Kapitel 7

Das gesamte Wochenende über fragte ich mich, was passieren würde, wenn ich Owen das nächste Mal in der Schule traf. Ob sich nach dem, was Freitag gewesen war, etwas zwischen uns ändern würde. Oder ob wir wieder in unser Schweigen verfallen und den Abstand voneinander wahren würden, als wäre nichts geschehen. Doch ein paar Minuten nachdem er sich auf die Mauer gesetzt hatte, traf er die Entscheidung. Für uns beide.

»Und, hast du sie gehört?«

Ich legte mein Sandwich weg, wandte mich ihm zu. Er saß auf seinem üblichen Platz, trug Jeans sowie einen schwarzen Pulli mit rundem Ausschnitt. Das iPod war natürlich dabei, die Kopfhörer baumelten um Owens Hals.

»Deine Sendung?«

»Ja.«

Ich nickte. »Habe ich.«

»Und?«

Obwohl ich fast das ganze Wochenende damit verbracht hatte, mir bewusst zu machen, wie oft ich flunkerte oder um des lieben Friedens willen sogar unverblümt log, war mein erster Impuls, genau das zu tun. Zu lügen. Wahrheit als Prinzip war eine schöne Sache. Sie jemandem ins Gesicht zu sagen, eine ganz andere.

»Na ja. Es war … interessant.«

»Interessant«, wiederholte er.

»Ja. Ich … äh … hatte keines der Stücke vorher je gehört.«

Er sah mir direkt ins Gesicht, musterte mich schweigend. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Und dann zuckte ich zusammen, denn er stand plötzlich auf, war mit drei großen Schritten bei mir und setzte sich neben mich. »Okay. Hast du die Sendung wirklich gehört?«

»Ja.« Ich versuchte, nicht zu stottern. »Sag ich doch.«

»Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber du hast mir selbst erzählt, dass du ziemlich oft lügst.«

»So habe ich das nicht gesagt.«

Er hob bloß die Augenbrauen.

»Manchmal verschweige ich die Wahrheit«, fuhr ich fort. »Aber nicht jetzt. Ich habe mir die Sendung von vorne bis hinten angehört, ehrlich.«

Offensichtlich glaubte er mir immer noch nicht. Was mich nicht weiter wunderte.

Ich atmete tief durch: »Jennifer von Lipo, Descartes Dream von Misanthrope. Ein Lied, das hauptsächlich aus Gepiepse bestand –«

»Du hast tatsächlich zugehört.« Er lehnte sich zurück und nickte. »Okay. Erzähl mir, was du wirklich darüber denkst.«

»Sagte ich doch. Es war interessant.«

»Interessant ist kein Wort.«

»Seit wann?«

»Es ist ein Platzhalter. Etwas, das man so daherplappert, wenn man etwas anderes nicht offen sagen möchte.« Er beugte sich noch näher zu mir. »Hör zu, falls du nervös bist, du könntest meine Gefühle verletzen oder so – mach dir keinen Kopf. Du kannst sagen, was du willst. Ich bin nicht beleidigt.«

»Ich mochte deine Sendung, echt.«

»Sag die Wahrheit. Sag was. Irgendetwas. Lass es raus.«

»Ich …« Ich stockte. Vielleicht weil er mich so offensichtlich durchschaute. Oder weil mir plötzlich klar wurde, wie selten ich tatsächlich ehrlich war. Warum auch immer – ich knickte ein. »Ich … es hat mir nicht gefallen.«

Er schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Ich wusste es. Weißt du, dafür, dass du so viel lügst, bist du ziemlich schlecht.«

Das war ein Kompliment. Oder etwa nicht? Keine Ahnung. »Ich bin keine Lügnerin.«

»Stimmt. Du bist nett

»Was ist falsch daran, nett zu sein?«

»Nichts. Außer dass es meistens bedeutet, dass man nicht ehrlich ist. Jetzt spuck schon aus, was du beim Hören wirklich gedacht hast.«

Was ich in diesem Augenblick wirklich dachte, war: Ich fühlte mich verunsichert. Als ob ich nackt vor Owen Armstrong stünde, es jedoch nicht einmal gemerkt hatte. »Ich mochte die Art der Sendung, aber die Songs waren …«

»Waren wie?« Er schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht. »Ein paar Adjektive, bitte. Etwas anderes als interessant.«

