12
Anzeichen eines neuen Lebens
Seltsam aufgewühlt fühlte sich Amhal, als er erwachte. Er hatte nur wenig und schlecht geschlafen. Vielleicht wegen der Hitze. Aber da war noch etwas anderes. Eine innere gen der Hitze. Aber da war noch etwas anderes. Eine innere Unruhe hatte ihn befallen, und es dauerte eine Weile, bis er sich erinnerte.
Undeutlich, langsam dämmerte die Vision in seinem Geist herauf. Als Erstes das Bild dieses ganz in Schwarz gekleideten Mannes, das zwiespältige Gefühle in ihm wachrief, Eiseskälte, aber auch Sicherheit. Er fürchtete diesen Mann, fühlte sich gleichzeitig aber auch zu ihm hingezogen.
Ruckartig richtete er sich im Bett auf. Er wollte diesen Gefühlswirrwarr abschütteln, was ihm am besten gelang, wenn er tätig wurde. Rasch zog er sich an und bereitete sich auf die Aufgabe vor, die ihn an diesem Tag erwartete.
Als Mira anklopfte, war er schon fertig, hatte sich so zurechtgemacht, wie dieser ihm geraten hatte. »Sehr gut, jetzt erkennt niemand mehr den angehenden Drachenritter in dir«, lobte ihn sein Meister lächelnd.
Amhal erwiderte das Lächeln. »Sehe ich so schlimm aus?«
Als sie zu Adhara ins Zimmer traten, saß diese auf dem Bett und wartete bereits auf sie. Mira bestand darauf, dass sie ihr Gesicht unkenntlich machte. »So fällst du zu sehr auf«, erklärte er, »das könnte Probleme geben.« Er wandte sich an Amhal. »Warum hilfst du ihr nicht dabei?«
Sein Schüler tat so, als verstehe er die Bemerkung nicht.
Mira blickte ihn eindringlich an. »Deine Abneigung gegen die Magie verwundert mich immer mehr. Ich habe dir schon so oft gesagt, sie ist ein Gut, das du nutzen solltest, anstatt es zu verleugnen.«
Amhal errötete leicht, trat dann aber zu Adhara, legte ihr eine Hand auf die Augen und murmelte einige Worte. Augenblicklich färbten sich ihre Haare einheitlich rabenschwarz, und ihre Augen erstrahlten in einem kräftigen Himmelblau.
»Ein Tarnzauber …«, murmelte das Mädchen, mehr zu sich selbst.
»Was sagst du?«
Adhara schrak auf. »Ach … der Zauber, den du da gesprochen hast … den kenne ich … Keine Ahnung, woher. Aber ich weiß sogar, dass er nur wenige Stunden vorhalten wird.«
Auch Mira staunte nicht schlecht. »Du steckst wirklich voller Überraschungen.«
Fast alarmiert blickte Adhara ihn an, und Amhal fragte sich so ernsthaft wie nie zuvor, was das bloß für ein Mädchen war, das ihm das Schicksal da in die Arme getrieben hatte.
»Bei unseren Nachforschungen in der Bibliothek sollten wir deine Kenntnisse in der Magie mit berücksichtigen«, erklärte der Meister, während sie das Zimmer verließen, und fügte dann, sich an Amhal wendend, hinzu: »Geh du jetzt deiner Wege. Heute Abend berichtest du mir, was du herausgefunden hast.«
Sein Schüler nickte zustimmend und tauchte draußen auf der Straße sogleich in die Menge ein. Er hoffte, dieser Auftrag werde ihn ablenken und diese Unruhe vertreiben, die ihn erfasst hatte und die Adharas rätselhafte Kenntnisse noch verstärkt hatten.
 
In den Straßen Neu-Enawars drängten sich die Leute, vor allem Soldaten und Offiziere. Mira erklärte Adhara, dass sich die Stadt nur während der Sitzungsperiode des Gemeinsamen Rates so lebendig zeigte, wenn die Regenten aller Länder mit ihrem Gefolge in der Hauptstadt weilten. Dann gab sich Neu-Enawar so wie jede andere Großstadt der Aufgetauchten Welt, schien wirklich bewohnt zu sein, erfüllt vom hektischen Trubel des Lebens.
