15
Freundinnen
Amina ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig
und spähte hinaus.
»Ich halte das für keine gute Idee …«, versuchte
Adhara hilflos einzuwenden.
Den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, fuhr das
Mädchen herum. »Pssst … komm einfach mit!«
Sie ergriff Adharas Handgelenk und zog sie mit sich
hinaus. Dicht an der Wand entlang schlichen sie durch den Gang und
gelangten bald zu einer Stelle, an der ein Wandteppich hing.
Amina blickte sich verstohlen um und hob ihn dann
an. Dahinter befand sich eine kleine Holztür. Die öffnete sie und
zwängte sich hinein.
Adhara blieb wie angewurzelt stehen.
Es dauerte nicht lange, da tauchte Aminas Gesicht
wieder aus dem Dunkeln auf. »Was ist? Los, komm!«
Sie zog Adhara hinter sich her durch einen engen
Gang, der vom Licht einiger Fackeln erhellt wurde.
»Der wird nur manchmal von der Dienerschaft benutzt
und führt hinaus zum Park«, erklärte das Mädchen. »Da hab ich mein
Versteck. Du wirst staunen.«
Adhara war der Verzweiflung nahe. Als der Prinz ihr
die Aufgabe übertrug, sich um seine Tochter zu kümmern, hatte er
ganz gewiss etwas anderes im Sinn gehabt. »Warte, ich
denke wir sollten … Dein Vater hat doch gesagt, dass du den
Unterricht nicht versäumen darfst, und …«
»Stell dir vor, ich hab da ein richtiges Baumhaus.
Mira hat es mir vor einiger Zeit gebaut, aber ich hab’s noch
verschönert.«
Es war zwecklos, jedes Wort in den Wind
gesprochen.
So gelangten sie in den Park, in einen Bereich, der
dicht wie ein Wald bewachsen war. Adharas Handgelenk fest
umklammernd, bahnte sich Amina zwischen Büschen und Farnen
zielsicher ihren Weg. Sinnlos war alles Bitten, alle Ermahnungen
umzukehren.
Ich hätte ein klares Nein aussprechen
müssen.
Dieses Baumhaus gab es tatsächlich. Ein solide
wirkendes Holzhüttchen, das von den kräftigen Ästen einer Platane
getragen wurde, mit einem anmutigen, weit heruntergezogenen Dach
und einem Eingang, der von einem verschlissenen roten Tuch verhängt
war. Eine recht wacklig aussehende Leiter führte hinauf. Es knarrte
beängstigend, als Amina hinaufkletterte. Adhara folgte ihr
zögernd.
So gelangten sie in einen kleinen Raum mit einem
Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, vor dem ebenfalls ein
Tuch hing, aus leichterem Stoff allerdings, so dass Licht
hindurchfiel. Dieser Fetzen aber war sogar noch verdreckter und
zerrissener als der vor der Tür.
Amina hatte sich jedoch tatsächlich Mühe gegeben,
das karge Innere nach ihrem ganz eigenen Geschmack einzurichten. An
einer Wand lehnten zwei verrostete Schwerter, und der Boden war mit
Teppichen ausgelegt, die Reste von Brokatstoffen zu sein schienen.
Adhara entdeckte einen Spielzeugbogen mit einem Pfeilköcher, einige
Pergamentrollen und Bücher, eine verblichene Landkarte an einer
Wand sowie eine Puppe, die verstaubt in einer Ecke hockte.
»Die Schwerter gehörten meinem Urgroßvater. Ich
habe sie in dem früheren Gemach meiner Urgroßmutter gefunden. Das
ist eine Art Abstellkammer, in die alles hineingestopft
wird. Der Bogen gehört eigentlich Kalth, aber der Dummkopf hat nie
damit gespielt. Jetzt denkt er, er hat ihn verloren. Und das sind
meine Lieblingsbücher. Eins davon spielt zur Zeit der Elfen, aber
das allerschönste ist das rote dort, die Geschichte von Nihal und
Sennar.«
Adhara betrachtete es genauer. Sie erinnerte sich,
oder zumindest kam es ihr bekannt vor.
