hinterließen nicht nur Spuren auf
dem Tisch, sondern auch schmerzhafte Kratzer auf seinen Armen und
Schultern, doch er ließ nicht los. Geübt darin, Schmerzen
auszublenden und sie als etwas Gutes anzusehen, da es bedeutete,
dass Cat immer noch bei ihm war, solange sie sich wehrte. Sie
mental auszuschalten, wäre fatal gewesen. Er wusste schließlich
nicht, was ihr außer der tiefen Stichwunde fehlte und sie musste
Nico antworten können für den Fall, dass sie bisher irgendetwas
verschwiegen haben sollte.
-Ich bin schon
unterwegs!-, meldete Nico ihm, als Nathan prompt auf ihr Rufen
reagierte.
Er hatte sie nur sehr knapp zu sich gebeten, so dass sie nicht
wusste, was auf sie zukommen würde.
Nico stand einige Sekunden später in der Tür zu einem Raum, aus dem
der Gestank des Todes zu ihr heraus waberte. Ihre Augen erfassten
unzählige fremde Gesichter und mitten im Zimmer Nathan, der
versuchte, die sich windende Cat zu beruhigen, die rücklings auf
einem Tisch lag. Nun wusste sie, was das Schlagen der Flügel und
das Trippeln der Füße zu bedeuten hatte. Sie trat so fest auf, wie
sie konnte, und war froh, dass sie festes Schuhwerk trug und nicht
barfuß war, wie es bei ihr oft genug vorkam.
„Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“, verkündete sie leise, obwohl ihr Auftauchen den wenigsten entgangen sein dürfte. Sie zögerte kurz, als sie in das Gesicht eines jungen Mannes blickte, dessen linke Gesichtshälfte böse entstellt war.
„Dragomir?“, entschlüpfte ihr fragend, bevor sie darüber nachdenken konnte, ob sie ihn damit nicht erschrecken würde. Er sah sie tatsächlich argwöhnisch an, doch sie schob das auf ihren Aufzug, der sicher nicht dem Standard von ärztlichem Pflegepersonal entsprach, aber hier ging es um einen Notfall und sie wandte sich gleich an Cat und Nathan. Die anderen waren sicher keine Bedrohung, wenn Rys einigermaßen entspannt zwischen ihnen stand.
„Entschuldigen Sie bitte, ich bin Arzt,
vielleicht kann ich helfen…?“
Ein junger schlaksig wirkender Mann mit dunkler Hornbrille hatte
sich ihr in den Weg gestellt.
Nico blinzelte überrascht zu ihm auf und
schüttelte dann den Kopf: „Warten Sie lieber, bis ich weiß, was ihr
fehlt. Ich komme vorerst allein zurecht. Trotzdem Danke.“, wehrte
sie seinen Vorschlag ab, da sie nicht sicher war, in wie weit die
Anwesenden hier wussten, womit sie es zu tun hatten.
Nach Cats Aufzug zu urteilen, die nur einen Mantel und sonst nichts
trug, war die Löwin anscheinend schon an der Oberfläche gewesen.
Sie stellte sich neben den Tisch auf Kopfhöhe mit der darauf
liegenden Patientin und beugte sich über sie.
„Cat? Ich bin es, Nico. Was ist los?“, fragte sie leise und legte ihr die Hand beruhigend auf die mit kleinen Schweißtropfen überzogene Stirn. Sie zitterte am ganzen Leib und die Kratzer auf dem Tisch zeugten von der Nähe des Tieres.
„Nico… Die Wunde… sie schließt nicht… Krämpfe… Ich kann bald nicht mehr.“, antwortete Cat angestrengt.
„Sht, versuch, dich zu entspannen. Ich werde
dir etwas geben und dann nachsehen, was nicht stimmt. Es wird
gleich besser.“, versprach Nico mit beruhigender Stimme.
Sie griff nach der Tasche und stellte sie auf dem Tisch ab, um
daraus eine Spritze zu fischen, mit der sie ein
Muskelentspannungsmittel aufzog, der die Verwandlung unterdrücken
würde, ohne Cat ihres Bewusstseins zu berauben.
„Nathan, kannst du sie so lange festhalten,
bis das Mittel wirkt?“, bat sie ihn, wobei sie sich wunderte, dass
er noch sein Priestergewand trug. Das hier war bestimmt ein
überraschender Einsatz gewesen. Überall lagen Kadaver und die Luft
roch nach verbranntem Gefieder und mehr.
Nachdem sie die Spritze gesetzt hatte, schob sie den
blutdurchtränkten Mantel zur Seite und entdeckte den Einstich in
Cats Rippenbogen, der nicht richtig heilen wollte. Sie runzelte
kurz die Stirn und sah sich dann fragend um.
„Hat jemand Licht? Hier ist es so dunkel, ich
kann keine Einzelheiten erkennen.“
Sie sah zwar auch in der Dunkelheit recht gut, aber für
chirurgische Eingriffe wollte sie lieber sicher gehen, dass ihre
Augen sie nicht trogen.
Ein kahlköpfiger Riese baute sich auf der anderen Seite des Tisches
auf und reichte ihr eine Lampe, nachdem er sie für sie gezündet
hatte. Sie strahlte so hell wie eine kleine Sonne. Nico murmelte
einen leisen Dank und leuchtete den Wundkanal damit aus.
„Da steckt noch etwas! Vielleicht die Spitze
der Waffe? Sie muss mit einem Gift getränkt sein… Wer hat das
getan?“, fragte sie mehr sich selbst, da es im Moment nur wichtig
war, das Stück Metall herauszuholen. Sie gab die Lampe an Nathan
weiter und holte die nötigen Utensilien aus dem Koffer. Viel war es
nicht. Handschuhe, Skalpell und eine Wundauflage, um das Blut
aufzufangen. Nähen wäre überflüssig, der Schnitt würde nicht lang
sein und in der Tiefe würde es von allein heilen, wenn die
vermeintliche Giftquelle entfernt worden war. Für Cat würde es
nicht angenehm werden, aber immerhin würde sie die Umwandlung
unterdrücken können, solange sie künstlich entspannt
blieb.
Nico fischte ein kleines Teilchen aus der Wunde, das wie ein
Metall-Dorn aussah. Wie eine altmodische Giftkapsel besaß er einen
Aufklappmechanismus. Einfach aber effektiv. Nico führte Nathan das
Teil vor, das auf ihrer flachen Hand lag, nachdem sie Cats Wunde
abgeklebt hatte.
Nach einer kurzen Weile konnte Nathan Cat
endlich aus seinem unnachgiebigen Griff freigeben. Die ganze Zeit
über sagte er kein Wort. Nico würde alles richten. Dessen war sich
Nathan ganz sicher, aber trotzdem war da eine leise Angst, Catalina
zu verlieren. Die Sache mit dem Lord war noch nicht vorbei. Das
hier war erst der Anfang gewesen. Sie würde ihm Rede und Antwort
stehen müssen, was ihre Anwesenheit bei dieser Versammlung zu
bedeuten hatte. Niemals wäre sie in diese Gefahr geraten, wenn sie
auf ihn wie verabredet in der Fortress gewartet oder zumindest
Rückendeckung durch einen der anderen Krieger abgesprochen
hätte.
Nico zog die vergiftete Spitze eines langen Messers heraus, die
abgebrochen und höchst infektiös in Catalinas Leib gesteckt hatte.
Nathan erschauerte leicht, denn er erkannte im hellen Licht von
Hagens Lampe ganz klar die Verarbeitungsweise der Aryaner. Hätte
der Lord die Chance zu einem besseren Stich gehabt, wäre sie tot
gewesen. Seine Kiefer mahlten heftig aufeinander und er tauschte
einen kurzen Blick mit Rys, der bedauernd den Kopf schüttelte.
"Ich würde zu gerne wissen, wo du dich heute
Abend rumgetrieben hast, Nico."
Die wandte den Kopf, um Cat anzusehen, die sich auf die Ellenbogen
abgestützt hatte und ihr ein schwaches aber dennoch amüsiertes
Grinsen schenkte. Wenn ihre Patientin schon solche Details bemerken
konnte, dann war sie schon auf dem Weg der Besserung.
Die kleine Lampe in Nathans Hand explodierte
mit einem lauten Knall.
„IST DAS WICHTIG?!“, herrschte er seine Soulmate an, die überrascht
zusammen zuckte und ihn ansah, als hätte er sie gerade geschlagen.
Das war Nathan egal, denn er war drauf und dran, dies tatsächlich
für so viel Unvernunft zu tun.
„Du solltest uns viel lieber erklären, welcher Teufel dich geritten hat, allein herzukommen. Keiner von uns wusste, wo du steckst. Wenn ich deine Schwingungen nicht aufgefangen hätte, wärst du jetzt mit an höchster Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit TOT, Catalina. –Sieh dir das an!“
Nathan griff nach Nicos Hand und hielt Cat
die Waffenspitze genau unter die Nase.
„Sieh genau hin! GANZ GENAU, WEIB!“
Sie schlug die Augen nieder und Nathan
schnaubte wütend, ließ das Handgelenk der armen, für diese Sache
doch ganz unverantwortlichen Nico aber los.
„Niemand wusste, wo du bist. Niemand.“
„Ganz ruhig, Nathan.“, versuchte Rys es mit einem beschwörenden Unterton in der Stimme, der andeutete, dass er nur ungern seinen Bruder auf den Plan bringen würde, der als einziger dazu in der Lage war, Nathan zu knacken und auszuknocken.
„Ich bin ruhig! So ruhig wie man nur sein kann, wenn man eine Soulmate hat, die dem Tod auch noch dreist ins Gesicht lacht und sich scheinbar nicht einen Scheiß aus ihrem eigenen Leben macht.“ Nathan stieß nur ein weiteres Schnauben aus, mit dem er das Gesagte unterstrich. Über die blutigen Kratzer an seinen Armen wischend und die kaputte Lampe einfach auf den Boden fallen lassend, richtete er sich auf.
„Ich habe nur keine Lust auf Wiederholungen
einer Geschichte, die ich hinter mir zu haben glaubte, Catalina.“
Awendela.
„Ich warte in der Fortress. – Vergiss ihren Bruder nicht.“
Dann war er fort. Rys konnte kaum glauben, das Nathan so wütend auf seine Soulmate war, dass er sie hier zurückließ. Jetzt hatte er also das alleinige Vergnügen, die Dinge zu regeln und er zuckte ratlos mit den Schultern, obwohl es ihm nicht unbedingt etwas ausmachte, anzupacken. Es galt einen Wagen zu organisieren, der die Verletzte samt Anhang und Nico in ihr sicheres Heim zurückbrachte und eine Bande von Jägern irgendwo einzuquartieren, wo sie in Sicherheit vor dem nächsten Angriff sein würden, der zweifellos nicht lange auf sich warten ließ.
Nico blieb keine Zeit zum Antworten und Cat,
die gerade erst wieder klar aus den Augen sehen konnte, starrte den
wütenden Nathan entgeistert an. Er hatte sie Weib genannt und
praktisch von ihr verlangt, sich an- und abzumelden, als wäre sie
ein unartiger Teenager, für dessen Sicherheit er verantwortlich
war.
Du kannst warten, bis du schwarz wirst!,
dachte sie wütend und starrte die nun leere Stelle an, wo Nathan
noch kurz zuvor gestanden hatte, als könnte sie ihm noch mental
einen rückendurchbohrenden Blick hinterher jagen.
Sie kämpfte noch gegen die Nachwehen des Giftes, dessen Reste noch
genug Schaden anrichteten. Woher sollte sie wissen, dass in der
Schwertspitze des Lords noch eine kleine Überraschung steckte? Sie
hatte den Angriff doch nicht geplant und es hätte doch auch jede
andere von ihnen treffen können. Sie war körperlich am stärksten,
dann war es gut, dass sie den Hieb abgefangen hatte. Außerdem war
keine Zeit für Hilferufe gewesen, sie sich damit beschäftigt, die
Leben der Jäger zu beschützen, was ja auch ihre verdammte Aufgabe
war!
„Haben Sie irgendwo eine Unterschlupfmöglichkeit? - Ich nehme nicht an, dass Sie hier übernachten wollten, nicht wahr?“, fragte Rys in die beklemmende Stille hinein, die sich eben über den Raum gesenkt hatte.
„Wir alle haben Zimmer in verschiedenen Hotels der Stadt, aber ich halte es für vernünftiger, vorerst keine Zivilisten in unnötige Gefahr zu bringen.“, antwortete Mina für ihre Männer und kam zögernd näher, nachdem sie Zeuge des heftigen Ausbruchs von Jagannatha geworden war. Catalina tat ihr leid, weil sie nun wirklich nichts für dieses Fiasko konnte. Sie selbst wäre wahrscheinlich elendig an dem Gift krepiert. Es gab doch immer wieder unschöne Überraschungen, wenn es um die Waffen der Gegner ging. Man sollte sie trotz altmodischer Ansichten eben nicht unterschätzen. Die altertümlichen Waffen hatten schließlich im Laufe der Geschichte einen nicht unbeträchtlichen Schaden angerichtet.
„Vielleicht können wir eine Fahrgelegenheit
bieten, falls Cat sich noch nicht auf die andere Art und Weise
fortbewegen kann?“, schlug Morris vor, der es nicht fassen konnte,
wie rüde der Priester mit ihr umgesprungen war.
Es musste an der Verletzung liegen, dass sie nicht ausgeholt hatte,
um dem Kerl das Maul zu stopfen. Er zog die Brauen über den Augen
zusammen und bedachte den anderen Kerl dafür mit einem finsteren
Blick. Cat konnte auf sich selbst aufpassen, jetzt sowieso. Für ihn
war dieser Ausbruch mehr als unnötig gewesen.
„Danke, Morris! Ich werde das gern in
Anspruch nehmen. Ich sollte wohl noch nicht selber fahren. Und
natürlich seid ihr alle herzlich willkommen, bei uns zu
übernachten. Dort können wir euch medizinisch versorgen, also Nico
hier wird das übernehmen, und ihr könnt in Ruhe besprechen, was ihr
als Nächstes tun wollt.“
Cat glitt von dem Tisch und hielt sich einen Moment haltsuchend an
Nico fest, da das Gift in Kombination mit dem Muskelentspanner ihr
die Knie weich machte. Oder was es doch eher
der Schmerz, den Nathan mit seinen Vorwürfen ausgelöst
hatte?
„Aufräumen können wir Morgen bei Tageslicht,
das ist dann auch sicherer.“
Hagen von Frankenstein sah sich mit einem grimmigen
Gesichtsausdruck im Raum um, als würde er sich am liebsten gleich
den Mopp und den Besen schnappen, um die Sauerei fort zu
wischen.
„Mina ist bei uns in jedem Fall sicher untergebracht.“, warf Cat noch ein, damit die Männer sich keine Sorgen um ihre Anführerin machten, die ja vor Tageslicht geschützt werden musste.
„Ich glaube, der gehört dir.“
Plötzlich stand Vulcan vor ihr und hielt einen klimpernden
Gegenstand in ihre Richtung. Ihr
Autoschlüssel!