»Wenn die Besucher danach wieder heimkehren, leert sich die Stadt. Die Straßen wirken ausgestorben, man sieht keine Passanten mehr, nur Staub, schwarzen Staub, überall.«
Mira fuhr mit der Fingerspitze über ein Mäuerchen und hielt sie dann Adhara vor die Nase: Unzählige winzige schwarze Splitter klebten daran.
»Für mich steht fest: Diesen Ort hätte man belassen sollen, wie er war, als eine Art Gedenkstätte, eine trostlose Einöde, die auf ewig an den Wahnsinn des Tyrannen, den Wahnsinn der Aufgetauchten Welt gemahnte. Stattdessen hat man versucht, die Vergangenheit zu verdrängen und unter einer künstlich angelegten Stadt den Schauplatz einer entsetzlichen Tragödie zu begraben. Doch die Erinnerungen kehren zurück und beanspruchen ihren Platz in der Gegenwart, und der schwarze Staub weht vom Wald bis hierher und überzieht die ganze Stadt.«
Adhara blickte sich um und stellte fest, dass dieser Staub tatsächlich überall war. Sie fragte sich, wie dieser Ort wohl früher ausgesehen haben mochte, als er noch eine Art Mausoleum, das Grabmal einer dem Erdboden gleichgemachten Stadt war. Doch es gelang ihr nicht, eine Vorstellung zu entwickeln, die über das, was sie vor sich hatte, hinausging: klobige Gebäude, breite, baumbestandene Straßen, die kleinliche Ordnung einer künstlichen Stadt.
Viertel auf Viertel durchquerten sie, immer entlang breiter, gerader Straßen. Adhara kannte sich mit Städten zwar nicht aus – ihre Kenntnisse beschränkten sich auf Salazar und Laodamea -, doch spürte auch sie etwas Gewolltes, Unnatürliches. Das kam vor allem dadurch zum Ausdruck, dass jedes Viertel einen eigenen architektonischen Stil besaß: Es war schon bizarr, wie etwa ein Stadtteil, in dem sich nur hohe Gebäude in Kastenform aneinanderreihten, plötzlich von Straßenzügen mit Häuschen aus Holz und Stroh abgelöst wurde, Steinhäuser von marmornen Palästen. Und dazu diese Atmosphäre aufgesetzter Fröhlichkeit, die alles einzulullen schien.
Amhal hat Recht, hier fehlt die Geschichte.
Und sie musste an ihre eigene Geschichte denken, ihr verödetes Gedächtnis, ihre Herkunft aus dem Nichts, das sie geboren hatte. Auch eine Art unnatürliches Leben, ein künstlich geschaffenes Geschöpf, nichts anderes war sie.
»Erinnerst du dich wirklich an gar nichts?«, fragt Mira plötzlich, so als habe er ihre Gedanken erraten.
Adhara schüttelte den Kopf. »Die Wiese, auf der ich lag, ist meine erste Erinnerung. Hin und wieder treten einzelne Bruchstücke von Erfahrungen oder Fähigkeiten, von denen ich nichts wusste, zutage, aber echte Erinnerungen sind das nicht. Selbst meinen Namen, Adhara, hat Amhal mir gegeben.«
Mira lächelte. »Wie findest du ihn eigentlich?«
Diese Frage kam sehr unvermittelt, und sie fühlte sich überrumpelt. »Er ist mein Retter«, antwortete sie und spürte dabei, dass diese einfache Erklärung nicht annähernd den ganzen Reichtum der Gefühle ausdrückte, die sie für ihn empfand.
»Interessant, dass du das sagst. Wenn man bedenkt, wie lange Amhal nach etwas gesucht hat, das ihn selbst retten kann … Und manchmal denke ich, er hat es immer noch nicht gefunden.«
Das spüre sie auch, lag es Adhara auf der Zunge, aber es kam ihr fast wie ein Frevel vor, mit einem Mann über Amhal zu reden, der ihn so viel besser kannte als sie selbst.
Was weißt du schon von ihm? Nur weil du einige Tage mit ihm gereist bist, willst du dir anmaßen, ihn beurteilen zu können?
