Bis zum Nachmittag hatte meine Mutter schon zwei Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter hinterlassen: Eine, dass sie im Hotel angekommen waren, die andere, um mich daran zu erinnern, wo sie das Geld für die Pizza hingelegt hatte. Ein dezenter Hinweis, um sicherzugehen, dass wir (das heißt: Whitney) auch tatsächlich zu Abend essen würden. Nachricht angekommen, sagte ich zu mir, während ich in die Küche ging. Das Geld lag auf der Küchentheke, zusammen mit einer Liste von Restaurants, die Pizza lieferten. Man konnte meiner Mutter alles Mögliche nachsagen, aber nicht, dass sie sich nicht auf alles vorbereitet hätte.
»Whitney?«, rief ich die Treppe hinauf. Keine Antwort. Was nicht hieß, dass sie nicht da war, sondern bloß, dass sie wahrscheinlich keine Lust hatte zu antworten. »Ich bestelle jetzt Pizza, ist eine mit extra Käse okay?«
Immer noch keine Reaktion. Also gut, dachte ich, gibt es eben Pizza mit extra Käse. Ich schnappte mir die Liste und wählte eine x-beliebige Nummer.
Nachdem ich bestellt hatte, ging ich in mein Zimmer, weil ich mir die CDs, die Owen mir gebrannt hatte, in Ruhe anhören wollte. Aufs Geratewohl fing ich bei einer mit dem Titel PROTESTSONGS (AKUSTISCHE GITARRE/WORLD MUSIC) an.
Ich schaffte gerade einmal drei Stücke, die von Gewerkschaften handelten, bevor ich einnickte, wurde allerdings kurze Zeit später durch die Haustürklingel wieder geweckt.
Ich schreckte hoch, setzte mich auf – doch da hörte ich auch schon, wie Whitney an meinem Zimmer vorbeiging und die Stufen hinunterlief, um zu öffnen. Nachdem ich noch schnell meine Zähne geputzt hatte, folgte ich ihr.
Als ich unten im Flur ankam, stand sie in der geöffneten Haustür, die sowohl meine Sicht auf Whitney als auch auf die- oder denjenigen, der draußen auf der Türschwelle vor ihr stand, blockierte. Aber ihre Stimmen hörte ich deutlich.
»... eigentlich weniger die neueren Sachen von ihnen, eher die frühen Alben«, erzählte Whitney gerade. »Ein Freund hat mir ein paar importierte CDs gegeben, die einen einfach umhauen.«
»Echt«, antwortete eine andere, tiefere Stimme. Ein Typ also. »Aus England oder woher?«
»Ja, England, glaube ich. Muss mal nachsehen.«
Vielleicht empfand ich es auch nur so, weil ich gerade erst aufgewacht war, doch irgendetwas an dem Szenario kam mir sehr vertraut vor, obwohl ich nicht genau hätte sagen können, was.
»Was bekommst du noch mal von mir?«, fragte Whitney.
»Elf siebenundachtzig«, antwortete der Typ.
»Hier sind Zwanzig. Gib mir Fünf zurück, das passt schon.«
»Danke.« Ich ging noch eine Stufe weiter hinunter. Mittlerweile war ich mir sicher, dass ich die Stimme kannte. »Mit Ebb Tide ist das so eine Sache«, fuhr ihr Besitzer gerade fort. »Man muss erst einmal auf den Geschmack kommen.«
»Absolut«, erwiderte Whitney.
»Ich meine, die meisten wissen nicht einmal …«
Ich stellte mich neben Whitney in die geöffnete Tür. Owen. Natürlich. Er stand auf der Matte vor unserer Haustür, die unvermeidlichen Kopfhörer baumelten um seinen Hals, und zählte meiner Schwester Dollarscheine in die Hand. Sie nickte, während er sprach, und betrachtete ihn mit einem so liebenswürdigen Gesichtsausdruck, wie ich ihn seit, ach, sicher einem Jahr nicht mehr an ihr wahrgenommen hatte. Geschweige denn, dass sie mich in letzter Zeit so eines Blickes gewürdigt hätte. Als Owen mich bemerkte, lächelte er.
»Siehst du«, meinte er zu Whitney, »da kommt gleich ein lebendes Beispiel. Annabel ist mit Sicherheit kein Ebb-Tide-Fan. Sie kann Techno nicht ab.«
Whitney blickte sichtlich irritiert erst zu mir, dann wieder zu Owen. »Echt?«
»Ja. Trotz aller meiner Versuche, sie vom Gegenteil zu überzeugen«, meinte er. »Sie ist verdammt stur, wenn sie sich erst einmal eine Meinung gebildet hat. Total ehrlich und gleichzeitig total eigensinnig. Aber ich nehme an, das weißt du sowieso.«
Whitney sah mich nur an, als er das sagte, und mir war klar, was sie dachte: dass das nämlich nicht im Mindesten nach mir klang. Nicht einmal annähernd.
Auch ich empfand es nicht unbedingt als eine zutreffende Beschreibung meiner Wenigkeit, aber aus irgendeinem Grund ärgerte mich ihr ungläubiger Blick trotzdem.
»Egal«, sagte er in diesem Moment, beugte sich zu der Plastikbox zu seinen Füßen hinunter, öffnete den Verschluss und nahm einen Pizzakarton heraus. »Hier. Guten Appetit.«
Whitney nickte, wobei sie mich allerdings nach wie vor unverwandt ansah. Dann nahm sie ihm den Pizzakarton aus der Hand. »Danke«, meinte sie. »Schönen Abend noch.«
»Gleichfalls«, erwiderte Owen, während Whitney sich umdrehte und durchs Esszimmer Richtung Küche ging.
Owen stopfte sich gerade die Geldscheine, die er in der Hand hielt, in die Tasche und hob die Box auf. Er trug eine Jeans und ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift ALLES KÄSE ODER WAS!? Von sämtlichen Pizza-Lieferanten, die meine Mutter mir aufgeschrieben hatte, hatte ich ausgerechnet die Nummer desjenigen angerufen, bei dem er jobbte. Wer hätte das gedacht? Ich gebe aber zu, ich war froh, ihn zu sehen.
»Deine Schwester ist ein Ebb-Tide-Fan«, sagte er. »Sie hat sogar ein paar importierte CDs von ihnen.«
»Und das ist gut?«
»Bestens sogar«, antwortete er. »Grenzt fast an Erleuchtetsein. Platten aus dem Ausland hat man nicht einfach so, dafür muss man sich anstrengen.«
»Redest du eigentlich mit jedem, der dir zufällig begegnet, über Musik?«
»Nein«, sagte er. Ich blickte ihn abwartend an. Irgendwo in meinem Rücken schaltete Whitney den Fernseher an.
»Also, nicht immer. Ich hatte meine Kopfhörer auf, als ich bei euch klingelte. Und deine Schwester fragte mich halt, was ich gerade höre.«
»Und wie der Zufall es will, war es eine Band, die sie kennt und auf die sie auch noch steht.«
»Musik ist eben etwas Universelles«, sagte er munter und verlagerte die Plastikbox auf den anderen Arm. »Etwas, das verbindet, Menschen zusammenbringt. Freund und Feind, Jung und Alt. Mich und deine Schwester. Und –«
»Mich und deine Schwester.« Ich fiel ihm ins Wort. »Und deine Mutter.«
»Meine Mutter?«, fragte er.
»Ich habe sie heute in der Mall getroffen. Bei der Jenny-Reef-Aktion.«
Ihm fiel die Klappe runter. »Du warst bei Jenny Reef?!«
»Ich stehe auf Jenny Reef«, antwortete ich. Er zuckte regelrecht zusammen. »Sie schlägt Ebb Tide um Längen.«
»Das ist nicht einmal wirklich witzig«, entgegnete er mit Grabesstimme.