»Schrill. Grotesk.«

»Okay.« Er nickte. »Und weiter?«

Ich sah ihm forschend ins Gesicht, suchte nach Anzeichen dafür, dass er gekränkt oder sauer war. Doch es gab keine. Deshalb fuhr ich fort: »Na ja, der erste Song … der tat richtig weh in den Ohren. Und der zweite, der von diesen Misanthropen …«

»Descartes Dream.«

»Bei dem bin ich fast eingeschlafen. Ernsthaft.«

»So was kommt vor. Weiter?«

Sein Ton klang beiläufig; er schien tatsächlich nicht im Mindesten verärgert. Also tat ich, was er wollte – ich fuhr fort: »Die Harfenmusik klang wie das, was man sonst auf Beerdigungen hört.«

»Ah. Okay. Gut.«

»Und das Technozeug kann ich persönlich nicht ausstehen.«

»Nichts davon?«

»Nichts.«

Er nickte. »In Ordnung. Danke für das Feedback, das war hilfreich.«

Und das war’s dann auch schon. Er zog sein iPod hervor, drückte auf die Starttaste. Keine Wutanfälle, keine verletzten Gefühle, keine beleidigte Miene. »Es ist also okay für dich?«, fragte ich.

»Dass du auf die Sendung nicht gerade abgefahren bist?« Beim Sprechen blickte er nicht auf.

»Ja.«

Er zuckte mit den Schultern. »Klar ist das okay. Es wäre schön gewesen, wenn sie dir gefallen hätte. Aber sie gefällt den wenigsten. Ich bin also nicht sonderlich überrascht.«

»Stört dich das denn überhaupt nicht?«

»Nicht wirklich. Ich meine, zuerst war ich schon enttäuscht. Aber man kommt auch wieder drüber weg, wenn man enttäuscht worden ist. Sonst hätten wir uns alle längst aufgehängt, schätze ich.«

»Bitte?«

Darauf ging er jedoch nicht ein, sondern fragte stattdessen unvermittelt: »Und das Shanty?«

Ich sah ihn irritiert an.

»Die Männer, die davon singen, wie es ist, übers offene Meer zu segeln. Was hieltest du davon?«

»Schräg. Ziemlich schräg.«

»Schräg«, wiederholte er langsam. »Aha. Okay.«

In dem Augenblick hörte ich Stimmen, Schritte, die sich näherten. Ich drehte mich um. Sophie und Emily gingen gerade über den Schulhof. Was ich am Freitag zuvor mit Owen erlebt hatte, hatte mich so verwirrt, dass ich die Auseinandersetzung, die dem vorausgegangen war, während des Wochenendes komplett verdrängt hatte. Aber an jenem Morgen, auf der Fahrt zur Schule, kam mir alles wieder in den Sinn; während ich begann, darüber nachzudenken, was wohl geschehen würde, wenn ich Sophie begegnete, konnte ich fühlen, wie meine Anspannung mit jedem Meter, jeder Minute wuchs. Doch bis zu diesem Moment war ich ihr heute erst einmal über den Weg gelaufen. Und was war passiert? Sie funkelte mich zornig an, murmelte im Vorbeigehen ein leises »Schlampe«. Nichts Neues also.

Als sie jetzt allerdings zu mir herübersah, weiteten sich ihre Augen. Sie stupste Emily mit dem Ellbogen an. Und nun starrten beide zu uns her. Ich spürte, dass ich rot wurde. Rasch senkte ich den Blick, schaute auf meine Tasche, die vor meinen Füßen auf der Erde lag.

Owen bekam nichts davon mit. Er legte sein iPod weg und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Du hast keins der Technostücke gemocht? Ich meine, nicht einmal ein bisschen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid.«

»Es muss dir nicht leidtun, das ist eben deine Meinung. In der Musik gibt es weder richtig noch falsch und dazwischen einfach alles.«

Zu meiner Verblüffung klingelte es genau jetzt zur nächsten Stunde. Ich hatte mich so daran gewöhnt, dass sich die Mittagspause endlos hinzog – diese hingegen war wie im Flug vergangen. Ich steckte ein, was von meinem Sandwich übrig war. Owen hüpfte von der Mauer, stopfte den Player in die Hosentasche, griff nach seinen Kopfhörern.

»Also dann. Bis dahin«, meinte ich.

»Klar.« Er stülpte sich die Kopfhörer über.

Ich nahm meine Tasche, rutschte von der Mauer.

»Bis dann«, setzte Owen noch hinzu.