»Ich glaube an ihn«, fügte Mira, wie in eigene Gedanken vertieft, hinzu. »Ich habe immer an ihn geglaubt und möchte ihm gern Halt und Stütze sein. Dabei weiß ich, dass mir das nicht immer gelingt. Er hat ein gutes Herz. Das hast du sicher schon bemerkt.«
»Ja, ganz gewiss hat er das«, antwortete Adhara, bemüht, ihre Stimme sehr sicher klingen zu lassen.
Als sie um eine Ecke bogen, tauchte plötzlich die Bibliothek vor ihnen auf, ein mächtiges, hohes Bauwerk, das zu allen Seiten von anderen, niedrigeren Gebäuden eng umschlossen war. Vielleicht wirkte es gerade dadurch besonders hoch und beeindruckend. Wie Adhara jetzt erstaunt feststellte, handelte es sich bei dem Bibliotheksgebäude um den mit Fialen und Türmchen besetzten Glaspalast, den sie beim Anflug gesehen hatten. Er bestand tatsächlich ganz aus Glas, das aber leicht getönt war, so dass man kaum hineinsehen konnte. Sie erkannte lediglich schemenhafte Gestalten, winzige Farbtupfer, die sich hin und her, hinauf und hinunter bewegten oder auch nur ruhig dastanden und irgendetwas betrachteten. Nur durch einige ovale Fenster mit hellen Scheiben, die sich in Reihen angeordnet rings um das Gebäude öffneten, konnte das Licht ungefiltert einfallen.
Adhara ließ den Blick an dem Glaspalast hinaufwandern und staunte über diese Geschlossenheit bei gleichzeitig schwindelerregender Höhe, das geordnete Geflecht der Fialen, die sich spiralförmig dem Himmel entgegenwanden.
»Schön, nicht wahr? Das Bauwerk ist ein Geschenk der Bewohner Zalenias«, erklärte Mira. Adhara reagierte nicht. »Ach ja, das weißt du natürlich nicht …«, und er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, »Zalenia ist ein anderer Name für die Untergetauchte Welt. Dort leben die Leute auf dem Meeresgrund in so gläsernen Amphoren. Sie haben eine große Kunstfertigkeit im Bauen mit Glas entwickelt. Auch der Palast ihres Königs ist in diesem Stil errichtet. Lange Zeit waren wir miteinander verfeindet, und jetzt schenken sie uns schon solche Paläste. Das ist doch ein gutes Zeichen.«
Er kicherte, während Adhara weiter nur bewundernd dastand. Sie konnte sich von dem Anblick einfach nicht losreißen.
Mira musste sie mit einer Hand auf ihrem Rücken sanft anschieben. »Komm, lass uns hineingehen. Ich kann dir versichern, drinnen sieht es sogar noch fantastischer aus«, erklärte er belustigt.
Ein riesengroßes Portal, das wie eine Schnittwunde in einem überdimensionalen Körper wirkte, nahm sie auf, und schon waren sie drinnen.
 
Die Bibliothek war ein einziges Geflecht aus Gängen, Treppen und weiten, zu allen Seiten offenen Räumen, die mit Tischen und Stühlen ausgestattet waren. Die Bücher standen in turmhohen Regalen aus Ebenholz, das mit seiner dunklen Tönung einen auffallenden Gegensatz zu dem lichtdurchdrungenen Ganzen bildete. Geschützt wurden sie durch Glasscheiben, zuweilen auch durch Gitter, und waren größtenteils nicht frei zugänglich. Um sie lesen zu können, musste man sich an einen der zahlreichen Bibliothekare wenden, die für die verschiedenen Bereiche zuständig waren. Der nahm dann die gewünschten Werke heraus und gab Auskunft, wie lange man sie behalten durfte. Der Angestellte, den Mira und Adhara angesprochen hatten, kam ihr wie von seiner Arbeit verbraucht vor. Durch den jahrelangen Umgang mit den Büchern schien er deren pergamentene Farbe angenommen zu haben, und seine dürren, zerbrechlich wirkenden Finger sahen so aus, als seien sie nur noch dazu imstande, ganz behutsam von der Zeit vergilbte Seiten umzublättern.
