Owen Armstrong wirkte wie ein Riese, seine Hand schien gigantisch, als sie sich mir entgegenstreckte. Seine Finger umschlossen meine, er zog mich hoch. Für einen Moment stand ich tatsächlich aufrecht da; doch dann wurde mir schummrig im Kopf, schwindelig, und ich schwankte.
»Ups!« Owen versuchte, mich zu stützen. »Moment, warte. Besser, du setzt dich erst mal hin.«
Er schob mich vorsichtig zwei Schritte zurück und ich spürte die Backsteinmauer des Gebäudes an meinem Rücken, kühl, fest. Ich ließ mich langsam an der Mauer nach unten gleiten, bis ich im Gras saß. Aus diesem neuen Blickwinkel erschien er gleich noch größer.
Er zog mit Schwung seinen Rucksack von der Schulter, der mit einem lauten Plumps auf den Boden fiel. Owen hockte sich daneben, griff hinein, kramte darin herum. Ich hörte, wie seine Sachen aneinanderstießen, als würden sie neu sortiert. Flüchtig kam mir der Gedanke, ob ich deswegen eigentlich beunruhigt sein sollte. Schließlich hörte Owen auf zu kramen. Ich spürte meine Anspannung, als er seine Hand Stück für Stück und ganz langsam aus dem Rucksack zog. Zum Vorschein kam – eine Packung Papiertaschentücher. Eine kleine, zerknüllte, zerknitterte Packung. Er presste sie an seine Brust (meine Güte, was für eine breite Brust), um sie, mehr schlecht als recht, glatt zu streichen, bevor er ein Taschentuch herauszog und mir reichte. Ich nahm es mit denselben Gefühlen entgegen, mit denen ich zuvor seine Hand ergriffen hatte – ziemlich skeptisch, sehr vorsichtig.
»Wenn du willst, kannst du die ganze Packung haben.«
»Schon okay.« Meine Stimme hörte sich rau an. »Eins reicht erst einmal.« Ich hielt es mir vor den Mund. Er legte die Packung trotzdem neben meine Füße. »Danke.«
»Kein Thema.« Nun machte er es sich neben seinem Rucksack im Gras bequem. Da ich mittags Unterricht gehabt hatte, waren wir uns an diesem Tag noch gar nicht über den Weg gelaufen. Er sah im Prinzip aus wie immer: Jeans, am Saum ausgefranstes T-Shirt, schwarze Boots mit dicken Sohlen, Kopfhörer. Als ich genauer hinschaute, bemerkte ich, dass er ein paar Sommersprossen hatte und seine Augen grün waren, nicht braun. Also grün, definitiv. Ich hörte Stimmen, die sich vom Schulhof her näherten. Sie klangen, als würden sie jeden Moment über unseren Köpfen zusammenschlagen.
»Tja, also, alles okay mit dir?«, fragte er.
Ich nickte. Fügte sofort hinzu: »Ja. Mir wurde plötzlich schlecht, kann gar nicht genau sagen –«
»Ich habe mitgekriegt, was passiert ist.«
»Oh.« Ich merkte, wie ich rot wurde. So viel zum Thema ›das Gesicht wahren‹.
»Ja, das war ziemlich … übel.«
Er zuckte die Achseln. »Hätte schlimmer sein können.«
»Findest du?«
»Klar.« Seine Stimme klang gar nicht so dröhnend, wie ich vermutet hätte, sondern dunkel und gleichmäßig. Fast sanft. »Du hättest sie richtig verprügeln können.«
Ich nickte. »Ja, vielleicht hast du recht.«
»Ist aber besser, dass du es nicht gemacht hast. Das wäre es nicht wert gewesen.«
»Nein?«, fragte ich. Dabei hatte ich daran nicht einmal im Traum gedacht.
»Nein. Selbst wenn es dir zu dem Zeitpunkt vielleicht gutgetan hätte. Vertrau mir.«
Das Seltsame war, dass ich es tat. Intuitiv. Ihm vertrauen, meine ich. Ich schaute auf das Päckchen, das er neben meine Füße gelegt hatte, nahm es in die Hand, zog noch ein Taschentuch heraus. Gleichzeitig hörte ich aus meiner Tasche ein surrendes Geräusch. Mein Handy.
Ich holte es raus, blickte auf das Display. Meine Mutter. Kurz zögerte ich, das Gespräch anzunehmen. Ich meine, es war schon schräg genug, mit Owen Armstrong auf dem Rasen hinter der Schule zu hocken. Da konnte ich nicht auch noch meine Mutter gebrauchen. Auf der anderen Seite hatte ich in dem Moment auch nichts mehr zu verlieren, wenn man bedachte, dass Owen mir – nun schon zum zweiten Mal – beim Übergeben zugeschaut hatte, heute zudem mit der speziellen Dreingabe, wie ich vor der halben Schule ausgeflippt war. Das Stadium der Begrüßung, Vorstellung und anderer Formalitäten hatten wir dementsprechend längst hinter uns. Was war also schon dabei, wenn ich in Owens Beisein mit meiner Mutter telefonierte? Nichts.
