9
Die Hohepriesterin
Die Luft war von Weihrauch gesättigt. In
trägen Kringeln stieg er auf und umhüllte in sinnlicher Umarmung
die Säulen und Bänke des Tempels.
Den Blick starr auf eine Statue vor sich gerichtet,
schwenkte die Hohepriesterin das Weihrauchfass und ließ noch ein
wenig mehr davon emporquellen.
Diese Statue stellte einen Mann mit energischer
Miene und gewaltigem Körperbau dar. In einer Hand hielt er ein
Schwert, in der anderen einen Blitz. Spuren einer geheimnisvollen
Weisheit in seinem Ausdruck strenger Versunkenheit machten seine
Gesichtszüge ein wenig weicher.
Die Hohepriesterin reichte das Weihrauchfass an die
Schwester weiter, die neben ihr stand, und kniete nieder. Sie
schloss die Augen und wiederholte im Geist die Worte, die seit
vielen Jahren, immer wenn sich der Tempel füllte, aus ihrem Mund
erklangen. Doch obwohl sie das Gebet schon so lange kannte, hatte
es noch nichts Schematisches für sie bekommen. Ihr Glaube war noch
völlig unbeschädigt, war noch so lebendig wie am ersten Tag, wenn
nicht sogar noch inniger. Denn leidvolle Prüfungen hatte sie
bestanden, war gestählt worden durch die Jahre der Abgeschiedenheit
und geschmiedet durch die Mühen, die es sie gekostet hatte, den
Kult noch einmal neu zu verbreiten.
Sie betete zu ihrem Gott um Kraft und Geduld,
betete darum,
ihm als Werkzeug – und nicht mehr als das – dienen zu dürfen, und
wie immer galt der letzte Gedanke ihrem Vater.
Wo auch immer du sein magst, wache über
mich!
Mühsam erhob sich die Hohepriesterin. Ihre Beine
waren nicht mehr so stark wie früher einmal, und jeden Tag fiel ihr
das Aufstehen schwerer. Die Schwester lehnte sich zu ihr vor, doch
mit einer entschiedenen Geste wies sie deren Hilfe zurück. Als sie
sich einigermaßen sicher auf den Beinen fühlte, drehte sie sich um
und breitete die Arme zu der dicht gedrängten Menge der Gläubigen
aus.
»Tretet nur näher, einer nach dem anderen, so wie
ihr es gewohnt seid. Ihr sollt alle geheilt werden.«
Eine Bewegung wie eine Welle in stürmischer See
durchlief den Saal. Die Hohepriesterin stieg vom Altar hinunter und
ließ sich aufnehmen von der Menge ihrer Getreuen.
»Das war heute wieder ein guter Tag«, bemerkte die
Schwester, während sie der Hohepriesterin beim Ablegen ihrer
Festgewänder behilflich war. »Ich fühlte den Glauben der Leute,
ihre Andacht … Euch dienen zu dürfen, ist eine außerordentliche
Ehre für mich.«
Die Hohepriesterin lächelte ein wenig bitter.
»Manchmal befürchte ich, dass die Leute nur wegen meiner Heilkräfte
zu mir kommen. Genauer betrachtet, ist es wie eine Art Handel:
Glaubt, und ich heile euch.«
»Aber, Exzellenz …«, rief die Schwester
entrüstet.
Die Hohepriesterin machte eine beschwichtigende
Handbewegung. »Nehmt meine Worte nicht so ernst. In jüngster Zeit
fühle ich mich häufig alt und müde. Die Last von dem, was ich in
meinem Leben gesehen und erlebt habe, hat mich zu vieler Illusionen
beraubt.«
Die Schwester stellte sich vor sie. Sie war jung,
fast zu jung für ihre Aufgabe, hatte die Haare züchtig hochgesteckt
und das pausbäckige Gesicht eines noch nicht voll erblühten
Mädchens. Ihr ernster Blick bildete einen seltsamen Gegensatz
zu den kindlichen Zügen. »Bevor Ihr kamt, lag unser Kult danieder,
war der Name unseres Gottes Thenaar von einer blutrünstigen Sekte
besudelt und für abartige Ziele missbraucht worden. Wie anders
heute: Hunderte von Tempeln in der ganzen Aufgetauchten Welt,
Tausende von Gläubigen, erfasst vom Feuer eines neuen Glaubens, der
verschiedenste Völker und Rassen vereint. Und das ist allein Euer
Verdienst.«
Die Hohepriesterin lächelte. Es war schön, zu
wissen, dass dieses Feuer, das auch das Mädchen dort ergriffen
hatte, nicht zuletzt durch ihre eigene unermüdliche Arbeit entfacht
worden war, ihre religiöse Unterweisung und – warum nicht? – ihre
Kenntnisse in der Heilkunst, die sie im Übrigen nicht als ihr
alleiniges Vorrecht ansah. Alle Brüder und Schwestern ihrer
Ordensgemeinschaft lernten diese Kunst, wobei allerdings bisher
noch niemand wie sie selbst darin glänzte. Doch darauf kam es nicht
an.