Während er davonging, warf ich erneut einen Blick zur Bank hinüber. Sophie und Emily belauerten mich nach wie vor. Sophie sagte gerade etwas, woraufhin Emily belustigt den Kopf schüttelte. Ich konnte nur erahnen, was sie gerade über uns erzählten, welche wilden Geschichten sie sich ausdachten. Doch keine konnte abstruser sein als die Wahrheit: dass Owen Armstrong und ich möglicherweise schlicht und einfach Freunde waren.

Während mir all das durch den Kopf ging, blickte ich ihm noch einmal nach und entdeckte ihn bei den anderen Schülern, die nach der Pause vom Hof strömten. Er hatte seine Kopfhörer auf, seinen Rucksack über die Schulter geschlungen und befand sich auf dem Weg zu dem Gebäude, wo der Kunstunterricht stattfand. Sophie und Emily beobachteten ihn ebenfalls, wovon er allerdings nichts mitbekam. Und falls doch, hätte es ihn garantiert nicht die Bohne interessiert. Worum ich ihn letztlich noch mehr beneidete als um seine Ehrlichkeit, seine Direktheit oder sonst etwas.

 

Den Job, für Mooshka Surfwear zu modeln, bekam ich letztlich doch nicht. Was ich weder furchtbar noch überraschend fand. Meine Mutter schien enttäuscht zu sein. Ich dagegen empfand nichts als Erleichterung, dass das Ganze vorbei war und ich mich auf neue Projekte konzentrieren konnte. Aber als ich am nächsten Tag in der Mittagspause meine Snacks etcetera auspackte, flatterte mir eine Notiz entgegen.

 

Annabel,

ich möchte dir nur sagen, dass ich wegen allem, was du bereits erreicht hast, sehr stolz auf dich bin. Lass dich von der Absage durch Mooshka nicht entmutigen. Linda meinte, die Konkurrenz sei sehr groß gewesen; du warst anscheinend in der engeren Wahl, sie fanden dich wirklich prima. Linda und ich werden uns heute treffen, sie hat nämlich schon etwas anderes für dich im Auge, das sehr interessant klingt. Heute Abend kann ich dir hoffentlich schon mehr erzählen. Ich wünsche dir einen schönen, erfolgreichen Tag.

 

»Schlechte Nachrichten?«

Ich schreckte hoch. Owen stand vor mir. »Was?«

»Du wirkst irgendwie gestresst.« Er deutete auf die Notiz in meiner Hand. »Stimmt etwas nicht?«

»Nein, nein.« Ich faltete den Zettel zusammen, legte ihn neben mich. »Alles bestens.«

Er trat dichter an die Mauer heran und setzte sich direkt neben mich. Nicht ganz so nah wie am Tag zuvor. Aber auch nicht so weit weg wie sonst. Ich sah zu, wie er sein iPod aus der Hosentasche zog, sich auf den Händen abstützte, zurücklehnte und seinen Blick über den Schulhof, der vor uns lag, wandern ließ.

Ich wusste, dass meine letzte Antwort nicht ganz ehrlich gewesen war. Doch sofern ich den Mund hielt, würde er es nie erfahren. Außerdem hätte es ihn wahrscheinlich überhaupt nicht interessiert. Dennoch verspürte ich aus irgendeinem Grund urplötzlich das Bedürfnis, »umzuformulieren und umzudirigieren«. Alles auszusprechen, wie es war.

Ich öffnete den Mund und sagte: »Es ist bloß wegen dieser Sache mit meiner Mutter.«

Er wandte den Kopf, musterte mich eindringlich. Hielt er mich schlicht für gaga? Oder kapierte er bloß kein Wort von dem, was ich sagte. »Sache?«, wiederholte er. »Nur damit du Bescheid weißt: ›Sache‹ ist einer der lahmsten Platzhalter überhaupt.«

Logo, dachte ich, was sonst? Setzte trotzdem an, es genauer zu erklären: »Es geht um meine Jobs als Model.«

»Model?« Er wirkte kurz irritiert, dann fiel es ihm wieder ein: »Ach ja, richtig, Mallory hat so etwas erwähnt. Du warst in irgendeinem Werbespot, richtig?«

»Ich jobbe schon als Model, seit ich ein Kind war. Meine beiden Schwestern übrigens auch. Aber in letzter Zeit ist mir klar geworden, dass ich lieber damit aufhören würde.«

Da. Es war passiert. Der Gedanke, der sich bislang nur in meinem Kopf geformt hatte, war raus. Und das auch noch vor Owen Armstrong. Ausgerechnet!