»Hallo.«
»Hallo, mein Schatz.« Ihre Stimme drang so laut durch den Hörer, dass Owen sie vermutlich über die Entfernung zwischen uns hinweg hörte. Ich presste das Handy fester ans Ohr. »Und, wie war dein Tag?«, fragte sie.
In dem Augenblick bemerkte ich den nervösen, schrillen Unterton in ihrer Stimme, der sich immer dann einstellte, wenn sie sich wegen irgendetwas Sorgen machte, aber so tat, als wäre alles in bester Ordnung.
»Alles bestens. Mir geht es gut. Was gibt’s denn?«
»Whitney ist noch in der Mall. Sie hat einige nette Sachen im Ausverkauf gefunden, aber den Film verpasst. Und sie möchte ihn so gern sehen. Deswegen rief sie an und meinte, dass sie in eine spätere Vorstellung geht und erst anschließend heimkommt.«
Ich wechselte das Telefon an mein anderes Ohr, weil in diesem Augenblick von der Seite des Gebäudes her Stimmengewirr ertönte und ich meine Mutter kaum noch verstehen konnte. Owen warf einen aufmerksamen Blick in die Richtung, aus der die Stimmen zu uns herüberdrangen, aber nach ein paar Sekunden entfernten sie sich wieder. »Sie holt mich also nicht ab?«
»So wie es aussieht, nicht, nein.« Natürlich versuchte Whitney, am ersten Tag Freiheit für sich rauszuholen, was ging. Und natürlich sagte meine Mutter zuerst: Selbstverständlich, kein Problem, kommst du eben ein wenig später nach Hause. Und drehte erst dann durch. »Aber ich kann dich abholen. Oder vielleicht kannst du bei einer deiner Freundinnen mitfahren?«
Einer meiner Freundinnen. Schon klar. Ich schüttelte den Kopf, fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Mama …«, begann ich und bemühte mich, meine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen. »Es ist nur schon so spät und –«
Prompt fiel sie mir ins Wort: »In Ordnung, kein Problem. Ich komme und hole dich ab. Bin in einer Viertelstunde da.«
Sie wollte eigentlich nicht, das war uns beiden klar. Denn Whitney konnte ja in der Zwischenzeit anrufen. Oder nach Hause kommen. Oder, was noch schlimmer war: nicht nach Hause kommen. Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, dass wir beide einfach sagten, was wir dachten. Aber das war – wie so vieles – schlicht unmöglich.
»Ist okay, lass mal. Ich werde schon jemanden finden, der mich mitnimmt.«
»Sicher?« Doch ich hörte bereits, wie sie sich entspannte, weil dadurch zumindest dieses Problem gelöst war.
»Klar. Falls nicht, rufe ich noch einmal an.«
»Tu das«, antwortete sie. Und fügte gerade, als ich drauf und dran war, innerlich vor Wut zu zerplatzen, hinzu: »Vielen Dank, Annabel.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, saß ich im ersten Moment nur da und hielt das Handy in meiner Hand. Wieder einmal drehte sich alles nur um Whitney. Für sie war es ein Tag wie jeder andere, vielleicht sogar ein besonders schöner Tag; meiner hingegen war echt beschissen gelaufen. Und jetzt musste ich auch noch zu Fuß heimgehen?
Ich blickte zu Owen hinüber. Während ich über dieses neueste meiner Probleme sinnierte, hatte er sein iPod hervorgekramt und daran herumgefummelt. »Du brauchst also wen, der dich heimfährt.« Beim Sprechen blickte er mich nicht an.
»Oh, äh, nein«, entgegnete ich rasch und schüttelte den Kopf. »Es ist nur wegen meiner Schwester … sie kann einem echt auf die Nerven gehen.«
»Kenne ich.« Er drückte ein letztes Mal auf den Reglern seines iPods herum, steckte ihn zurück in die Tasche und stand auf, wobei er seine Hose abklopfte. Bückte sich, schnappte sich seinen Rucksack, hievte ihn über seine Schulter. »Na, dann komm.«
Seit Beginn des Schuljahres hatte ich so manches argwöhnische oder kritische Mustern über mich ergehen lassen müssen. Aber das war nichts gegen die Blicke, die Owen und mir zugeworfen wurden, während wir nun gemeinsam zum Parkplatz liefen. Jeder, an dem wir vorbeikamen, starrte uns an, die meisten ganz offen. Einige fingen sogar noch, bevor wir außer Hörweite waren, an zu tuscheln, nach dem Motto: Hilfe, hast du das gesehen? Doch Owen schien es gar nicht zu bemerken; er lotste mich in aller Seelenruhe zu einem uralten blauen Straßenkreuzer mit Holzverschalung an den Seiten, auf dessen Beifahrersitz mindestens zwanzig CDs lagen. Stieg ein, setzte sich ans Steuer, räumte die CDs vom Sitz und langte schließlich zur Beifahrertür, um sie mir von innen zu öffnen.