Als sie sich fertig umgezogen hatte, ließ sie sich
schwer auf einen Sessel fallen. »Danke, du kannst gehen«, sagte sie
mit einem müden Lächeln. Sie brauchte das jetzt, allein zu sein
nach dem Ansturm der Menge dort drüben im Tempel.
Das Mädchen beugte das Knie. »Stets zu Euren
Diensten«, murmelte sie, bevor sie ging.
Die Hohepriesterin blieb allein zurück. Es war ihr
nicht oft vergönnt, hier im Tempelbereich ein wenig Ruhe zu
genießen: Stets waren Gläubige zu behandeln, Riten zu zelebrieren,
Brüder und Schwestern zu unterweisen, und dann auch noch die
Organisation und Leitung ihrer Ordensgemeinschaft. So blieb ihr
wirklich nur sehr wenig Zeit für sich selbst, um die eigenen
Gedanken zu sammeln und zu ordnen.
Sie blickte auf ihr Bild in dem großen Spiegel an
einer Wand. Ohne die Zeremoniengewänder hatte sie immer noch etwas
vor der jungen Frau, die sie einmal war: Theana, die
unerschütterlich an einen von allen missachteten Gott glaub – te.
Viel Zeit war seither vergangen, zu viel Zeit, und jedes
Jahr hatte an ihrem Körper Spuren hinterlassen. Zwar glänzte ihr
Haar immer noch und wellte sich in duftenden Locken, doch blond war
es nicht mehr, sondern weiß. Und ihr Jungmädchengesicht hatte dem
strengen, eingefallenen und von Falten durchzogenen Antlitz einer
alten Frau Platz gemacht. Ihr Körper war füllig geworden, und die
Formen, die unter den Falten ihres schwarzen Gewandes hervortraten,
waren nicht mehr graziös, sondern plump: die Hüften zu breit, die
Schultern knöchern, die Brüste hingen.
Was macht das schon, da nun niemand mehr diesen
Körper begehrt?
Mit der Hand strich sie über den dunklen Stoff.
Seit fünfzehn Jahren, seit ihr Mann gestorben war, trug sie nun
schon Trauer. Eine unheilbare, langsam zum Tod führende Krankheit
hatte ihm zunächst den Gebrauch der Gliedmaßen versagt und dann
auch den Atem genommen. Jede einzelne Station dieses Leidenswegs
war sie mitgegangen, war bei ihm gewesen bis zuletzt, bis es zu
Ende war. Und dann das Nichts. Theana, die Frau, war mit ihm
gestorben, und zurückgeblieben war nur die Hohepriesterin mit dem
Glauben als einzigem Halt und der Ordensgemeinschaft als einziger
Zuflucht.
Sie stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf
und mach – te sich daran, einige Papiere durchzusehen. Depeschen,
Schenkungsurkunden und verwickelte Verwaltungsvorgänge prägten nun
das Leben hier im Tempel. Einen Augenblick lang dachte sie zurück
an die ursprüngliche Nüchternheit des Kultes, seine Reinheit, als
nur sie allein für ihn stand und die Ordensgemeinschaft des Blitzes
noch nicht gegründet war. Damals war der Name Thenaars noch
verhasst, doch der Glaube an ihn war aufrichtiger, vielleicht auch
authentischer. Bestand nicht die Gefahr, dass die mächtige
Institution, zu der sich der Orden zwangsläufig entwickelt hatte,
den unverfälschten Zugang zum Glauben behinderte?
Müßige Gedanken, denen sie sich manchmal hingab.
Vielleicht lag es am Alter.