Sennar hat es geschrieben, bevor die beiden in
die Unerforschten Lande aufbrachen, dachte sie, ohne zu wissen,
was es mit diesen Landen auf sich hatte. Und sie wunderte sich
schon gar nicht mehr. Dass ihr die Vergangenheit der Aufgetauchten
Welt vertrauter war als die Gegenwart – daran gab es keinen Zweifel
mehr.
Amina schien sie misszuverstehen, denn sie folgte
Adharas gedankenverlorenem Blick und merkte, dass er auf die Puppe
in der Ecke gerichtet war. »Ach, mit der habe ich gespielt, als ich
klein war. Nur deswegen hab ich sie aufgehoben«, erklärte sie
knapp.
Adhara riss sich aus ihren Gedanken. »Hör mal, hier
… hier …« Sie suchte nach den passenden Worten, denn sie wusste
einfach nicht, wie mit dem Mädchen am besten zu reden war. »Hier
ist es wirklich schön«, versuchte sie es weiter, »und ich freue
mich, dass du mich hierhergebracht hast, aber wenn du Unterricht
hast …«
»Sei ruhig!«, unterbrach sie die Prinzessin. Sie
zog eine Schnute, und ihre Augen blitzten. »Wenn du mir auf die
Nerven gehen willst, so wie meine Mutter, dann hau lieber ab. Ich
helfe dir nämlich nicht, wenn du mich so behandelst.«
Es war schwieriger, als sich ohne Karte in
unbekanntem Gelände zurechtzufinden. Und plötzlich ging Adhara auf,
wieso diese Aufgabe sie dermaßen belastete. Sie hatte einfach keine
Ahnung, wie man mit anderen Personen umging. Bei Amhal war das
etwas anderes, den verstand sie, weil er es ihr leichtmachte … Aber
sonst …? Nein, andere Leute waren ihr ein Rätsel, und ganz
besonders Amina, die so rasch
zwischen Trotz und Begeisterung hin- und herwechselte und sie
damit mächtig verwirrte.
Du wirst sie niemals zur Vernunft bringen. Mach
lieber gute Miene zum bösen Spiel.
»Einverstanden. Aber nur heute.«
»Das hast du nicht zu entscheiden. Ich soll mich um
dich kümmern, und deshalb musst du mir gehorchen. Merk dir das
mal!« Aminas Augen funkelten hinterlistig.
Adhara nickte, weil sie keine andere Möglichkeit
sah.
»Und jetzt tust du genau, was ich dir sage.«
Und das bedeutete für Adhara, bis zur Erschöpfung
bei Aminas ausgelassenen Spielen mitzumachen.
Eine Weile hielten sie sich noch in der Hütte auf,
bis Amina auf die Idee kam, nun mit Pfeil und Bogen auf die Jagd zu
gehen.
Eine gute Stunde streiften sie durch das hohe Gras
und verdreckten sich die Kleider in der nach dem Wolkenbruch der
vergangenen Nacht morastigen Erde.
Und ich hab nichts zum Wechseln …, dachte
Adhara verzweifelt.
Amina schoss auf ein paar Vögel, und als sie sie
verfehlte, warf sie Adhara vor, sich zu laut bewegt zu haben.
Dann sollte die Gesellschafterin ihr als Ziel
dienen.
»Stell dich nicht so an! Die Pfeile sind doch
stumpf«, drängte das Mädchen, als sie mit dem Kopf schüttelte.
Schließlich gab Adhara nach, war dann aber zu flink, als dass Amina
sie hätte treffen könnte, womit sie allerdings nur erreichte, dass
die kleine Jägerin sie vor einem Baum Aufstellung nehmen ließ und
ihr stillzuhalten befahl, während sie ihre Pfeile abschoss. Zwar
waren diese tatsächlich stumpf, taten aber durch die Wucht des
Aufpralls dennoch weh. Adhara versuchte, nicht zu jammern. Blieb
ihr etwas anderes übrig, als sich für die Launen der kleinen
Prinzessin zur Verfügung zu stellen? Zudem hatte ja Prinz Neor
nichts anderes von ihr verlangt, als seiner Tochter Gesellschaft zu
leisten.