»Fast alles, was du hier siehst, ist der rastlosen Tätigkeit eines einzigen Mannes zu verdanken: Lonerin, eine hier schon fast legendäre Gestalt«, erklärte ihr der Drachenritter, während sie die Bände, die sie durchsehen wollten, an sich nahmen. »Schon bei Dohors Sturz spielte er eine bedeutende Rolle. Und später machte er es sich dann zur Aufgabe, Bücher zu sammeln, vor allem elfische Texte und Schriften von der Hand des Tyrannen, und sie hier zusammenzutragen. Zu traurig, dass er viel zu früh schon aus dieser Arbeit gerissen wurde.«
»Was ist denn passiert?«
»Er starb an einer unheilbaren Krankheit, vor vielleicht fünfzehn Jahren, ohne Chance, sich aus den Fängen des Todes zu befreien. Seine Frau hat sich bemüht, sein Lebenswerk fortzusetzen, doch sie wird zu sehr von ihrer eigentlichen Berufung, der Religion, in Anspruch genommen. Sie ist die Hohepriesterin der Ordensgemeinschaft des Blitzes.« Mira hielt einen Moment inne, als ihm klarwurde, dass Adhara dieser in der Aufgetauchten Welt so geläufige Name nichts sagen konnte. »Das ist die Religionsgemeinschaft, die zurzeit den größten Zulauf erfährt. Die Gläubigen verehren einen Gott namens Thenaar.«
Adhara lief ein Schauer über den Rücken. Dieser Name rührte an etwas in ihrem Inneren, weckte ein Gefühl der Wärme oder vielleicht auch eine Erinnerung. »Shevrar …«, murmelte sie.
Mira fuhr herum. »Was hast du gesagt?«
Adhara blickte ihn entgeistert an. »Ich weiß nicht, ein Name … ein Name, der mir plötzlich in den Sinn kam. Vielleicht mein eigener …«, murmelte sie mit einem Anflug von Hoffnung.
»Shevrar ist der alte elfische Name des Gottes Thenaar.«
Doch dieser Geistesblitz blieb der einzige. Er war wie ein in der Finsternis entzündetes Flämmchen, das nur einen eng begrenzten Raum erhellte.
Mira hatte sich einen Berg verschiedenster Wälzer heraussuchen lassen. Auflistungen von Wappensymbolen, Bände historischen und religiösen Inhalts, Werke zur Waffenkunde. Einige Male mussten sie hin- und herlaufen, um alles auf einem Tisch aufzustapeln.
»Wollt Ihr denn wirklich meiner Sache so viel Zeit widmen?«, fragte Adhara, als sie Platz genommen hatten.
»Warum nicht? Ich bin heute nicht zum Dienst eingeteilt.«
»Jedenfalls seid Ihr sehr freundlich zu mir.«
»Vielleicht tue ich es mehr für meinen Schüler als für dich. Ich habe den Eindruck, dass du ihm guttust. Und die Götter wissen, wie sehr er das brauchen kann.«
Adhara spürte, wie sie rot anlief. Wie schön wäre es, Amhal wirklich irgendwie nützlich sein zu können.
»Die sind für dich«, riss Mira sie aus ihren Gedanken, indem er ihr einen Stapel Bücher hinschob, »und die hier schaue ich durch.«
Adhara nahm ein Buch zur Hand, und der Staub, den sie dabei aufwirbelte, kitzelte ihr in der Nase. »Wonach soll ich eigentlich suchen?«, fragte sie, ein Niesen unterdrückend.
»Schau mal, ob du etwas zu deinem Dolch finden kannst. Ich bin überzeugt, das ist keine beliebige Waffe, sondern weist auf eine bestimmte Sippe oder irgendeine bewaffnete Gemeinschaft hin. Irgend so etwas in der Art. Lies also nicht alles, nur das, was in dieser Hinsicht von Belang sein könnte. Wir haben nur heute. Morgen geht’s ja schon auf die Reise.«
Adhara schlug das Buch vor ihr auf, die Schrift war winzig, aber davon wollte sie sich nicht abschrecken lassen. Sie atmete einmal tief durch und machte sich an die Arbeit.
