9
Die Hohepriesterin
Die Luft war von Weihrauch gesättigt. In trägen Kringeln stieg er auf und umhüllte in sinnlicher Umarmung die Säulen und Bänke des Tempels.
Den Blick starr auf eine Statue vor sich gerichtet, schwenkte die Hohepriesterin das Weihrauchfass und ließ noch ein wenig mehr davon emporquellen.
Diese Statue stellte einen Mann mit energischer Miene und gewaltigem Körperbau dar. In einer Hand hielt er ein Schwert, in der anderen einen Blitz. Spuren einer geheimnisvollen Weisheit in seinem Ausdruck strenger Versunkenheit machten seine Gesichtszüge ein wenig weicher.
Die Hohepriesterin reichte das Weihrauchfass an die Schwester weiter, die neben ihr stand, und kniete nieder. Sie schloss die Augen und wiederholte im Geist die Worte, die seit vielen Jahren, immer wenn sich der Tempel füllte, aus ihrem Mund erklangen. Doch obwohl sie das Gebet schon so lange kannte, hatte es noch nichts Schematisches für sie bekommen. Ihr Glaube war noch völlig unbeschädigt, war noch so lebendig wie am ersten Tag, wenn nicht sogar noch inniger. Denn leidvolle Prüfungen hatte sie bestanden, war gestählt worden durch die Jahre der Abgeschiedenheit und geschmiedet durch die Mühen, die es sie gekostet hatte, den Kult noch einmal neu zu verbreiten.
Sie betete zu ihrem Gott um Kraft und Geduld, betete darum, ihm als Werkzeug – und nicht mehr als das – dienen zu dürfen, und wie immer galt der letzte Gedanke ihrem Vater.
Wo auch immer du sein magst, wache über mich!
Mühsam erhob sich die Hohepriesterin. Ihre Beine waren nicht mehr so stark wie früher einmal, und jeden Tag fiel ihr das Aufstehen schwerer. Die Schwester lehnte sich zu ihr vor, doch mit einer entschiedenen Geste wies sie deren Hilfe zurück. Als sie sich einigermaßen sicher auf den Beinen fühlte, drehte sie sich um und breitete die Arme zu der dicht gedrängten Menge der Gläubigen aus.
»Tretet nur näher, einer nach dem anderen, so wie ihr es gewohnt seid. Ihr sollt alle geheilt werden.«
Eine Bewegung wie eine Welle in stürmischer See durchlief den Saal. Die Hohepriesterin stieg vom Altar hinunter und ließ sich aufnehmen von der Menge ihrer Getreuen.
 
»Das war heute wieder ein guter Tag«, bemerkte die Schwester, während sie der Hohepriesterin beim Ablegen ihrer Festgewänder behilflich war. »Ich fühlte den Glauben der Leute, ihre Andacht … Euch dienen zu dürfen, ist eine außerordentliche Ehre für mich.«
Die Hohepriesterin lächelte ein wenig bitter. »Manchmal befürchte ich, dass die Leute nur wegen meiner Heilkräfte zu mir kommen. Genauer betrachtet, ist es wie eine Art Handel: Glaubt, und ich heile euch.«
»Aber, Exzellenz …«, rief die Schwester entrüstet.
Die Hohepriesterin machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Nehmt meine Worte nicht so ernst. In jüngster Zeit fühle ich mich häufig alt und müde. Die Last von dem, was ich in meinem Leben gesehen und erlebt habe, hat mich zu vieler Illusionen beraubt.«
Die Schwester stellte sich vor sie. Sie war jung, fast zu jung für ihre Aufgabe, hatte die Haare züchtig hochgesteckt und das pausbäckige Gesicht eines noch nicht voll erblühten Mädchens. Ihr ernster Blick bildete einen seltsamen Gegensatz zu den kindlichen Zügen. »Bevor Ihr kamt, lag unser Kult danieder, war der Name unseres Gottes Thenaar von einer blutrünstigen Sekte besudelt und für abartige Ziele missbraucht worden. Wie anders heute: Hunderte von Tempeln in der ganzen Aufgetauchten Welt, Tausende von Gläubigen, erfasst vom Feuer eines neuen Glaubens, der verschiedenste Völker und Rassen vereint. Und das ist allein Euer Verdienst.«
Die Hohepriesterin lächelte. Es war schön, zu wissen, dass dieses Feuer, das auch das Mädchen dort ergriffen hatte, nicht zuletzt durch ihre eigene unermüdliche Arbeit entfacht worden war, ihre religiöse Unterweisung und – warum nicht? – ihre Kenntnisse in der Heilkunst, die sie im Übrigen nicht als ihr alleiniges Vorrecht ansah. Alle Brüder und Schwestern ihrer Ordensgemeinschaft lernten diese Kunst, wobei allerdings bisher noch niemand wie sie selbst darin glänzte. Doch darauf kam es nicht an.