»Was ist so falsch an Jenny Reef?«, fragte ich betont harmlos.
»Alles, was nur falsch sein kann, ist falsch an Jenny Reef!«, konterte er. Ups, jetzt geht das wieder los, dachte ich.
»Hast du dir das Poster, das sie für Mallory signiert hat, überhaupt mal richtig angeschaut? Mit der Schleichwerbung als Teil des Autogramms? Ich finde es so widerlich, wenn jemand, der sich ja immerhin als Künstler versteht, sich dermaßen von dieser Vermarktungsmaschinerie vereinnahmen lässt, sich geradezu verkauft, und das alles im Namen von –«
»Okay, okay, krieg dich wieder ein.« Höchste Zeit, dass ich die Sache aufklärte, sonst war ich am Ende noch dafür verantwortlich, dass ihm eine Ader platzte. »Ich bin nicht zur Mall gefahren, um Jenny Reef zu sehen. Meine Agentur hatte da ein Meeting, wegen eines Shootings für Kopf.«
»Ach so.« Tief durchatmend schüttelte er den Kopf. »Mann, hast du mich vielleicht erschreckt.«
»Aber du hast doch mal groß verkündet, in der Musik gebe es kein Richtig oder Falsch. Was ist davon übrig geblieben?«, fragte ich. »Oder gilt das etwa nicht für Teenie-Popstars?«
»Klar gilt das«, meinte er trocken. »Du hast natürlich ein Recht auf deine eigene Meinung über Jenny Reef. Ich fände es bloß den Horror, wenn du tatsächlich ein Fan wärst.«
»Aber hast du ihr überhaupt eine Chance gegeben?« Ich hob die Hand, um meine Worte zu unterstreichen. »Weißt du nicht mehr? Nicht denken, nicht urteilen. Einfach nur zuhören.«
Er schnitt eine Grimasse. »Ich habe mir Jenny Reef angehört. Nicht unbedingt freiwillig, aber ich hab’s gemacht. Meiner Meinung nach ist sie eine Publicity-Hure, die nichts dagegen unternommen hat, dass man sich ihrer Musik – wenn man das überhaupt Musik nennen will – bemächtigt und sie kompromittiert. Und zwar alles im Namen des Materialismus und der großen Konzerne.«
»Okay, okay«, erwiderte ich. »Solange es dich nicht allzu sehr aufwühlt.«
Plötzlich vernahm ich ein schwaches Summen. Gleichzeitig griff Owen in seine Gesäßtasche, holte sein Handy heraus und blickte flüchtig auf das Display.
»Schluss der Vorstellung, ich muss los«, sagte er und klemmte sich die Plastikbox unter den Arm. »Weißt du, so gern du auch mit mir hier rumstehen und die ganze Nacht über Musik diskutieren würdest – es geht nicht.«
»Nicht?«
»Nein.« Er trat rückwärts von der Türschwelle. »Aber wenn du die Diskussion wann anders weiterführen möchtest, würde ich mich freuen.«
»Wie wär’s mit Dienstag?«
»Gebongt.« Er lief los, die Stufen hinunter. »Bis dann, okay?«
Ich nickte. »Tschüs, Owen.«
»Und vergiss die Sendung morgen nicht!«, rief er mir über die Schulter hinweg zu, während er auf seinen Wagen zulief. »Wir spielen nur Techno. Eine ganze Stunde lang tropfende Wasserhähne.«
»Du machst Witze.«
»Vielleicht. Aber wenn du es genau wissen willst, musst du schon das Radio einschalten und zuhören.«
Lächelnd blickte ich ihm nach. Er stieg in seinen alten Straßenkreuzer, machte die Stereoanlage an, betätigte den Anlasser – exakt in der Reihenfolge. Logo.
Als ich ins Wohnzimmer kam, hatte Whitney es sich auf dem Sofa bequem gemacht und trank Mineralwasser aus der Flasche. Die Pizzaschachtel lag auf der Küchentheke. Sie sagte kein Wort, sondern blickte unverwandt auf den Fernseher – anscheinend ging es um eine Sitcom-Schauspielerin mit einem Kokainproblem –, während ich weiterging, mir einen Teller sowie ein Stück Pizza schnappte und mich an den Küchentisch setzte.
»Kommst du …«, begann ich, hielt jedoch inne. »Hast du gar keinen Hunger?«
Ihre Augen schienen am Bildschirm zu kleben. »Ich esse gleich etwas.«
Na dann, dachte ich. Meine Mutter wäre nicht gerade glücklich gewesen, aber was sollte ich machen? Außerdem war sie nun einmal nicht da. Und ich hatte wirklich Hunger. Doch als ich gerade ein Stück von meiner Pizza abbeißen wollte, drückte Whitney auf der Fernbedienung die Stumm-Taste und fragte: »Woher kennst du den Typen eigentlich?«
»Aus der Schule«, antwortete ich und schluckte den Bissen runter. Sie sah mich abwartend an, ich fügte hinzu: »Wir sind Freunde.«
»Freunde«, wiederholte sie.
Ich musste an das überraschte Lächeln denken, mit dem Mrs Armstrong ein paar Stunden zuvor auf dasselbe Wort reagiert hatte. »Ja«, sagte ich. »Manchmal hocken wir in den Mittagspausen zusammen.«
Sie nickte. »Ist Sophie auch mit ihm befreundet?«
»Nein«, gab ich zurück. Keine Ahnung, warum, aber urplötzlich wurde ich misstrauisch und fragte mich, warum sie das wohl wissen wollte. Oder – um genau zu sein – warum wir überhaupt miteinander redeten, wo sie doch diejenige war, die sich den ganzen Tag lang sämtlichen meiner Versuche widersetzt hatte, ein Gespräch anzufangen.
Doch dann erinnerte ich mich an ihren Gesichtsausdruck, als Owen mich als ehrlich beschrieben hatte. Wie verblüfft sie gewirkt hatte. Deshalb fügte ich hinzu: »Zurzeit habe ich mit Sophie nicht mehr so viel zu tun.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Was ist passiert?«
Wieso interessiert dich das?, wollte ich erwidern. Antwortete jedoch stattdessen: »Wir haben uns im letzten Frühjahr gestritten. Es war echt heftig. Seitdem reden wir eigentlich nicht mehr miteinander.«
»Ach«, meinte sie bloß.
Ich blickte auf meinen Teller und wunderte mich, dass ich mich plötzlich dazu durchgerungen hatte, ausgerechnet Whitney davon zu erzählen. Wahrscheinlich war es ein Fehler. Ich saß da und wartete darauf, dass sie irgendeine spöttische oder abfällige Bemerkung machen würde. Doch es kam nichts. Stattdessen wandte sie sich zum Fernseher um und im nächsten Moment wurde der Ton wieder angestellt.
Das Gesicht der Schauspielerin füllte den ganzen Bildschirm aus, während sie ihre Geschichte erzählte und sich dabei ständig die Augen mit einem Papiertaschentuch abtupfte. Mein Blick wanderte von ihr zu Whitney, die im Sessel meines Vaters saß. Wer hätte gedacht, dass sie ein Ebb-Tide-Fan war, importierte CDs besaß und womöglich, jedenfalls in Owens Augen, zu den Erleuchteten gehörte? Obwohl, andererseits wusste sie über mich auch nicht sehr viel. Vielleicht hätten wir das an einem langen Wochenende wie diesem ändern können. Taten wir aber nicht. Stattdessen saßen wir rum, zwar in einem Raum, aber eigentlich jede für sich, und sahen uns einen Bericht über eine Fremde und deren Geheimnisse an, während wir unsere für uns behielten. Wie immer.
Am nächsten Morgen begann Owen seine Show mit einem Technostück, das geschlagene achteinhalb Minuten dauerte, kein Witz.