Cat konnte sich nicht überwinden, ihn zu nehmen. Er ekelte sich
bestimmt vor ihren Händen, die sich in die Pranken eines Tieres
verwandeln konnten. Sein Gesichtsausdruck war für sie undeutbar. Er
war nicht mehr der offene Junge von früher, dem immer mit
Leichtigkeit ein Lachen entschlüpft war und dessen Augen
unbekümmert in die Welt blickten.
„Danke, das ist sehr aufmerksam von Ihnen.“,
übernahm Nico stattdessen die Antwort und streckte die Hand aus,
als Cat nicht reagierte, um den Schlüssel samt Anhänger von dem
jungen Mann zu übernehmen.
Als sich seine Hand um ihre schloss, wurde sie wieder auf das Dach
katapultiert, auf dem sie sich vorhin in der Vision schon wieder
gefunden hatte. Nur nahm sie jetzt Catalinas Platz ein. Eine
Gänsehaut kroch über ihre entblößte Haut, als sie zu verstehen
begann, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen. Bruder
und Schwester. Und sie spürte die beinahe verzweifelte Liebe von
Cat, die ihr damals das Herz schwer gemacht hatte, als sie den
Bruder in den Kampf ziehen lassen musste.
„Würden Sie mich auf der Fahrt nach Hause
begleiten? Dann kann Catalina mit den anderen fahren… Die Einladung
gilt natürlich auch für Sie.“
Der Griff um ihre Hand wurde kurz fester, dann ließ er sie los und
wich einen Schritt zurück, wobei er Rys einen misstrauischen
Seitenblick zuwarf. Nathan hatte praktisch befohlen, ihn
mitzubringen.
„Ist das eine rhetorische Frage?“, war seine
lakonische Antwort.
Vulcan bedachte das kleine Persönchen in dem knappen Fetzen Leder
mit einem verständnislosen Blick, da er sich Vampire immer anders
vorgestellt hatte. Sie gingen eigentlich nur gegen Männer vor und
er selbst war bisher keinem weiblichen Vampir so nah gekommen, dass
er mit ihr eine Unterhaltung hätte führen können. Natürlich hatte
er ein paar von diesen blutrünstigen Geschöpfen der Nacht
abgeschlachtet, doch die waren meist kaum fähig, sich zu
artikulieren. Das zählte also nicht.
„Du kannst gehen, wohin du möchtest, Vulcan.
Niemand… NIEMAND wird dich gegen deinen Willen festhalten! Wage es
aber ja niemals, mir danach unter die Augen zu treten, wenn du
weiterhin die Fahne der Tatarescus schwenkst. Wir sind und waren
schon immer Feinde!“
Cat wandte sich nach einem letzten wie versteinerten Blick von
ihrem Bruder ab und ließ sich von Morris stützen, der sie
wahrscheinlich gut genug kannte, um ihr kleines tapferes Spiel zu
durchschauen. Innerlich litt sie Höllenqualen, sich auf diese Weise
von ihrem Bruder trennen zu müssen.
Selbst sie hatte unerfüllbare Träume gehegt, wenn sie allein
irgendwo auf der Welt in einem schäbigen Bett lag und sich
wünschte, den einzigen Menschen mitgenommen zu haben, mit dem sie
eine beinahe normale Beziehung geführt hatte. Aber sie hätte
niemals riskiert, ihn auf ihre Todesmission mitzunehmen. Er war
schließlich nur ein Mensch.
Morris fegte Cat schließlich gekonnt von den Beinen, als es ihm zu
bunt wurde, ihren Gehversuchen zuzusehen. Er mochte kein Vampir
sein, aber mit ihrem Leichtgewicht wurde er jederzeit fertig. Wozu
waren Freunde sonst da? Dass sie nun eine Immaculate war, störte
ihn wenig. Ihr Charakter hatte sich nicht verändert und sie würden
sich immer noch mögen und gut verstehen. Das hatte sich ja schon
auf den ersten Blick vorhin bei ihrem Wiedersehen gezeigt.
Nico sah zu, wie Mina ihre Männer hinaus
führte, bis schließlich nur noch Rys und sie mit Cats Bruder
zurückblieben.
„Gehst du schon vor und kündigst unser Kommen an? Ich brauche
sicher länger mit dem Auto. Ich würde sagen, wir treffen uns zuerst
in der Krankenstation. Ich sollte wohl ein paar Spritzen gegen
Tetanus verteilen.“, bat sie Rys und bedachte dann den Bodenbelag
mit einem Rümpfen ihrer Nase.
-Er begleitet mich
sicher, Rys! Vertrau mir einfach!- Das war eine ziemlich
gewagte Behauptung, mit der sie sich selbst Mut zusprach.
Rys war nicht begeistert, verschwand dann jedoch vor ihren Augen,
nachdem er den Jungen mit einem letzten drohenden Blick bedacht
hatte.
„Woher kannten Sie meinen Namen?“
Nico war einfach aus dem Raum gelaufen, wobei sie versuchte, den
Kadavern unter ihren Füßen auszuweichen, so gut es eben ging. Cats
Bruder hatte sie schließlich eingeholt und nahm sie einigermaßen
sanft am Ellenbogen, um ihr den Weg nach draußen zu weisen, den sie
sonst mühsam hätte suchen müssen.
„Ich sehe Dinge… Visionen. Ihre Schwester hat ihn mir praktisch in ihrer Aufregung verraten. Sie hat an die Vergangenheit gedacht. An den Tag, als die Aryaner sie beide im Wald angefallen haben. Die Aussicht von Ihrem Zuhause ist wirklich überwältigend. Ich heiße übrigens Nico.“
Vulcan blieb stehen und hielt sie dadurch
ebenfalls vom Weitergehen ab, da er ihren Arm ein wenig fester
umfasst hatte.
„Davon hat sie Ihnen erzählt?!“ Sein Blick bohrte sich lodernd in
ihre Augen.
Nico schüttelte den Kopf und bedachte ihn mit
einem zurechtweisenden Blick.
„Natürlich nicht! Sie spricht niemals über ihre Vergangenheit. Ich
weiß nur, dass sie in einem Haus ohne Liebe groß geworden ist, in
dem man sie zu einer Jägerin ausgebildet und bis aufs Blut gequält
hat. Sie hat es natürlich herunter gespielt und es mit einem
Schulterzucken abgetan… Hätte Nathan sie vor ein paar Wochen nicht
praktisch von der Straße aufgelesen, wäre sie heute tot. Aber diese
Dinge interessieren die Tatarescus nicht, oder? Sie sehen nur die
Monster und niemals den Menschen dahinter. Hat man Sie geschickt,
um sich endlich einen Vorteil über die Vampire zu verschaffen, die
dem Tageslicht widerstehen können? Ich hoffe, ich habe mich nicht
in Ihren Gefühlen geirrt, die ich in dem schlaksigen Jungen gelesen
habe. Sie wollten Ihre Lehrmeisterin stolz machen, um in ihren
Augen bestehen zu können. Das tut man nicht für jemanden, der einem
nichts bedeutet, auch wenn es natürlich nicht unbedingt der
richtige Weg ist, Gefühle auszudrücken, aber es ist der einzige,
den man ihnen beiden als Kind beigebracht hat…“
Sie empfand leise Genugtuung über die Fassungslosigkeit in seinem
Blick. Dragomir konnte nicht unbedingt nachvollziehen, dass man
noch nach Jahren seine Gedanken lesen konnte. Cat hätte ihr das gar
nicht erzählen können, sie hatte sicher niemals hinterfragt, warum
sie manche Fehlentscheidung getroffen hatte. Dazu war sie emotional
viel zu sehr in die Sache verstrickt gewesen.
„Hier entlang.“, wies er sie hin und öffnete sogar die Türen für sie, dann erreichten sie nach einigem Suchen Cats schicken Sportwagen.
Nico drückte auf den Knopf, der den
Öffnungsmechanismus auslöste und sah dann fragend zu ihm
auf.
„Was soll ich Cat ausrichten?“
Sie öffnete die Fahrertür und ließ sich auf den Sitz gleiten, als
er nach langer, stummer Musterung immer noch keinen Ton sagte.
Alles in ihr drängte sie darauf, ihn anzuflehen, sie zu begleiten,
doch diese Entscheidung musste er mit sich und seinem Gewissen
ausmachen. Cat konnte heute keine weitere belastende
Auseinandersetzung gebrauchen. Die Sache mit Nathan würde ihr schon
genug zu schaffen machen. Sie hatte bloß daneben gestanden und
hatte den Drang verspürt, sich bei ihm für alles zu entschuldigen
und sie war nicht einmal gemeint gewesen.
Als Dragomir die Tür zuschlug, hätte Nico in
Tränen ausbrechen können. Wie sollte sie Cat erklären, dass sie den
letzten Menschen verloren hatte, der ihr früher etwas bedeutet
hatte? Mutlos ließ sie den Motor starten und legte den Gang ein,
wie Cat ihr das beigebracht hatte. Sie vergaß sogar ihre Angst vor
Autos.
Dann wurde die Beifahrertür geöffnet und Cats Bruder stieg zu ihr
in den Wagen, so dass sie ihm ein strahlend erleichtertes Lächeln
schenkte.
„Danke!“, sagte sie leise und fuhr dann Richtung Uptown los.
In der Fortress
Nathan hatte zusammen mit Tiponi die
Krankenstation vorbereitet, nachdem er sich direkt vor Therons
Apartment materialisiert und seinem Anführer Bericht erstattet
hatte. Es stand außer Frage, dass die prominente Versammlung, auf
die Rys und er gestoßen waren, woanders als in der Fortress
übernachten würden. Gästezimmer wurden ebenfalls hergerichtet und
speziell für die Lost Soul eines ohne Fenster sowie weiteres Plasma
bereitgestellt.
Darüber, dass er Cat gegenüber die Beherrschung verloren hatte,
verlor Nathan kein Wort. Das war privat und gehörte nicht hierher.
Rys war der erste, der ankam und er unterrichtete Nathan davon,
dass die Jäger mit einem eigenen Wagen, in dem auch Cat mitgebracht
werden würde, herkommen würden und dass Nico den Jungen
mitbrachte.
Cats Bruder.
Nathan konnte kaum glauben, ihm soeben Auge in Auge gegenüber
gestanden und ihn beinahe umgebracht zu haben. Was für ein Schock
musste das für Cat gewesen sein? Ihr sehnlichster Wunsch und
zugleich schlimmster Alptraum war wahr worden. Wunsch, weil sie
Dragomir noch einmal in die Arme hatte nehmen wollen und Alptraum,
weil der ebenfalls unter Jägern aufgewachsene und ausgebildete
Junge für sie in ihrer neuen Gestalt vielleicht nicht mehr als
Abscheu empfand.
Doch Nathan hatte bereits hinter die Fassade geblickt. Als der
Junge am Boden lag und wutschäumend zu ihnen aufgesehen hatte,
waren da doch ein paar rumänische Gedanken gewesen, die nicht von
Wut und Hass zerfressen gewesen waren. Das, was er zu Cat über
Dragomir gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Selbst wenn es für
sie kaum zu glauben war.
„Es ist alles für Nico bereit gelegt, Nathan.
Soll ich mir nun deine Verletzungen ansehen?“ Tiponi riss ihn aus
seinen Gedanken und ihm fiel auf, dass er schon eine ganze Weile
tatenlos an einer der Liegen im Krankenzimmer lehnte. Sein
Priesterhemd hing an den Ärmeln in Fetzen herunter, doch die
blutigen Striemen, die die Löwin hinterlassen hatte, waren für ihn
nicht mehr als vernachlässigbare Kratzer, obwohl einige tatsächlich
tief und böse aussahen. Nichts im Vergleich zu dem Schmerz in
seinem Herzen.
Es tat ihm schon wieder leid, Cat so angefahren zu haben. Er hätte
bei ihr bleiben sollen. Doch sie verletzt und noch dazu
uneinsichtig zu erleben, waren die einzigen Situationen mit ihr,
die ihn aus der Haut fahren ließen und auf die Palme brachten. Das
musste Cat verstehen.
Sie kannte doch Awendelas Geschichte und musste doch ahnen, wie
empfindlich er auf Alleingänge ihrerseits reagierte. Es ging nicht
darum, ihr die Jagd zu verbieten oder nur noch unter seiner
Aufsicht zu gestatten. Wenn sie nicht mehr schmollte, weil sie sich
von ihm überfahren fühlte, würde sie seine Sorge um sie begreifen.
Er liebte sie. Sehr. Deswegen war es nicht nötig, die Kratzer, die
Cat ihm zugefügt hatte, zu behandeln. Für sie würde er alles
ertragen. Nur nicht, dass sie sich nicht um sich selbst zu sorgen
schien.
„Nein, es geht schon. Haben wir die Impfungen vorbereitet?“
„Nathan, du solltest mich wirklich einen
Blick auf die Kratzer werfen lassen. Es wird noch eine Weile
dauern, bis die verheilt sind. Selbst dann, wenn du gleich
trinkst.“ Tiponi, die schließlich mit einem ganz anderen, bei
weitem ungeduldigeren Kaliber fertig wurde, griff nach einem Stück
Mull und Desinfektionsmittel, um eventuelle Stoffreste aus den
Wunden holen zu können und verlangte barsch, dass er seine Arme
ausstreckte. Nathan, der um das harte Regiment dieser Frau wusste,
folgte brav wie ein Lämmchen.
Noch während sie den zweiten Arm versorgte, trafen die anderen
Gäste ein. Rys hatte sie mit Ron in Empfang genommen und hierher
gebracht. Cat, die von einem der Jäger getragen wurde, würdigte ihn
keines Blickes. Weil sie sich nicht traute, nicht weil sie böse
war. Nathan bekam die Schwingungen, die von ihr ausgingen durchaus
mit. Doch er bekam keine Gelegenheit zu einem versöhnlichen
Austausch. Morris schirmte sie ab und bald füllte sich das
Krankenzimmer mit dem Wortwechsel der Jäger, Theron, Catalina und
schließlich auch Nico und Tiponi, die sich zuerst um das gebrochene
Handgelenk von Dragomir oder Vulcan kümmern würde, während sich
Nico um Cats Stichverletzung bemühte.
Der kaum verletzte, mitgebrachte Arzt der
Jäger konnte sich die Kratzer und Bisswunden der anderen ansehen
und impfen. Nathan zog sich aus dem Geschehen zurück an die Tür zu
seinen Waffenbrüdern. Den Rest des Verbandes, mit dem Tiponi
begonnen hatte, wickelte er selbst fertig und stopfte das Ende
achtlos in den oberen Rand.
Cats Bruder würde sich hoffentlich nicht gegen die Fürsorge der
ehemaligen Tri’Ora wehren. Wenn doch, dann konnte er sich darauf
gefasst machen, ein weiteres Mal zu seinem Glück gezwungen zu
werden. Sie ging mit ihm jedoch sehr viel rücksichtsvoller um als
mit ihm und sagte kaum ein Wort, weil sie sicher spürte, dass jede
Unterhaltung wahrscheinlich unwillkommen war. Immerhin hatte Nico
es geschafft, ihn herzubringen. Das war ein Anfang.