Als sie sich fertig umgezogen hatte, ließ sie sich schwer auf einen Sessel fallen. »Danke, du kannst gehen«, sagte sie mit einem müden Lächeln. Sie brauchte das jetzt, allein zu sein nach dem Ansturm der Menge dort drüben im Tempel.
Das Mädchen beugte das Knie. »Stets zu Euren Diensten«, murmelte sie, bevor sie ging.
Die Hohepriesterin blieb allein zurück. Es war ihr nicht oft vergönnt, hier im Tempelbereich ein wenig Ruhe zu genießen: Stets waren Gläubige zu behandeln, Riten zu zelebrieren, Brüder und Schwestern zu unterweisen, und dann auch noch die Organisation und Leitung ihrer Ordensgemeinschaft. So blieb ihr wirklich nur sehr wenig Zeit für sich selbst, um die eigenen Gedanken zu sammeln und zu ordnen.
Sie blickte auf ihr Bild in dem großen Spiegel an einer Wand. Ohne die Zeremoniengewänder hatte sie immer noch etwas vor der jungen Frau, die sie einmal war: Theana, die unerschütterlich an einen von allen missachteten Gott glaub – te. Viel Zeit war seither vergangen, zu viel Zeit, und jedes Jahr hatte an ihrem Körper Spuren hinterlassen. Zwar glänzte ihr Haar immer noch und wellte sich in duftenden Locken, doch blond war es nicht mehr, sondern weiß. Und ihr Jungmädchengesicht hatte dem strengen, eingefallenen und von Falten durchzogenen Antlitz einer alten Frau Platz gemacht. Ihr Körper war füllig geworden, und die Formen, die unter den Falten ihres schwarzen Gewandes hervortraten, waren nicht mehr graziös, sondern plump: die Hüften zu breit, die Schultern knöchern, die Brüste hingen.
Was macht das schon, da nun niemand mehr diesen Körper begehrt?
Mit der Hand strich sie über den dunklen Stoff. Seit fünfzehn Jahren, seit ihr Mann gestorben war, trug sie nun schon Trauer. Eine unheilbare, langsam zum Tod führende Krankheit hatte ihm zunächst den Gebrauch der Gliedmaßen versagt und dann auch den Atem genommen. Jede einzelne Station dieses Leidenswegs war sie mitgegangen, war bei ihm gewesen bis zuletzt, bis es zu Ende war. Und dann das Nichts. Theana, die Frau, war mit ihm gestorben, und zurückgeblieben war nur die Hohepriesterin mit dem Glauben als einzigem Halt und der Ordensgemeinschaft als einziger Zuflucht.
Sie stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf und mach – te sich daran, einige Papiere durchzusehen. Depeschen, Schenkungsurkunden und verwickelte Verwaltungsvorgänge prägten nun das Leben hier im Tempel. Einen Augenblick lang dachte sie zurück an die ursprüngliche Nüchternheit des Kultes, seine Reinheit, als nur sie allein für ihn stand und die Ordensgemeinschaft des Blitzes noch nicht gegründet war. Damals war der Name Thenaars noch verhasst, doch der Glaube an ihn war aufrichtiger, vielleicht auch authentischer. Bestand nicht die Gefahr, dass die mächtige Institution, zu der sich der Orden zwangsläufig entwickelt hatte, den unverfälschten Zugang zum Glauben behinderte?
Müßige Gedanken, denen sie sich manchmal hingab. Vielleicht lag es am Alter.