Die ganze Zeit, während es lief, sagte ich mir, es stehe mir rechtmäßig zu, das Radio abzuschalten und sofort wieder einzuschlafen. Aber irgendwie schaffte ich es dann doch nicht.
»Das war die Gruppe Prickle mit Velveteen«, verkündete er, nachdem die Tortur endlich vorbei war. »Ein Song von ihrer zweiten CD, The Burning, wahrscheinlich eins der besten Techno-Alben, die je veröffentlicht wurden. Schwer zu glauben, Leute, aber es gibt welche da draußen, die dieser Musik überhaupt nichts abgewinnen können. Ihr hört die Sendung Anger Management. Habt ihr einen Musikwunsch? Dann ruft uns an unter 555-WRUS. Und als Nächstes etwas von Snakeplant.«
Ich verdrehte die Augen, rollte mich aber nicht auf die andere Seite. Im Gegenteil, ich hörte mir die ganze Sendung an, was mittlerweile schon fast zu einer lieben Gewohnheit geworden war. Owen legte ein bisschen Rockabilly auf, danach ein paar gregorianische Choräle sowie ein Lied auf Spanisch, von dem er meinte: »Genau wie Astrid Gilberto und dann doch wieder nicht.« Was das auch immer heißen sollte. Kurz vor acht schließlich hörte ich die ersten Takte eines Songs, der mir bekannt vorkam. Woher, dessen war ich mir allerdings nicht sicher. Bis Owen wieder zu reden begann.
»Und das war wieder einmal Anger Management, auf eurem kommunalen Radio WRUS 89,9. Wir verabschieden uns heute mit einem Gruß an eine unserer Stammhörerinnen, der wir damit sagen möchten: Schäme dich nicht für die Musik, die dir gefällt. Auch dann nicht, wenn es, unserer eigenen, bescheidenen Meinung nach, eigentlich gar keine richtige Musik ist. Wir wissen, warum du gestern wirklich in der Mall warst. Bis nächste Woche, Leute!«
Jetzt erst fiel bei mir der Groschen: Es handelte sich um den Jenny-Reef-Song, der gestern in der Mall nonstop rauf und runter gespielt worden war. Als der Song wieder aufgeblendet wurde, setzte ich mich auf und griff nach dem Telefon.
»WRUS Kommunales Radio.«
»Ich war nicht in der Mall, um Jenny Reef zu sehen«, sagte ich. »Aber das habe ich dir gestern schon gesagt.«
»Gefällt dir das Lied etwa nicht?«
»Es gefällt mir sogar sehr. Es ist besser als so ziemlich alles, was du heute sonst aufgelegt hast.«
»Das war kein Witz.«
»Ich weiß«, erwiderte er. »Was ich, ehrlich gesagt, einfach nur zum Heulen finde.«
»Fast genauso zum Heulen, wie Jenny Reef in deiner Sendung zu spielen. Was soll das? Läufst du jetzt zum Mainstream über, wie jeder x-beliebige Bubblegum-Sender?«
»Das war ironisch gemeint.«
Ich lächelte und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Das glaubst auch bloß du.«
Er seufzte abgrundtief; das Geräusch schien den ganzen Hörer auszufüllen. »Jetzt aber Schluss mit Jenny Reef. Sag mir lieber, was du von Bacon hältst?«
»Bacon?«, wiederholte ich. »Welcher Song soll das denn gewesen sein?«
»Kein Song, sondern etwas zu essen. Du weißt schon: Bacon. Schweinespeck. Brutzelt in der Pfanne. Klingelt’s?«
Unwillkürlich nahm ich den Hörer runter und starrte das Teil perplex an, bevor ich ihn mir wieder ans Ohr hielt.
»Was hältst du davon?«, wiederholte er gerade. »Bist du dabei?«
»Bei was?«, fragte ich zurück.
»Frühstück.«
»Jetzt?«, antwortete ich mit einem Blick auf die Uhr.
»Hast du etwa um die Zeit schon etwas anderes vor?«
»Nun ja, nein, aber –«
»Cool. Ich hole dich in zwanzig Minuten ab.«
Er legte einfach auf. Ich steckte das Telefon auf die Basisstation zurück, drehte mich um und betrachtete mich im Spiegel über der Kommode. Zwanzig Minuten, dachte ich. Oooo-kay.
Ich schaffte es, mich in neunzehneinhalb Minuten zu duschen, mir ein paar Klamotten überzuwerfen und mich auf die Stufen vor der Haustür zu stellen, wo ich bereits wartete, als Owen in die Einfahrt einbog. Whitney schlief noch, das ersparte mir eine Erklärung. Was wiederum ziemlich praktisch war, weil ich keine hatte. Während ich zum Auto hinüberlief, stieß Rolly, der auf dem Beifahrersitz saß, die Tür auf, stieg aus und ließ sie für mich offen.
»Rolly hast du ja schon kennengelernt«, meinte Owen.
»Ja«, antwortete ich. Rolly nickte mir zu. »Aber du kannst gern sitzen bleiben. Ich gehe nach hinten.«
»Kein Problem«, gab Rolly mir zu verstehen und ließ sich auf den Rücksitz gleiten. »Außerdem wollte ich sowieso noch checken, ob ich meine Ausrüstung für später auch komplett beisammenhabe.«
»Ausrüstung?«, fragte ich, während ich einstieg und die Tür schloss. Owen signalisierte mir, mich anzuschnallen, was ich auch brav tat; die Aktion mit dem Hammer – damit der Verschluss einrastete – überließ ich allerdings ihm.
»Für die Arbeit. Ich muss später noch eine Gruppe trainieren«, erklärte Rolly. Ich drehte mich um und sah, dass er denselben roten Helm in der Hand hielt, den er bei unserer ersten Begegnung aufgehabt hatte. Auf dem Sitz lagen zudem mehrere Polster in verschiedenen Größen: ein ziemlich riesiges, ähnlich wie das, was die Schiedsrichter beim Football tragen, einige röhrenförmige sowie ein Paar dicke Handschuhe. »Ein Fortgeschrittenenkurs. Ich muss sichergehen, dass ich gut geschützt bin.«
»Sehr verständlich«, meinte ich. Owen legte gerade den Rückwärtsgang ein und rollte aus der Einfahrt. »Und wie kommt man zu so einem Job?«
»Wie es meistens so läuft.« Rolly legte den Helm auf seinen Schoß. »Ich habe auf eine Anzeige geantwortet. Am Anfang half ich eigentlich nur am Telefon aus, checkte Leute ein, so Zeug eben. Aber dann hatte einer der Trainer eine Leistenzerrung und konnte nicht mehr weiterarbeiten, deshalb wurde ich zum Angreifer befördert.«
»Oder degradiert«, meinte Owen. »Je nachdem, wie man es betrachtet.«
»Finde ich nicht.« Rolly schüttelte den Kopf. Er hatte ein richtig hübsches Gesicht, fiel mir plötzlich auf, und kam einem, verglichen mit dem großen, stämmigen Owen, eigentlich weniger als der Typ Angreifer vor. Rolly war kleiner und drahtig, mit strahlend blauen Augen.
»Angreifer sein ist tausendmal besser als ein Bürojob.«
»Wirklich?«, fragte ich.
»Logo. Zum einen ist es schon von sich aus aufregender«, gab er zurück. »Zum anderen lernt man die Leute, mit denen man zu tun hat, auf einer sehr persönlichen Ebene kennen. Wen wundert’s? Mit jemandem, der dir die Scheiße aus dem Leib prügelt, kann ja bloß eine echte Verbindung entstehen.«
Ich warf einen Seitenblick zu Owen hinüber, der mit der einen Hand an der Stereoanlage herumfummelte. »Kein Kommentar«, sagte er, die Augen auf die Straße gerichtet. »Da kannst du zu mir herschauen, so lange du willst.«
»Kämpfen schweißt Menschen zusammen«, fuhr Rolly fort. »Viele Frauen aus meinen Kursen kommen hinterher zu mir und umarmen mich. Die Leute fühlen sich intuitiv zu mir hingezogen. Das passiert andauernd.«
»Aber nur einmal hat es wirklich etwas bedeutet«, warf Owen ein.