Vulcan ließ die Behandlung der exotisch
schönen Fremden völlig stoisch über sich ergehen. Er war es
gewohnt, sich von Ärzten oder Pflegern versorgen zu lassen, die er
vorher ja auch nicht kannte. Die anderen Jäger unterhielten sich
locker, wie es alte Freunde eben taten, wenn die Spannung von ihnen
abfiel. Der Ton war nicht mit den Unterhaltungen in der Umkleide
des elterlichen Schlosses in Rumänien zu vergleichen, aus denen er
sich meist rausgehalten hatte, weil es ihn abstieß, wie die Brüder,
Cousins und Verbündete über ihre Arbeit sprachen. Er selbst empfand
keine Freude beim Töten, er wollte nur verhindern, dass anderen
Schaden zugefügt wurde.
Er hörte nicht richtig zu, vielmehr ließ er Cat und Nico nicht aus
den Augen, die anscheinend eine sehr enge Bindung zueinander
hatten. Wie Schwestern. Die Frauen im Schloss hatten Catalina eher
behandelt, als hätte sie die Pest. Nico hatte Recht, sie hatte eine
mehr als trostlose Kindheit und Jugend gehabt.
„Nein, Danke. Meine Impfungen sind auf dem neuesten Stand.“, wehrte er die junge Frau mit dem dunklen Teint ab, die ihm auch noch eine Spritze setzen wollte, nachdem sie sein Handgelenk geschient hatte.
Es war nicht der erste angebrochene Knochen
und auch nicht die erste lädierte Rippe. Er hätte mit den
Verletzungen bis zum bitteren Ende gekämpft. Schade nur, dass sie
ihm nicht von den Feinden beigebracht worden waren. Sein Blick
glitt zu dem Priester, dessen Unterarme ganz schön bös lädiert
worden waren, als er versucht hatte, Catalina zu
bändigen.
Sein Kopf schmerzte. Mit diesem Ausgang des Abends hatte er
bestimmt nicht gerechnet. Er saß hier umgeben von Vampiren, die
laut seinem Vater alle nach seinem Leben und seinem Blut trachten
würden. Davon allerdings keine Spur. Mina Harker hatte vorhin Blut
aus einem Beutel getrunken, obwohl sie genug Männer um sich hatte,
die ihr als Nahrungsquelle dienen konnten. Ihre Verletzungen waren
beinahe schon verheilt. Beneidenswert. Er konnte bei Weitem weniger
einstecken als beispielsweise Catalina. Nach dem Angriff der
Aryaner hatte er monatelang schlimmste Schmerzen erdulden müssen
und sich gewünscht, nicht seine Mutter sondern seine Schwester
würde sich um ihn kümmern. Sie hatte immer einen Weg gefunden, ihn
die Qualen der Heilung vergessen zu lassen. Beinahe wäre er damit
rausgeplatzt: Weiß du noch…?
Allerdings waren das eigentlich erbärmliche Kindheitserinnerungen,
die er dann zur Sprache bringen würde, also blieben ihm die Worte
im Hals stecken.
Cat ließ sich verbinden und schlug das
angebotene Plasma aus. Sie wollte diesen Schmerz bis zur Neige
auskosten, weil er sie von ihrem Kummer ablenkte. Sie blitzte Nico
warnend an, als die vorschlug, dass sie von Nathan trinken sollte,
um die Heilung zu beschleunigen. Wenigstens sorgte Morris mit
flapsigen Sprüchen für die Art von Ablenkung, die ihr nicht den
Magen umdrehte oder das Herz eng machte.
Ihr waren die Blicke ihres Bruders nur zu bewusst und auch die Nähe
von Theron und Nathan kratzte an ihren Nerven, weil die beiden
sicher jede Schwingung in dem Raum auffingen, selbst wenn die
langsam munter werdenden Jäger ihn mit ihren Unterhaltungen
anfüllten.
Sie musste sich wirklich beherrschen, nicht in seine Richtung zu
sehen, aber ihr fiel dann doch auf, dass seine Unterarme verletzt
waren. Von ihren Krallen zerkratzt, als sie sich in Krämpfen auf
dem Tisch gewunden hatte.
Scheiß Aryaner!
Sie wollte am liebsten gleich auf die Jagd nach dem Mistkerl gehen
und ihm den Rest geben. Danach konnte sie ja noch einmal über die
Familienplanung sprechen. Er natürlich zwei Oktaven höher als
vorher.
Die Wut hielt nicht lange und die Schmerzen
auch nicht, weil Nico sie zu gut verbunden hatte. Das war jetzt
nicht viel mehr als ein Kratzer. Heiße Tränen schossen ihr in die
Augen, doch sie unterdrückte sie mit derselben Stärke, die sie
sonst auch immer an den Tag legte.
Nathan hatte ja mehr als deutlich gemacht, was er von ihrem
Verhalten hielt. Sie war ja nur ein dummes Weibsbild, das zu blöd
war, ihr Leben in den Griff zu bekommen.
„Nico hilf mir bitte hier raus. Ich brauche eine Dusche. Hinten raus!“, setzte sie energisch dazu, als Nico schon Anstalten machte, nach Nathan zu winken. Das fehlte noch, dass sie angekrochen kam, damit er ihr einen weiteren Vortrag halten konnte.
„Danke Morris. Es geht schon. Ich heile jetzt
schneller. Und es gibt nicht mal Narben. Deine miese Arbeit ist
nicht mehr zu sehen. Wer hätte das geglaubt?“, scherzte sie mit
ihm, obwohl er ungewohnt ernst wirkte.
„Ich besuch dich später in deiner Unterkunft, wenn ich wieder
vorzeigbar und sauber bin. Ich kann das Blut von dem Arsch nicht
mehr riechen. Man wird sich gut um euch kümmern.“
Cat legte ihm kurz die Hand auf die Wange und ließ ihre
Fingerspitzen über die modisch kurzen Bartstoppeln gleiten, die ihn
immer ziemlich verwegen aussehen ließen.
„Wir sind quitt, Red. Und du weißt, ich bin jederzeit bereit, deinen Rücken zu decken.“, gab Morris zurück und schenkte ihr ein schiefes Grinsen, weil sie es von ihm erwarten würde, über diese blöde Situation hinweg zu gehen. Beziehungen waren in ihrem Metier ziemlich kompliziert und das Vampirdasein machte es bestimmt nicht leichter.
Cat wäre noch schneller gelaufen, wenn Nicos
Arm um ihre Taille sie nicht aufgehalten hätte. Sie atmete auf, als
sie durch die Tür war und löste sich dann von ihrer
Sophora.
„Ab hier kann ich allein. Geh zurück und sieh bitte nach Dra…
Vulcan. Gib ihm ein Schmerzmittel, auch wenn er sich wehren sollte.
Seine alten Verletzungen lösen Kopfschmerzen aus, wenn er Schmerzen
hat… Du wirst ihn sicher überreden können.“
Die Tränen wollten erneut aufsteigen, doch sie blinzelte sie
einfach weg.
„Danke, dass du so schnell zur Stelle warst. Und vielleicht sollte
ich Damon rufen, damit er für die Heilung deiner Verletzungen
sorgt. Das sieht bestimmt böse aus. Ihr habt den Kerl erwischt,
oder? Gut!“ Cat nickte ihr zu und huschte dann aus dem angrenzenden
Raum in den Flur, wo sie die Duschen der Trainingsräume ansteuerte,
anstatt in die Wohnung zu gehen, die sie sich mit Nathan
teilte.
Der Mantel war völlig ruiniert, sie würde ihn
Mina ersetzen. In Gedanken ging sie alles durch, was nichts mit
Nathan zu tun hatte. Hauptsache, nicht daran denken, dann konnte es
nicht wehtun. In Ermangelung an anderen Sachen zog sie nach der
schnellen Dusche Sportsachen über, die in den Schränken der
Umkleide lagerten. Die Haare ließ sie feucht auf die Schultern
zurückfallen und tigerte dann unruhig vor den Schränken hin und
her. Gerade wusste sie nicht, wohin mit sich selbst.
Alle potentiellen Gesprächspartner boten gerade keine rosigen
Aussichten.
Nathan war wütend auf sie, Mina kannte ihren Vater sehr persönlich und
Vulcan... dessen Ablehnung könnte sie
gerade nicht verkraften, auch wenn sie Hoffnung hegte, dass sein
Erscheinen hier ein gutes Zeichen war. Bitte...
Bitte, lass es so sein!
Cat verschwand mit Nico, sie wollte ihm also unbedingt aus dem Weg gehen. Die kleine Sophora kehrte viel zu schnell zurück, was bedeutete, dass Cat einen Alleingang wagte, den Nathan ihr unter keinen Umständen erlaubt hätte. Sie war viel zu wackelig auf den Beinen gewesen. Somit musste er anscheinend den ersten Schritt tun. Selbst Nico wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen. Was nichts mit ihrem kuriosen Einsatzoutfit, sondern vielmehr mit der Tatsache zu tun hatte, dass sie ihn diesmal in Echtzeit und nicht in einer ihrer Visionen böse erlebt hatte.
„Entschuldigt mich bitte. Ich muss mich um Catalina kümmern. Bringt den Jungen in mein Apartment. Ich habe das Gästezimmer dort vorbereiten lassen. Sie hätte ihren Bruder sicher gern um sich. – Nach so langer Zeit.“
Und Dragomir/Vulcan wurde ins kalte Wasser geworfen, damit er sich gleich wieder an sie gewöhnte. Angst davor, im Schlaf ermordet zu werden, hatte Nathan nicht. Das hatten schon ganz andere versucht und in dem Jungen steckte noch ein Funken Anstand, wie es schien. Tiponi legte ihm gerade in fürsorglicher Geste eine Schlinge in den Nacken und band die Enden zu, damit er seinen Arm ruhig lagern konnte. Der Jäger hatte sich nicht gegen die Behandlung gewehrt. Es würde eine ganze Weile dauern, bis der Bruch des Handgelenks verheilt war und ebenso die Rippen, die Tiponi fest verbunden hatte. Cats Bruder war immer noch menschlich. Nathan hatte die Beherrschung verloren.
„Es tut mir leid.“, sagte er aufrichtig, wenn auch nicht in der Annahme, dass seine Entschuldigung einfach so akzeptiert werden würde. Noch nicht. Auch sie mussten sich erst besser kennen lernen. Im Vorbeigehen hatte er vor Vulcan inne gehalten und ihm einen Moment lang eine Hand auf die Schulter des unverletzten Arms gelegt.
„Ich hatte Angst, du würdest sie töten. Das
konnte ich nicht zulassen.“
Und nun würde er das Gleiche zu Catalina sagen.
Nathan ließ die anderen zurück und folgte demselben Weg, den Cat
Minuten zuvor gegangen war. Er fand sie auf und ab tigernd in der
Umkleidekabine wieder. Unruhig und voller ungestümer Gedanken, die
sich darum bemühten, nicht um ihn zu kreisen und es unbewusst immer
wieder taten.
Nathan erlaubte sich ein kleines, erleichtertes Lächeln im
Halbschatten, in dem er stand. Dann trat er vor.
„Willst du dich nicht lieber hinsetzen?“, fragte er leise und sah sich mit einem überrascht dreinblickenden amethystfarbenen Augenpaar konfrontiert, das ihn ansah, als wäre er das Letzte, was sie zu sehen erwartet hätten. Nathan senkte bedauernd den Kopf und deutete in ergebener Geste auf die Holzbank.
„Bitte. Du hast längst nicht genug geruht, um
vollständig geheilt zu sein.“
Nathan setzte sich ebenfalls. Die bandagierten Arme und Hände in
den Schoß gelegt, die Schultern ebenso demütig gesenkt wie den
Kopf, starrte er schweigend auf den Fußboden, bis sie tat, um was
er sie gebeten hatte.
Cat war schon kurz vor dem Durchdrehen, als
Nathan plötzlich neben ihr stand. Er hatte sich
mal wieder erfolgreich angeschlichen, um ihr in den Hintern zu
treten.
Der böse Gedanke tat ihr sofort leid, sie war gerade nicht sehr
geduldig oder besonders genießbar. Sie wollte einfach nur aus der
Haut fahren. Still sitzen war noch nie ihr Ding gewesen. Es hatte
eben nie einen Ruhepol in ihrem Leben gegeben. Oder einen guten
Grund, an einem Ort zu verharren. Stillstand bedeutete nur, sich
mit allem auseinandersetzen zu müssen, vor dem sie davon lief.
Resigniert ließ sie sich schließlich neben Nathan auf die Bank
fallen. Seine Berührung konnte sie gerade nicht ertragen. Das würde
sie nur dazu bringen, in sich zusammen zu fallen und loszuheulen.
Es geschah aus reinem Selbstschutz, weil sie sonst kein Wort mehr
herausbringen würde.
Sie musste wegsehen. Nathan war viel zu gut darin, in ihr zu lesen,
was allen anderen verborgen blieb. Die meiste Zeit war es
beruhigend, doch wenn es um ihre Schwächen ging, fühlte sie sich
ihm gegenüber nackt und bloß. Sie brauchte noch Zeit, um an sich zu
arbeiten, um diese Defizite endlich hinter sich zu lassen.
Unsicher tastete Nathan mit seiner linken nach ihrer rechten Hand und versuchte, sie zu ergreifen, Cat versteifte sich ebenso unsicher unter seinem Griff und ihre äußere wie innere Anspannung deutete an, dass er diesmal in keinem Fall so einfach davon kommen würde, wenn er ein weiteres Mal wagte, sie anzugreifen und ihre Entscheidungen infrage zu stellen. Noch war sie hier die Patrona und ebenfalls Anführerin einer Kriegerriege. Wobei Nathan nie vorgehabt hatte, ihr weder den einen noch den anderen Status abzuerkennen.
„Ich hätte die Geduld vor deinen Freunden
nicht verlieren dürfen, Catalina. Das tut mir leid. Ich hätte dir
zuliebe damit warten sollen, bis wir unter uns sind.“
Da sie sicher eine bedingungslose Entschuldigung erwartet hatte,
entzog sie ihm ihre Finger und wandte sich etwas ab, sodass er nun
förmlich die kalte Schulter gezeigt bekam. Gut, wenn es ihr half,
zu schmollen, würde er sie lassen. Trotzdem war er noch nicht
fertig. Nathan faltete seine Hände im Schoß und lächelte erneut vor
sich hin. Es erinnerte ihn an eine Szene mit Awendela, die vor
Jahren stattgefunden haben musste. Irgendwann vor langer, langer
Zeit.