Ich stieg ein, griff nach dem Gurt, hatte ihn schon fast angelegt, als Owen plötzlich meinte: »Moment, nicht so. Der ist nämlich im Prinzip hinüber.« Er signalisierte mir, ich solle den Gurt loslassen. Was ich denn auch tat, worauf er ihn über mich hinwegzog – mir fiel auf, dass seine Hände dabei in sehr schicklichem und gebührendem Abstand zu meinem Körper blieben –, die Schnalle vom Sitz löste, sie an einem Ende festhielt, den Gurt einhakte. Und aus dem Ablagefach in der Fahrertür einen kleinen Hammer zog.
Ich wirkte anscheinend plötzlich ziemlich beunruhigt – Mädchen, 17, tot auf Schulparkplatz aufgefunden –, denn er warf mir einen Blick zu und sagte: »Nur so funktioniert es.« Dabei klopfte er dreimal mit dem Hammer auf die Mitte der Schnalle, zog noch einmal am Gurt, um zu testen, ob er wirklich fest saß. Was der Fall war. Also steckte Owen den Hammer zurück ins Türfach und ließ den Motor an.
»Wow.« Ich zog kurz an dem Gurt. Er gab kein bisschen nach. »Und wie kriegt man den wieder ab?«
»Einfach auf die Schnalle drücken. Der Teil der Übung ist easy.«
Während wir über den Parkplatz fuhren, kurbelte Owen sein Fenster runter und legte den Arm auf den Rahmen. Ich sah mich im Wageninneren um. Das Armaturenbrett war abgenutzt, das Leder der Sitzbezüge an einigen Stellen eingerissen. Außerdem roch es leicht nach Rauch, obwohl der halb geöffnete Aschenbecher sauber und nicht mit Kippen, sondern mit Münzen gefüllt war. Auf der Rückbank lagen Kopfhörer, ein Paar klobiger, dunkelrotbrauner Stiefel sowie diverse Zeitschriften.
Aber vor allem stachen mir die CDs in die Augen. Tonnenweise CDs. Nicht nur diejenigen, die er für mich weggeräumt und auf den Boden hinter den Fahrersitz gelegt hatte. Sondern stapelweise weitere CDs. Einige davon mit Original-CD-Hülle, aber die meisten selbst gebrannt. Es waren ganze Haufen – auf dem Boden, auf der Rückbank. Und die Anlage war im Gegensatz zum Wagen nicht nur nicht alt, sondern das Neueste vom Neuen; die vielen roten Leuchtdioden erinnerten an die Steuerkonsole eines Raumschiffs.
Während ich das alles noch in mich aufnahm und darüber nachdachte, hatte Owen das Stoppschild am Ende des Parkplatzes erreicht, setzte den Blinker, blickte nach rechts, nach links, wartete. Streckte unterdessen die Hand aus und gab dem Lautstärkeregler der Anlage mit der Seite seines Daumens einen kleinen Schubs nach oben. Bog schließlich nach rechts ab.
Trotz der zahllosen Mittagspausen, in denen ich ihn heimlich beobachtet hatte wie eine Forscherin, trotz allem, was ich dabei bereits über ihn herausfinden konnte, gab es immer noch eine große Unbekannte: Owens Musikgeschmack. Ich hatte allerdings so meine Vermutungen, stellte mich daher auf Punkrock oder Thrash Metal ein, jedenfalls auf irgendetwas Schnelles, Hektisches, Lautes.
Doch stattdessen hörte ich nach dem anfänglichen elektronischen Surren beim Starten jeder CD – Zirpen. Lautes Gezirpe, wie von einem veritablen Grillenchor. Gleich darauf ertönte eine Stimme, die in einer mir unbekannten Sprache sang. Zirpen und Gesang wurden lauter und es war fast so, als würden sie einander abwechselnd etwas zurufen. Owen neben mir fuhr konzentriert vor sich hin und wippte dabei leicht mit dem Kopf.
Nach vielleicht anderthalb Minuten siegte meine Neugier. »Und? Was ist das?«
Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Spirituelle Gesänge der Mayas.«
»Bitte was?« Ich musste laut sprechen, um das Gezirpe zu übertönen, das mittlerweile echt ziemlich heftig abging.
»Spirituelle Gesänge der Mayas«, wiederholte er. »Sie wurden mündlich überliefert, wie früher Geschichten von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden.«
»Ah ja«, erwiderte ich. Der Gesang war jetzt so laut, dass ich fast schreien musste. »Wo hast du das her?«
Er langte nach vorne und drosselte die Lautstärke ein klein wenig. »Aus der Unibibliothek. Hab’s in der Ton- und Kulturabteilung entdeckt.«
»Ach wirklich?« Owen Armstrong war also spirituell veranlagt. Wer hätte das gedacht? Andererseits: Wer hätte gedacht, dass ich je mit ihm zusammen in seinem Auto sitzen und diese Musik hören würde? Ich jedenfalls nicht. Vermutlich niemand. Und doch – da saßen wir.
»Du stehst wohl ziemlich auf Musik.« Ich blickte vielsagend auf die CD-Stapel.
»Du nicht?« Er wechselte die Spur.