Das war ihre Aufgabe. Und das würde sie auch tun: Sie würde eine
willfährige Gefährtin sein, die klaglos alles über sich ergehen
ließ.
Dieses Spiels überdrüssig, kam Amina nun auf die
fantastische Idee, zu den Schwertern zu greifen.
»Jetzt wird gekämpft!«, rief sie und klatschte
begeistert in die Hände.
»Warte … schau mal, diese Schwerter sind richtig
scharf. Das ist zu gefährlich, damit könnten wir uns ernsthaft
verletzten.«
Amina zuckte mit den Achseln. »Ach was, wir müssen
eben ein wenig aufpassen«, rief sie und rannte los, um die
Schwerter zu holen.
Als Adhara beobachtete, wie eine hoch
aufgeschossene Gestalt ihren Lauf bremste, entfuhr ihr ein Seufzer
der Erleichterung.
»Hier steckst du also.« Das konnte nur der
Hauslehrer sein, ein großer, spindeldürrer Mann mit weißem Haar und
strenger Miene. »Ich dachte, deine Eltern haben dir deutlich
gesagt, wie das mit deinen Pflichten aussieht.«
Nur einen kurzen Augenblick war Amina sprachlos.
»Das ist nur Adharas Schuld. Sie hat gesagt, ich soll nicht zum
Unterricht gehen«, log sie dann.
Fassungslos starrte Adhara sie an, doch Amina
beachtete sie nicht.
Der Hauslehrer hingegen bedachte sie mit einem
eisigen Blick. »Na, das werden wir noch feststellen. Zunächst
einmal geht ihr beiden euch waschen, und dann fangen wir mit dem
Unterricht an, so wie jeden Tag.«
»Aber das ist alles nur ihre Schuld«, bekräftigte
Amina noch einmal. »Ich konnte gar nichts dagegen tun!«
Doch der Lehrer ließ sich auf keine Diskussionen
ein und schickte beide noch einmal schleunigst in den Palast
zurück.
Amina verschwand hinter einer der zahlreichen Tür,
während Adhara ratlos im Flur zurückblieb, mit einer Dienstmagd
ungefähr ihres Alters an der Seite.
»Du kannst dich bei uns unten im Bad waschen«,
meinte diese mit einem Blick auf Adharas Kleider.
Adhara betrachtete ihre schlammbesudelte Hose und
ihr zerrissenes Hemd und hatte nur noch die Kraft, schwach zu
nicken.
Was die Dienstmagd als Bad bezeichnet hatte, war
ein großer Raum mit einigen Ziehbrunnen, aus denen man mit Hilfe
von Rolle und Seil Wasser schöpfte. Eine Reihe von Gullis am Boden
diente dem Rückfluss. Warmes Wasser gab es dort unten nicht. So
wusch sie sich also, indem sie sich einige Eimer eiskaltes Wasser
über den Körper kippte, und suchte sich dann, trotz des warmen
Wetters schaudernd, ein paar trockene Sachen aus einem Haufen
Kleider aus, den die Magd ihr gezeigt hatte. Wieder, wie schon in
Salazar, war ihr alles viel zu groß. Aber es ließ sich nicht
ändern.
Ratlos betrachtete sie ihre alten Kleider.
Eigentlich hing sie an ihnen, waren sie ihr doch zu einer Art
zweiter Haut geworden, und es war ihr wichtig, sie irgendwie sauber
zu bekommen.
Mit verlegener Miene und den Sachen in der Hand
betrat sie den Nebenraum. Er war voller Frauen, die über steinerne
Waschtröge gebeugt ihrer Arbeit nachgingen. In der Luft ein
beißender Seifengeruch.
Adhara trat auf jene zu, die ihr die jüngste zu
sein schien, und räusperte sich ein paarmal, um auf sich aufmerksam
zu machen. Doch der Lärm war so groß, dass sie sie schließlich an
der Schulter rütteln musste.