„Ich war in der Kirche gerade dabei eine
Tasse Tee zu trinken. Da erreicht mich dein Aufschrei eines Namens,
der mir bis dahin vollkommen unbekannt war und das untrügliche
Gefühl, dass dein Leben in Gefahr ist. Ich war außer mir. Ich
musste sofort an deine Seite und hoffte, nicht zu spät gekommen zu
sein. Ich fand dich verletzt und ein junger Mann hält dir eine
Waffe vor dein Gesicht. Den Aryaner dahinter habe ich in meiner
Raserei nicht gesehen. Alles, was ich denken konnte, war dein Leben
zu retten. Unter allen Umständen, selbst wenn es meinen Untergang
bedeutet. Hätte ich ihn gleich erkannt oder eine Sekunde
nachgedacht, wäre er nicht verletzt worden. Ich habe mich bei ihm
entschuldigt und werde es wieder tun, bis er mir vergibt. Auch bei
dir entschuldige ich mich, Catalina. Du musst wissen, dass meine
Geduld dann ein Ende findet, wenn du dich selbst schlecht
behandelst, die Schwere deiner Verletzungen herunterspielst und so
tust, als wäre nichts gewesen. Du bist immer noch eine Frau. Meine
Frau. Ich möchte, dass du dir zumindest an meiner Seite hin und
wieder eine Schwäche erlaubst und meine Sorge um dich zulässt. Ich
liebe dich, Catalina. Ich brauche dich und wenn ich dich verloren
hätte, dann...“
Nathan machte eine Pause, die die Gewissheit hinterließ, dass dann
vermutlich Dinge passiert wären, die sich keiner von ihnen nicht
mal er selbst vorstellen konnte.
„Ich verbiete dir niemals zu tun, was du tun
musst oder tun möchtest. Alles, was ich dir abverlange, ist die
simple Einhaltung der minimalen Regel, keinen Alleingang zu
versuchen oder Bescheid zu sagen, wenn du ausgehst und wohin. Wenn
du mir deswegen böse bist oder du dir kontrolliert vorkommst, was
ich keinesfalls beabsichtige, dann vertrau dich deinen Freundinnen
an. Deinen Mitstreitern. – Der heutige Abend darf sich nicht
wiederholen, Catalina. Rukh hat ein Auge auf dich geworfen. Er wird
dich suchen lassen und beim nächsten Mal finde ich dich vielleicht
wirklich nicht schnell genug.“
Und auch das war ein Szenario, das sich lieber keiner von ihnen
ausmalte, weil es an Schrecklichkeit alles übertraf.
„Ich wollte keinen Alleingang starten!“, sagte Cat in einem leicht schmollenden Tonfall nach einer Weile, weil es das am wenigsten aufwühlende Thema war, über das sie mit ihm sprechen konnte.
„Ich weiß, es war kindisch… Aber ich fühlte
mich irgendwie eingesperrt… Ich wollte dich in der Kirche besuchen,
aber ich kann eher nicht davon ausgehen, dass mich die Nonnen
bereits vergessen haben und als Priester kannst du schlecht
Damenbesuch bekommen. Ich weiß auch nicht, ich bin eigentlich nicht
so… Ich kann gut allein sein und mich selbst beschäftigen, ich bin
eigentlich nicht der Typ, der klammert. Ich habe ja bisher niemals
geschafft, etwas festzuhalten, nicht wahr?“
Cat starrte an die Decke und atmete ein paar Mal tief durch. Das
Gespräch hier fiel ihr sehr viel schwerer als die
Auseinandersetzung mit einem Aryaner-Lord und einer Meute
stinkender Ratten.
„Bei Vollmond wird meine innere Unruhe
beinahe unerträglich. Es ist für dich vielleicht nicht
nachvollziehbar, aber alles, was ich in den letzten Wochen
geschenkt bekommen habe… Manchmal macht es mir Angst. Ich sollte
mit dieser Perfektion zufrieden und glücklich sein und doch hat
mich der Nervenkitzel von heute Nacht von der Last meiner sich
drehenden Gedanken befreit… In diesen Situationen weiß ich eben
ganz genau, was ich zu tun habe. Da ist kein Platz für
Unsicherheiten oder Zögern und es befreit mich von den Zweifeln,
die mich in ruhigeren Stunden überkommen. Ich wollte mich einfach
nur ablenken, als sich Morris gemeldet hat. Er ist absolut
vertrauenswürdig und hatte auch nicht vor, mich in Gefahr zu
bringen. Er wusste, ich würde Interesse an der Sitzung haben…
Immerhin hielt er mich noch für die Jägerin Cat. Wir haben eine
Zeitlang zusammen gearbeitet. Ich traf ihn in Texas, als ich über
Mexiko in die Staaten eingereist bin. Eigentlich wollte ich ihn
nur… ausnutzen. Mein Englisch ließ leider sehr zu wünschen übrig
und wollte eine Weile lang nicht mehr allein sein. Ich hätte an
meinem Plan festgehalten, wenn er versucht hätte, mich anzumachen,
aber wir wurden Freunde, soweit es eben ging. Ich konnte ihm nicht
alles erzählen, da ich um seine Kontakte zu Immaculate wusste. Er
hätte dann nur versucht, mir zu helfen und ich wollte das nicht. Du
kennst ja meine eigentlichen Pläne…“
Kämpfen bis zum Tod, weil es nichts gab, wofür
sich das Leben lohnte.
„Es sollte nur ein lockerer Abend mit einem
alten Freund werden und ich bin froh, dass ich dort war. Es blieb
einfach keine Zeit, Verstärkung zu rufen… Ein Blinzeln zu viel
hätte einem der anderen das Leben kosten können. Du hättest sicher
nicht anders gehandelt. Mein Verhalten hat nichts damit zu tun,
dass ich das, was ich habe, nicht schätze oder gedankenlos aufs
Spiel setze. Es ist meine Natur und meine Pflicht. Ich kann deine
Sorgen natürlich nachvollziehen… Und auch deine Bitte, immer wissen
zu wollen, wo ich bin… Aber was hätte das gebracht? Hätte ich
angerufen und gesagt, ich gehe mit einem alten Freund essen, dann
hättest du bis zu dem Moment, als du gespürt hast, dass etwas nicht
stimmte, auch nichts von der Gefahr geahnt. Wenn der Lord schon auf
der Suche nach einer Frau ist, dann ist es sowieso besser, er
konzentriert sich auf Eine von uns. Er weiß schließlich nicht, mit
wem er sich anlegt…“
Cat konnte ihm nicht weiter entgegen kommen, auch wenn das einen
Riss in ihrer Beziehung nach sich ziehen sollte. Er hatte gesagt,
sie wären Mann und Frau, doch es war nichts Offizielles. Nur ihre
engsten Freunde wussten davon und die Riege aus Europa. In der
Ausübung ihrer Pflicht als Kriegerin brauchte sie absolute Freiheit
und Nathans Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Sie hatte schließlich in
dem Wissen um Hilfe gerufen, dass sie Nicos Sachverstand bei der
Behandlung der Wunde brauchen würde.
Natürlich reizte sie die Gefahr, aber sie hing sehr an ihrem
jetzigen Leben und würde es nicht unbedacht riskieren.
„Mina und mein Vater kennen sich… sehr gut. Das ist unheimlich. Ich mag sie und kann mir nicht vorstellen, dass sie und er… Sie hat ihr Leben riskiert, um mich zu retten. Einfach so. Ich denke, zwischen uns besteht eine gewisse Seelenverwandtschaft. Ich war immer davon überzeugt, dass es kein schlimmeres Schicksal als meines geben könnte, aber ihres sprengt jegliche Vorstellungskraft. Meine jedenfalls. Es macht mir nur noch klarer, wie viel Glück ich habe… Ich habe Freunde gefunden, ein neues Leben und eine neue Aufgabe und… dich. Du bist mein Leben und wenn du mir vorwirfst, dass ich es leichtsinnig und ohne Verstand aufs Spiel setze, dann ist das so, als würdest du behaupten, ich würde dich nicht lieben. Ich weiß, dass ich nicht gut darin bin, dir die Tiefe meiner Gefühle zu vermitteln, doch ich dachte, du würdest es spüren, Nathan… Du bist der erste Gedanke, wenn ich aufwache und der letzte, bevor ich einschlafe. Du bist ein Teil von mir und zu wissen, dass du immer an meiner Seite sein wirst, macht mich frei.“
Cat drehte sich schließlich doch noch zu ihm um, um seinen Blick zu suchen, obwohl Tränen über ihre Wangen kullerten, die sie nun nicht mehr aufhalten konnte. Nathan mochte nicht mir ihrer Art zurechtkommen, wie sie mit ihren Verletzungen umging, sie kam nicht damit zurecht, wenn er ihr Vorwürfe machte. Seine Worte trafen mehr als Kugeln oder Klingen das je könnten, und sie hatte dagegen keinen Schutzpanzer, weil sie ihn über alles liebte und für ihn ein besserer Mensch sein wollte.
„Ich dachte auch, dass Vulcan die Waffe auf
mich gerichtet hielt… Ich könnte es ihm nicht einmal vorwerfen… Ich
habe ihn verraten und im Stich gelassen. Er ist unter dem Einfluss
der Tatarescus groß geworden und ich selbst habe ihn zum Jäger
ausgebildet. Und nun haben sie ihn anscheinend zu meinem Henker
auserkoren, als wüssten sie, dass mich das am meisten treffen
würde. Ich saß mit ihm an diesem Tisch und hab ihn nicht erkannt…
Das letzte Mal, als ich ihn sah, war er noch schlaksig und
ungelenk… Ein Junge… Gott, er ist hier! In meiner unmittelbaren
Nähe! Es tut so weh, ihm in die Augen zu sehen… Es… tut… so…
schrecklich… weh!“, brachte Cat mit erstickter Stimme heraus und
barg das Gesicht dann an Nathans Schulter, weil sie nur noch
hilflos ihren Gefühlen ausgeliefert aufschluchzen konnte.
Sie würde es vorziehen, sich dem Aryaner-Lord wieder und wieder
entgegen zu stellen, als diesen Kampf auszufechten, in dem sie sich
zum Scheitern verurteilt fühlte.
„Ich weiß, Catalina. Ich weiß.“
Statt weiter mit ihr zu diskutieren oder Worte zu sagen, die sie
vollkommen falsch verstand, nahm Nathan sie einfach tröstend in die
Arme. Vielleicht war er wieder einmal zu belehrend gewesen und der
Alters- oder auch Erfahrungsunterschied zwischen ihnen zu groß. Er
hatte bereits Dinge erlebt, die sie noch vor sich hatte oder
hoffentlich nicht erleben würde und hatte deshalb Angst um sie. Sie
war unglaublich jung und auf manchen Gebieten einfach unwissend. Er
hatte nie behauptet, sie würde weiterhin absichtlich die Gefahr
suchen und seine Liebe zu ihr damit anzuzweifeln, war nicht
fair.
Doch heute würden sie darin nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner
kommen. Er schob es großzügig auf den nahenden Vollmond und darauf,
dass sie als halbwegs erfahrene Jägerin wirklich hin und wieder
einen Kick brauchte, den sie weder bei ihm noch bei den anderen
finden würde. Nervenkitzel dank der Ungewissheit pur. Statt zu
versuchen, sie zu ändern, sollte er sich besser darin üben, etwas
unbesorgter zu sein.
Cat war nicht Wendy und kein Vergleich zu seiner ersten Frau. Sie
konnte sich durchsetzen, wenn es darauf ankam und war durchaus in
der Lage gewesen, die Aryaner in die Flucht zu schlagen.
Während er sich zwang, alles Positive an der
gesamten Situation herauszufiltern, nestelte Nathan an seinem
Priesterkragen herum und zerrte das Kollar heraus, damit Cat an
seinen Hals konnte.
Leicht neigte er den Kopf auf die linke Seite und musste nicht
einmal eine weitere Einladung aussprechen. Wenigstens diese kleine
Schwäche gestand sie sich ihm gegenüber ein. Auf sein Blut wollte
sie nicht verzichten. Genauso wenig wie auf ihn selbst. Nathan
hielt kurz den Atem an, als der schmerzhafte Biss in den Hals
erfolgte, dann entspannte er sich und fuhr damit fort, Catalina
tröstend über den Rücken zu streicheln während sie trank. Das Gift
und die Stichwunde würde sie bald in ihrer Unbekümmertheit
vergessen haben. Er aber würde sich für immer daran erinnern. Es
war die erste von vielen noch kommenden Gelegenheiten, bei denen er
die nackte Angst verspüren würde, sie zu verlieren.
Natürlich wusste Rukh nicht, mit wem er es zu tun hatte, wenn er weiterhin nach Cat jagte. Aber auch er hatte Späher und Spione. Vielleicht sogar in ihren Reihen. Noch wusste niemand, dass eine weitere Reihe Krieger berufen worden war, da diese erst sechs statt sieben Mitglieder zählte. Doch wie lange würde es dauern bis sich die Letzte eingefunden hatte und die neue Riege offiziell vorgestellt wurde? Dann würde bekannt werden, wer oder was sie waren und machte sie dieser Status nicht noch attraktiver und das Risiko eines Angriffs wert? Immerhin war der Preis der Beute unbezahlbar. Eine Kriegerin. Bald fortpflanzungsfähig und kaum erblüht.
Cat konnte ihn nicht verstehen, weil sie
nicht beschützt und geliebt aufgewachsen war. Für sie machte ein
männlicher oder weiblicher Krieger keinen Unterschied. Da sie wie
einer erzogen worden war und nie wirklich in die Rolle und Aufgaben
einer Frau hatte schlüpfen dürfen. Abgesehen von den Kleidern, die
sie liebte. Sie waren beide in ihren Augen gleichgestellt. Nathan
wollte das auch nicht bezweifeln, denn immerhin nahm sie den
gleichen Platz ein, den Theron inne hatte. Cat hatte allerdings
keine Erfahrung, die schon mehr als ein Jahrhundert währte. Sie
hatte nicht die Gegner besiegt, die sie besiegt hatten. Die neuen
Sieben mussten sich erst noch beweisen. Das würden sie tun, aber
Cat würde noch viele Male an seiner Schulter weinen, bevor sie das
gleiche Kalkül von Nathans Anführer besaß.
Er machte sich einfach Sorgen um ihr Seelenheil. In ihrer Aufgabe
würde sie nie viel Platz für ihre Gefühle finden, aber solange sie
noch die Gelegenheit hatte, diese nicht zu verstecken, sondern ihre
Ängste und Zweifel mit ihm zu teilen, wollte er sie dazu ermutigen.
Es machte ihm nichts aus, Schwäche zu sehen oder selbst welche zu
zeigen. Es machte sie menschlicher. Ein Zug, den sie in ihrer
Untersterblichkeit nie vergessen durften.
„Ich habe dafür gesorgt, dass dein Bruder in
Wendys altem Zimmer untergebracht wird. Ihr werdet euch schon
aneinander gewöhnen. Besser heute als irgendwann oder nie. So habt
ihr die beste Gelegenheit, euch ungestört zu unterhalten. Ihr habt
so viel nachzuholen. Es gibt Distanzen zu überbrücken, die ihr ganz
sicher überwinden werdet. Er wäre nicht hier oder hätte sich von
Tiponi behandeln lassen, wenn er nicht genauso überrascht oder
geschockt wäre wie du. Tief in ihm drin ist da immer noch dieser
Junge, der dich vermisst hat. Genauso wie in dir immer noch das
Mädchen steckt, das sich um ihn gekümmert und ihm ein bisschen
Liebe geschenkt hat, Cat.“
Nachdem sie die Wunde an seinem Hals versiegelt hatte und nur noch
so Trost in seiner Nähe suchte, schob er sie behutsam von sich.