Wieder wandte sie sich den Dokumenten zu, arbeitete sie durch, unterzeichnete einige, zündete die Kerze an, als das Tageslicht draußen erlosch. Irgendwann schlossen sich ihre Finger auch um ein Stück Pergament, nicht viel größer als ein Zettel mit ausgefransten Rändern. Sie wusste, um was es sich handelte. Es war eine jener Botschaften, die ihnen tagtäglich von Brüdern der weiter entfernt gelegenen Tempel auf magischem Weg zugesandt wurden. Allerdings gerieten nur wenige davon in ihre Hände. Die meisten wurden von Brüdern in ihrem Haus gelesen, die für Fragen des Kultes in den verschiedenen Ländern zuständig waren, und landeten dann bei den Akten, in vergessenen Ordnern auf verstaubten Regalen. Doch diese Notiz hier war bis zu ihr vorgedrungen.
»An die Hohepriesterin«, stand darauf.
Theana drehte den Zettel zwischen den Fingern hin und her. Die Nachricht war kurz. Wieso war sie an sie gerichtet?
Sie las sie durch. Eilig hingeworfene Zeilen, mit kindlicher, zitternder Hand. Zweimal musste sie die Nachricht lesen, um sie zu begreifen.
Da öffnete sich die Tür, und das Mädchen betrat wieder den Raum. Theana fuhr hoch.
»Verzeiht, Herrin, ich wollte nicht stören«, sagte die Schwester, wobei sie den Kopf neigte.
»Schon gut, Dalia, ich war nur in Gedanken. Was gibt es denn?«
»Jemand möchte Euch sprechen, Herrin …«
»Das passt jetzt gar nicht«, stöhnte Theana und massierte sich mit dem Zeigefinger die Nasenwurzel, »ich bin erschöpft, und außerdem …«
»Aber es ist die Königin, Herrin«, erklärte das Mädchen, während es sich noch einmal verneigte.
Theana war überrascht. Es war nicht Dubhes Art, sie im Tempel aufzusuchen. Vielleicht hielt sie immer noch die Erinnerung an jene Zeiten davon ab, als sich die Gilde des Thenaar-Kultes bemächtigt hatte und der Gott als ein Ungeheuer erschien, das sich von Menschenblut nährte. Vielleicht war der Grund aber auch ihr grundsätzliches Misstrauen gegenüber jedem Gottesglauben. Jedenfalls hatten sie beide sich immer nur außerhalb des Tempels getroffen, zum Beispiel bei großen Festakten, die Verbindung jedoch immer gehalten eingedenk ihres freundschaftlichen Verhältnisses, das während des gemeinsamen Kampfes gegen Dohor entstanden war. Tatsache war aber auch, dass ihre Begegnungen in den vergangenen Jahren immer spärlicher geworden waren, nicht zuletzt, weil Theana den Tempelbereich nur noch selten verließ. Dennoch waren die Wertschätzung, die Freundschaft und Zuneigung, die sie füreinander empfanden, in all den Jahren nicht verblasst.
»Bitte sie nur herein!«, beeilte sich Theana jetzt zu antworten.
Dalia nickte kurz und ging hinaus.
Während sie den Zettel unter die anderen Papiere schob, überlegte Theana, ob es ratsam wäre, mit Dubhe über die Angelegenheit zu sprechen.
Ich sollte mir zunächst einmal anhören, was sie zu mir führt, beschloss sie und versuchte, sich zu erinnern, wann sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht damals, vor ungefähr einem Jahr, als die Königin sie hatte rufen lassen, weil der Gesundheitszustand Prinz Neors Anlass zur Sorge gab. Sie überlegte, dass die meisten ihrer Begegnungen nach Lonerins Tod in irgendeiner Weise von der Etikette oder einer bestimmten Notwendigkeit diktiert worden waren. Welche Angelegenheit mochte die Königin nun zu ihr führen?
Dubhe war ganz ähnlich wie damals zu ihrer Zeit als Einbrecherin gekleidet. Immer noch fühlte sie sich in Hose und Jacke am wohlsten, und wenn sie, was häufig vorkam, im Dienst ihrer Organisation irgendwo in der Aufgetauchten Welt unterwegs war, zog sie am liebsten ihren alten Umhang über, jenes Kleidungsstück, das ihr viele, viele Jahre zuvor ihr Meister geschenkt hatte.