Rolly seufzte. »Richtig«, sagte er. »Nur zu wahr.«
»Und das heißt?«, fragte ich.
»Rolly ist in ein Mädchen verknallt, das ihm direkt ins Gesicht geschlagen hat«, erklärte Owen.
»Nicht ins Gesicht«, korrigierte Rolly ihn. »An den Hals.«
»Offenbar hat sie einen hammermäßigen rechten Haken«, meinte Owen zu mir.
»Allerdings«, pflichtete Rolly ihm bei. »Es war in der Mall, bei einer dieser Demo-Aktionen, die mein Studio manchmal dort veranstaltet. Wir hatten einen Stand; die Leute konnten an einer Verlosung für einen kostenlosen Kurs teilnehmen oder versuchen, mir eine zu verpassen, nur so zum Spaß.«
Kopfschüttelnd setzte Owen den Blinker.
»Jedenfalls«, fuhr Rolly fort, »kam sie mit ein paar Freundinnen vorbei. Delores – meine Chefin – legte sofort mit ihrem üblichen Sermon über das Kursangebot los und forderte die Girls auf, mir eine reinzuhauen. Ihre Freundinnen wollten nicht, aber sie kam schnurstracks auf mich zu, schaute mir in die Augen und rumms! Direkt aufs Schlüsselbein.«
»Deine Schutzpolster hattest du aber an, oder?«, fragte ich.
»Logo!«, erwiderte er. »Bin schließlich Profi. Trotzdem kannst du durch die Polster spüren, wie doll dir einer eine reinsemmelt. Und dieses Mädel hat gesemmelt, das kann ich dir flüstern. Außerdem war sie bildhübsch. Eine ultragefährliche Kombination. Bevor ich auch nur ein Wort rausbringen konnte, lächelte sie mich an, bedankte sich und ging. Weg war sie. Einfach so. Nicht einmal ihren Namen habe ich rausgekriegt.«
Owen fädelte sich auf die Autobahn ein und beschleunigte.
»Wow«, sagte ich. »Ziemlich verrückte Geschichte.«
»Ja.« Rolly nickte mit todernstem Gesichtsausdruck, legte seine Hände auf den Helm in seinem Schoß und faltete sie bedächtig zusammen. »Ich weiß.«
Owen kurbelte sein Fenster herunter; frische Luft drang von außen herein. Er atmete tief durch und meinte: »So, gleich sind wir da.«
Ich wandte mich nach vorne, doch alles, was ich sehen konnte, war die Autobahn. »Wo?«
»Ich sage bloß zwei Worte«, antwortete Owen. »Doppelportion Bacon.«
Fünf Minuten später bogen wir auf den Parkplatz eines World of Waffles ein; das Restaurant lag direkt an der Autobahn und man bekam dort vierundzwanzig Stunden am Tag Frühstück. Die beiden stehen also auf Frühstück, dachte ich. In dem Moment drehte der Wind und plötzlich roch ich es: Bacon. Ein durchdringender, starker Geruch, dem man einfach nicht entgehen konnte.
»Hilfe«, murmelte ich, während wir uns dem Gebäude näherten. Owen und Rolly, die rechts und links von mir liefen, sogen simultan Luft und Geruch ein. »Das ist –«
»Unglaublich, ich weiß«, fiel Owen mir ins Wort. »So war es nicht immer. Ich meine, Bacon gab es hier zwar vorher schon, allerdings nicht so guten. Aber dann hat dieser neue Laden auf der anderen Seite der Autobahn aufgemacht …«
»Das Morning Café.« Rolly verzog das Gesicht. »Absolut unterdurchschnittlich und berüchtigt für seine pappigen Pfannkuchen.«
»Deshalb mussten die hier sich etwas einfallen lassen«, fuhr Owen fort. »Und jetzt ist jeder Tag der Tag der Doppelportion Bacon.« Er trat vor und hielt mir die Tür auf. »Cool, was?«
Ich nickte pflichtschuldig und trat ein. Als Erstes fiel mir auf, dass der Geruch im Inneren des Restaurants noch stärker wurde – sofern das überhaupt ging. Dann bemerkte ich, dass es in dem kleinen, mit Tischen und Eckbänken vollgepfropften Raum eiskalt war.
»Ups«, meinte Owen, der in dem Moment zu mir herblickte und bemerkte, dass ich meine Arme um mich geschlungen hatte. »Ich vergaß, dich vor der Kälte zu warnen.« Er zog seine Jacke aus und hielt sie mir hin. Ich wollte protestieren, aber er sagte: »Die halten es hier so kalt, damit die Leute nicht zu lange bleiben. Glaub mir, wenn du jetzt schon bibberst, bist du in zehn Minuten tiefgefroren. Also, nimm schon.«
Ich beschloss, ihm zu glauben, und schlüpfte in die Jacke. Natürlich war sie mir viel zu groß, die Ärmel reichten bis weit über meine Hände. Ich zog die Jacke enger um mich. Wir folgten der großen, schlanken Kellnerin, die laut ihrem Namensschild DEANN hieß, zu einer Sitzecke am Fenster. Hinter uns stillte eine Frau mit gesenktem Kopf friedlich ihr Baby. Am Nebentisch aß ein Pärchen, die ungefähr in unserem Alter waren, Waffeln. Beide trugen Joggingklamotten. Das Mädchen hatte blonde Haare und ein Haargummi ums Handgelenk; der Typ war ziemlich groß und dunkelhaarig. Unter dem Ärmel seines T-Shirts lugte die Hälfte eines Tattoos hervor.
»Ich empfehle die Pfannkuchen mit Schokoladenstückchen«, sagte Rolly zu mir, nachdem Deann Kaffee gebracht hatte und uns dann allein ließ, damit wir in Ruhe die Speisekarte studieren konnten. »Mit extra Butter, extra Sirup. Und Bacon natürlich.«
»Puh«, meinte Owen. »Ich halte es lieber einfach. Eier, Bacon, Brötchen. Das reicht.«
Der Verzehr von Schweinefleisch schien an diesem Ort Vorschrift und Bedingung zu sein. Deshalb bestellte ich bei Deanns Rückkehr an unseren Tisch Waffeln mit – ja genau, Bacon. Obwohl ich bezweifelte, dass ich den tatsächlich noch brauchte, weil ich mich jetzt schon so fühlte, als hätte ich eine ganze Speckschwarte gegessen, allein durchs Einatmen. »Und ihr kommt jede Woche hierher?«, fragte ich und trank einen Schluck Wasser.
»Ja.« Owen nickte. »Ist seit der ersten Sendung Tradition. Und Rolly zahlt. Jedes Mal.«
»Was nichts mit Tradition zu tun hat«, meinte jener. »Ich habe eine Wette verloren.«
»Wie lange musst du noch zahlen?«
»Bis in alle Ewigkeit«, antwortete Rolly. »Ich hatte sogar meine Chance rauszukommen und hab’s vermasselt. Wofür ich jetzt zahlen muss, im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Nicht wirklich bis in alle Ewigkeit.« Owen schlug beim Sprechen leicht mit dem Löffel gegen sein Wasserglas. »Nur, bis du mit ihr geredet hast.«
»Und wann soll das sein?«, fragte Rolly. Eine offensichtlich rhetorische Frage.
»Wenn du sie das nächste Mal siehst«, lautete Owens offensichtlich rhetorische Antwort.
»Ja, ja«, sagte Rolly mürrisch. »Beim nächsten Mal.«
Ich warf Owen einen fragenden Blick zu.