„Vielleicht wartet er schon. Ihr seid immer
noch Geschwister, Catalina. Eine weitere Chance, ihn wiederzusehen
oder sich ihm anzunähern, wirst du nicht so schnell wieder
bekommen. Nur deswegen habe ich seine Unterbringung über deinen
Kopf hinweg entschieden. Deinetwegen und weil ich wohl etwas
gutzumachen habe.“
Er stupste sie sanft unterm Kinn an und versuchte, ihr ein Lächeln
abzuringen, welches sie kaum zu erwidern vermochte.
° ° °
Nico sah Nathan besorgt nach, als er Cat
nachging. Sie fürchtete nicht, er könnte noch einmal so ausfallend
werden wie vorhin im Angesicht des Schlachtfeldes. Sie konnte mit
beiden mitfühlen und war zwischen den beiden Standpunkten ziemlich
hin und her gerissen. Und er war ja auch gar nicht wirklich
ausfallend gewesen, es war immer noch der ruhige Nathan, um den es
hier ging.
Nico rieb sich gedankenverloren das Handgelenk, das Nathan vorhin
fest umspannt hatte. Er war einfach so außer sich vor Sorge
gewesen, dass er die Kontrolle verloren hatte. Das geschah bei ihm
so selten, dass es ihr einen ziemlichen Schreck versetzt hatte. Und
es erinnerte sie an Brocks Reaktion, nachdem er sie aus den Klauen
des Ghouls befreit hatte.
Sie machte sich ja auch immer Sorgen, wenn Damon auf Einsätzen war,
aber sie drückte sie eben anders aus. Den Männern würde man wohl
kaum Leichtsinn unterstellen, wenn sie in einen unverhofften
Hinterhalt gerieten. Der Gedanke irritierte Nico, weil weder sie
noch Cat mit einem Angriff gerechnet hatten.
Natürlich hatte sie schon leichtsinnig gehandelt und danach auch
rügende Worte verdient, sie musste ja nur an Sterling denken, aber
sie hatte ja vorhin in dem Club einfach nur die Waschräume
aufsuchen wollen, um dem plötzlichen Schwächeanfall entgegen zu
wirken.
Nico schüttelte kurz den Kopf, um sich wieder auf ihre Aufgaben zu
konzentrieren, dann eilte sie zum Medizinschrank und suchte ein
verträgliches Schmerzmittel heraus, von dem sie ein paar Pillen in
ein Döschen tat, dann füllte sie einen Becher mit Wasser. Mit den
Sachen ging sie auf Cats Bruder zu, der nun versorgt auf einer
Liege saß. Er sah nicht aus, als würde er sich hier wohl fühlen.
Sein Blick glitt immer wieder zur Tür, als überlegte er, die Flucht
zu ergreifen.
„Hier gegen deine Kopfschmerzen.“ Sie hielt
ihm die Pillen und das Wasser hin und musste lachen, als er sie mit
einem misstrauischen Blick bedachte.
„Cat hat mir gesagt, dass du welche haben könntest. Aber als
Krankenschwester hätte ich auch von selbst draufkommen müssen. Ich
weiß noch lange nicht alles über dich. Darf ich Vulcan
sagen?“
Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen, das Nico gleich
noch mehr strahlen ließ, weil sie unbedingt dafür sorgen wollte,
dass sich Cats Bruder hier wohl fühlte.
„Hat man dir schon jemals eine Bitte
ausgeschlagen?“, gab er zur Antwort und nahm Pillen und Wasser
entgegen, weil er wirklich nichts dagegen haben würde, seinen
dröhnenden Schädel ruhig zu stellen.
Nico sah ihn so verwirrt an, dass er demonstrativ an ihr runter
blickte. Sie trug schließlich nicht die übliche
Krankenschwesterntracht und zumindest der Franzose in der
Jägertruppe warf ihr anerkennende Blicke zu, ohne sich von der
Tatsache abschrecken zu lassen, dass sie ein Vampir war. Oder
vielleicht doch eher ein Baby-Vampir? Nico hatte so wenig mit dem
Schreckensbild gemein, das man ihm seit frühester Kindheit
eingebläut hatte, dass sein Weltbild langsam ziemlich ins Wanken
geriet.
„Oft genug! Oder nein, ich bitte eigentlich niemals um Dinge, die für meinen Gegenüber nicht zumutbar wären. Entschuldige bitte, was ist daran so lustig?“, fragte Nico irritiert nach, als sich Vulcan vor Lachen beinahe an seinem Wasser verschluckte.
„Gar nichts, Nico, wirklich nicht. Unter Stress reagiere ich manchmal ziemlich albern. Wie alt bist du eigentlich?“, erwiderte Vulcan, wobei er leicht hustete und ein Brennen in den Augen spürte. Lachtränen.
Nico rümpfte ihre Nase und nahm ihm mit einem
leicht pikierten Blick den Becher ab, um ihn ins Waschbecken zu
stellen.
„Ich bin 26 Jahre alt, hilft dir das weiter?“, verkündete sie, als
sie zu ihm zurückkam.
Vulcan sah ihr amüsiert in die Augen und
senkte dann die Lider, um den Ausdruck vor ihr zu verbergen, bevor
sie am Ende noch wütend auf ihn wurde und seine Kopfschmerzen wegen
einer Ohrfeige von ihr schlimmer wurden.
„Kommt darauf an, wie viel das umgerechnet in Menschenjahren ist.“,
gab er trocken zurück, weil er ja wusste, dass diese Kreaturen viel
länger als Menschen lebten. Dann lag es nur nahe, dass man ihre
Lebensspanne anders maß.
Nico starrte ihn sprachlos an, weil seine
Unterstellung eigentlich nicht so verkehrt war. Er versuchte nur,
mit den Tatsachen zurecht zu kommen und sie zu verstehen.
„Du hast Nathan vorhin gehört, oder? Er bietet dir seine und Cats
Gastfreundschaft an. Wenn du möchtest, dann begleite ich dich. Und
beantworte ein paar Fragen, die dir bestimmt durch den Kopf
gehen.“
„Für mich klang das eher nach einem Befehl, Nico.“, meinte Vulcan skeptisch.
Nico verdrehte die Augen. „Er schlägt nur den
Ton an, der ihm am sinnvollsten erscheint. Du erwartest keine
Manieren von Vampiren… Also erfüllt er deine Erwartungen nur.
Natürlich würde ich dich gerade nur ungern ziehen lassen, aber nur
weil deine Schwester es sehr schwer nehmen würde. Kommst
du?“
Nico steuerte den Ausgang an, nicht ohne sich bei Dr. Seward und
Tiponi für ihre Hilfe bedankt zu haben. Sie ersparte Vulcan vorerst
die offizielle Vorstellung und wünschte Theron nur gute Nacht. Er
wusste ja schon, mit wem er es zu tun hatte und würde sie nicht
einfach abziehen lassen, wenn er bösartige Schwingungen von dem
jungen Mann aufgefangen hätte.
Vulcan folgte ihr schweigend aber der Umgebung sehr große
Aufmerksamkeit schenkend. Die Sicherheitsvorkehrungen schienen ihn
zu verblüffen und Nico fühlte sich an ihren ersten Besuch in der
Fortress erinnert, als sie sich hier in Begleitung des Orakels mit
offenem Mund umgesehen hatte.
Sie kannte den Code von Cats Wohnung noch von
ihren häufigeren Aufenthalten als Gast und konnte die Wohnung für
sie frei schalten.
„Ich glaube, wir sollten die Schuhe ausziehen. Ich hatte fast
vergessen, worüber ich vorhin gelaufen bin. Normalerweise…“
…ziehen wir uns nach Einsätzen in den
entsprechenden Räumen um.
Nico bückte sich und löste Schnallen und Reißverschluss, um sich
aus den Stiefeln zu schälen. Den Satz sprach sie lieber nicht zu
Ende. Gewisse Dinge musste sie zu ihrer aller Sicherheit
verschweigen. Vulcan fragte zum Glück nicht nach, so dass sie ihn
nicht anlügen musste.
„Das hier ist dein Zimmer. Es hat ein eigenes Bad und man hat schon
alles für dich vorbereitet. Ich könnte dir in der Küche etwas zu
essen machen, wenn du hungrig bist?“, schlug Nico ihm vor, als wäre
ein gewöhnlicher Hausgast.
Vulcan folgte ihr einfach, weil sich sein Magen tatsächlich meldete und er ein ziemlich starkes Verlangen nach Kaffee verspürte, der das wattige Gefühl in seinem Kopf am besten vertreiben würde. Nico werkelte mit geübten Griffen in der Küche, als wäre sie hier zuhause, während er an dem schicken Tresen saß und sich bedienen ließ. Das Mädchen schien vergessen zu haben, was sie am Leib trug oder viel mehr, was sie nicht am Leib trug. Sie bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre sie von Kopf bis Fuß in Stoffbahnen eingehüllt. Sie zeigte keinerlei aufreizendes Verhalten. Nicht so wie die Frauen im Schloss, wenn sie die heimgekehrten Jäger umsorgten. Allerdings konnten die wenigsten ihr Entsetzen über seine Entstellung verbergen, aber er war immer noch der Sohn von Valeriu und eine gute Partie. Darauf konnte er gut und gerne verzichten.
„Sieh nicht so überrascht drein. Vampire
können kochen und auch essen. Blut ist nur ein Teil unserer
Ernährung. Meistens weichen wir sowieso auf Plasma aus, das hast du
ja bei Mina gesehen. Und wenn wir mehr Kraft brauchen, dann wenden
wir uns nicht an Menschen sondern an unseren Partner oder andere
Vampire, weil das Blut von Menschen einfach nicht genug Energie
liefert. Deine Familie ignoriert schon seit Jahrhunderten die
Verschiedenartigkeit der Vampirwelt, Vulcan. Und ich glaube nicht,
dass ich dir alles mit einem einzigen Gespräch nahe bringen kann,
was dir an Wissen fehlt. Iss erst mal in Ruhe.“, forderte ihn Nico
mit einem beinahe mütterlichen Tonfall auf.
Sie wollte nur einen Grundstein legen, der es Cat leichter machen
sollte, sich später mit ihrem Bruder zu unterhalten.
„Bleib sitzen, Vulcan. Du bist verletzt. Du musst also nicht beweisen, dass du kein rumänischer Macho bist.“, meinte Nico lachend, als er sich beim Abräumen behilflich zeigen wollte.
Sie machte ihm einen zweiten Kaffee, da sie
ahnte, dass es ihm gegen die Schmerzen helfen würde. Im hellen
Licht der Küche hatte sie Zeit genug gehabt, seine Verletzungen
einzuschätzen. Er musste ein künstliches Implantat im Kiefer haben,
wenn sie sich nicht täuschte. Sie wusste ja ganz genau, wie
schrecklich sein Angreifer gewütet hatte. Unwillkürlich griff Nico
sich an den Hals, wo noch das Pflaster klebte. Dagegen hatte sie
großes Glück gehabt.
Sie setzte sich mit einer frisch aufgebrühten Tasse Tee ihm wieder
gegenüber und ließ die Fragen kommen, die sie beantwortete, soweit
es ihr möglich war. Er fragte niemals direkt nach Cat, was sie ihm
hoch anrechnete. Sie hätte sowieso niemals wirklich persönliche
Dinge verraten, die er besser mit seiner Schwester unter vier Augen
besprach. Oder vielleicht unter sechs, da Nathan schließlich sein
Schwager in spe war.
„Cat und Nathan kommen nach Hause…“, verkündete sie nach einer Weile und unterdrückte ein kleines Gähnen, weil es ein langer anstrengender und sehr aufwühlender Tag gewesen war.
„Es hat mich sehr gefreut, deine
Bekanntschaft zu machen, Vulcan. Ich hätte niemals gedacht, dass
ein abtrünniger Jäger so nett sein könnte.“
Nico grinste schelmisch, weil es umgekehrt bestimmt genauso galt.
Sie ging einfach mal davon aus, dass er sie für einen netten Vampir
hielt.
„Ich hoffe, wir sehen uns wieder und können uns dann besser kennen
lernen. Gute Nacht. Und zögere nicht, mich rufen zu lassen, falls
du wegen der Rippen oder der Hand Probleme haben solltest. Ich kann
dir dann stärkere Mittel verabreichen.“
„Gute Nacht, Nico! Danke für
alles!“
Vulcans ernsthafter Blick folgte ihr nachdenklich, als sie die
Küche verließ.
An der Haustür traf sie auf Cat und Nathan,
hielt sich aber nicht weiter auf. Sie teilte ihnen nur mit, dass
Vulcans Verletzungen versorgt worden waren und dass sie ihm etwas
zu essen gemacht hatte. Cat küsste sie dankbar auf die Wange und
Nico drückte sie kurz an sich, weil sie spürte, dass sie geweint
hatte und immer noch ziemlich angeschlagen war.
Nico sandte ein stilles Gebet in den Himmel, dass alles sich für
sie zum Guten wenden würde. Sie schnappte sich ihre Stiefel und
materialisierte sich dann vor Damons Haustür im anderen Turm, an
den sie in den letzten Stunden kaum gedacht hatte. Er wartete
bestimmt schon auf sie.
In seinem Apartment roch es nach Kaffee und Essen. Vulcan war in der Küche. Nathan schloss die Tür hinter ihnen und ließ Cat vorangehen. Da sie bereits geduscht und umgezogen war, konnte sie ihrem Gast in der Küche Gesellschaft leisten, während er sich wusch und umzog. Im Gegensatz zu Nico war er allerdings einfach mit den Schuhen in die Wohnung getreten. Dank des dunklen Bodens und den mittlerweile getrockneten Kadaverresten blieben keine unerwünschten Spuren zurück.
„Ich bin gleich wieder da. Mach uns doch auch
schon mal einen Kaffee, ja?!“ Nathan gab ihr einen ermutigenden
Kuss auf die ängstlich umwölkte Stirn und entmaterialisierte sich
dann, bevor sie ihn bitten konnte, ihr Schützenhilfe zu
leisten.
Sie wollte doch selbstständig und unabhängig bleiben. Das war ihre
Chance. Als Anführerin einer neuen Riege gab es nicht immer nur
angenehme Angelegenheiten zu bewältigen und der schmerzhafte Stich
der Ungewissheit würde ganz bestimmt im Nu verfliegen, wenn sie den
ersten Schritt auf ihren verloren geglaubten Bruder zu gemacht
hatte. Und außerdem war Nathan für den Notfall ja nicht allzu weit
weg.