Allein das war bereits ein so großer Schritt für mich, dass ich an diesem Punkt ruhig hätte aufhören können. Aber warum auch immer – ich redete weiter.

»Es ist einfach ziemlich kompliziert, weil es meiner Mutter so viel bedeutet. Es würde ihr ziemlich viel ausmachen, wenn ich aufhören würde.«

»Aber du willst nicht weitermachen, oder?«

»Stimmt.«

»Dann solltest du es ihr sagen.«

»Bei dir klingt das so, als sei es das Einfachste von der Welt.«

»Ist es das nicht?«

»Nein.«

Gelächter ertönte; eine Gruppe Schüler aus der Unterstufe trat aus den Türen zu unserer Linken und unterhielt sich dabei in höchster Lautstärke. Owen schaute kurz zu ihnen hinüber, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Warum nicht?«, fragte er.

»Ich streite mich nicht gern.«

Er warf einen vielsagenden Blick zu Sophie hinüber, die mit Emily auf ihrem gemeinsamen Stammplatz – Bank – saß. Dann wanderte sein Blick langsam zu mir zurück.

»Na ja«, fuhr ich fort. »Auf jeden Fall bin ich keine besonders geschickte Streiterin.«

»Was ist zwischen euch beiden eigentlich gelaufen?«

»Zwischen Sophie und mir?« Ich fragte nach, obwohl ich genau wusste, was er meinte. Er nickte. »Es gab da … Wir haben uns in den Sommerferien verkracht.«

Worauf er erst einmal schwieg. Mir war sonnenklar, dass er weitere Einzelheiten erwartete. »Sie denkt, ich habe mit ihrem Freund geschlafen«, fügte ich hinzu.

»Und, hast du?«

Logisch, dass er so unverblümt nachfragen würde. Trotzdem spürte ich, wie ich rot wurde. »Nein. Habe ich nicht.«

»Vielleicht solltest du ihr das sagen.«

»Das ist nicht so einfach.«

»Ach ja? Kann sein, dass ich total falsch liege, aber ich wittere hier ein durchgängiges Muster.«

Ich sah auf meine Hände und dachte insgeheim – nicht zum ersten Mal – darüber nach, wie simpel ich offenbar gestrickt war, wenn Owen in weniger als einer Woche so viel über mich herausfinden konnte. »Wenn du also ich wärst, würdest du –«

»Ehrlich sein«, vollendete er meinen Satz. »In beiden Fällen.«

»Du sagst das, als sei es total easy.«

»Ist es nicht. Aber du kannst es schaffen. Es erfordert nur etwas Übung.«

»Übung?«

»Beim Wutbewältigungstraining mussten wir dauernd diese Rollenspiele machen. Damit man lernt, Eskalationen zu vermeiden.«

»Du hast Rollenspiele gemacht?« Ich versuchte, mir das bildlich vorzustellen.

»Zwangsläufig. Es war eine Auflage vom Gericht.« Er seufzte. »Aber ich muss zugeben, dass es mir geholfen hat. Denn wenn wirklich einmal etwas in der Richtung passiert, hat man gleich eine Art Gebrauchsanweisung, wie man damit umgehen kann.«

»Klingt einleuchtend.«

»Okay.« Er rutschte ein Stück näher an mich heran. »Also, nehmen wir mal an, ich bin deine Mutter.«

»Was?!«

»Ich bin jetzt deine Mutter. Und du erzählst mir, dass du mit Modeln aufhören möchtest.«

Ich spürte, wie ich rot wurde. Schon wieder. »So etwas kann ich nicht.«

»Warum nicht? Nimmst du mir das etwa nicht ab? Meinst du, ich bin kein guter Rollenspieler?«

»Nein, das meine ich nicht … es ist nur –«

»Bin ich nämlich. In meiner Gruppe wollten immer alle, dass ich ihre Mama spiele.«

Ich sah ihn an. »Es ist nur so … es ist nur so seltsam.«

»Nein, schwierig. Es ist schwierig. Aber nicht unmöglich. Probier es einfach.«

Vor einer Woche hatte ich noch nicht einmal gewusst, welche Augenfarbe er hatte. Jetzt kam es mir manchmal so vor, als gehörten wir zu einer Familie, jedenfalls zeitweise. Ich atmete tief durch.

»Okay. Also –«

»Mama«, warf er ein.