»Es geht um das Mädchen mit dem rechten Haken«, erklärte er. »Im Juli haben wir sie zufällig wiedergesehen, in einem Club. Das erste Mal, dass wir sie überhaupt wieder irgendwo getroffen haben. Rolly hatte, seit sie ihm diesen Schwinger versetzt hat, die ganze Zeit pausenlos von ihr geredet …«
Rolly wurde rot. »Nicht pausenlos.«
»... endlich seine Chance bekommen …«, fuhr Owen vielsagend fort.
»... und es nicht auf die Reihe gekriegt«, vollendete ich, begreifend, den Satz.
»Die Sache ist die«, schaltete Rolly sich ein. »Ich glaube fest an so etwas wie den richtigen Moment. Und den gibt es nun einmal nicht so oft.«
Dieser tiefschürfende Gedankengang wurde von Deann auf den Punkt gebracht – je nach Sichtweise könnte man auch sagen: unterbrochen –, indem sie uns das Essen servierte. Ich hatte noch nie in meinem Leben dermaßen viel Bacon auf einmal gesehen. Es war so dick um meine Waffeln herumgepackt, dass er buchstäblich vom Teller fiel.
»Da stehe ich also in der Ecke und versuche fieberhaft, den passenden Aufhänger für ein Gespräch zu finden.« Rolly begann, seine Pfannkuchen mit Butter zuzukleistern. »Plötzlich rutscht ihr Pullover von der Stuhllehne. Als wäre es vorbestimmt, verstehst du? Trotzdem bin ich wie erstarrt. Bringe es einfach nicht.«
Owen neben mir hatte sich als Erstes einen Streifen Bacon in den Mund geschoben und kaute bereits genüsslich, während er nun Pfeffer auf seine Eier streute.
»Aber mit dem richtigen Moment ist es wie verhext«, meinte Rolly. »Wenn man endlich die Gelegenheit bekommt, genau das zu tun, das man mehr als alles andere tun will – tun muss, kann man ganz schön Schiss bekommen. Weil es so etwas Besonderes ist.«
Er schob den Sirup zu mir herüber, ich nahm die Flasche und schüttete etwas davon auf meine Waffel. »Glaube ich dir gerne«, antwortete ich.
»Und genau deshalb habe ich zu ihm gesagt: Wenn er den Pulli aufhebt und mit ihr redet, zahle ich beim Frühstück. Für immer«, meinte Owen. »Aber falls nicht, hat er die Rechnung an der Backe. Ohne Gnade.«
Rolly aß ein Stück Pfannkuchen. »Ich bin auch wirklich aufgestanden und wollte gerade zu ihr rüber. Aber dann drehte sie sich um und ich –«
»Dir ist quasi die Luft weggeblieben«, sagte Owen.
»Ich habe die Panik gekriegt. Sie hat mich angesehen und das hat mich total durcheinandergebracht. Deshalb bin ich einfach weitergegangen, an ihr vorbei. Jetzt muss ich bis in alle Ewigkeit das Frühstück bezahlen. Jedenfalls so lange, bis ich die Wette einlösen kann, was recht unwahrscheinlich ist, weil ich sie seitdem nicht mehr gesehen habe.«
»Wow«, sagte ich. »Ziemlich verrückte Geschichte.«
Er nickte mit demselben ernsten Gesichtsausdruck wie bei der Herfahrt. »Ja«, erwiderte er. »Ich weiß.«
Als wir eine Stunde später gingen, war auf keinem unserer Teller noch ein Fitzelchen Bacon zu entdecken. Ich fühlte mich so vollgefressen, dass ich dachte, ich würde platzen. Nachdem ich eingestiegen war, griff ich nach meinem Sicherheitsgurt, zog ihn über mich, hielt aber kurz vor dem Gurtschloss inne. Owen schob den Gurt für mich ein, griff zum Hammer. Seine Hände befanden sich direkt an meiner Taille, während er auf die Mitte des Verschlusses zielte. Er hatte den Kopf vornübergebeugt, sodass er dicht neben meiner Schulter zu schweben schien. Ich betrachtete seine dunklen Haare, die paar verstreuten Sommersprossen neben seinem Ohr, die langen Wimpern – doch im nächsten Moment war er auch schon fertig und richtete sich wieder auf.
Auf dem Weg zurück in die Stadt sah ich Rolly im Außenspiegel dabei zu, wie er seine Polster für die Arbeit anlegte: zuerst den großen Brustpanzer, dann die röhrenförmigen Teile für Arme und Beine. Unmittelbar vor meinen Augen wurde er auf die Weise Stück für Stück umfangreicher und gleichzeitig bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Als wir in die Straße einbogen, in der sich sein Studio – EmPOWERment! – befand, setzte er sich gerade den Helm auf.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte er, öffnete die Wagentür und rutschte vorsichtig von der Rückbank. Die Polster an seinen Beinen waren so dick, dass er kurze, ungelenke Schritte machen musste. Und seine Arme konnte er nur seitlich abgespreizt halten. »Wir telefonieren.«
»Klar«, erwiderte Owen.
Während wir nach Hause fuhren und Straßen, Häuser, Bäume an uns vorbeisausten, fiel mir auf einmal der erste Tag im Auto mit Owen ein und wie komisch es mir damals vorgekommen war, in seiner Nähe zu sein. Nun fühlte es sich beinahe normal an. Wir näherten uns meinem Haus. Die Nachbarschaft wirkte ruhig, friedlich. Ein paar Rasensprinkler liefen, ein Mann latschte im Bademantel die Auffahrt entlang, um seine Zeitung zu holen. Ich ertappte mich dabei, wie ich daran dachte, was Rolly vorhin über den perfekten Moment gesagt hatte. Dieser Moment – jetzt – schien plötzlich so einer zu sein: der richtige Zeitpunkt, um Owen etwas zu sagen. Ihm zu danken oder ihn auch einfach nur wissen zu lassen, wie viel mir seine Freundschaft in den letzten Wochen bedeutet hatte. Aber kaum hatte ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und wollte den Mund aufmachen, kam er mir zuvor.
»Hast du dir schon eine von den CDs angehört, die ich für dich gebrannt habe?«
»Ja«, antwortete ich, als er eben in unsere Straße einbog. »Ich habe gestern angefangen, mit PROTESTSONGS.«
»Bin dabei eingeschlafen«, erwiderte ich.
Owen verzog schmerzlich das Gesicht.
»Aber es lag bestimmt nur daran, dass ich wirklich total müde war«, beeilte ich mich zu versichern. »Ich mache auf jeden Fall noch einen Anlauf und berichte dir dann.«
»Keine Hektik«, entgegnete er und hielt vor unserem Haus an. »So etwas braucht seine Zeit.«
»Sehr witzig, bei der Masse, die du mir zum Hören gegeben hast …«
»Zehn CDs«, antwortete er. »So viel ist das gar nicht. Es kratzt gerade mal an der Oberfläche.«
»Owen, das sind so um die hundertvierzig Lieder. Minimum.«
»Wenn du wirklich etwas lernen willst«, fuhr er fort, ohne auf meinen Einwand einzugehen, »kannst du nicht einfach nur dasitzen und darauf warten, dass die Musik zu dir kommt. Du musst dich zur Musik hinbegeben.«
»Schlägst du eine Art Pilgerreise vor?«, witzelte ich.
Doch seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er es vollkommen ernst gemeint. »So könnte man es auch ausdrücken«, antwortete er.
»O-o.« Ich lehnte mich im Sitz zurück. »Wie würdest du es denn ausdrücken?«
»In einen Club gehen und sich eine Band anhören«, erwiderte er. »Eine gute Band. Live. Nächstes Wochenende.«
Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war eine Frage: Heißt das, du möchtest mit mir ausgehen? Der zweite folgte unmittelbar anschließend: Sollte ich ihm die Frage tatsächlich stellen, würde er völlig wahrheitsgemäß antworten, und ich war mir nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte. Wenn er Ja sagen würde, wäre das … was? Super. Und beängstigend. Sagte er jedoch Nein, würde ich mir vorkommen wie ein Vollidiot.