Theana war auf Anhieb klar, dass es sich, wie sie vermutet hatte, um keinen Höflichkeitsbesuch handelte. Wieder staunte sie über Dubhes jugendliches Aussehen. Gewiss, auch ihre, wie damals zu Mädchenzeiten zu einem schlichten Pferdeschwanz gebundenen Haare waren ergraut, Hände und Hals faltig. Doch ihr Körper war immer noch flink und kräftig dank der Übungen, die sie, wie Theana wusste, weiter tagtäglich verrichtete. Dubhes Haut wirkte noch frisch, ihre Bewegungen waren elegant und geschmeidig, ihre Beine muskulös und wohlgeformt. Und selbst ihre Augen waren nach wie vor jene dunklen Schächte voller Leben und Unruhe, die sie kannte. Sie beide waren fast gleichaltrig, doch neben der Freundin kam sich Theana beinahe wie eine Greisin vor.
»Du verzeihst, dass ich nicht niederknie. Aber meine Gelenke sind nicht mehr so beweglich wie deine und bereiten mir häufig Verdruss«, erklärte sie mit einem Lächeln.
Dubhe winkte ab, während sie Platz nahm. »Du weißt, die Etikette hat mir noch nie etwas bedeutet.«
Es entstand ein kurzes, versunkenes Schweigen, bis die Königin begann, ein paar höfliche Fragen zu stellen, wie es Theana gehe, ob sie sich nicht überarbeite, wie es mit den Angelegenheiten der Ordensgemeinschaft vorangehe … Geplauder, das nur einen Sinn hatte: den Moment hinauszuzögern, da sie zur Sache kommen musste.
»Was führt dich her?«, machte Theana es ihr leichter.
Dubhe lächelte. »Kann ich nicht einfach Lust haben, eine alte Freundin wiederzusehen?«
Theana musterte sie mit vielsagendem Blick. »Schon. Aber nicht an diesem Ort, den du eigentlich meidest wie die Pest.«
»Du hast Recht. Für mich ist der Himmel tatsächlich immer leer geblieben.« Dubhe lächelte, ein ehrliches, aufrich – tiges Lächeln, wie sie es sich nur bei Personen gestattete, an denen ihr wirklich lag. »Und zudem lassen sich wohl manche schrecklichen Erinnerungen nie ganz vergessen. Dieser Tempel hier strömt für mich immer noch den Gestank der Sekte aus.« Sofort wurde ihr klar, dass ihre Worte Theana kränken mussten, und sie versuchte, sich klarer auszudrücken. »Ich will nicht wieder unterstellen, der wahre Thenaar-Kult habe etwas mit den Hirngespinsten jener Wahnsinnigen von damals zu tun. Aber nach allem, was mir die Gilde angetan hat, ist es wohl verständlich, dass mir persönlich der Glaube fehlt.«
Mühevoll richtete sich Theana in ihrem Sessel auf. »Du musst mir nichts erklären. Ich kenne und verstehe dich. Es ist eben ein schlimmes Erbe, das uns die Sekte da hinterlassen hat: Obwohl so viele Jahre vergangen sind und trotz all der Arbeit, die ich geleistet habe, hat der Name Thenaar für manche immer noch einen abschreckenden Klang. Die Gilde der Assassinen hat vielen den Glauben genommen.«
Einen Moment lang starrte Theana gedankenverloren vor sich hin.
»Aber wie auch immer«, brachte Dubhe sie in die Wirklichkeit zurück, »du hast Recht: Für mein Kommen gibt es einen konkreten Anlass.«
Theana blickte sie aufmerksam an.
Bemüht sachlich, berichtete die Königin nun von den Vorfällen, über die sie ihr Agent in Kenntnis gesetzt hatte, und ihrer anschließenden Unterredung mit dem Königssohn.
Theanas Miene wurde immer besorgter, während ihr eine unterschwellige Angst die Eingeweide zusammenzog. Schließlich nahm sie den Zettel zur Hand, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag, und reichte ihn der Freundin. »Schau dir das mal an. Ich habe es gerade gelesen, als mir dein Besuch angekündigt wurde.«
Während Dubhe las, traten die Falten auf ihrer Stirn noch deutlicher hervor. Denn was dort auf dem Zettel stand, passte auf erschreckende Weise zu dem, was sie Theana gerade berichtet hatte.