Wieder wandte sie sich den Dokumenten zu, arbeitete
sie
durch, unterzeichnete einige, zündete die Kerze an, als das
Tageslicht draußen erlosch. Irgendwann schlossen sich ihre Finger
auch um ein Stück Pergament, nicht viel größer als ein Zettel mit
ausgefransten Rändern. Sie wusste, um was es sich handelte. Es war
eine jener Botschaften, die ihnen tagtäglich von Brüdern der weiter
entfernt gelegenen Tempel auf magischem Weg zugesandt wurden.
Allerdings gerieten nur wenige davon in ihre Hände. Die meisten
wurden von Brüdern in ihrem Haus gelesen, die für Fragen des Kultes
in den verschiedenen Ländern zuständig waren, und landeten dann bei
den Akten, in vergessenen Ordnern auf verstaubten Regalen. Doch
diese Notiz hier war bis zu ihr vorgedrungen.
»An die Hohepriesterin«, stand darauf.
Theana drehte den Zettel zwischen den Fingern hin
und her. Die Nachricht war kurz. Wieso war sie an sie
gerichtet?
Sie las sie durch. Eilig hingeworfene Zeilen, mit
kindlicher, zitternder Hand. Zweimal musste sie die Nachricht
lesen, um sie zu begreifen.
Da öffnete sich die Tür, und das Mädchen betrat
wieder den Raum. Theana fuhr hoch.
»Verzeiht, Herrin, ich wollte nicht stören«, sagte
die Schwester, wobei sie den Kopf neigte.
»Schon gut, Dalia, ich war nur in Gedanken. Was
gibt es denn?«
»Jemand möchte Euch sprechen, Herrin …«
»Das passt jetzt gar nicht«, stöhnte Theana und
massierte sich mit dem Zeigefinger die Nasenwurzel, »ich bin
erschöpft, und außerdem …«
»Aber es ist die Königin, Herrin«, erklärte das
Mädchen, während es sich noch einmal verneigte.
Theana war überrascht. Es war nicht Dubhes Art, sie
im Tempel aufzusuchen. Vielleicht hielt sie immer noch die
Erinnerung an jene Zeiten davon ab, als sich die Gilde des
Thenaar-Kultes bemächtigt hatte und der Gott als ein Ungeheuer
erschien, das sich von Menschenblut nährte. Vielleicht
war der Grund aber auch ihr grundsätzliches Misstrauen gegenüber
jedem Gottesglauben. Jedenfalls hatten sie beide sich immer nur
außerhalb des Tempels getroffen, zum Beispiel bei großen Festakten,
die Verbindung jedoch immer gehalten eingedenk ihres
freundschaftlichen Verhältnisses, das während des gemeinsamen
Kampfes gegen Dohor entstanden war. Tatsache war aber auch, dass
ihre Begegnungen in den vergangenen Jahren immer spärlicher
geworden waren, nicht zuletzt, weil Theana den Tempelbereich nur
noch selten verließ. Dennoch waren die Wertschätzung, die
Freundschaft und Zuneigung, die sie füreinander empfanden, in all
den Jahren nicht verblasst.
»Bitte sie nur herein!«, beeilte sich Theana jetzt
zu antworten.
Dalia nickte kurz und ging hinaus.
Während sie den Zettel unter die anderen Papiere
schob, überlegte Theana, ob es ratsam wäre, mit Dubhe über die
Angelegenheit zu sprechen.
Ich sollte mir zunächst einmal anhören, was sie
zu mir führt, beschloss sie und versuchte, sich zu erinnern,
wann sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Sie konnte es nicht
mit Sicherheit sagen. Vielleicht damals, vor ungefähr einem Jahr,
als die Königin sie hatte rufen lassen, weil der Gesundheitszustand
Prinz Neors Anlass zur Sorge gab. Sie überlegte, dass die meisten
ihrer Begegnungen nach Lonerins Tod in irgendeiner Weise von der
Etikette oder einer bestimmten Notwendigkeit diktiert worden waren.
Welche Angelegenheit mochte die Königin nun zu ihr führen?
Dubhe war ganz ähnlich wie damals zu ihrer Zeit als
Einbrecherin gekleidet. Immer noch fühlte sie sich in Hose und
Jacke am wohlsten, und wenn sie, was häufig vorkam, im Dienst ihrer
Organisation irgendwo in der Aufgetauchten Welt unterwegs war, zog
sie am liebsten ihren alten Umhang über, jenes Kleidungsstück, das
ihr viele, viele Jahre zuvor ihr Meister geschenkt hatte.