»Eine gute Band«, wiederholte ich stattdessen. »Wer sagt, dass die gut sind?«
»Ich natürlich.«
»Oh.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Andere auch«, meinte er. »Ist die Band von Rollys Cousin.«
»Spielen die –«
»Nein. Keinen Techno«, erwiderte er geradeheraus. »Die machen eher lässigen Rock. Originalstücke, irgendwie ein bisschen unernst, aber insgesamt solider Alternativrock.«
»Wow, das ist ja mal eine tolle Beschreibung.«
»Die Beschreibung bedeutet gar nichts. Es ist die Musik, die zählt«, erwiderte er. »Und dir wird sie gefallen, vertrau mir.«
»Werden wir ja sehen«, sagte ich. Er lächelte. »Also, wann spielt diese lässige-irgendwie-unernste-aber-solide-Originalstücke-Alternativrockband noch mal genau?«
»Samstagnacht«, gab er zurück. »Im Bendo, Veranstaltung ohne Altersbeschränkung. Sie treten direkt nach der Vorgruppe auf, also gegen neun.«
»Okay.«
»Okay heißt: Okay, du bist dabei?«
»Ja.«
»Cool.«
Ich lächelte. An Owen vorbei sah ich, wie in unserem Haus Whitney am oberen Ende der Treppe auftauchte. Sie trug einen Schlafanzug, gähnte und hielt sich die Hand vor den Mund, während sie sich auf den Weg nach unten machte, wobei ihr Schatten sich seitlich neben ihr über der Wand des Treppenhauses ausbreitete. Nachdem sie unten angekommen war, durchquerte sie den Flur Richtung Esszimmer, wo sie sich über ihre Blumentöpfe auf der vorderen Fensterbank beugte. Sie streckte die Hand aus, drückte die Erde in einem der Töpfe fest. Drehte einen anderen um, sodass jetzt dessen Rückseite im Licht stand. Schließlich hockte sie sich auf die Fersen, Hände im Schoß, und betrachtete die Töpfe aufmerksam.
Ich warf einen raschen Blick zu Owen hinüber, der Whitney ebenfalls beobachtete, und fragte mich, wie das Ganze wohl auf ihn wirkte. Von außen betrachtet, sah es mit Sicherheit vollkommen anders aus, als es in Wirklichkeit war. Und ging man zum nächsten Haus, bekam man unweigerlich eine weitere, völlig andere Momentaufnahme, eine andere Geschichte zu Gesicht. Und obwohl es mir eigentlich nicht zustand, diese – Whitneys – Geschichte zu erzählen, weil es nicht meine war, entschloss ich mich aus irgendeinem Grund, es trotzdem zu tun.
»Das sind Kräuter«, erklärte ich Owen. »Sie hat sie gestern erst gepflanzt. Das gehört zu … äh … ihrer Therapie.«
Er nickte. »Du sagtest, sie sei krank. Was hat sie? Wenn ich fragen darf.«
»Eine Essstörung.«
»Oh.«
»Es geht ihr allerdings schon viel besser«, fügte ich hinzu. Was absolut stimmte. Zum Beispiel hatte Whitney am Abend vorher immerhin zwei Stück Pizza gegessen. Zwar lange nach mir und auch erst, nachdem sie alles, was nur im Entferntesten nach Fett aussah, heruntergekratzt und die Pizza in Millionen winzige Stücke geschnitten hatte. Aber sie hat diese Ministückchen gegessen, und das war es, was zählte. »Wobei … am Anfang, nachdem wir es gerade herausgefunden hatten, war es schon ziemlich schlimm. Sie hat eine ganz schön lange Zeit im Krankenhaus verbracht.«
Als Whitney nun aufstand und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, blickten wir gemeinsam zu ihr hinüber. Ob Owen sie nun wohl mit anderen Augen betrachtete? Ob sie sich für ihn verändert hatte – jetzt, wo er das über sie wusste? Ich forschte in seinem Gesicht, fand aber keine Anzeichen in die Richtung.
»Muss schlimm gewesen sein«, meinte er, als sie sich umdrehte und um den Esstisch ging. »Mit anzusehen, was sie durchgemacht hat.«
Nachdem Whitney durch den Türbogen in die Küche gegangen war, konnte man sie für einen Moment nicht mehr sehen. Bis sie wieder auftauchte, weil sie nun vor der Küchentheke entlanglief. Ich vergaß es immer wieder: Auch wenn unser – das gläserne – Haus von außen so aussah, als könnte man alles sehen, was sich im Inneren abspielte, war auf bestimmte Dinge die Sicht versperrt, waren sie den Blicken verborgen.
»Ja«, sagte ich. »War es. Es war der Horror. Hat mir wirklich Angst gemacht.«
Während ich das aussprach, dachte ich gar nicht mehr darüber nach, dass ich ja gerade die Wahrheit sagte. Ich spürte ihn nicht einmal, diesen Moment. Den Augenblick des entscheidenden Sprungs. In dem ich wagte, die Wahrheit zu sagen. Stattdessen passierte es einfach.
Owen wandte sich zu mir um, sah mich an. Ich schluckte. Heftig. Redete aber weiter, wie eigentlich immer, wenn ich wusste, dass seine Aufmerksamkeit ganz mir galt. »Whitney war schon immer ein sehr zurückhaltender Mensch. Deshalb konnte man nie genau einschätzen, ob irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Meine Schwester Kirsten ist das genaue Gegenteil. Sie gehört zu den Leuten, die einem immer mehr erzählen, als man eigentlich hören will. Wenn Kirsten unglücklich ist, bekommt man es mit, selbst wenn man gar nicht unbedingt möchte. Anders als bei Whitney. Ihr muss man immer alles einzeln aus der Nase ziehen. Oder irgendwie anders herausfinden.«
Owen schaute erneut zum Haus hinüber, aber Whitney war wieder verschwunden. »Und wie sieht das bei dir aus?«, fragte er.
»Bei mir?«
»Wie findet deine Familie heraus, wenn mit dir was nicht stimmt?«
Gar nicht, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Konnte nicht. »Keine Ahnung. Du müsstest sie wohl selbst fragen.«
Ein großer City Jeep raste an uns vorbei und wirbelte einen Haufen Blätter auf, die an den Rinnstein gekehrt worden waren. Als sie über die Windschutzscheibe flatterten, warf ich wieder einen Blick zu unserem Haus hinüber und sah, wie Whitney mit einer Flasche Wasser in der Hand die Treppe hinaufging. Diesmal schaute sie nach draußen. Als sie uns entdeckte, verlangsamte sie kurz ihre Schritte, bevor sie weiterging, Richtung oberer Treppenabsatz.
»Ich sollte besser mal«, meinte ich und griff nach unten, um den Sicherheitsgurt zu lösen.
»Kein Thema«, antwortete Owen. »Vergiss die Pilgerreise nicht, okay? Samstag. Neun Uhr.«
»Alles klar.« Ich öffnete die Beifahrertür, stieg aus, schloss sie hinter mir. Als ich um den vorderen Kotflügel herumlief, startete er den Motor und winkte mir zu. Erst auf halbem Weg unsere Auffahrt hinauf bemerkte ich, dass ich nach wie vor seine Jacke trug. Ich wirbelte herum, sah jedoch bloß noch, wie er um die Kurve fuhr. Ein blauer Klecks, der verschwand. Zu spät.