»Was ist denn?«
»Kannst du mir sagen, wo ich die waschen kann?«,
fragte sie, auf das Bündel in ihrer Hand deutend.
Mit flinken, kundigen Gesten schaute die Magd die
Sachen durch. »Wie hast du denn das hinbekommen?«
Das ist bei meinen Bemühungen als
Gesellschafterin der Prinzessin herausgekommen, dachte sie,
drückte sich aber um eine klare Antwort. »Ach, das ist eine lange
Geschichte … Meinst du, die lassen sich irgendwie retten?«
»Du kannst es ja mal mit Lauge versuchen, und immer
wieder gut einseifen. Aber ich sag dir jetzt schon: Um die sauber
zu bekommen, wirst du zwei kräftige Arme brauchen.«
Damit wandte sich die Magd wieder ihrer eigenen
Arbeit zu, während Adhara ratlos neben ihr stehen blieb:
Lauge?
»Tut mir leid, aber ich hab wirklich keine Ahnung,
wovon du da redest. Wenn du mir das vielleicht erklären könntest
…«
Sie kam sich so dumm vor, dumm und hilflos. Mit
Groll dachte sie an Amhal, der sie hier allein zurückgelassen
hatte, und natürlich an Amina, die sie zu diesem idiotischen Spiel
gezwungen hatte.
Die Magd aber lächelte sie an und nahm ihr, ohne
lange zu fackeln, die Kleider aus der Hand. »Komm, bis du es
gelernt hast, wasch ich sie dir.«
Sie zwinkerte ihr zu, und obwohl Adhara nicht ganz
klar war, was diese Geste bedeutete, lächelte sie
erleichtert.
»Du bist wirklich nett. Und ich schwör es dir, ich
werde es schnell lernen.«
Die Magd zuckte mit den Achseln und deutete auf die
Berge von Wäsche um sie herum. »Siehst du das? Meinst du, da macht
es mir was aus, auch noch deine Sachen mitzuwaschen? Mach dir mal
keine Gedanken. Übermorgen kannst du sie abholen.«
Amina traf sie wieder, als die junge Prinzessin
gerade mit finsterer Miene aus der Tür ihres Zimmers trat. Statt
der Hose trug sie nun ein schlichtes, doch kostbar wirkendes Kleid.
Kaum kreuzten sich ihre Blicke, schlug sie die Augen nieder, ließ
Adhara stehen und hastete den Flur entlang.
Adhara hätte nicht sagen können, woher sie den Mut
nahm, doch irgendetwas brachte ihr Blut in Wallung. Sie
beschleunigte ihre Schritte, erreichte das Mädchen und hielt es an
der Schulter fest.
Amina versuchte, sich freizumachen. »Lass mich los!
Was willst du denn?«
»Es war nicht meine Schuld«, sagte Adhara nur und
versuchte dabei, ihrem Blick die nötige Härte zu verleihen.
Vielleicht wusste sie nicht viel über menschliche Beziehungen, doch
wenn man sich jemandem gegenüber freundlich verhielt, durfte man
wohl das Gleiche umgekehrt auch erwarten. »Ich habe mit dir
gespielt, hab dir Gesellschaft geleistet, habe alles getan, was du
von mir verlangt hast … Und was bekomme ich als Dank? Eine
Verleumdung und versaute Kleider.«
Amina war rot geworden, doch ihre Augen blitzten
zornig. »Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen. Keiner zwingt
dich, bei mir zu bleiben.«
Adhara lockerte ein wenig ihren Griff. »So habe ich
das nicht gemeint …« Doch augenblicklich wurde ihr klar, dass sie
jetzt nicht nachsichtig werden durfte. Sie war im Recht, und einige
Dinge mussten jetzt klargestellt werden. »Ich will dir nur sagen,
es gefällt mir nicht, wenn du mich vorschiebst, um von eigenen
Fehlern abzulenken. Wir können nur befreundet sein, wenn du mich
auch respektierst.«
Amina schlug die Augen nieder, und Adhara hatte
plötzlich das deutliche Gefühl, dass sie weinte. Doch als die
Prinzessin dann aufsah, zeigte sie den gleichen hochmütig
verächtlichen Gesichtsausdruck wie zuvor. »Hättest du nicht so viel
Lärm gemacht, wären wir auch nicht entdeckt worden«, zischte
sie.