»Klar. Tut doch jeder, oder?«
»Nein«, sagte er knapp.
»Nicht?«
Owen schüttelte den Kopf. »Manche Leute meinen von sich, sie würden Musik mögen. Aber in Wahrheit haben sie keinen blassen Schimmer, worum es überhaupt geht. Sie machen sich nur etwas vor. Außerdem sind da die, die Musik wirklich lieben, aber das falsche Zeug hören. Denen fehlt im Prinzip die Orientierung. Und dann gibt es noch Menschen wie mich.«
Für eine Sekunde saß ich nur stumm da und beobachtete ihn von der Seite. Er hatte nach wie vor den Ellbogen im offenen Fensterrahmen abgestützt und saß zurückgelehnt auf seinem Sitz. Sein Kopf streifte fast das Autodach. Ich stellte plötzlich fest, dass ich immer noch ein wenig Angst vor ihm hatte – gerade jetzt, während ich so dicht neben ihm hockte. Aber aus anderen Gründen als bisher. Es lag an seiner schieren Größe, klar, aber auch noch an anderen Dingen: seinen dunklen Augen, seinen muskulösen, drahtigen Unterarmen, seinem durchdringenden Blick, den er flüchtig auf mich richtete, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.
»Menschen wie du?«, fragte ich. »Was meinst du damit? Was sollen das für Menschen sein?«
Er setzte erneut den Blinker, wurde allmählich langsamer. Vor mir tauchte meine alte Schule auf. Ein gelber Schulbus fuhr genau in diesem Augenblick vom Parkplatz. »Menschen, die für Musik leben und ständig neue Sachen aufspüren müssen, überall, wo es nur geht. Die sich kein Leben ohne Musik vorstellen können. Sie sind erleuchtet.«
»Aha«, entgegnete ich, als hätte diese Antwort für mich tatsächlich einen Sinn ergeben.
»Überleg doch mal: Musik ist das, was uns alle vereint. Eine unglaubliche Macht. Etwas, das selbst Leute gemeinsam haben können, die sonst in allem anderen verschieden sind.«
Ich nickte, war mir aber nicht sicher, was ich dazu sagen sollte.
»Außerdem ist Musik die ultimative Konstante.« Offenkundig erwartete er gar keine Antwort. »Darum haben wir so eine starke, geradezu physische Beziehung dazu, verstehst du? Weil ein Lied dich nämlich in einen bestimmten Moment zurückversetzen kann oder an einen speziellen Platz oder sogar zu einem Menschen. Egal, wie du oder die Welt sich verändert haben: Dieses eine Lied wird immer gleich bleiben, genauso wie dieser Moment. Was schon ziemlich erstaunlich ist, wenn man genauer darüber nachdenkt.«
Es war erstaunlich. Genau wie dieses Gespräch, das komplett anders ablief, als ich es mir je vorgestellt hatte oder hätte vorstellen mögen. »Ja«, erwiderte ich langsam. »Stimmt.«
Einen Moment lang fuhren wir schweigend weiter. Nur der Gesang war zu hören.
»Ich wollte damit bloß sagen: Ja, ich mag Musik.«
»Ich hab’s kapiert«, antwortete ich.
Er bog auf das Schulgelände ein. »Und jetzt entschuldige ich mich schon mal im Voraus.«
»Entschuldigen? Wofür?«
Er bremste, blieb schließlich unmittelbar an der Bordsteinkante stehen. »Für meine Schwester.«
Ein paar Mädchen standen vor dem Haupteingang der Lakeview Middle School. Mein Blick wanderte über ihre Gesichter; ich versuchte mir vorzustellen, welche von ihnen wohl mit Owen verwandt war. Das Mädchen mit dem Instrumentenkoffer und dem langen Zopf, die sich an die Mauer des Schulgebäudes lehnte und ein aufgeschlagenes Buch in Händen hielt? Die große Blonde mit dem voluminösen Nike-Kleidersack und dem Feldhockey-Schläger, die eine Cola light trank? Oder aber – am wahrscheinlichsten – das dunkelhaarige Mädchen in Schwarz mit dem Kurzhaarschnitt, die auf einer Bank in der Nähe lag, Arme über der Brust verschränkt, und mit einem leidenden Gesichtsausdruck in den Himmel starrte?
Just in dem Moment hörte ich ein klirrendes Geräusch direkt vor dem Fenster auf meiner Seite. Als ich den Kopf wandte, sah ich ein kleines, dünnes, dunkelhaariges Mädchen, das von Kopf bis Fuß rosa angezogen war: Ihr Pferdeschwanz war mit einem rosa Band zusammengebunden, sie hatte glänzenden rosa Lipgloss aufgetragen, trug ein grellrosa T-Shirt, Jeans und rosafarbige Plateau-Flipflops. Als sie mein Gesicht sah, schrie sie auf.