Ich schloss die Haustür auf, ging hinein, streifte die Jacke ab, legte sie mir über den Arm. Dabei spürte ich in der Außentasche etwas Hartes, Flaches. Ich griff hinein, tastete mit meinen Fingern danach. Noch bevor ich es herausnahm, wusste ich, was es war: Owens iPod. Er war schlimmer verkratzt und verbeult, als man es sich je hätte vorstellen können, und über das Display zog sich ein dünner Riss; die Kopfhörer waren darum herumgewickelt. Trotz der Eiseskälte im World of Waffles fühlte sich das Teil warm an in meiner Hand.
»Annabel?«
Ich zuckte zusammen, blickte auf. Whitney stand oben an der Treppe und sah zu mir herunter.
»Hi«, sagte ich.
»Du bist früh aufgestanden.«
»Ja«, antwortete ich. »Ich … äh … ich war frühstücken.«
Ihre Augen waren ganz schmal. »Wann bist du los?«
»Vor einer ganzen Weile«, erwiderte ich und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Als ich oben ankam, trat sie einen Schritt zur Seite, aber nur eben so viel, dass ich mich an ihr vorbeiquetschen musste. Ich hörte, wie sie schnupperte. Und dann gleich noch einmal. Bacon, dachte ich.
»Ich gehe dann mal meine Hausaufgaben machen«, meinte ich, während ich auf mein Zimmer zulief.
»Okay«, sagte sie gedehnt. Blieb stehen, wo sie war, und beobachtete mich, bis ich die Tür hinter mir schloss.
Da ich Owen noch nie ohne sein iPod gesehen hatte, ging ich davon aus, er würde ziemlich schnell bemerken, dass es weg war. Und als später am Nachmittag das Telefon klingelte, nahm ich in der festen Überzeugung ab, er wäre am anderen Ende – auf heftigem musikalischem Entzug. Bei dem Anrufer handelte es sich jedoch nicht um Owen, sondern um meine Mutter.
»Annabel! Hallo!«
Wenn meine Mutter nervös war, schlug ihr Munterkeitspegel sprunghaft nach oben aus. Das Kabel knisterte förmlich vor lauter aufgesetzter Fröhlichkeit.
»Hi«, sagte ich. »Und, wie läuft es bei euch?«
»Wunderbar. Dein Vater spielt eine Runde Golf, ich komme gerade von der Maniküre. Wir sind ständig unterwegs, aber ich dachte, ich sollte mich trotzdem endlich einmal melden. Wie ist es bei euch?«
Es war ihr dritter Anruf in sechsunddreißig Stunden. Aber ich spielte das Spiel artig mit.
»Gut. Nicht gerade viel los hier.«
»Wie geht es Whitney?«
»Auch gut.«
»Ist sie da?«
»Keine Ahnung.« Ich setzte mich auf, sprang vom Bett, lief zur Tür, öffnete sie. »Aber ich sehe gerne nach.«
»Ist sie aus dem Haus gegangen?«
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich. Hilfe, dachte ich. »Bleibst du kurz dran?« Ich ging auf den Flur, das Telefon an die Brust gepresst, lauschte ins Haus hinein. Von unten hörte ich weder den Fernseher noch sonstige Geräusche, deshalb lief ich die paar Schritte bis zu Whitneys Tür, die zwar zu war, allerdings nur angelehnt. Ich klopfte leise.
»Ja?«
Ich öffnete die Tür ganz. Whitney saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und schrieb etwas in das Notizheft auf ihrem Schoß. »Mama ist am Telefon«, sagte ich.
Sie seufzte, streckte die Hand aus, Handfläche nach oben. Ich trat zu ihr, legte das Telefon hinein.
»Hallo? – Hi. – Ja, natürlich bin ich da. – Mir geht es gut. – Alles in Ordnung. Du musst nicht ständig anrufen, okay?«
Worauf meine Mutter etwas erwiderte. Whitney lehnte sich an das Kopfteil ihres Bettes. Während sie zuhörte und eine ganze Serie von Mmh-mmhs und Ahas von sich gab, blickte ich aus dem Fenster. Obwohl unsere Zimmer nebeneinanderlagen, war ihr Blick auf den Golfplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo ein Mann in karierten Hosen gerade einen Probeschwung ausführte, vollkommen anders als meiner. Beinahe, als wäre man in einem anderen Haus.
»Ja, okay.« Whitney fuhr sich glättend mit der Hand durchs Haar. Wieder einmal fiel mir auf, wie schön sie war – sogar in Jeans, T-Shirt und ohne Make-up sah sie umwerfend aus. So umwerfend, dass man sich kaum vorstellen konnte, sie hatte sich selbst nicht als schön – und nichts als schön – wahrgenommen, wenn sie sich im Spiegel betrachtete. »Richte ich ihr aus. – Okay. – Tschüs.«
Sie nahm den Hörer vom Ohr, drückte die Aus-Taste. »Mama meint, viele Grüße und bis morgen. Bis zum Abendessen sind sie zurück.«
»Ah ja«, sagte ich. Sie gab mir das Telefon zurück. »Okay.«
»Und wir können heute Abend entweder Spaghetti essen oder essen gehen.« Sie setzte sich aufrecht hin, zog die Beine an die Brust, sah mich an. »Worauf hast du Lust?«
Ich zögerte. War das möglicherweise eine Fangfrage? »Ist mir egal. Spaghetti sind okay.«
»Gut. Dann mache ich später welche.«
»Schön. Wenn du magst, helfe ich dir gern dabei.«
»Meinetwegen. Können wir ja später noch entscheiden.« Sie beugte sich vor, angelte sich den Stift, der neben ihren Füßen lag, öffnete die Kappe. Erst jetzt bemerkte ich, dass die erste Seite des Notizbuchs auf ihrem Schoß bereits vollgekritzelt war. Was sie wohl schrieb? Da blickte sie zu mir auf. »Ist noch was?«
»Nö.« Mir wurde bewusst, dass ich immer noch dastand und sie anstarrte. »Wir … äh … also dann, bis gleich.«
Ich kehrte in mein Zimmer zurück, setzte mich aufs Bett und schnappte mir Owens iPod. Irgendwie fühlte es sich seltsam, um nicht zu sagen: falsch an, dass ich das Teil hier bei mir in meinem Zimmer hatte, geschweige denn es in der Hand hielt. Trotzdem wickelte ich die Kopfhörer ab, setzte sie auf, drückte die Start-Taste. Eine Sekunde später leuchtete das Display auf. Als das Menü aufging, klickte ich SONGS an.
Es gab neuntausendneunhundertsiebenundachtzig Stücke, unter denen man auswählen konnte. Du liebes bisschen, dachte ich, während ich eine Weile die Liste entlang nach unten scrollte und die Songtitel vor meinen Augen vorüberhuschten. Ich erinnerte mich daran, was Owen mir über das Thema Ausblenden erzählt hatte. Ausblenden, das hatte er während der Trennung seiner Eltern getan, aber – wie ich plötzlich begriff – auch an jedem anderen Tag, an dem er mit Kopfhörern auf den Ohren durch die Gegend lief. Zehntausend Lieder können eine ganze Menge Schweigen ausfüllen.
Ich kehrte ins Menü zurück und scrollte mich zur Playlist durch. Eine weitere lange Liste wurde angezeigt: SENDUNG 12.8., SENDUNG 19.8., SONGS (IMPORTIERTE LABELS). Außerdem stand da ANNABEL.
Ich ließ den Scroll-Knopf los. Wahrscheinlich nur eine der CDs, die er mir gebrannt hatte, dachte ich. Und doch zögerte ich, genauso wie vorhin auf der Fahrt hierher, in seinem Straßenkreuzer. Ich wollte es wissen und gleichzeitig auch wieder nicht. Doch dieses Mal hielt ich es nicht aus. Knickte ein.