»Bitte?«

»Je genauer und konkreter du die Übung machst, umso hilfreicher«, erklärte er. »Ganz oder gar nicht.«

»Okay …«, setzte ich erneut an, »... Mama.«

»Ja?«

Das ist doch plemplem, dachte ich im Stillen. Doch trotzdem sagte ich: »Mir ist bewusst, dass die Sache mit dem Modeln für dich wirklich wichtig –«

Er unterbrach mich mit einer Geste: stopp. »U und U: umformulieren, umdirigieren.«

»Warum?«

»Wegen des Wortes ›Sache‹. Wie schon gesagt, ist es der am häufigsten gebrauchte Platzhalter überhaupt. Nichtssagend, bedeutungslos, banal. Aber bei Auseinandersetzungen muss man sich so präzise wie möglich ausdrücken, um Missverständnisse zu vermeiden.« Er beugte sich noch etwas näher zu mir vor. »Ich weiß, es fühlt sich schräg an. Aber es funktioniert, Ehrenwort.«

Was leider nur ein kleiner Trost war. Denn schon längst war mir nicht mehr nur unbehaglich zumute, ich hatte vielmehr das Gefühl, langsam, aber sicher eine unsichtbare Grenze zu überschreiten und mich auf die Art selbst total fertigzumachen. »Ich weiß, es ist sehr wichtig für dich, dass ich als Model arbeite, und dass es dir persönlich viel Freude macht.«

Owen nickte und signalisierte mir fortzufahren.

»Aber um ehrlich zu sein …« Ich hob die Hand, steckte mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Es ist bloß so, dass ich in letzter Zeit ziemlich viel darüber nachgedacht habe, und ich merke –«

Das Problem war: Ich wusste, dass es sich nur um ein Spiel handelte. Eine Übung. Nicht die Realität. Dennoch fühlte ich mich wie festgeklemmt, wie ein Motor, der noch ein paarmal knallt, spuckt und knattert, ehe er endgültig absäuft. Ich steckte zu tief drin – wenn ich versagte, käme nicht nur raus, dass ich mich nicht streiten konnte. Ich würde mich auch vor Owen blamieren.

Er schaute mich geduldig wartend an.

»Ich kann nicht«, sagte ich. Blickte zur Seite.

»Aber du hattest es schon fast«, erwiderte er und schlug mit der Handfläche gegen die Mauer. »Du warst so kurz davor.«

»Tut mir leid.« Ich nahm mein Sandwich in die Hand. Meine Stimme klang gepresst, als ich fortfuhr: »Ich kann … das einfach nicht.«

Er sah mich einen Moment lang nur an. Zuckte schließlich die Achseln. »Okay. Kein Problem.«

Einen Augenblick lang saßen wir schweigend nebeneinander. Mir war nicht klar, was genau da gerade abgegangen war. Nur, dass es sich plötzlich doch nach einem Problem anfühlte. Dann hörte ich, wie Owen tief durchatmete.

»Hör zu«, sagte er, »ich will dazu nur noch Folgendes sagen: Es zieht einen total runter, wenn man so etwas für sich behält und jeden Tag in diesem Zustand durch die Gegend rennt, dass man eigentlich so viel sagen will, es aber nicht kann. Nicht tut. Das macht einen doch kirre oder etwa nicht?«

Ich wusste, er meinte das Modeln. Aber während ich ihm zuhörte, musste ich unwillkürlich an etwas anderes denken. Das, was ich niemals zugeben würde. Mein größtes Geheimnis. Das, was ich niemals erzählen konnte. Denn wenn auch nur der kleinste Lichtstrahl darauf fiel, wenn auch nur das geringste bisschen davon nach außen drang, konnte ich es nie wieder wegdrücken.

»Ich muss los.« Ich stopfte mein Sandwich in die Tasche. »Ich … ich muss mit meinem Englischlehrer über mein nächstes Projekt reden.«

»Aha.« Ich spürte, dass er mich beobachtete, erwiderte seinen Blick jedoch ganz bewusst nicht. »Schon klar.«

Ich stand auf, griff nach meiner Tasche. »Wir, äh … also, bis dann.«

»Ja.« Er griff nach seinem iPod. »Bis dann.«

Ich nickte. Und irgendwie schaffte ich es tatsächlich, ihm den Rücken zuzukehren, von ihm wegzugehen. Ich wartete, bis ich am Haupteingang angekommen war, bevor ich mich noch einmal nach ihm umdrehte.