»Nein! Das kann nicht wahr sein!« Sie schnappte nach Luft, ihre Stimme wurde durch das Glas zwischen uns gedämpft. »Du?!«
Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber noch bevor ich das tun konnte, flutschte sie am Fenster vorbei und war verschwunden, wie eine rosafarbene Fata Morgana. Im nächsten Moment öffnete sie unter lautem Getöse die hintere Tür und krabbelte auf den Rücksitz. »Owen!« Ihre Stimme schnappte fast über vor Begeisterung. »Du hast mir gar nicht erzählt, dass du mit Annabel Greene befreundet bist!«
Owen warf ihr via Rückspiegel einen Blick zu. »Schalt erst mal einen Gang runter, Mallory.«
Ich wollte mich gerade umdrehen, um sie zu begrüßen, da lehnte sie sich auch schon vor und steckte ihren Kopf zwischen Owen und mir hindurch. Rückte mir so dicht auf die Pelle, dass ich ihren Kaugummiatem riechen konnte. »Das ist einfach unglaublich, ich meine, du bist es wirklich! Krass!«
»Hallo«, sagte ich.
»Hi!«, juchzte sie in höchsten Tönen und hopste ein wenig auf ihrem Sitz auf und ab. »Ich fasse es nicht. Ich finde total super, was du machst, ehrlich!«
»Was sie macht?«, fragte Owen
»Mensch, Owen!« Mallory seufzte schwer. »Hallo-o?! Sie ist ein Lakeview-Model und war schon in extrem vielen Anzeigen überall in der Gegend zu sehen. Und dann dieser Werbespot, du weißt schon, der, den ich so klasse finde, mit dem Mädchen im Cheerleader-Outfit.«
»Kenn ich nicht.«
»Das ist sie! Ich fasse es nicht. Das muss ich sofort Shelley und Courtney erzählen. Wahnsinn!« Mallory kramte ihre Tasche hervor, öffnete den Reißverschluss, holte ihr Handy heraus. »Oh, und vielleicht könntest du auch eben Hallo zu ihnen sagen, das wäre richtig cool und –«
Owen drehte sich auf seinem Sitz zu ihr um. »Mallory.«
»Kleinen Moment.« Sie drückte hastig auf die Tasten. »Ich möchte bloß –«
»Mallory!« Seine Stimme rutschte eine Etage tiefer, klang richtig streng.
»Lass mich nur kurz, Owen, bitte.«
Doch Owen streckte die Hand aus und nahm ihr das Handy ab. Sie sah es mit großen Augen entschwinden und blickte enttäuscht zu ihm hoch. »Och, Manno. Ich wollte nur, dass sie Courtney schnell Hallo sagt.«
»Nein.« Owen legte das Handy auf die Mittelkonsole.
»Owen!«
»Anschnallen.« Owen fuhr los, der Wagen löste sich von der Bordsteinkante. »Und Luft anhalten.«
Nach einer Schrecksekunde tat Mallory beides, und zwar vernehmlich. Als ich mich zu ihr umwandte, saß sie in bester Schmollpose da, Arme über der Brust verschränkt. Doch als sie meinen Blick bemerkte, hellte sich ihre Miene in Windeseile auf. »Ist das Teil von Lanoler?«
»Von was?«
Sie beugte sich vor und ließ ihre Finger über den gelben Strickpulli gleiten, den ich am Morgen, ohne groß darüber nachzudenken, angezogen hatte. »Das hier. Einfach das Größte. Von Lanoler?«
»Weißt du, da bin ich mir nicht –«
Ihre Hand wanderte zu meinem Kragen, den sie herunterklappte, um das Etikett zu studieren. »Ist es! Ich hab’s gewusst! Krass! Ich hätte sooo gern einen Lanoler-Pulli, ich habe schon ewig –«
»Mallory, mach jetzt keinen auf Markenflittchen«, sagte Owen.
Mallory nahm ihre Hand weg. »Und du, Owen, denk dran: U und U!«
Wieder warf Owen ihr einen Blick im Rückspiegel zu. Stöhnte leicht auf. »Okay, was ich damit sagen wollte, Mallory, ist: Ich finde deine Fixiertheit auf Labels und materielle Dinge ziemlich problematisch.« Seine Stimme klang gequält.
»Vielen Dank«, konterte sie. »Und ich weiß deine Sorge um mich nachzuvollziehen und zu würdigen. Aber wie du weißt, ist Mode nun einmal mein Leben.«
Fragend blickte ich Owen an. »U und U?«
»Umformulieren und umdirigieren«, erklärte mir Mallory. »Gehört zur Wutbewältigungsstrategie. Wenn er dich beleidigt, kannst du ihm sagen, dass es deine Gefühle verletzt hat und er sich bitte anders ausdrücken soll.«
Wieder blickte Owen sie im Rückspiegel an; sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. »Danke, Mallory.«
»Bitte, gern geschehen.« Sie strahlte mich an, hopste erneut auf ihrem Sitz herum.