Theana war auf Anhieb klar, dass es sich, wie sie
vermutet hatte, um keinen Höflichkeitsbesuch handelte. Wieder
staunte sie über Dubhes jugendliches Aussehen. Gewiss, auch ihre,
wie damals zu Mädchenzeiten zu einem schlichten Pferdeschwanz
gebundenen Haare waren ergraut, Hände und Hals faltig. Doch ihr
Körper war immer noch flink und kräftig dank der Übungen, die sie,
wie Theana wusste, weiter tagtäglich verrichtete. Dubhes Haut
wirkte noch frisch, ihre Bewegungen waren elegant und geschmeidig,
ihre Beine muskulös und wohlgeformt. Und selbst ihre Augen waren
nach wie vor jene dunklen Schächte voller Leben und Unruhe, die sie
kannte. Sie beide waren fast gleichaltrig, doch neben der Freundin
kam sich Theana beinahe wie eine Greisin vor.
»Du verzeihst, dass ich nicht niederknie. Aber
meine Gelenke sind nicht mehr so beweglich wie deine und bereiten
mir häufig Verdruss«, erklärte sie mit einem Lächeln.
Dubhe winkte ab, während sie Platz nahm. »Du weißt,
die Etikette hat mir noch nie etwas bedeutet.«
Es entstand ein kurzes, versunkenes Schweigen, bis
die Königin begann, ein paar höfliche Fragen zu stellen, wie es
Theana gehe, ob sie sich nicht überarbeite, wie es mit den
Angelegenheiten der Ordensgemeinschaft vorangehe … Geplauder, das
nur einen Sinn hatte: den Moment hinauszuzögern, da sie zur Sache
kommen musste.
»Was führt dich her?«, machte Theana es ihr
leichter.
Dubhe lächelte. »Kann ich nicht einfach Lust haben,
eine alte Freundin wiederzusehen?«
Theana musterte sie mit vielsagendem Blick. »Schon.
Aber nicht an diesem Ort, den du eigentlich meidest wie die
Pest.«
»Du hast Recht. Für mich ist der Himmel tatsächlich
immer leer geblieben.« Dubhe lächelte, ein ehrliches, aufrich –
tiges Lächeln, wie sie es sich nur bei Personen gestattete, an
denen ihr wirklich lag. »Und zudem lassen sich wohl manche
schrecklichen Erinnerungen nie ganz vergessen. Dieser Tempel hier
strömt für mich immer noch den Gestank der Sekte aus.« Sofort wurde
ihr klar, dass ihre Worte Theana kränken mussten, und sie
versuchte, sich klarer auszudrücken. »Ich will nicht wieder
unterstellen, der wahre Thenaar-Kult habe etwas mit den
Hirngespinsten jener Wahnsinnigen von damals zu tun. Aber nach
allem, was mir die Gilde angetan hat, ist es wohl verständlich,
dass mir persönlich der Glaube fehlt.«
Mühevoll richtete sich Theana in ihrem Sessel auf.
»Du musst mir nichts erklären. Ich kenne und verstehe dich. Es ist
eben ein schlimmes Erbe, das uns die Sekte da hinterlassen hat:
Obwohl so viele Jahre vergangen sind und trotz all der Arbeit, die
ich geleistet habe, hat der Name Thenaar für manche immer noch
einen abschreckenden Klang. Die Gilde der Assassinen hat vielen den
Glauben genommen.«
Einen Moment lang starrte Theana gedankenverloren
vor sich hin.
»Aber wie auch immer«, brachte Dubhe sie in die
Wirklichkeit zurück, »du hast Recht: Für mein Kommen gibt es einen
konkreten Anlass.«
Theana blickte sie aufmerksam an.
Bemüht sachlich, berichtete die Königin nun von den
Vorfällen, über die sie ihr Agent in Kenntnis gesetzt hatte, und
ihrer anschließenden Unterredung mit dem Königssohn.
Theanas Miene wurde immer besorgter, während ihr
eine unterschwellige Angst die Eingeweide zusammenzog. Schließlich
nahm sie den Zettel zur Hand, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag,
und reichte ihn der Freundin. »Schau dir das mal an. Ich habe es
gerade gelesen, als mir dein Besuch angekündigt wurde.«
Während Dubhe las, traten die Falten auf ihrer
Stirn noch deutlicher hervor. Denn was dort auf dem Zettel stand,
passte auf erschreckende Weise zu dem, was sie Theana gerade
berichtet hatte.
Von Damyre, Bruder des Blitzes. Land des
Wassers.