Sie entwand sich Adharas Griff und entschwand
rasch, fest mit den Füßen aufstampfend, durch den Flur.
Amhal kam nicht. Vergeblich wartete Adhara den
ganzen Abend auf der großen Terrasse, die zum Park hinausging. So
saß sie allein da, den Kopf in die Handfläche gestützt, und
beobachtete, wie die Sonne über der Stadt unterging und sich das
Gold der Dächer träge rot und dann violett färbte. Erst als es
schon ganz dunkel war, ging sie enttäuscht wieder hinein. Ein
paarmal verlief sie sich, bis sie ihre Unterkunft endlich gefunden
hatte. Eine seltsame Stille lag über dem Palast. Sie hätte
erwartet, dass Neor sie rufen ließ und sie aus den Klauen seiner
Tochter, der kleinen Prinzessin, befreite, indem er ihr klar und
deutlich sagte, dass sie ihre Aufgabe nicht erfüllt habe.
Wahrscheinlich hätte sie sich darüber gefreut. Sie hätte sich eher
für Amhal freihalten können und eine Möglichkeit gefunden, trotz
allem mit ihm zusammen zu sein, irgendwo außerhalb der bedrückenden
Enge dieses Palastes. Amhal und sie, sie beide allein wie in der
ersten Zeit. »Liebe« hatte es Prinz Neor genannt. Das Gefühl, das
ihn mit seiner Frau verband, und Dubhe mit Learco, jenes mächtige
Gefühl, das sie all die langen Jahre zusammengehalten hatte.
Adhara kannte es nicht, wusste im Grund nicht, was
es bedeutete, doch wenn Liebe so fest verband, dann wollte sie
Amhal lieben. Denn trotz aller Vorsätze des gestrigen Abends
brauchte sie ihn sehr.
Es war wieder ein herrlicher Sommertag, und die
Sonne flutete in den Saal. Doch die Mienen der Personen, die dort
um den Tisch herum saßen, waren angespannt: Learco, Neor, Dubhe und
Theana, die Hals über Kopf, noch in ihren priesterlichen
Festgewändern, vom Tempel herbeigeeilt war.
Sie war es, die das Treffen angeregt hatte.
Eigentlich wollte sie Dubhe in den Tempel bitten, doch die Königin
hatte ihr ausrichten lassen, sie solle sich doch bitte umgehend im
Palast einfinden, und hatte dann auch die anderen
zusammengerufen.
»Es ist höchste Zeit, die Angelegenheit gemeinsam
zu erörtern und Maßnahmen zu ergreifen«, hatte sie erklärt, und
Neor konnte ihr da nur zustimmen.
Lange Zeit hatte der Prinz gehofft, die Lage würde
sich von selbst entspannen, es würde sich herausstellen, dass es
sich bei der rätselhaften Krankheit doch um das Rote Fieber
handelte oder dass sie es lediglich mit einigen vereinzelten Fällen
zu tun hatten. Vergeblich. Zudem sprachen nicht nur die Fakten
dafür, sondern auch sein Gefühl sagte ihm: Hier zog ein gewaltiges
Unwetter herauf.
»Nun, ich höre«, eröffnete Learco mit erschöpfter
Miene die Versammlung. Das Alter meinte es nicht gut mit ihm, und
in jüngster Zeit war er häufig mit seinen Kräften völlig am Ende.
Alle wichtigen Entscheidungen traf Neor an seiner Stelle und
überließ dem Vater nur die öffentlichen Auftritte.