Cat war speiübel. Am liebsten hätte sie Nico
zurückbeordert oder sich an Nathan geklammert, aber beide ließen
sie einfach schamlos im Stich. Sie lief in Richtung Küche, blieb
stehen, machte kehrt, blieb wieder stehen und ging den Weg wieder
zurück. Das Ganze wiederholte sich ein paar Mal, bis ihr ganz
schwindelig wurde.
Dann dachte sie, dass es vielleicht besser wäre, sich umzuziehen,
obwohl das auch nur ein Ausweichmanöver wäre, da ihr Bruder sie oft
genug in Sportklamotten und Kampfmonturen gesehen hatte. Ihr
Aussehen war schließlich das Letzte, was ihn interessieren würde,
solange sie nicht wieder ein Fell entwickelte. Sie fühlte sich
krank. Ihr Herz klopfte wie verrückt, ihr Magen schlug Kapriolen
und ihre Atmung wollte sich einfach nicht beruhigen.
Das ist lächerlich!,
dachte sie wütend auf sich selbst, weil sie sich wegen einer
solchen Lappalie aufführte wie ein unreifes Kind. Sie verspürte
sogar das alte lang abgelegte Bedürfnis, an ihren Nägeln zu
knabbern. Cat warf sich mit einem unterdrückten Aufstöhnen mit dem
Rücken gegen die Wand und starrte hinauf zur Decke, als würde sie
dort eine Aufschrift finden können, die ihr eine Entscheidung
erleichtern würde. Sie war ein Nervenbündel. Wegen ihres kleinen
Bruders. Das Wort lächerlich lag ihr schon wieder auf der
Zunge.
Schließlich biss sie die Zähne zusammen und gab sich selbst einen
Schubs in Richtung Küche, wo sie auf der Schwelle verharrte und
sich Auge in Auge mit ihrem Bruder wiederfand, den Nico netterweise
mit Essen und Kaffee versorgt hatte. Sein Glück, weil sie selbst ja
keine Ahnung vom Kochen hatte.
Die Zeit schien still zu stehen. Es war unglaublich, das konnte nur
ein Traum sein, dass er hier in ihrer Küche saß. In Nathans Küche, diesen Raum konnte sie wohl am
wenigsten für sich beanspruchen.
„Solltest du dich nicht besser hinlegen, Catalina?“, fragte er schließlich, als sie ihn weiterhin nur anstarrte, und wies mit der Hand auf den Verband, der unter dem Bustiertop gut auszumachen war, das sie zu den legeren Jazzpants trug.
Sie hob die Hand und legte sie über den
Einstich, der dank Nathans Blut gut verheilte. Sie spürte es
rumoren und kitzeln.
„Das ist nicht mehr nötig, es heilt gut… Das war vorhin nur das
Gift. Du weißt ja, Vampire heilen schneller.“
Vulcan verfolgte jeden ihrer Schritte mit den
Augen, als sie zur Kaffeemaschine lief, wo Nico schon zwei Tassen
bereitgestellt hatte.
„Würde es dann nicht helfen, wenn du etwas Blut zu dir nimmst?“
Cat schien sich kurz zu versteifen und zuckte
dann mit den Schultern.
„Bietest du dich etwa an?“, fragte sie und klang irgendwie
beleidigt. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und er konnte ihre
Augen aufblitzen sehen. Es war beinahe so wie früher, als er als
aufmüpfiger Teenager versucht hatte, sie aus der Ruhe zu bringen,
damit er nicht so viele Schläge kassierte. Natürlich hatte sie
dieses Spiel nur mitgespielt, wenn niemand sie beim Training
beobachtete.
„Keine Sorge, ich habe von Nathan getrunken!“
Vulcan verzog nicht einmal das Gesicht, was Cat als ärgerlich
empfand, sie hätte ihn zu gern irritiert. Sie fühlte sich nämlich
gerade wie eine gegen den Strich gebürstete Katze.
„Natürlich… Mein Blut würde dir auch nicht viel helfen. Ist ja nur mickriges Menschenblut. Sieh mich nicht so an, deine kleine Assistentin hat mir eine kleine Einführung in das Thema gegeben. Verschiedene Vampirrassen… Menschen, die sozusagen eine tickende Zeitbombe in sich tragen, wenn sie nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt das Blut eines Vampirs erhalten und dann selbst einem werden… Und du bist so jemand gewesen. Allerdings verstehe ich nicht, warum du dann erst vor ein paar Monaten zum Vampir wurdest. War das nicht der Sinn deiner Flucht, deine Leute zu finden?“
Cat hatte Kaffee in die Tassen laufen lassen und rührte nun eine Weile in ihrer herum. Sie trank ihn anscheinend immer noch sehr stark, sehr schwarz und sehr süß. Sein Gesicht verzog sich bei der Vorstellung, dieses sirupartige Getränk herunter zu würgen. Schließlich setzte sie sich ihm gegenüber an den Tresen und stellte die zweite Tasse neben sich, ohne ihren Blick zu ihm anzuheben.
„Ich hatte keine Leute… Valeriu ist nicht mein Vater und Bogdana hat mich immer verabscheut. Ich habe zugelassen, dass man mich als Köder benutzt, um Immaculate zu töten. Harmlose beinahe wehrlose Menschen, die nie jemandem auch nur ein Haar gekrümmt haben. Glaubst du wirklich, man hätte mich mit offenen Armen empfangen? Ich hatte keine Ahnung, was da draußen lief, bis zu der Nacht, als man diesen Gefangenen ins Schloss brachte. Er hatte sich absichtlich ausgeliefert, um mich mitzunehmen. Zu meinem echten Vater. Die ultimative Rache. Leg dem Feind ein Kuckuckskind in die Wiege. Ich kann das verstehen… Unsere Leute haben seine Frau umgebracht, als sie gerade schwanger und völlig wehrlos war. Ich denke, er hatte große Pläne mich betreffend… Dabei hat er wohl nur übersehen, dass er mir seinen Dickschädel vermacht hat und dass ich keine Lust mehr hatte, die Fäden meines Lebens von anderen ziehen zu lassen. Also zog ich hinaus in die Welt und machte mir ein eigenes Bild von ihr.“
Cat hob den Blick schließlich doch an und sah Vulcan starr in die Augen, um dann fortzufahren: „Wir sind nicht besser als diese Biester, die wir jagen! Wir sind schlimmer, weil wir uns nicht damit herausreden können, den Verstand über dem Blutdurst verloren zu haben… Ghouls müssen aufgehalten werden, wenn sie nicht mehr zu retten sind, aber es sind erbarmungswürdige Kreaturen, die niemals um ein solches Schicksal gebeten haben. Es kann jeden Menschen treffen… Sieh dir Mina an! Deine Leute hätten sie getötet und doch kämpft sie seit mehreren Lebensspannen für die Sache, die eigentlich die der Jäger sein sollte. Sie war stark genug, dem Wahn nicht zu verfallen, das Glück ist leider nicht jedem vergönnt… Ich habe erst vor kurzem Nicos Vater umgewandelt, den man überfallen hatte, um sie damit hart zu treffen. Er kann nun weiterleben und an der Seite seiner Tochter sein, auch wenn er die Sonne meiden muss. Diesen guten und aufrechten Mann hättet ihr auch abgefackelt oder um einen Kopf kürzer gemacht und ich genauso, weil ich es nicht besser wusste. Es wäre mir auch lieber, die Grenzen zwischen Gut und Böse würden nicht so durchlässig sein, aber so ist es nun mal.“
Vulcan spürte keinerlei Eindringen in seinen
Kopf, obwohl ihre Fähigkeiten sich mit ihrem Vampirdasein sicher
verändert und verstärkt hatten. Sie sprach genau wie Nico nur mit
Worten auf ihn ein. Ernüchternde und aufwühlende Worte.
„Du hast mich praktisch groß gezogen, Catalina… Wenn jemand dich
wenigstens ein bisschen kennt, dann bin das ganz sicher ich…
Abgesehen von dem Priester und deinen neuen Freunden, sollte ich
wahrscheinlich dazu setzen. Die Worte aus deinem und aus Nicos Mund
klingen absolut glaubwürdig… Ich kann aber nicht einfach über meine
Zweifel hinweg gehen. Du könntest mich manipulieren, oder nicht?
Das trifft doch zu? Du hast es ja damals erfolgreich bei unserem
Cousin geschafft. Versuch es noch einmal, ich will sehen, ob du
heute mehr Erfolg damit hättest!“
Cat schwenkte den Schluck süßen Kaffees einen
Moment nachdenklich in ihrem Mund, dann schluckte sie ihn herunter,
um ihn nicht doch noch in den falschen Hals zu bekommen. Sie wollte
eigentlich nicht in den Kopf ihres Bruders eindringen. Sie hatte
Angst, Dinge zu sehen, die sie verletzten könnten. Der Ring um ihre
Iris glühte auf und sie fesselte damit seinen Blick. Vielleicht
reichte ein einfacher Trick von Hypnosespielchen, um ihn spüren zu
lassen, was sie konnte.
Er sollte einfach aufstehen und seine leere Tasse in die Spüle
stellen, das war völlig harmlos. Allerdings spürte sie seinen
sturen Widerstand gegen ihr Eindringen und ließ es nach einem
Versuch gleich bleiben, weil es hier ja um nichts ging.
„Wie du siehst, merkst du sehr wohl, dass ich versuche, dich zu
beeinflussen. Das kommt oft genug vor… Sehr willensstarke,
intelligente Menschen sind nicht so leicht zu manipulieren, wie du
glaubst. Ich würde es wahrscheinlich mit etwas mehr Anstrengung
schaffen, aber du würdest es in jedem Fall spüren und versuchen,
dich dagegen zu wehren. Mentale Spielchen sind nicht meine
Spezialität… Das können andere besser.“
Vulcan massierte sich die linke Schläfe mit
dem Zeigefinger seiner linken Hand, da er ein unangenehmes Stechen
spürte. Er bekam oft genug schlimme Migräne wegen seiner alten
Verletzung. Es wäre auch zu einfach gewesen, sich die
Gewissensentscheidung so leicht zu machen, weil man die
Verantwortung dafür auf den anderen schob.
Catalina sah so klein und zerbrechlich aus, wie sie ihm da
gegenüber saß. Die Größenverhältnisse waren schon lange zu seinen
Gunsten gekippt. Allerdings hatte sie ihm vorhin ja bewiesen, dass
sie besser denn je war. Sie konnte sich in ein Tier verwandeln.
Wenn er das nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann hätte er so
etwas niemals für möglich gehalten. Ratten und Vögel, ja, aber eine
Löwin? Zu gern hätte er das Gesicht des Patriarchen gesehen, wenn
Cat das schon früher gekonnt hätte. Sein Gesicht verzog sich zu
einer grimmigen Maske, was durch seine Entstellung noch zusätzlich
betont wurde.
„Warum hast du mir nie erzählt, dass Valeriu
dich für die Sache in Mic Frãsinet beinahe
getötet hätte?“, fragte er so unvermittelt, dass Cat beinahe von
dem Hocker gefallen wäre.
Ihre Augen weiteten sich entsetzt, weil sie erst vor kurzem daran
gedacht hatte. Aber es aus seinem Mund zu hören, machte die
Wahrheit nur umso grausiger.
„Wolltest du sterben? Hast du deswegen geschwiegen, obwohl die
Schuld für den Vorfall ganz allein bei mir lag?“
Sie hätte sich nur hinter ihm verstecken müssen, Valeriu hätte ihn
zwar bestraft aber niemals so hart wie sie das durchgemacht hatte.
Er war schließlich der Augapfel seiner Mutter, mit dem sie ihre
vorangegangene Schande auslöschen wollte. Auf ihre verquere Denkart
liebte sie ihn bestimmt sehr, doch ihre Gefühle waren für ihn lange
Zeit mehr als erdrückend gewesen.
„Das ist alles sehr lange her…“, gab Cat mit
dumpfer Stimme zurück. Die Übelkeit stieg wieder in ihr auf, so
dass sie sich zwang, einen weiteren kleinen Schluck von dem süßen
Kaffee zu nehmen. Er schmeckte nach gar nichts.
„Nicht mehr wichtig… Jetzt hast du deinen Auftrag erfüllt und dich
als pflichtbewusster Sohn erwiesen. Sie warten sicher auf deinen
Bericht… Du brauchst nicht so zu tun, als wolltest du an etwas
anknüpfen, das wir nie hatten, um hier heil heraus zu kommen. Wenn
sie es so unbedingt wollen, dann sollen sie es nur versuchen!“
Valeriu würde doch sicher ein schlauer Plan einfallen, wie er sie
um einen Kopf kürzer machen konnte, wenn er erst einmal wusste, wo
sie sich aufhielt.
„Was soll das, Catalina?! Warum willst du
anscheinend unbedingt, dass ich mich wie ein mieser Verräter
verhalte? Ich bin nicht mehr der ahnungslose Junge von damals! Mir
scheint, dass du diejenige bist, die ganz erpicht darauf ist, die
Dinge in die passende Schublade zu stecken… Du musst schon Klartext
mit mir reden, ich kann deine Gedanken nicht lesen.“
Er griff nach ihrer Hand, bevor sie reagieren und aufspringen
konnte. Die Berührung fühlte sich trotz der guten Absicht, die
dahinter steckte, wie ein Schlag ins Gesicht an. Vulcan spürte
deutlich ihren Drang, weglaufen zu wollen. Und er könnte sie nicht
wirklich aufhalten, wenn sie ihre Vampirtricks auspackte.
„Und sie deine auch nicht, Vulcan.“ Nathan hatte schon eine ganze Weile im Schatten der Tür gestanden und zugehört. Für den Fall, dass die Geschwister wider Erwarten in seiner Küche aufeinander losgehen würden. Cat hätte niemals den ersten Schritt gemacht, ihrem verloren geglaubten Bruder mit mehr als Worten die Tür zu weisen. Bei Vulcans Vergangenheit und der Tatsache, dass er immer noch unter Jägern lebte und wahrscheinlich von seiner Sippe gesandt worden war, um mehr Zerstörung und Zwietracht zu säen, konnte man nur glauben, dass es eine Frage der Zeit war, bis er hier vor ihren Augen explodierte und das Schicksal ein weiteres Mal herausforderte.
Catalina konnte also keine Gedanken lesen
aber dieser Bär von einem Mann ganz sicher. Er las nicht nur
Gedanken, er konnte damit Menschen wie Marionetten durch die Gegend
fliegen lassen. In diesem begrenzten Raum, obwohl die Küche
großzügige Ausmaße besaß, schien seine Präsenz geradezu erdrückend
und das lag nicht allein daran, dass er beinahe zwei Meter
maß.
Die Jäger seiner Familie waren alle keine schmächtigen Burschen,
aber die beiden Vampire, die er hier bisher zu Gesicht bekommen
hatte, stellten sie alle in den Schatten.