Fünfundzwanzigster Tag des ersten Sommermonats.
Fünfundzwanzigster Tag des ersten Sommermonats.
Zwei junge Leute untersucht mit dem Verdacht einer
Ansteckung mit einer unbekannten Krankheit. Sie erzählen, in einem
Dorf in unserem Land des Wassers, Crysio mit Namen, hätten sie alle
Bewohner tot vorgefunden, hingerafft von einer seltsamen Krankheit,
die sich mit hohem Fieber, Umnachtung, heftigen Blutungen und
schwarzen Flecken am ganzen Körper äußert. Wie ich feststellte,
waren die beiden gesund. Halte aber weitere Nachforschungen für
dringend erforderlich.
Zum Ruhm Thenaars.
»Hattest du davon gehört?«, fragte Theana.
Dubhe brauchte einen Moment, bis sie antwortete:
»Nein, zumindest nicht von diesem speziellen Fall …«
»Glaubst du, das könnte mit einem Wiederaufflammen
des Konfliktes zwischen Nymphen und Menschen in Zusammenhang
stehen?«
»Für einen solchen Schluss fehlen mir noch klarere
Indizien. Aber natürlich ist das möglich. Auf alle Fälle bist du
sicher meiner Meinung, dass wir der Sache auf den Grund gehen
müssen. Da bahnt sich etwas an, etwas Beunruhigendes, Dramatisches
…«
Ein beredtes Schweigen machte sich im Raum
breit.
»Ich müsste mir die Leichen ansehen.«
Dubhe lächelte. »Um dich darum zu bitten, bin ich
gekommen. Aber du musst dich nicht selbst dorthin bemühen. Es
reicht, wenn du einen kundigen Priester aussendest. Ja, ich würde
dir sogar dazu raten.«
Theana nickte schwach, während sie mit angespannter
Miene nervös mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte
herumtrommelte.
»Du wirkst sehr besorgt«, bemerkte Dubhe.
Theana beschränkte sich darauf, sie anzuschauen,
denn sie war sich nicht schlüssig, was sie antworten sollte. Es
waren ein Gefühl sowie eine Erinnerung, die Erinnerung an eine
Entscheidung, die sie viele Jahre zuvor gefällt hatte. Sie
schüttelte den Kopf. »Nicht über die Maßen. Nur ein wenig. Und du
wirst sehen, dass nichts Dramatisches dahintersteckt.«
»Hoffentlich hast du Recht. Aber auf alle Fälle
möchte ich wissen, mit was für einer Krankheit wir es hier zu tun
haben. Ich habe schon meine Leute in Marsch gesetzt. Sie sollen
herausfinden, wo sich diese Dorfbewohner angesteckt haben könnten,
und ich hoffe, dir bald schon Genaueres berichten zu können. Aber
denk auch daran, deinen Priestern einzuschärfen, die nötigen
Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.«
Theana nickte. Tatsächlich war sie sehr viel
besorgter, als sie zeigen wollte.
Dubhe machte Anstalten, sich zu erheben. »Es ist
immer eine Freude, dich wiederzusehen«, sagte sie, und die Freundin
musste lächeln über diese steifen, förmlichen Worte. Die langen
glücklichen Jahre an Learcos Seite hatten Dubhe nicht lockerer
gemacht, und immer noch geriet sie in Verlegenheit, wenn es darum
ging, anderen ihre Zuneigung zu zeigen. »Komm mich doch bei
Gelegenheit mal im Palast besuchen. Immer nur hier drinnen zu
sitzen, umgeben von Weihrauch und Bedürftigen, bekommt dir
wahrscheinlich auch nicht.«
Theana breitete ergeben die Arme aus. »Das ist eben
mein Leben. Aber sicher, wenn es meine Zeit zulässt, komme ich
gern.«
Mit einem angedeuteten Kopfnicken verabschiedete
sich die Königin und wandte sich zur Tür.
Als Theana wieder allein war, versuchte sie, sich
selbst zu überzeugen, dass nichts Ernstes hinter der Sache steckte
und ihre Priester ihr bald berichten würden, dass es sich doch nur
um Fälle von Rotem Fieber gehandelt hatte. Und dennoch
ging ihr ständig das Streitgespräch im Kopf herum, das sie Jahre
zuvor, in der schwierigsten Phase der Ordensgemeinschaft, zu führen
gehabt hatte.