 
Es war anstrengend. Nach einer Weile begannen die Buchstaben vor ihren Augen zu tanzen, und ihr Kopf wurde immer schwerer. Daten, Zahlen, unterschiedliche Handschriften, mal klein und ordentlich, mal fast unleserlich, darüber hinaus Zeichnungen, Notizen, Skizzen … Adhara drohte in all diesen schwarzen Zeichen zu versinken. Mira hingegen saß mit unbeweglicher Miene, ganz in die Lektüre vertieft da und ließ keinerlei Ermüdung erkennen.
Die ganze Arbeit ist ja nur für mich. Ich darf nicht schlappmachen.
Das Licht, das durch die Fenster und Glaswände einfiel, hatte schon verschiedene Farbtönungen durchlaufen, und Adharas müde Augen brannten, als Mira plötzlich rief. »Komm mal her!«
Sie hob den Kopf, stand auf und schaute über Miras Schultern auf das geöffnet vor ihm liegende Buch. Einen Moment lang dauerte es, bis sich ihre Augen eingestellt hatten und sie das Bild klar erkennen konnte.
Sie schrak auf: »Das ist ja mein Dolch!«
»Ganz genau«, antwortete Mira gelassen.
»Und was steht dazu da?«
»Nun, dass solche Dolche bei den Initiationsriten einer bestimmten Sekte Verwendung finden sollen. Bei den sogenannten ›Erweckten‹ …«
Adhara spürte, wie ihr Herz heftig pochte. Sagte ihr der Name etwas? Erinnerte sie sich an ihn?
»Leider steht hier nicht mehr dazu.« Mira blickte zu ihr auf. »Lass die ganzen Bücher liegen, die brauchen wir nicht mehr. Jetzt müssen wir etwas zu diesen Erweckten finden.«
Er stand auf und wandte sich noch einmal an den Bibliothekar, mit dem er eine Weile tuschelte.
Adhara blieb allein am Tisch zurück, auf dem aufgeschlagen das Buch mit der Zeichnung des Dolches lag. Sie betrachtete das Bild eine Weile und las noch einmal die Erklärung darunter. Da stand nicht mehr, als Mira ihr schon gesagt hatte. Keinerlei Erläuterung zu der Sekte.
Erweckte … Erweckte …
»Ich werde dich holen kommen.«
Sie erstarrte. Plötzlich waren ihr diese Worte in den Kopf geschossen, klar und deutlich, und füllten ihn nun langsam aus. Ein Gefühl entsetzlichsten Leids überkam sie.
Es war finster. Und sie war allein.
Der Knall, mit dem Mira die neuen Bücher auf der Tischplatte ablegte, riss sie aus der Erstarrung. »Was hast du?«, fragte er.
Adhara blickte ihn bestürzt an. »Eine Art Erinnerung … ganz seltsam … eine Stimme, die sagte, dass sie mich holen kommt …«
»Vielleicht fällt dir gleich noch mehr ein. Komm, machen wir weiter.« Mira nahm Platz. »Hier, schau die mal durch«, forderte er sie auf, wobei er ihr einige Bücher hinüberschob, »aber verzettele dich nicht, such nur nach Hinweisen auf diese Erweckten.«
Und Adhara machte sich an die Arbeit.
 
Man musste sie regelrecht vertreiben.
»Die Bibliothek wird jetzt geschlossen.«
Mira las gerade die letzten Zeilen seines letzten Buches, während Adhara noch einige Bände vor sich liegen hatte.
»Tut mir leid, aber ihr müsst jetzt wirklich gehen«, drängte der Bibliothekar.
Widerwillig machten sie sich auf den Weg hinaus. Adharas Kopf dröhnte vom langen Lesen.
Im Speisesaal des Heerespalastes trafen sie Amhal. Er war ebenfalls erschöpft.
»Was gefunden?«
»Nichts, Meister, überhaupt nichts. Ich habe getan, was Ihr mir aufgetragen habt, und mich bemüht, unauffällig vorzugehen. Aber niemand konnte mir irgendetwas sagen. Weder von entlaufenen Sklaven noch von irgendwelchen Entführungen will man hier gehört haben. Und bei euch?«
Mira streckte sich und erzählte dann vom Ausgang ihrer Nachforschungen.