Als ich auf den Knopf drückte, veränderte sich das Display und zeigte eine Liste mit Songtiteln an. Der erste hieß Jennifer, von einer Band namens Lipo, was mir ziemlich bekannt vorkam. Ebenfalls Descartes Dream von Misanthrope, das zweite Lied, das ich wählte und anklickte. Ich brauchte nur kurz hineinzuhören, um beide als Stücke zu identifizieren, die Owen in der ersten Sendung, die ich von ihm gehört hatte, gespielt hatte. Es hatte mir auf Anhieb nicht gefallen – zugehört hatte ich trotzdem. Und anschließend heftig mit ihm darüber diskutiert.
Alle waren sie da. Jedes Lied, über das wir jemals geredet oder gestritten hatten. Sorgfältig aufgelistet. Die Maya-Gesänge vom ersten Tag, als er mich mitgenommen hatte. Thank you von Led Zeppelin – da hatte ich umgekehrt ihn ohne fahrbaren Untersatz auf der Straße aufgegabelt. Techno. Definitiv zu viel Techno. Sämtliche Thrash-Metal-Songs. Sogar Jenny Reef. Ich hörte in jeden Titel kurz rein und musste an all die Male denken, die ich Owen mit seinen Kopfhörern gesehen und dabei heftig vor mich hingerätselt hatte, was er wohl gerade hörte, geschweige denn dachte. Wer hätte geglaubt, dass es möglicherweise um mich gegangen war?
Ich warf einen Blick auf die Uhr: fünf vor fünf. Owen vermisste sein iPod sicher schon. Ich würde schnell zu ihm rüberfahren und das Teil abgeben. Keine große Sache. So einfach war das.
Doch ich war kaum halbwegs die Treppe runter, da hörte ich ein Scheppern und ein gemurmeltes »Mist«. Als ich meinen Kopf durch den Durchgang zur Küche steckte, schubste Whitney gerade einen Kochtopf in den Geschirrschrank zurück.
»Alles okay?«, fragte ich.
»Alles gut.« Sie richtete sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht. Auf der Küchentheke vor ihr standen beziehungsweise lagen ein Glas Pastafertigsauce, eine Packung Spaghetti, ein Schneidebrett mit einer Paprika und einer Gurke sowie eine Tüte Salat. »Gehst du weg oder was?«
»Äh … ich wollte … nur ganz schnell. Es sei denn, du möchtest, dass ich dableibe.«
»Nein, ich komme klar.« Whitney nahm die Spaghettipackung in die Hand und kniff die Augen zusammen, während sie die Angaben auf der Rückseite durchlas.
»Na gut. Okay. Ich bin um –«
»Es ist bloß …« Sie legte die Packung wieder hin. »Ich weiß nicht genau, welchen Topf ich am besten für die Nudeln nehmen soll.«
Ich legte Owens Jacke auf einen Stuhl und ging zum Küchenschrank neben dem Herd. »Den da«, sagte ich und holte den großen Stieltopf samt dazugehöriger Siebeinlage heraus. »Mit dem Ding lässt es sich hinterher leichter abgießen.«
»Logisch. Stimmt«, antwortete sie.
Ich trug den Topf zur Spüle, füllte ihn mit Wasser, setzte ihn auf den Herd, schaltete die Platte ein. Die ganze Zeit über spürte ich ihren Blick auf mir. »Das braucht jetzt einen Moment. Wenn du einen Deckel drauftust, dauert es nicht ganz so lange.«
Sie nickte. »Okay.«
Ich kehrte zurück zu dem Stuhl, auf den ich Owens Jacke gelegt hatte, ging dann aber doch nicht weiter, Richtung Haustür, sondern sah zu, wie Whitney nun einen kleineren Topf aus dem Schrank nahm und auf den Herd stellte. Sie nahm das Glas mit der Pastasauce, drehte den Verschluss auf, schüttete den Inhalt in den Topf. Jede ihrer Bewegungen war langsam, methodisch, sorgfältig – als arbeitete sie in einem Labor. Was andererseits auch wieder nicht verwunderlich war, da Whitney fast nie für sich selber kochte. Meine Mutter überwachte alle ihre Mahlzeiten, bereitete ihre Snacks und Butterbrote, ja sogar das Müsli zu, das Whitney zum Frühstück aß. Und auf einmal wurde mir bewusst: Wenn es schon für mich eigenartig war, ihr bei so einer ungewohnten Tätigkeit wie dem Kochen zuzuschauen – wie seltsam musste es dann erst für sie sein, wenn sie es tat. Und zwar allein.
»Brauchst du nicht vielleicht doch Hilfe?«, fragte ich schließlich. Sie holte einen Löffel aus der Küchenschublade, steckte ihn in die Sauce und rührte zaghaft darin herum. »Es würde mir wirklich nichts ausmachen.«
Daraufhin schwieg sie erst einmal – eine Minute, oder so kam es mir zumindest vor – und ich fragte mich schon fast, ob ich sie irgendwie beleidigt hatte. Doch dann antwortete sie, ohne sich umzudrehen: »Klar. Aber nur, wenn du möchtest.«
Und so kam es, dass ich an jenem Abend zum ersten Mal seit Menschengedenken zusammen mit meiner Schwester Abendessen machte. Wobei – wir redeten nicht viel miteinander. Außer wenn sie mir ab und an eine Frage stellte (auf welche Temperatur der Ofen für das Knoblauchbrot gestellt werden musste, wie viel von den Spaghetti sie kochen sollte), die ich dann beantwortete (160 Grad, alle). Ich deckte den Tisch, während sie in ihrer typischen langsamen, methodischen Art den Salat zubereitete und dafür zunächst das Gemüse ganz vorsichtig sowie nach Farben sortiert auf einem Schneidbrett zurechtlegte und dann zerkleinerte. Als alles vorbereitet war, setzten wir uns zusammen an den Tisch im Esszimmer. Wir beide. Allein. Nachdem ich mich auf meinem Stuhl niedergelassen hatte, fiel mein Blick auf Whitneys Blumentöpfe, die auf dem Fenstersims standen.
»Sehen gut aus, da drüben«, meinte ich.
Whitney setzte sich in dem Moment ebenfalls. »Kann schon sein.« Sie nahm sich ihre Serviette. Auf ihrem Teller befand sich überwiegend Salat, nur ein Miniklacks Pasta. Aber ich verkniff mir jeglichen Kommentar. Und wenn auch nur aus dem einen Grund, weil ich wusste, dass meine Mutter garantiert eine Bemerkung darüber gemacht hätte. »Jetzt müssen sie nur noch wachsen«, fügte sie schließlich noch hinzu.
Ich wickelte einige Spaghetti um meine Gabel und steckte sie in den Mund. »Die sind gut. Perfekt.«
»Na ja, Pasta. Das ist einfach«, erwiderte sie achselzuckend.
»Stimmt gar nicht unbedingt. Denn wenn man sie nicht lange genug kocht, sind sie in der Mitte noch hart. Lässt man sie aber zu lange drin, werden sie matschig. Eine richtige Gratwanderung.«
»Ah ja.«
Ich nickte. Einen Moment lang aßen wir schweigend weiter. Ich blickte noch einmal zu den Blumentöpfen hinüber, hinter denen der Golfplatz durchs Fenster schimmerte. So grün, dass es fast unwirklich erschien.
»Danke«, sagte Whitney.
Ich war mir nicht sicher, ob sie sich für das Kompliment wegen ihrer Spaghettikochkünste bedankte oder fürs Tischdecken oder weil ich bei ihr geblieben war. Aber im Grunde interessierte es mich auch nicht. Ich war froh, dass sie sich bedankt hatte. Wofür auch immer.
»Gern geschehen«, erwiderte ich. Sie nickte mir zu. Draußen fuhr ein Auto vorbei, wurde kurz langsamer. Und der Fahrer schaute zu uns herein, ehe er weiterfuhr.