Einen Moment lang sagte niemand etwas, während wir weiterfuhren. Was mir die Gelegenheit gab, meine neu gewonnenen Erkenntnisse über Owen Armstrongs Privatleben Revue passieren zu lassen und zu sortieren. Oder es zumindest zu versuchen. Das Einzige, was mich nicht überraschte, war die Tatsache, dass er ein Wutbewältigungstraining absolviert hatte. Mallory, seine Musik und natürlich die Tatsache, dass ich all das hautnah miterlebte, waren dagegen richtiggehende Schocker. Klar hatte Owen eine Familie, ein Privatleben, wie jeder andere Mensch auch. Ich hatte mir nur nie wirklich die Zeit genommen, mir das vor Augen zu führen. Es war so, wie wenn man als Kind im Supermarkt auf einmal zufällig einem Lehrer oder der Dame von der Stadtbücherei begegnet und total verblüfft ist, weil man sich bis dahin nie klargemacht hat, dass diese Menschen auch außerhalb der Schule oder der Bücherei als eigenständige Wesen existieren.
»Ich finde es echt nett, dass du mich mitnimmst«, sagte ich zu Owen. »Ich weiß nicht, wie ich sonst nach Hause gekommen wäre.«
»Kein Problem. Ich muss nur noch ein paar –«
Doch er wurde von Mallory unterbrochen, die tief Luft holte: »Nein, ist nicht wahr! Ich kriege dein Haus zu sehen?!«
»Fehlanzeige«, erwiderte Owen knapp.
»Aber wir bringen sie heim und ich bin mit dabei!«
»Ich setze dich zuerst ab«, sagte er.
»Warum?«
»Weil Mom gesagt hat, dass ich dich zum Laden bringen soll, bevor ich am Sender vorbeifahre.« Wir überquerten eine Kreuzung und bogen von der Hauptstraße ab.
Mallory stieß einen gequälten Seufzer aus. »Aber Owen –«
»Kein Aber. So ist es verabredet und so wird’s gemacht.«
Mallory ließ sich dramatisch enttäuscht auf ihrem Sitz zurückfallen. »Das ist ab-so-lut nicht fair.«
»Das Leben ist nicht fair. Gewöhn dich dran.«
»U und U.«
»Fehlanzeige«, entgegnete Owen, streckte die Hand aus, drehte die Lautstärke am Radio auf – und das Gezirpe begann von vorn.
Minutenlang waren nur die Maya-Gesänge zu hören. Lange genug jedenfalls, dass ich schon fast anfing, mich daran zu gewöhnen. Doch plötzlich verspürte ich Atem an meinem Ohr. Mallory. »Als du den Werbespot gedreht hast – durftest du die Klamotten danach behalten?«
»Mallory!«, sagte Owen mahnend.
»Was denn?«
»Kannst du nicht einfach mal still sitzen und der Musik zuhören?«
»Das ist keine Musik. Das ist Grillengezirpe und Geschrei.« Sie wandte sich an mich: »Owen ist voll der Musik-Nazi. Alle dürfen sich dauernd bloß das komische Zeug anhören, das er in seiner Radiosendung spielt.«
»Du hast eine Radiosendung?«, fragte ich Owen.
»Bloß bei einem Lokalsender«, erklärte er mir.
»Diese Sendung ist sein Leben«, sagte Mallory melodramatisch. »Er bereitet sich die ganze Woche über darauf vor, macht sich total den Kopf deswegen, obwohl sie läuft, wenn jeder Normalsterbliche noch gar nicht wach ist.«
»Ich spiele keine Musik für Normalsterbliche, sondern für Leute, die –«
»... erleuchtet sind«, ergänzte Mallory und verdrehte die Augen. »Ich höre lieber 104Z. Da laufen die Top Forty und viele gute, alte Songs, zu denen man super tanzen kann. Ich stehe voll auf Bitsy Bonds. Sie ist meine Lieblingssängerin. Letzten Sommer war ich mit meinen Freundinnen bei ihr im Konzert. War voll super. Kennst du Pyramid?«
»Äh, ich weiß nicht«, antwortete ich.
Mallory setzte sich kerzengerade hin, strich ihr Haar zurück und schmetterte: »Stack it up, higher and higher, the sun’s above, it’s full of fire, kiss me here so I know you did, baby I’m falling, pyramid!«
Owen zuckte schmerzlich zusammen »Mallory, Bitsy Bond ist keine Sängerin, sondern ein Produkt. Ein Fake. Sie hat keine Seele. Sie steht für gar nichts.«
»Ach ja?«
»Ach ja. Man kennt sie eher wegen ihres Nabel-Piercings als wegen ihrer Musik.«
»Na und? Ich finde ihr Nabel-Piercing eins a.«
Owen schüttelte entnervt den Kopf, während er von der Straße auf einen kleinen Parkplatz einbog. Links lagen eine Reihe Geschäfte; er hielt auf einem freien Platz direkt vor einem der Läden. In der Auslage stand eine Schaufensterpuppe, die einen Poncho umhatte und erdfarbene Hosen mit Blümchenmuster trug. Auf dem Schild an der Tür stand TRAUMWEBER.
»Okay«, meinte Owen. »Wir sind da.«
Mallory verzog das Gesicht. »Na toll. Und wieder ein Nachmittag im Laden.«
»Gehört er euren Eltern?«, fragte ich.