„Falls du vorhast, ihr in den Rücken zu fallen, dann rückst du am besten sofort damit raus, Junge. Niemand wäre dir deswegen böse und töten wird dich auch niemand.“
Vulcan blinzelte und rieb sich ein weiteres Mal irritiert die Schläfe, nachdem er und Cat auseinander gefahren waren, als hätte Nathan sie bei irgendetwas Verbotenem erwischt. Für Nathan war es ein Leichtes in seinen Kopf einzudringen und die Schmerzen auszuschalten, die eine Mitschuld an unangebrachtem Verhalten tragen konnten. Er wollte Gleichberechtigung auf beiden Seiten, keine zusätzliche Verwirrung.
„Das ist besser, als heute Nacht noch nach Medikamenten verlangen zu müssen. Schonender für den Körper und ohne Folgen.“
Ein Gedanke von Catalinas Freund hatte genügt, damit das Pochen hinter seiner Schläfe aufhörte. Vulcan hütete sich jedoch, sich erleichtert oder dankbar zu zeigen. Eigentlich war das ziemlich beängstigend. Dem Mann hätte er nicht wie bei seiner Schwester etwas entgegen zu setzen, wenn er versuchen sollte, in seinen Kopf einzudringen. Vulcan nahm die Hilfe schweigend hin und beobachtete seinen Gastgeber nicht einmal sonderlich nervös.
Im Kühlschrank war noch Milch. Nathan, jetzt
nicht mehr im Talar sondern ebenfalls in schwarzen Trainingshosen,
Turnschuhen und ebenso schwarzem T-Shirt, nahm sie heraus und
setzte sich zu Cat an den Tresen Vulcan gegenüber. Seine Arme waren
nicht mehr verbunden, obwohl längst nicht alle Kratzer verheilt
waren. Beim Duschen waren die Wickel nur hinderlich und er hatte
Tiponi ja deutlich machen wollen, dass sie für ihn nicht nötig
waren. Es war seine gerechte Strafe dafür, ausfallend geworden zu
sein. Mit dieser stoischen Ruhe, die ihm zu eigen war, goss er
Milch in den fertigen Kaffee und bedankte sich dafür, dass Cat
diesen bereit gestellt hatte.
Dann griff er nach dem Zuckerstreuer und gab eine ordentliche Menge
zu Milch und Kaffee dazu. Wohl beobachtet unter den Augen einer
nervösen Cat und ihrem Bruder, an dem nur sein kleines Nervenzucken
im Gesicht verriet, dass auch er angespannt sein könnte.
Nathan hatte ihn nicht ein einziges Mal mitleidig angesehen und würde es auch nicht tun. Der Junge hatte die Verletzung selbst riskiert und durch seine unüberlegte Aktion in Kauf genommen. Weisheit und Erfahrung kam mit dem Alter oder durch eine harte Schule. Vulcan hatte denselben Ausdruck in den Augen, den Cat manchmal hatte, wenn sie ihre Vergangenheit einholte und besondere Vorsicht geboten war. Sie waren einander so ähnlich. Nathan hätte sich für beide gern eine andere Art von Kindheit gewünscht. Der Spruch Was einen nicht umbringt, macht einen härter war in seinen Augen das Grausamste, was man in einem Anflug von Galgenhumor sagen konnte. Von ihm hatte noch nie jemand diese Worte gehört und er würde sie niemals sagen.
„Ich trinke lieber Tee, wenn es so spät ist. Mit diesen Lattes und Macchiatos kann ich mich genauso wenig anfreunden wie mit Computern.“, erklärte er ganz unverfänglich seine Vorliebe und rührte ebenfalls so lange in seinem Becher herum, bis sich der zuckrige Untergrund aufgelöst hatte.
„Deine Schwester hatte hier Einiges zu entstauben.“ Nathan lächelte feinsinnig und nahm ganz entspannt einen Schluck. Vulcan brauchte nicht mit Blicken eingeschüchtert zu werden. Er hatte bereits am eigenen Leib erfahren, was Nathan ausmachte und was er war. Das war beängstigend genug. Manchmal sogar für den Krieger selbst.
„Es hat mir nicht geschadet. - Im Gegenteil.
Ich bin froh, dass sie mich gefunden hat.“
Es war so. Nicht Nathan hatte nach ihr gesucht, sondern Cat hatte
ihn gefunden. Zufällig zwar, da sie ihn eigentlich in Gefahr
gedacht und trotz ihrer Verletzungen hatte retten wollen, aber
definitiv ein Tag, den er nicht vergessen würde. Aber diese
Geschichte würde noch ein wenig warten müssen, bis sie erzählt
wurde. Zuerst mussten die wesentlichen Dinge geklärt werden. Cat
hatte Angst vor der Wahrheit, also würde er ihr nachhelfen.
„Du musst ein wenig Geduld mit ihr haben,
Vulcan. Dich nach so langer Zeit lebend wiederzusehen, ist schon
ein kleiner Schock. Catalina wusste nicht, ob du noch unter uns
weilst oder längst bei einem Auftrag deines Vaters umgekommen bist.
Sie hat immer an dich gedacht und sich sehr gewünscht, dich
wiederzusehen, aber du weißt ganz genau, wie aussichtslos diese Art
von Hoffnung war, denn als Breed oder Immaculate nach Rumänien
einzureisen und nach dir zu suchen, wäre glatter Selbstmord. Sogar
für einen Krieger. Es ist schon ziemlich überfordernd, dich hier zu
haben. In der Küche eines Vampirs, von dem du eigentlich dachtest,
er würde dich gleich an Ort und Stelle in einem riesigen Topf über
offenem Feuer kochen oder an der Leiste für die Küchenutensilien
aufhängen und ausbluten lassen.“
Damit verriet er Vulcan nicht, welche Angst Cat wirklich quälte und
wie viele Vorwürfe sie sich seit der Nacht des Angriffs gemacht
hatte. Er würde ihre Schwächen nicht preis geben. Dafür war er
nicht hier. Nathan würde die beiden nur einen kleinen Schubs in die
richtige Richtung geben und sich zurückziehen, sobald es zu
persönlich wurde und die beiden Geschwister Zeit für sich
brauchten.
„Ich hoffe, das Zimmer gefällt dir. Wir
können dir natürlich auch jederzeit ein anderes zuweisen, wenn es
dir zu unbequem sein sollte oder nicht deinem Geschmack entspricht.
Wir haben gerade eine neue Matratze gekauft. Meine Tochter hat sich
darüber beschwert, dass die alte zu weich gewesen ist. Catalina und
Awendela haben den Verkäufer im Geschäft fast um den Verstand
gebracht. Sie haben unmögliche Fragen gestellt und stundenlang
Probe gelegen, bis endlich eine gefunden war, die beiden gefiel.
Wir haben sie liefern lassen. Es ist ein großes Bett und das lässt
man lieber von Fachmännern erledigen.“
Außerdem wäre es viel zu auffällig gewesen, wenn die zwei
vergleichsweise kleinen Frauen das Ding mit Leichtigkeit nach Hause
geschleppt hätten. Geld spielte schließlich keine Rolle und diese
Art von unverfänglichen Geschichten aus Cats neuem Leben würde
Vulcan vielleicht empfänglich dafür machen, dass sie hier
tatsächlich niemanden auffraßen.
„Awendela wohnt nicht mehr hier. Es ist also
wieder ein Gästezimmer, über das du frei verfügen kannst. Fühl dich
hier heute Nacht wie zuhause und du kannst bleiben, solange es
deine Verpflichtungen zulassen, Vulcan. - Allerdings ziehe ich für
gewöhnlich gewaltfreie Kommunikation vor, wenn du
verstehst?“
Nathans Gesicht gefror ein wenig, als er das sagte, denn das Haus
der Tatarescus und deren Gastfreundschaft wollte er nicht im
Mindesten mit seiner über einen Kamm scheren. Es war hier bei
weitem gemütlicher und es lauerte nicht an jeder Ecke jemand, der
bereit war, einem für einen nichtigen Grund in die Fresse zu
schlagen, nur um sich bei irgendwem beliebt zu machen oder einen
Vorteil zu verschaffen.
„Für meinen Ausfall kann ich mir nur noch
einmal bei dir entschuldigen. Ich sah Catalinas Leben in Gefahr. Da
ich sie liebe und unsere Verbindung etwas Besonderes ist, schütze
ich sie um jeden Preis. Aufgrund meiner Vergangenheit auch gerne,
ohne groß darüber nachzudenken. Sonst hätte ich gleich gemerkt,
dass sie meinen Schutz nicht braucht und die Sache unter Kontrolle
hatte. Abgesehen von dem Gift natürlich. – Sie ist meine größte
Schwäche. Ich kann ihr nichts abschlagen und hätte dir nicht wehtun
dürfen. Es war dir gegenüber ein unfairer Vorteil. Du bist
sterblich und hast nichts Böses getan. Entschuldigung. – An euch
beide.“
Nathan wandte den Kopf nach links zu Cat und küsste sie zärtlich
auf die Wange. Anders als ein männlicher Jäger, war er sich nie zu
schade gewesen, sich zu entschuldigen. Egal bei wem und die anderen
Krieger handhabten es ebenso. Ehrlich wehrte am längsten und war am
überzeugendsten, wenn man es stets so handhabte. Cat kannte ihn und
wusste, das er für ihren Bruder keine Show abzog. Er mochte lügen,
was seinen weltlichen Beruf betraf, aber das war auch schon alles,
was er vortäuschte.
Vulcan würde hoffentlich ebenso ehrlich sein. Es würde Cat härter
als seinen Tod treffen, wenn er sie tatsächlich verraten sollte.
Gegen ihre Familie anzutreten und sie in den Tod zu schicken, würde
trotz des Unfriedens das Schlimmste sein, was sie je tun
müsste.
Denn Ich hasse dich! war leicht gesagt. Es
auch zu meinen war sehr viel schwerer. Besonders wenn man ein so
gefühlsbetonter, empfindsamer Mensch war wie seine Soulmate.
Auf jeden Fall war Catalina sichtlich ruhiger
geworden, nachdem Nathan zu ihnen in die Küche gekommen war. Ein
kleines Lächeln zeigte sich kurz um ihre Mundwinkel und ihre Augen
verloren den traurig-trotzigen Ausdruck darin. Sie sah beinahe
glücklich aus und wäre es ganz sicher gewesen, wenn er nicht
plötzlich in ihr neues Leben geplatzt wäre.
Sie lehnte kurz den Kopf an die starke Schulter ihres Freundes und
strich ihm über den Oberarm, als er sich für seinen Angriff
entschuldigte. Über die Verletzungen, die sie ihm zugefügt hatte,
verlor sie kein Wort. Es war ja auch nicht absichtlich geschehen.
Sie hatte vermutlich die Kontrolle verloren, weil das Gift in ihr
wütete. Sie war bei Weitem nicht unverwundbar, man musste trotzdem
auf sie aufpassen und Vulcan war froh, dass es jemanden gab, der
das für sie tat.
„Es ist absolut keine Entschuldigung nötig… Ich hätte im Rahmen meiner Möglichkeiten wahrscheinlich genauso gehandelt und Catalina dachte ja ebenfalls, ich würde die Waffe auf sie richten.“, wehrte Vulcan die Entschuldigung einfach ab. Es war ja nichts weiter passiert, da hatte es ihn im Training oder bei Einsätzen schon schlimmer getroffen.
„Du hast Nathan gehört, Vulcan. Niemand
verlangt von dir, deine Leute zu verraten. Wir können die
Vergangenheit nicht ändern… Jemand wie ich, hätte niemals in eurer
Mitte leben sollen. Ich werde garantiert nicht einen Kreuzzug gegen
die Tatarescus anstreben. Sie fallen nicht in meine Zuständigkeit,
solange sie in Europa agieren. Ich werde mich natürlich zur Wehr
setzen, wenn sie mich hier angreifen sollten, das kannst du ihnen
gerne ausrichten.“
Catalina sah ihn dabei nicht an, ihr Mund nahm dabei aber einen
bitteren Zug an, der sie ein wenig verhärmt aussehen ließ. Als sie
den Blick wieder hob, lag über ihren Augen ein Tränenschleier.
„Es hat keinen Sinn, Dinge nicht
auszusprechen, oder? Es gab schon einmal keinen Abschied zwischen
uns… Ich konnte es einfach nicht. Ich hatte dich schon einmal in
Gefahr gebracht, auch wenn du dafür die Verantwortung übernehmen
möchtest. Ich war die Ältere und hätte daran denken sollen, dass
Valeriu dich mir niemals auf diese Weise anvertraut hätte. Das
Leben, das ich nach meiner Flucht geführt habe, wäre weit schlimmer
für dich gewesen, als bei deiner Familie zu bleiben, das kannst du
mir glauben. Es war kein romantisches Abenteuer, es war das reinste
Blutvergießen an so vielen Nächten, dass ich die Toten schon gar
nicht mehr zählen kann… Vielleicht hast du Recht, mich zu
verabscheuen oder zu hassen, wenn du es tust. Ich tat es oft genug
selbst… Es steht einfach zu viel zwischen uns und am Ende wohl die
Frage nach Leben oder Tod… Es wäre also besser, du gehst sofort,
wenn du zurück zu deiner Familie möchtest.“
Ihre Stimme hatte sich gefasst angehört, doch die letzten paar
Worte kamen nur noch gepresst über ihre Lippen, die leicht
zitterten. Ihre Augen liefen über und sie wandte den Kopf von den
beiden Männern ab, um ihren Schmerz zu verbergen, der unaufhaltsam
aufstieg.
Vulcan glitt ungeschickt vom Hocker, da seine
lädierten Rippen sich protestierend zu Wort meldeten, als er sich
so unvermittelt bewegte. Er umrundete die Theke mit zwei großen
Schritten und stand dann vor ihr, so dass er ihr zumindest diesen
einen Fluchtweg versperrte.
„Catalina… Sieh mich an!“, bat er leise und hob dann ihr Gesicht
mit einem sanften Griff um ihr Kinn an, bis er sehen konnte, dass
die Tränen unaufhaltsam von über die blassen Wangen kullerten und
dann in einem steten Strom gen Boden tropften. Das war das erste
Mal, dass er sie bewusst beim Weinen beobachten konnte. Er glaubte,
sich zu erinnern, dass sie das auch in der Nacht des schrecklichen
Angriffs getan hatte, doch da war es stockdunkel und er kaum noch
zurechnungsfähig gewesen.
„Ich… kann das nicht noch mal aushalten, Vulcan. Du bist und bleibst mein kleiner Bruder… Draga… Ich wollte nur, dass du glücklich bist und dass es dir gut geht… Ich wollte dich nur noch ein Mal sehen… Mich dafür entschuldigen, dass ich dich für meinen Verrat missbraucht habe… Ich wünschte… Ich weiß nicht… Wir sind, wer wir sind, daran können wir nichts ändern.“
In Vulcans Kehle bildete sich ein dicker Kloß
und er zog die schluchzenden Catalina fest in seine Arme, wie sie
es früher getan hatte, wenn er Angst oder Schmerzen hatte. Als er
noch ein kleiner Junge gewesen war, der nicht verstand, wie viele
Opfer seine Schwester für ihn gebracht hatte.