Amhal schien neuen Mut zu fassen. »Das hört sich doch sehr vielversprechend an.«
Und von seiner Begeisterung ließ sich auch Adhara anstecken. Sie war zu erschöpft gewesen, um sich klarzumachen, dass sie wahrscheinlich ein wichtiges neues Mosaiksteinchen ihrer Vergangenheit gefunden hatten.
»Jedenfalls kann das ein brauchbarer Ausgangspunkt sein«, bemerkte Mira. »Die Frage ist jetzt: Wieso besitzt sie diesen Dolch? War sie selbst solch eine ›Erweckte‹, was immer das genau bedeuten mag? Oder wurde sie von denen entführt?«
»Wir müssen einfach weitersuchen«, sagte Amhal.
Mira warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Morgen machen wir uns auf die Heimreise.«
Dieser knappe Satz ließ die Unterhaltung verstummen.
»Aber … wir können doch nicht alles hinwerfen«, stöhnte Amhal, »jetzt, wo wir schon einen wichtigen Schritt vorangekommen sind.«
»Du hast Recht. Sie soll auch nicht alles hinwerfen. Aber wir haben unsere Verpflichtungen.«
Niedergeschlagen ließ Adhara den Blick zwischen den beiden Männern hin- und herwandern. Während des gemeinsam verbrachten Tages hatte sie Mira eigentlich schätzen gelernt. Aber was sollte das jetzt sein? Ein grausames Spiel?
»Wieso haben wir ihr dann überhaupt geholfen?«, rief Amhal.
»Weil es uns möglich war. Aber jetzt warten Pflichten auf uns, die wir nicht vernachlässigen dürfen.«
Amhal ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken. Ihm waren die Argumente ausgegangen.
»Du hast ja jetzt gesehen, wie du vorgehen musst«, wandte sich Mira an Adhara. »Wenn du morgen wieder in die Bibliothek gehst, suchst du einfach in den Büchern weiter, die wir heute noch nicht durchsehen konnten.«
Sie blickte ihn entgeistert an. Sie sollte allein in dieser Stadt zurückbleiben? Wo sollte sie unterkommen? Woher das Geld nehmen, das sie zum Leben brauchte?
»Dann ist also alles zu Ende«, murmelte sie.
Amhal wollte etwas erwidern, doch Mira kam ihm zuvor. »Das ist nicht wahr.«
Adhara biss sich auf die Lippen. »Doch. Es ist jetzt schon lange her, dass ich auf dieser Wiese erwacht bin, aber seitdem hat sich meine Lage eigentlich keinen Deut verbessert. Mir ist wieder eingefallen, was ein Löffel ist und wie man ihn benutzt, konnte mich erinnern, wie man ein Schloss aufbricht und dass Thenaars elfischer Name Shevrar ist. Aber von mir selbst weiß ich immer noch nichts, erkenne nicht mein Gesicht, habe keine Ahnung, wer ich bin. Und nun, da ich den ersten Hoffnungsschimmer am Horizont erkennen kann, eine Spur …«
Sie ließ den Löffel in den Teller fallen.
»Mich gibt es gar nicht«, stöhnte sie, »ich bin ein Niemand. Um aber leben zu können, muss ich wissen, wer ich bin.«
Mira nahm ihren Ausbruch gleichmütig hin: »Wir haben unser Möglichstes getan.«
Diese klaren Worte sowie die Wahrheit, die sie bargen, beschämten sie. Dennoch spürte sie, dass niemand sie wirklich verstand, dass niemand ermessen konnte, wie dramatisch ihre Lage war.
»Ich sage ja gerade nicht, dass du aufgeben sollst. Aber du musst jetzt deinen eigenen Weg finden. Amhal und ich, wir haben ein Leben, dem wir uns widmen müssen. Genau das brauchst du auch. Gewiss, auch die Vergangenheit ist wichtig, doch am allerwichtigsten ist es, sich ein Leben in der Gegenwart aufzubauen. Damit solltest du jetzt anfangen. Wir müssen fort, aber du kannst frei entscheiden, was du tun willst: Du kannst dich nach einer Arbeit umsehen und gleichzeitig weitersuchen. Es ist an der Zeit für dich, aus der Sackgasse herauszufinden, in die du geraten bist. Du existierst nur deshalb nicht, weil du dir noch keine neue Identität geschaffen hast.«
Adhara starrte auf ihren Teller. Wie sollte man etwas aufbauen, wenn um einen herum nichts als Trümmer waren?