»Ja«, grummelte Mallory, während Owen ihr Handy von der Mittelkonsole nahm und es ihr zurückgab. »Es ist so was von unfair. Ich stehe voll auf Klamotten und meine Mutter hat sogar einen Klamottenladen. Aber die Sachen, die sie verkauft, würde ich nicht in einer Million Jahren anziehen. Nicht einmal, wenn ich tot wäre.«
»Wenn du tot wärst, hättest du größere Probleme als die Frage, was du anziehen sollst«, stellte Owen fest.
Mallory blickte mich mit Grabesmiene an: »Weißt du, Annabel, das Zeug ist bloß aus so Ökostoffen und Naturfasern. Batiksachen aus Tibet, veganische Schuhe …«
»Veganische Schuhe?«
»Der Horror«, flüsterte sie mir zu. »Voll der Horror. Die haben nicht mal richtige Spitzen. Ich meine, spitze Spitzen.«
»Mallory, raus aus dem Wagen«, sagte Owen.
»Ich gehe schon, ich gehe ja schon.« Doch sie trödelte noch ein bisschen herum, kramte umständlich nach ihrer Tasche, löste den Gurt, öffnete schließlich langsam die Tür. »War echt toll, dich kennenzulernen«, sagte sie zu mir.
»Gleichfalls«, antwortete ich.
Sie schlüpfte aus dem Wagen, warf die Tür zu und ging Richtung Laden. Als sie die Eingangstür aufstieß, wandte sie sich noch einmal um und winkte mir so aufgeregt zu, dass ihre Hände verschwammen wie in einem Comic, wenn Geschwindigkeit dargestellt werden soll. Ich winkte zurück. Owen fuhr wieder los, zurück Richtung Hauptstraße. Ohne Mallory wirkte das Auto plötzlich kleiner. Und vor allem – erheblich ruhiger.
»Wie gesagt, tut mir leid«, meinte Owen, als wir an einer roten Ampel hielten.
»Muss es nicht. Sie ist nett.«
»Du lebst auch nicht mit ihr zusammen. Oder musst ihre Musik ertragen.«
»104Z – Musik pur.«
»Hörst du den Sender?«
»Früher mal. Als ich ungefähr in der gleichen Klassenstufe war wie deine Schwester.«
Er winkte abwehrend ab. »Es wäre etwas anderes, wenn sie keinen Zugang zu wirklich guter Musik hätte oder kulturell total unterprivilegiert wäre. Aber ich habe ihr tonnenweise CDs gebrannt. Sie will sie bloß nicht hören. Stattdessen knallt sie sich die Rübe lieber mit diesem Pop-Mist zu und hört einen Sender, wo mehr Werbespots als Songs gespielt werden.«
»Bei deiner Sendung ist das also anders?«
»Na ja, schon.« Er schielte kurz zu mir rüber und schaltete, nachdem wir wieder auf die Hauptstraße eingebogen waren, einen Gang hoch. »Es ist ein gemeinnütziger Lokalsender ohne Werbung. Aber ich wäre sowieso immer der Meinung, dass man verantwortungsvoll mit dem umgehen muss, was man den Leuten vorsetzt. Wenn man die Wahl zwischen Dreck und Kunst hat, warum soll man sich dann nicht für die Kunst entscheiden?«
Wieder einmal sah ich ihn bloß stumm an und dachte darüber nach, wie gründlich ich mich in Owen Armstrong getäuscht hatte. Ich war mir zwar nicht einmal sicher, wen oder was ich genau erwartet hatte. Aber bestimmt nicht den Menschen, der neben mir saß.
»Wo wohnst du eigentlich?« Er wechselte die Spur; wir näherten uns einem Stoppschild.
»In den Arbors«, erwiderte ich. »Ein paar Meilen hinter der Mall. Du kannst einfach –«
»Weiß schon«, sagte er. »Der Sender liegt nur ein paar Straßen von hier. Ich müsste da eben kurz vorbeischauen, falls das für dich okay ist.«
»Klar. Kein Problem.«
Der kommunale Radiosender befand sich in einem flachen, rechteckigen Gebäude, das früher eine Bank gewesen war. Daneben stand ein Metallturm und über dem Eingang hing eine ziemlich kläglich wirkende Fahne, auf der die Buchstaben WRUS standen sowie KOMMUNALES RADIO: RADIO FÜR UNS. Hinter einer großen Glasscheibe, die sich fast über die gesamte Front des Gebäudes erstreckte, saß ein Mann in einer Sprecherkabine. Er trug Kopfhörer und sprach in ein Mikrofon. In einer Ecke des Fensters war ein Leuchtschild angebracht, auf dem AU SENDUNG stand. Offensichtlich war beim F die Birne kaputt.