»Was hier droht, ist das Ende aller Zeit. Das
Ende des ewigen Kreislaufs, der die Aufgetauchte Welt regiert. Ein
alles erfassender, alles entscheidender Krieg! So wie damals zu
Asters Zeiten!«
Es ist ein junger Priester der
Ordensgemeinschaft, der so auf sie einredet. Der Jüngling ist außer
sich, aufgewühlt von dem Buch, das er gerade entdeckt hat: eine
Schrift elfischer Herkunft, die ihre Lesart der Geschichte der
Aufgetauchten Welt vollkommen auf den Kopf stellen könnte. Ein
großes, entsetzliches Werk.
Sie und dieser junge Bruder, Dakara mit Namen,
sind allein in dem Raum.
»Versuch doch, dich zu beruhigen.«
»Ihr scheint das nicht zu verstehen! Dabei
wissen wir doch alle, was geschah, als der letzte Zerstörer in die
Aufgetauchte Welt kam. Und das wird wieder geschehen. Aber diesmal
müssen wir darauf vorbereitet sein.«
»Was du da vorschlägst, würde bedeuten, die
Naturgesetze außer Kraft zu setzen, mit Gewalt einen Kreislauf
durchbrechen zu wollen, den wir niemals beherrschen können. Du hast
es ja selbst gesagt: Seit ewigen Zeiten dreht sich das Rad der
Geschichte in der Aufgetauchten Welt auf diese Weise. Zerstörer und
Geweihte wechseln einander ab, in einem ewigen Kreislauf, den die
Völker der Aufgetauchten Welt noch immer überlebt haben, ganz
gleich, wer nun gerade in der jeweiligen Auseinandersetzung den
Sieg davontrug. Das ist das Grundprinzip unserer Welt, und dem
müssen wir uns beugen. Nichts ist ewig.«
»Damit wollt Ihr also sagen, dass wir die
Zerstörung tatenlos über uns ergehen lassen sollen?«
»Nein, ganz und gar nicht. Wir müssen kämpfen,
wenn die Zeit dazu gekommen ist, und das werden wir auch tun, so
wie immer. Das ist unsere Rolle.«
»Aber damit sind wir nicht mehr als Marionetten,
deren Fäden die Götter ziehen. Ja, glaubt Ihr denn wirklich,
Thenaar habe uns dazu erschaffen,
um wie willenlose Puppen in einem Stück zu spielen, das er für uns
geschrieben hat?«
Theana schüttelt den Kopf. »So ist die Welt
eingerichtet. Manche Gegebenheiten kann man nicht ändern und muss
sie einfach hinnehmen. Dieses Wechselspiel, das du auch erkannt
hast, gehört dazu. Wir können, ja, wir dürfen in diesen Zyklus
nicht eingreifen. Das bedeutet nicht, dass wir uns willenlos in ein
Schicksal ergeben. Nein, es bedeutet, zu handeln und auf
angemessene Art und Weise auf das Unvermeidliche zu
reagieren.«
Doch Dakara lässt sich nicht umstimmen, beharrt
auf seiner Überzeugung und entwirft das Szenario einer Wiederkehr
des Zerstörers. »Denn wiederkehren wird er, die Schriften der Elfen
sprechen eine klare Sprache! Und dann wird Krieg herrschen, Tod und
Vernichtung. Und eine Seuche wird kommen.«
Seuche.
Du fantasierst. Bis jetzt kann es sich durchaus
auch um Fälle von Rotem Fieber handeln.
Doch seit sich Dakara von der Ordensgemeinschaft
des Blitzes abgewandt hatte, ließ der Gedanke, vielleicht doch
falsch gehandelt zu haben, Theana nicht mehr los. Vielleicht hatte
Dakara ja Recht, vielleicht war es tatsächlich geboten, der
Wiederkehr des Zerstörers zuvorzukommen. Immer wieder hatte sie
sich gesagt, dass die Überzeugungen des jungen Bruders entsetzliche
Folgen gezeitigt hatten, weil er mit der Rechtfertigung, die
Aufgetauchte Welt vor dem sonst unvermeidlichen Untergang retten zu
wollen, selbst Gräueltaten verübt hatte. Aber das hielt sie nicht
davon ab, auch zu zweifeln, Dinge infrage zu stellen. Dies war ihr
Weg, ihrem Glauben treu zu sein.
Und wenn diese Toten im Land des Wassers
tatsächlich Vorboten des Untergangs sind, des Endes aller
Zeiten?