Von Damyre, Bruder des Blitzes. Land des Wassers.
Fünfundzwanzigster Tag des ersten Sommermonats.
 
Zwei junge Leute untersucht mit dem Verdacht einer Ansteckung mit einer unbekannten Krankheit. Sie erzählen, in einem Dorf in unserem Land des Wassers, Crysio mit Namen, hätten sie alle Bewohner tot vorgefunden, hingerafft von einer seltsamen Krankheit, die sich mit hohem Fieber, Umnachtung, heftigen Blutungen und schwarzen Flecken am ganzen Körper äußert. Wie ich feststellte, waren die beiden gesund. Halte aber weitere Nachforschungen für dringend erforderlich.
 
Zum Ruhm Thenaars.
»Hattest du davon gehört?«, fragte Theana.
Dubhe brauchte einen Moment, bis sie antwortete: »Nein, zumindest nicht von diesem speziellen Fall …«
»Glaubst du, das könnte mit einem Wiederaufflammen des Konfliktes zwischen Nymphen und Menschen in Zusammenhang stehen?«
»Für einen solchen Schluss fehlen mir noch klarere Indizien. Aber natürlich ist das möglich. Auf alle Fälle bist du sicher meiner Meinung, dass wir der Sache auf den Grund gehen müssen. Da bahnt sich etwas an, etwas Beunruhigendes, Dramatisches …«
Ein beredtes Schweigen machte sich im Raum breit.
»Ich müsste mir die Leichen ansehen.«
Dubhe lächelte. »Um dich darum zu bitten, bin ich gekommen. Aber du musst dich nicht selbst dorthin bemühen. Es reicht, wenn du einen kundigen Priester aussendest. Ja, ich würde dir sogar dazu raten.«
Theana nickte schwach, während sie mit angespannter Miene nervös mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herumtrommelte.
»Du wirkst sehr besorgt«, bemerkte Dubhe.
Theana beschränkte sich darauf, sie anzuschauen, denn sie war sich nicht schlüssig, was sie antworten sollte. Es waren ein Gefühl sowie eine Erinnerung, die Erinnerung an eine Entscheidung, die sie viele Jahre zuvor gefällt hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Nicht über die Maßen. Nur ein wenig. Und du wirst sehen, dass nichts Dramatisches dahintersteckt.«
»Hoffentlich hast du Recht. Aber auf alle Fälle möchte ich wissen, mit was für einer Krankheit wir es hier zu tun haben. Ich habe schon meine Leute in Marsch gesetzt. Sie sollen herausfinden, wo sich diese Dorfbewohner angesteckt haben könnten, und ich hoffe, dir bald schon Genaueres berichten zu können. Aber denk auch daran, deinen Priestern einzuschärfen, die nötigen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.«
Theana nickte. Tatsächlich war sie sehr viel besorgter, als sie zeigen wollte.
Dubhe machte Anstalten, sich zu erheben. »Es ist immer eine Freude, dich wiederzusehen«, sagte sie, und die Freundin musste lächeln über diese steifen, förmlichen Worte. Die langen glücklichen Jahre an Learcos Seite hatten Dubhe nicht lockerer gemacht, und immer noch geriet sie in Verlegenheit, wenn es darum ging, anderen ihre Zuneigung zu zeigen. »Komm mich doch bei Gelegenheit mal im Palast besuchen. Immer nur hier drinnen zu sitzen, umgeben von Weihrauch und Bedürftigen, bekommt dir wahrscheinlich auch nicht.«
Theana breitete ergeben die Arme aus. »Das ist eben mein Leben. Aber sicher, wenn es meine Zeit zulässt, komme ich gern.«
Mit einem angedeuteten Kopfnicken verabschiedete sich die Königin und wandte sich zur Tür.
Als Theana wieder allein war, versuchte sie, sich selbst zu überzeugen, dass nichts Ernstes hinter der Sache steckte und ihre Priester ihr bald berichten würden, dass es sich doch nur um Fälle von Rotem Fieber gehandelt hatte. Und dennoch ging ihr ständig das Streitgespräch im Kopf herum, das sie Jahre zuvor, in der schwierigsten Phase der Ordensgemeinschaft, zu führen gehabt hatte.