Er war sich zeitweise selbst wie ein Kuckuckskind vorgekommen, weil
er Dinge anders sah und anders fühlte, obwohl er natürlich niemals
mit jemandem darüber hatte sprechen können.
„Bitte quäl dich nicht so sehr, Catalina. Es tut mir leid, ich wusste sehr vieles lange Zeit nicht. Ich habe lange dafür gebraucht, es zu verstehen. Ich bin nicht gekommen, um dich irgendwem auszuliefern. Die anderen mögen das denken, aber ich brauchte eben Geldmittel… Du warst nicht leicht zu finden. Ich mag anfangs sehr wütend gewesen sein, dass du einfach auf und davon bist, ohne mich mitzunehmen, aber ich war ein dummer Junge. Ich kann nicht länger leugnen, dass die Tatarescus gewisse Tatsachen einfach nicht akzeptieren wollen. Ich hatte eigentlich vor, mich in den Staaten nieder zu lassen. Ein Abtrünniger unter den Abtrünnigen. Aber vorher wollte ich dich finden und dir sagen, wie leid mir alles tut, was meine Eltern und die anderen dir angetan haben. Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir jemals an verschiedenen Fronten aufeinander treffen werden. Ich würde es niemals fertig bringen, dir weh zu tun. Und ich weiß, dass du das auch nicht könntest.“, flüsterte er in ihr zerwühltes Haar und hob kurz den Blick zu Nathan an, dem er mit einem Heben der rechten Braue bedeutete, dass er nur zu gut wusste, dass ihn solche Skrupel bestimmt nicht zurück halten würden.
Und seinen Vater, Brüder
und Cousins auch nicht.
Beinahe schämte er sich für seine Familie, doch das Recht hatte er
wahrscheinlich verspielt, weil er viel zu lange ein Teil von ihr
geblieben war. Es war eben die einzige Familie, die er hatte und
genau wie Catalina konnte er ihr nicht einfach so den Rücken
kehren. Ihm hatten sie ja nie nach dem Leben getrachtet. Und als
dem Augapfel seiner Mutter war es ihm weit besser ergangen als
vielen anderen Jungen vor ihm. Und wesentlich besser als seiner
großen Schwester, die jahrelang alle Prügel eingesteckt hatte, nur
damit er einigermaßen behütet aufwachsen konnte.
Vielleicht war heute Nacht die einzige Gelegenheit, seine Schwester
so an sich gedrückt zu halten und ihr bisschen Trost zu spenden,
also hielt er sie einfach fest und strich ihr beruhigend über die
langen Haare, die sich über ihrem Rücken ausbreiteten.
Wir sind, wer wir sind. Sie ein Vampir, er
ein gewöhnlicher Sterblicher, dessen Lebensspanne begrenzt war. Er
würde nie wirklich ein Teil ihres Lebens werden können. Ein
Abschied wäre vermutlich das Beste, damit sie frei von allen
Belastungen der Vergangenheit ihr neues Leben glücklich mit den
Menschen führen konnte, die ihre neue Familie waren. Er hatte es
nicht schlimmer für sie machen wollen, indem er wie ein Geist
auftauchte und altes Leid aufrührte.
Cats Gedanken gingen ungefähr in dieselbe
Richtung wie die ihres kleinen Bruders. Ihr wurde, das Gesicht an
seiner Schulter verborgen, klar, dass sie sich durch die Umwandlung
von ihm entfernt hatte, obwohl ihr ja keine andere Wahl geblieben
war. Sie wollte ein Leben mit Nathan und hatte noch viel mehr
geschenkt bekommen. Es gab für alles einen
Preis, den man bezahlen musste.
Das Schluchzen verebbte langsam und Cat versuchte, sich nicht von
all den aufgewühlten Gefühlen und der erneuten Angst, ihn für immer
zu verlieren, zu sehr in den Abgrund der Verzweiflung ziehen zu
lassen. Vorsichtig löste sie sich von ihm, um ihm nicht weiter weh
zu tun.
Nathan hielt sich zurück, während die
Geschwister miteinander sprachen und Vulcan den ersten Schritt auf
Catalina zumachte, die alles daran setzte, ihre wahren Gefühle vor
ihm zu verbergen und ihr Herz zu verschließen, damit sie die
Traurigkeit und Angst davor, ihn gleich wieder zu verlieren, darin
nicht preisgeben musste. Gleichzeitig entsprach es für sie bestimmt
ein Augenblick des höchsten Glücks, als ihr Bruder sie in eine
Umarmung zog und festhielt. Das hatte sie sich am allermeisten
gewünscht.
Nathan hätte ihr diesen Trost niemals spenden können. Sein Gesicht
blieb vollkommen ausdruckslos, als Vulcan ihn kurz über Cats
Schulter hinweg ansah. Hier würde niemand irgendjemandem an die
Kehle gehen.
Nathan war mit Cat einer Meinung. Ihr Bruder war hier mehr als
willkommen. Die Regeln für seinen Aufenthalt standen ja nun fest.
Sollten die Tatarescus hier einzufallen gedenken, dann würde er an
Cats Seite mit seinen Brüdern gegen die Jäger kämpfen. Das stand
außer Frage. Er war seiner Soulmate loyal und treu ergeben. Für die
Geschwister wollte er allerdings hoffen, dass Vulcan wirklich fair
spielte und es niemals zu diesem Kampf bis auf den Tod kommen
würde.
„Du bist hier in Sicherheit, Vulcan. Ich
würde mich freuen, wenn du so lange bleibst, bis du dich von deinen
Verletzungen erholt hast. Du musst das nicht sofort entscheiden…
Schlaf eine Nacht darüber… Ja?“
Cat wollte kein Wort über Abschied hören, obwohl ihr Herz wie Feuer
brannte, weil er unaufhaltsam sein würde. Wenn nicht gleich heute
Nacht, dann viel zu früh, wenn er wieder gesund war. Er verdiente
genau wie sie ein erfülltes Leben. Und sie konnte ihm vielleicht
den Anfang erleichtern.
Vulcan beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die blasse Wange, die sich mit einem Hauch von Rosa überzog. Ihre Augen blickten hoffnungsvoll besorgt zu ihm auf und es war das erste Mal, dass ihm ihre besondere Färbung auffiel. Sie glitzerten wie kostbare Edelsteine. Aber es war nicht ihre äußerliche Schönheit, die ihn überraschte, vielmehr die herzensgute Persönlichkeit, die die Tatarescus ihr mit ihren Schikanen nicht hatten austreiben können.
„Gute Nacht, Catalina. Sorg dich nicht zu sehr, ich bin nicht mehr der kleine Junge von damals. Und handle hoffentlich mit mehr Verantwortungsgefühl als früher. Nathan.“ Er nickte ihrem Freund zu und zog sich dann in das ihm zugewiesene Zimmer zurück, wo er einiges zu bedenken haben würde.
Cat blieb zitternd zurück und starrte seinem breiten Rücken hinterher, als wäre es das letzte Mal. Es könnte ab jetzt immer das letzte Mal sein. Sie würde zu seinem Besten stark sein müssen und durfte sich nicht mehr so gehen lassen. Es würde eine unerträglich schöne Zeit sein, ihn bei sich zu haben.
„Vulcan.“ Nathan nickte ihm verabschiedend zu
und widmete sich dem letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse,
während ihnen der Junge den Rücken zuwandte, um sich zum Schlafen
zurückzuziehen.
Er ließ Cat den Moment für sich, in dem sie erneut von Hoffen und
Bangen überwältigt wurde, dann erhob er sich, um die Tassen in den
Geschirrspüler zu räumen.
„Er kann bleiben, solange er möchte, Catalina.“, zerstreute Nathan ihre möglichen Bedenken, er könnte doch etwas gegen Vulcans Aufenthalt haben, während er die Löffel von den Tassen in den Besteckkorb räumte und dann Tasse von Untertasse getrennt in das Geschirrfach sortierte.
„Und er ist ein guter Junge. Es wird schön
sein, ihn hier zu haben und ihn kennen zu lernen.“
Ob nun eine Entschuldigung nötig gewesen war oder nicht. Die
Verletzungen, die Nathan Vulcan zugefügt hatte, waren für einen
Sterblichen nicht von ungefähr.
Wahrscheinlich nichts im Vergleich zu dem Angriff der Ghouls, bei
dem sein Gesicht zerstört worden war, aber Nathan hätte sich in der
Situation einfach besser unter Kontrolle haben müssen. Zumal er
diese vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Nicht alle waren so
schlimm wie Winston. Mit Vulcan hatte er einen Fehler gemacht.
Guter Junge… Ja, das
war er gewesen. Nun war Vulcan ein erwachsener Mann. Zehn lange
Jahre hatte Cat auf diesen Moment gewartet und sie fühlte sich von
dem Glück beinahe wie erschlagen. Sie wusste gar nicht, was sie
fühlen sollte. Es schien irgendwie zu viel auf einmal zu
sein.
Sie konnte mit Nathan nicht über ihre Befürchtungen sprechen, weil
sie sie nicht von ihm bestätigt oder dementiert sehen wollte. Sie
wollte wenigstens solange an ihrem kleinen Bruder festhalten, wie
es möglich war. Die Wirklichkeit würde sie schnell genug wieder
einholen. Aber dieses Mal würde sie mehr Hoffnung haben, dass er
das Leben führen konnte, das sie ihm wünschte. Frei von Gräueltaten
und Blutvergießen.
Cat konnte sich immer auf Nathans Verständnis verlassen und er
würde sie nach dem jetzt schon unerträglichen aber unvermeidlichen
Abschied garantiert auffangen. Ein Happy End würde es in diesem
Fall nicht geben. Je eher sie mit Wunschdenken und
Fantasievorstellungen abschloss, desto besser für ihr
Seelenheil.
„Ich kann die nächsten Nächte in der Kirche verbringen. Dann habt ihr die Zeit, die ihr braucht, für euch. Ich weiß nicht, wie lange Miss Harker und ihre Freunde unter unserem Dach bleiben werden, aber da Vulcan sich offenbar noch nicht dazu entschlossen hat, sich ihnen anzuschließen, wird er vielleicht länger bleiben wollen. –Nur weil er sterblich ist, solltet ihr euch nicht gleich wieder voneinander verabschieden.“
Gerade deshalb, weil sie sich beide nicht auf
weitere Gelegenheiten des Wiedersehens verlassen konnten. Auch
Nathan dachte daran. Es würde wahrscheinlich nie wieder eine geben,
wenn Vulcan die Fortress verließ. Die Tatsache, dass Cat
unsterblich und somit ewig jung bleiben und ihr Bruder
vergleichsweise rasend schnell altern würde, war Grund genug, den
Kontakt gleich abzubrechen, sobald sich die erste Gelegenheit
ergab. Und es würde Cat alle Kraft und vermeintliche Willensstärke
kosten, diesen Schritt zu tun. Es würde sie brechen oder zumindest
eine ganze Weile lang wieder sehr, sehr traurig sein
lassen.
Nathan schob die Tür vom Spüler zu und schaltete das Sparprogramm
ein. Das einlaufende Spülwasser vermittelte ein unbestimmtes Gefühl
von Normalität, obwohl nichts an dieser Nacht normal zu sein
schien. Cats Bruder war aufgetaucht. In der Gesellschaft einer
Bande von Jägern, die bei Vampiren Unterschlupf gefunden hatten. Er
war ausgerastet, obwohl er sich geschworen hatte, den Dämon in sich
nicht mehr herauszulassen und jederzeit einen kühlen Kopf zu
bewahren.
„Bist du mir noch böse?“, fragte er unvermittelt in die zwischen ihnen eingekehrte Stille hinein und riss sie damit aus ihren Gedanken. Für sie war das sicher noch viel unfassbarer als für ihn. Sie würde irgendwann an diesem folgenden Tag aufwachen und in das Gästezimmer stürmen, um zu sehen, ob sie das Ganze nicht geträumt hatte. Ob ihr Bruder tatsächlich in dem Bett schlief. Ihr größter, sehnsüchtigster Wunsch hatte sich erfüllt. Einfach so, kaum ohne Haken, wenn man von dem Aryanerangriff absah. Die Verletzung ihres Körpers und die Vergiftung waren vollkommen ausgeheilt. Ein bisschen Schlaf und die Sache war fast schon vergessen.
„Ich werde lernen, dir die Freiheit zu
lassen, die du brauchst, Catalina. Das, was heute Nacht geschehen
ist, wird nie wieder vorkommen.“
Nathan wandte sich ihr wieder zu und deutete eine ergebene
Verbeugung an, mit der der Krieger in ihm der Patrona in ihr
höchsten Respekt und Ehrerbietung zollte.
„Hm?“, fragte Cat, die nicht ganz bei der Sache gewesen war.
„Versprichst du da nicht ein Bisschen zu
viel?“, fragte sie mit einem neckenden Unterton, so dass sie sich
beinahe wie die alte Cat anhörte, allerdings lächelten weder ihr
Mund noch ihre Augen.
Mit ein paar Schritten hatte sie den Abstand zwischen ihnen
überwunden und schlang ihre Arme um seine Mitte, um ihr Gesicht an
seiner Brust zu verbergen.
„Ich bin dir nicht böse, Nathan. Ich habe die kleine Predigt sicherlich verdient. Ich habe sie nur nicht besonders gut aufgenommen, weil ich so geschockt war. Wegen Vulcan nicht wegen dem Lord. Denk nur nicht, dass ich ihn als Gefahr unterschätze. Ich habe nicht das Bedürfnis, meine Bekanntschaft mit ihm zu vertiefen und schon gar nicht werde ich ihm allein begegnen. Er spielt mit fiesen Tricks. Aber wir wissen nun wenigstens, dass wir die Augen offen halten müssen. Wenn ich nicht zufällig zur Stelle gewesen wäre, hätte er Mina und die anderen getötet. Wenn es in der Welt ein bisschen gerecht zugehen würde, dann sollte sie eigentlich meine Mutter sein… Ich bin sicher, dass wir Freundinnen werden können.“
Sie mochte die Frau schon mehr als ihren
Vater, was aber auch keine Kunst war. Manasses hatte sich einfach
ein paar Dinge zu viel erlaubt.
Mit einem kleinen Stirnrunzeln schob Cat die dunklen Gedanken
beiseite und konzentrierte sich auf Nathans Atmung und seinen
beruhigenden Herzschlag. Unvermittelt stellte sie sich auf die
Zehenspitzen, griff mit einer Hand in seinen Nacken und reckte sich
ihm entgegen. Sie musste diese explosiven Gefühle, die gerade in
ihr tobten, irgendwie ausleben, wenn sie nicht durchdrehen wollte.
Sie suchte einen Moment Frieden und Ruhe, die sie erlangen würde,
wenn sie Nathan bis zur Erschöpfung liebte.
Er verstand ihre Bitte auch ohne Worte, gerne ließ sie sich von den
Füßen fegen und in das Schlafzimmer tragen. Morgen… Morgen würde sie wieder von Zweifeln und
Ängsten heimgesucht werden, aber nicht mehr in der heutigen Nacht,
in der Nathan alle Sorgen von ihr fern halten würde.