Den Rest der Mahlzeit verzehrten sie in einem abweisenden Schweigen.
 
Amhal fand keinen Schlaf. Zum Teil war es der unangenehme Nachhall des beunruhigenden Traumes in der Nacht zuvor, der ihn wach hielt, teils auch die Erregung vor dem Aufbruch am nächsten Tag …
Doch der eigentliche Kern seiner inneren Anspannung war Adhara. Morgen würden sie sich Lebewohl sagen. Ein seltsames Gefühl … Sie hatten so viel zusammen erlebt in den Tagen ihrer gemeinsamen Reise, und sie war … Ja, wie war sie? Frisch. Unverfälscht. Rein. Aber vor allem brauchte sie ihn.
Er stand auf, stieg hastig in seine Hose und verließ das Zimmer. Vor ihrer Tür zauderte er einen Moment. Dann klopfte er an.
Sie öffnete auf der Stelle, die Augen rot, die Haare zerzaust, und bei diesem Anblick fühlte sich Amhal überflutet von einer großen Zärtlichkeit. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, aber die Furcht, sich eine Blöße zu geben, hielt ihn davon ab.
»Darf ich?«
Statt einer Antwort trat sie zur Seite.
 
»Er meint es nicht böse. Was er sagt, hat immer einen Sinn, verstehst du? Auch wenn es grob wirkt, er will dir helfen. Bei mir verhält er sich ebenso.«
Adhara hatte sich auf das Bett gesetzt, rieb sich die Hände und hob jetzt den Kopf. »Er bedeutet dir wohl wirklich sehr viel …«
»Er ist wie ein Vater für mich«, bestätigte Amhal stolz. Da überkam ihn wieder das Bild von Adhara, wie er sie am Abend zuvor, mit seinem Meister am Springbrunnen sitzend, vor sich gesehen hatte. »Er möchte nur, dass du deinen eigenen Weg findest.«
Ein Anflug von Zorn blitzte in Adharas Augen auf, in diesen unvergleichlichen Augen mit ihren verschiedenen Farben. »Was soll ich denn machen? Ohne Geld, ohne etwas gelernt zu haben, stehe ich da, in eine mir ganz und gar unbekannte Welt hineingeworfen, und er sagt nur: ›Sieh zu, wie du allein zurechtkommst.‹ Da frage ich mich doch: Was habe ich denn anderes gemacht, in diesem Wald oder in Salazar …? Aber allein kann ich nicht mehr weiter!«
»Dann komm eben mit uns.« Unwillkürlich war ihm der Satz herausgerutscht und ließ sie jetzt beide verstummen.
Sie blickte ihn aus großen Augen an.
»Auch in Makrat gibt es Bibliotheken, nicht so groß wie diese hier, aber sie können sich sehen lassen. Selbst die des Prinzen, im königlichen Palast, ist sehr gut ausgestattet. Und am Hof könntest du vielleicht sogar Arbeit finden.«
Einige Augenblicke schwieg sie noch.
»Ist das dein Ernst?«, flüsterte sie dann.
Amhal nickte überzeugt. »Für dich wird der Ort genauso fremd wie dieser hier sein, aber immerhin sind wir da … bin ich da …«
Amhal war die Situation furchtbar peinlich. Was tat er da eigentlich? Ihn verband doch gar nichts mit diesem Mädchen. Gut, er hatte ihr das Leben gerettet. Aber das war schließlich seine Pflicht gewesen. Warum also lag ihm so viel an ihr, wieso wollte er sie in seiner Nähe haben?
Weil sie dich braucht.
Adhara rang weiter verlegen die Hände. »Und wenn ich dir zur Last falle?«
»Das tust du nicht.«
Wieder Schweigen, das ihm unendlich lange vorkam.
Dann: »Wann brecht ihr morgen auf?«
Amhal lächelte erleichtert. »Ich komme dich wecken.«
Die Feuerkämpferin 01 - Im Bann der Wächter
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