 
»Was hier droht, ist das Ende aller Zeit. Das Ende des ewigen Kreislaufs, der die Aufgetauchte Welt regiert. Ein alles erfassender, alles entscheidender Krieg! So wie damals zu Asters Zeiten!«
Es ist ein junger Priester der Ordensgemeinschaft, der so auf sie einredet. Der Jüngling ist außer sich, aufgewühlt von dem Buch, das er gerade entdeckt hat: eine Schrift elfischer Herkunft, die ihre Lesart der Geschichte der Aufgetauchten Welt vollkommen auf den Kopf stellen könnte. Ein großes, entsetzliches Werk.
Sie und dieser junge Bruder, Dakara mit Namen, sind allein in dem Raum.
»Versuch doch, dich zu beruhigen.«
»Ihr scheint das nicht zu verstehen! Dabei wissen wir doch alle, was geschah, als der letzte Zerstörer in die Aufgetauchte Welt kam. Und das wird wieder geschehen. Aber diesmal müssen wir darauf vorbereitet sein.«
»Was du da vorschlägst, würde bedeuten, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen, mit Gewalt einen Kreislauf durchbrechen zu wollen, den wir niemals beherrschen können. Du hast es ja selbst gesagt: Seit ewigen Zeiten dreht sich das Rad der Geschichte in der Aufgetauchten Welt auf diese Weise. Zerstörer und Geweihte wechseln einander ab, in einem ewigen Kreislauf, den die Völker der Aufgetauchten Welt noch immer überlebt haben, ganz gleich, wer nun gerade in der jeweiligen Auseinandersetzung den Sieg davontrug. Das ist das Grundprinzip unserer Welt, und dem müssen wir uns beugen. Nichts ist ewig.«
»Damit wollt Ihr also sagen, dass wir die Zerstörung tatenlos über uns ergehen lassen sollen?«
»Nein, ganz und gar nicht. Wir müssen kämpfen, wenn die Zeit dazu gekommen ist, und das werden wir auch tun, so wie immer. Das ist unsere Rolle.«
»Aber damit sind wir nicht mehr als Marionetten, deren Fäden die Götter ziehen. Ja, glaubt Ihr denn wirklich, Thenaar habe uns dazu erschaffen, um wie willenlose Puppen in einem Stück zu spielen, das er für uns geschrieben hat?«
Theana schüttelt den Kopf. »So ist die Welt eingerichtet. Manche Gegebenheiten kann man nicht ändern und muss sie einfach hinnehmen. Dieses Wechselspiel, das du auch erkannt hast, gehört dazu. Wir können, ja, wir dürfen in diesen Zyklus nicht eingreifen. Das bedeutet nicht, dass wir uns willenlos in ein Schicksal ergeben. Nein, es bedeutet, zu handeln und auf angemessene Art und Weise auf das Unvermeidliche zu reagieren.«
Doch Dakara lässt sich nicht umstimmen, beharrt auf seiner Überzeugung und entwirft das Szenario einer Wiederkehr des Zerstörers. »Denn wiederkehren wird er, die Schriften der Elfen sprechen eine klare Sprache! Und dann wird Krieg herrschen, Tod und Vernichtung. Und eine Seuche wird kommen.«
 
Seuche.
Du fantasierst. Bis jetzt kann es sich durchaus auch um Fälle von Rotem Fieber handeln.
Doch seit sich Dakara von der Ordensgemeinschaft des Blitzes abgewandt hatte, ließ der Gedanke, vielleicht doch falsch gehandelt zu haben, Theana nicht mehr los. Vielleicht hatte Dakara ja Recht, vielleicht war es tatsächlich geboten, der Wiederkehr des Zerstörers zuvorzukommen. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass die Überzeugungen des jungen Bruders entsetzliche Folgen gezeitigt hatten, weil er mit der Rechtfertigung, die Aufgetauchte Welt vor dem sonst unvermeidlichen Untergang retten zu wollen, selbst Gräueltaten verübt hatte. Aber das hielt sie nicht davon ab, auch zu zweifeln, Dinge infrage zu stellen. Dies war ihr Weg, ihrem Glauben treu zu sein.
Und wenn diese Toten im Land des Wassers tatsächlich Vorboten des Untergangs sind, des Endes aller Zeiten?
Die Feuerkämpferin 01 - Im Bann der Wächter
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