Theana lehnte sich vor. »Ich habe schlechte
Neuigkeiten«, begann sie, »der Glaubensbruder, den ich ins Land des
Wassers ausgesandt hatte, um die Todesfälle zu untersuchen, hat mir
einen besorgniserregenden Bericht zukommen lassen. Danach hat er,
im Beisein einer Agentin der Königin, die Leiche eines Unbekannten
untersucht, der an der Seuche starb. Dieser Fremde war kein Mensch,
allerdings auch keine Nymphe oder ein Angehöriger irgendeiner hier
in der Aufgetauchten Welt bekannten Rasse.«
Die Mienen der Versammelten wurden noch finsterer,
und alle hatten das Gefühl, im Raum sei das Licht erloschen.
»Kein Erkennungszeichen, keine Waffe. Aber er war
geschminkt und hatte sich das Haar gefärbt. Seine Augen waren
violett und seine Haare grün.«
Auf Anhieb wusste Neor Bescheid. Er hatte in seinem
Leben viel gelesen und studiert, für ihn ein Weg, die
Beschränkungen seines gelähmten Körpers hinter sich zu lassen: den
Geist schärfen, ihn ständig pflegen und wie einen Muskel
trainieren, und dazu reisen, Erfahrungen machen, Neues
kennenlernen.
»Ein Elf«, sagte er, und schwer wie ein Amboss
schlug das Wort in der Runde ein. »Ich habe einiges darüber
gelesen.
Und verschiedene Darstellungen auf antiken Fresken gesehen.«
»Ich kann dem Prinzen da nur zustimmen«, ergriff
Theana wieder das Wort. »Dieser Mann war ein Elf. Und nicht der
einzige. Ein angehender Ritter aus Eurem Gefolge, Majestät, hat vor
einiger Zeit in Salazar zwei Männer getötet, die ein junges Mädchen
belästigten. Wie eine Reihe von Zeugen berichtet, wiesen deren
Körper die gleichen Merkmale wie die von unserem Bruder untersuchte
Leiche auf. Kein Zweifel, es waren Elfen. Und sie waren krank. Zwei
Tage später tauchten in Salazar die ersten Fälle dieser unbekannten
Krankheit auf.«
Das Schweigen, das ihren Worten folgte, schien
nicht enden zu wollen.
Fragen über Fragen schossen Neor durch den Kopf.
Was hatte die Elfen dorthin geführt? Soweit bekannt, hatten sich
die Elfen, als die Menschen und andere Rassen die Aufgetauchte Welt
zu besiedeln begannen, empört in die Unerforschten Lande
zurückgezogen und waren nie mehr gesehen worden. Und wieso waren
sie krank? Ob das bloßer Zufall war? Und wieso tarnten sie sich und
versuchten, ihr Aussehen zu verbergen?
»Sie schleppen die Seuche ein«, murmelte er
schließlich und spürte, wie alle Blicke auf ihn gerichtet waren.
»Sie sind die Überträger dieser Krankheit.«
»Ist dieser Schluss nicht etwas voreilig …?«, warf
Learco ein.
»Wieso? Drei Elfen wurden entdeckt. Alle drei
erkrankt. Und getarnt, damit niemand auf sie aufmerksam wird. Sie
werden in Salazar entdeckt, und kurz darauf treten die ersten
Krankheitsfälle auf. Das kann doch kein Zufall sein!«
»Man weiß doch noch nicht einmal, ob es überhaupt
noch Elfen gibt. Es könnten ja auch Angehörige eines anderen Volkes
sein …«, versuchte Learco weiter einzuwenden.
»Nein, das sind Elfen. Die Schriften lügen nicht«,
erklärte Neor entschlossen.
»Aber auch Zufälle würde ich nicht ganz
ausschließen«, warf Dubhe nachdenklich ein.
»Gewiss. Aber andererseits haben wir jetzt so viele
Hinweise, dass wir der Sache wirklich auf den Grund gehen
können?«
Wieder entstand ein langes Schweigen.
»Das Wichtigste ist aber, ein Heilmittel zu
finden«, setzte der Prinz hinzu.
»Das ist nicht so einfach. Dafür sind Laboratorien
notwendig, kundige Leute …«, gab Theana zu bedenken.