Er saß still da, den Kopf gesenkt, und hörte Musik. Als wäre überhaupt nichts gewesen. Ich erinnerte mich plötzlich an meinen allerersten Eindruck von ihm: dass er gefährlich war, bedrohlich. Mittlerweile wusste ich, das stimmte nicht. Jedenfalls nicht in dem Sinn, wie ich ursprünglich gedacht hatte. Dennoch hatte Owen Armstrong etwas Beängstigendes an sich: Er war ehrlich und erwartete genau das auch von jedem anderen Menschen. Was mir höllische Angst einjagte.

 

Als ich Owen hinter mir auf der Mauer zurückließ, fühlte ich mich zunächst einmal erleichtert. Aber das hielt nicht lange vor.

Erst im Laufe des Tages wurde mir in seinem ganzen Ausmaß bewusst, was eigentlich abgegangen war: Ich kannte Owen kaum, war ihm gegenüber jedoch wesentlich ehrlicher gewesen als über lange Zeit zu irgendeinem anderen Menschen sonst. Jetzt wusste er also, was sich zwischen Sophie und mir abgespielt hatte, wusste von Whitneys Krankheit und dass ich Modeln nicht mehr ausstehen konnte. Eine ganze Menge Enthüllungen dafür, dass ich es letztendlich kaum riskieren konnte, mich mit ihm anzufreunden. Oder etwa doch? Ich war in dem Punkt ziemlich verunsichert, wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber weiter verhalten sollte. Bis ich zufällig Clarke traf.

Es war nach der siebten Stunde; sie stand in der Eingangshalle und öffnete gerade ihren Spind. Sie trug ihr Haar in zwei abstehenden Zöpfen, Jeans, ein schwarzes Shirt und Riemchenschuhe aus Lackleder. Während ich noch zu ihr hinübersah, lief hinter ihr ein Mädchen vorbei, das ich nicht kannte, und sagte im Vorbeigehen ihren Namen. Clarke drehte sich um, lächelte, begrüßte das Mädchen ebenfalls. Nichts Besonderes, ein ganz normaler Moment an einem ganz normalen Tag. Aber etwas daran machte mich betroffen. Ich merkte, wie meine Gedanken weit, weit zurückwanderten, zu jenem Abend im Schwimmbad. Das war einer der Fälle gewesen, da ich vor einem Konflikt Angst gehabt hatte, Angst davor, ehrlich zu sein, sogar Angst davor, einfach bloß meinen Mund aufzumachen. Und dadurch hatte ich eine Freundin verloren. Die beste Freundin, die ich je gehabt hatte.

Es war zu spät, um das, was zwischen mir und Clarke passiert war, rückgängig zu machen. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät, um überhaupt etwas zu ändern. Möglicherweise sogar mich selbst. Deshalb zog ich los, um Owen zu suchen.

In einer Schule mit über zweitausend Schülern kann man sich leicht selbst verlieren, geschweige denn, dass man jemanden findet, den man bewusst sucht. Doch Owen konnte man auch in größeren Menschenansammlungen nicht verfehlen – hätte man zumindest meinen können. Als ich daher weder ihn noch seinen Straßenkreuzer aufspüren konnte, blieb als logische Schlussfolgerung eigentlich nur, dass ich ihn verpasst hatte. Ich stieg daher leicht frustriert in mein Auto, wollte gerade vom Parkplatz auf die Hauptstraße einbiegen, da entdeckte ich ihn plötzlich. Er war zu Fuß unterwegs, lief auf dem Mittelstreifen, Rucksack über die Schulter geworfen, Kopfhörer übergestülpt.

Erst als ich ihn schon fast erreicht hatte, kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht drauf und dran war, einen Fehler zu begehen. Aber man bekommt im Leben nur wenige zweite Chancen, nur selten eine echte Gelegenheit, die Zukunft zu korrigieren – wenn man schon die Vergangenheit nicht ändern kann. Deshalb bremste ich, fuhr langsamer, ließ mein Fenster herunter.

»Hey«, rief ich, doch er hörte mich nicht. »Owen!« Noch immer keine Reaktion. Ich legte meine Hand auf die Mitte des Lenkrads, drückte fest auf die Hupe. Endlich wandte er den Kopf.

»Hi.« Gereiztes Hupen hinter mir; jemand brauste ungeduldig vorbei. »Was gibt’s?«

»Was ist mit deinem Auto passiert?«

Er blieb stehen, griff sich ans linke Ohr, zog den Kopfhörer raus. »Mobilitätsprobleme.«

Das ist die Gelegenheit, redete ich mir selbst gut zu. Sag was. Irgendetwas. Los, raus damit!

»Kenne ich.« Ich streckte die Hand aus, stieß die Beifahrertür von innen auf. »Steig ein.«