»Natürlich. Aber umso entschlossener muss daran
gearbeitet werden«, antwortete Neor. »Wie viele Länder sind denn
bisher betroffen?«, fragte er dann und drehte sich zu seiner Mutter
um.
»Das Land des Wassers und das des Windes, den
Berichten meiner Agenten zufolge.«
»Sollten wirklich die Elfen dahinterstecken, wird
sich die Seuche rasch ausbreiten. Wir müssen sie eindämmen.«
»Im Gemeinsamen Rat ist das Thema überhaupt nicht
zur Sprache gekommen«, wunderte sich Learco.
»Nun, im Land des Wassers glaubt man wohl, die
Nymphen hätten damit zu tun, und will die schmutzige Wäsche lieber
zu Hause waschen. Und im Land des Windes wird man eine Lähmung des
Handels befürchten«, antwortete Neor. Sein Verstand arbeitete
fieberhaft. »Jedenfalls müssen wir die Sache dem Gemeinsamen Rat
zur Kenntnis bringen und Botschaften und Ritter aussenden. Aber
natürlich haben wir auch an unser eigenes Land zu denken. Das heißt
eine stärkere Kontrolle des Warenverkehrs an den Grenzen. Aber ohne
jemanden zu beunruhigen. Im Moment hat es noch keinen Sinn, die
Bevölkerung zu unterrichten. Wir würden nur Panik verbreiten.« Dann
wandte er sich seiner Mutter zu. »Und wir müssen bis zur Quelle
zurückgehen.«
Ein Blick genügte, und Dubhe verstand.
»Das ist eine lange Reise durch die Unerforschten
Lande. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe sie schon einmal
unternommen. Allerdings sind mir nirgendwo Elfen begegnet.«
»Rüste deine Leute mit Drachen aus und schärfe
ihnen ein, dass sie die Elfen unbedingt aufspüren müssen – koste
es, was es wolle. Es muss geklärt werden, ob sie wirklich
dahinterstecken und, falls sich meine Vermutung als richtig
erweist, warum sie das tun.«
Dubhe nickte. »Ich werde alles Notwendige
veranlassen.«
»Und sag deinen Spähern, sie sollen auch hier in
der Aufgetauchten Welt die Augen gut offen halten. Vielleicht haben
sich noch mehr Elfen eingeschlichen. Die will ich haben. Und zwar
lebend.«
Es war, als streiche ein kalter Wind durch den
Saal. Aber so war Neor, streng und unerbittlich, wenn er seine
Pläne entwickelte.
»Wenn jetzt nichts weiter anliegt, sollten wir die
Sitzung auf nächste Woche vertagen oder früher, falls es wichtige
Neuigkeiten gibt.«
Die anderen standen auf. Draußen lagen die
herrlichen Parkanlagen im strahlenden Sonnenlicht. Aber das Bild
trog. Es war etwas im Gang unter der Kruste einer nun
fünfzigjährigen Friedenszeit. Neor sah genauer hin und erkannte
seine Tochter zwischen den Bäumen. Sie saß zu Pferd, das von ihrem
Hauslehrer und Adhara geführt wurde. Sein Herz krampfte sich
zusammen. Denn er wusste, es kam die Zeit, da entsetzliche
Entscheidungen von ihm verlangt wurden, da alles, was auch er mit
aufgebaut hatte, wieder einzustürzen drohte.
Und er musste an Sennar denken, an die Worte, mit
denen er sein Buch abgeschlossen hatte, bevor er die Aufgetauchte
Welt verließ.
Zeiten des Friedens und der Hoffnung werden
kommen und dann wieder abgelöst werden von Verzweiflung und
Finsternis.
Fünfzig Jahre lang hatten sie sich vorgemacht,
diesen Kreislauf, der die Aufgetauchte Welt regelmäßig an den Rand
des Untergangs führte, durchbrochen zu haben. Fünfzig Jahre lang
war Krieg nur noch eine Erinnerung gewesen. Doch vielleicht
verlangte die Bestie nun wieder nach frischem Blut.
Was ging da draußen nur vor?