Owen parkte unmittelbar vor dem Gebäude, stellte den Motor ab, drehte sich auf seinem Sitz um, klaubte einige CDs vom Boden und öffnete die Tür auf der Fahrerseite. »Bin gleich wieder da.«
Ich nickte. »Lass dir Zeit.«
Nachdem er drinnen verschwunden war, las ich mir die Namen auf einigen der handbeschrifteten CD-Hüllen durch. Ich kannte keinen einzigen: The Handywacks (Mix), Jeremiah Reeves (frühes Zeug), Truth Squad (Opus). Plötzlich hörte ich ein Piepen, und als ich den Kopf wandte, sah ich, dass ein Honda Civic in die Parklücke neben mir fuhr. Was an und für sich nicht weiter erwähnenswert gewesen wäre, hätte der Fahrer nicht einen ziemlich ungewöhnlichen, knallroten Helm auf dem Kopf gehabt.
Er glich in etwa den Footballspieler-Helmen, doch dann auch wieder nicht, denn er war größer und hatte dickere Polster. Der Typ, der ihn – nebst einem schwarzen Sweatshirt und Jeans – trug, schien ungefähr so alt zu sein wie ich. Er winkte mir zu, ich winkte zögerlich zurück. Und nun kurbelte er sein Fenster herunter.
»Hi«, sagte er. »Ist Owen da drinnen?«
»Ja«, erwiderte ich zögernd. Man sah nicht viel von seinem Gesicht unter dem Helm, hauptsächlich seine Augen. Sie waren groß und blau, mit langen Wimpern. Sein mehr als schulterlanges Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden, der unter dem Helm hervorlugte. »Er meinte, er sei gleich wieder da.«
Der Junge nickte. »Cool.« Er lehnte sich in seinem Sitz zurück. Ich versuchte, ihn nicht anzustarren, was nicht ganz einfach war. »Übrigens, ich heiße Rolly.«
»Oh, hi. Annabel.«
»Hi.« Er langte zu seinem Cupholder hinunter, schnappte sich einen Plastikbecher, in dem ein Strohhalm steckte, und trank. Er stellte den Becher gerade wieder zurück, als Owen aus dem Gebäude trat.
»Hey«, rief Rolly ihm zu. »Ich hab eben deinen Wagen hier stehen sehen. Arbeitest du nicht heute irgendwann?«
»Um sechs«, gab Owen zurück.
»Eins a.« Rolly lehnte sich lässig wieder in seinem Sitz zurück. »Vielleicht schaue ich mal vorbei oder so.«
»Tu das. Ach, und Rolly?«
»Ja?«
»Du weißt schon, dass du immer noch deinen Helm aufhast, oder?«
Rolly machte große Augen und hob ganz langsam seine Hände zu seinem Kopf, worauf sein Gesicht fast so rot wurde wie der Helm. »Ups«, sagte er, während er das Teil vom Kopf zog. Darunter war sein Haar ganz platt gedrückt, rote Streifen zogen sich über seine Stirn. »Okay. Danke.«
»Kein Thema. Bis später.«
»Ist gebongt.« Rolly legte den Helm auf den Beifahrersitz und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Owen setzte sich wieder neben mich ans Steuer. Als er zurücksetzte, winkte ich Rolly noch einmal zu. Er nickte grüßend zurück, und obwohl er mir dabei zugrinste, war sein Gesicht immer noch von einer zarten Röte überzogen.
Wir fuhren schon wieder eine Weile die Hauptstraße entlang, als Owen unvermittelt sagte: »Den braucht er wegen seines Jobs. Nur damit du im Bilde bist.«
»Den Helm«, versuchte ich klarzustellen.
»Ja. Rolly jobbt in einem Studio für Selbstverteidigung. Als Angreifer.«
»Angreifer?«
»Einer, mit dem die Leute üben können. Bis sie die Technik draufhaben. Deswegen die Polsterung.«
»Ach so. Arbeitet ihr zwei zusammen?«
»Nein. Ich fahre Pizza aus. Hier sind wir richtig, oder?«, fragte er, als wir uns langsam der Gegend näherten, wo ich wohnte. Ich nickte, er setzte den Blinker und bog von der Hauptstraße ab, hinein ins Viertel. »Aber die Radiosendung machen wir gemeinsam.«
»Geht er etwa auch auf unsere Schule und ich habe ihn noch nie –«
»Nö, auf die Fountain.«
Die Fountain Highschool, auch als Hippieschule bekannt, bot ein sogenanntes »alternatives Lernumfeld«. Nur wenige Schüler wurden dort unterrichtet. Man legte sehr viel Wert auf »persönlichen Ausdruck und Kreativität«, es gab zum Beispiel Fächer wie Batik oder den ultimativen Frisbee-Kurs. Kirsten hatte, als sie selbst noch zur Schule ging, ein paar ziemlich heiße Dates mit ein paar ziemlich heißen Typen von der Fountain gehabt.
»Rechts oder links?«, fragte mich Owen, als wir wieder einmal ein Stoppschild erreichten.
»Noch ein Stück geradeaus.«
Während wir schweigend durch die Straßen fuhren, beschlich mich dasselbe Gefühl wie am Morgen bei Whitney: dass ich zumindest den Versuch starten sollte, ein Gespräch anzufangen. »Und wie bist du dazu gekommen, eine Radiosendung zu machen?«
»So was hat mich schon immer interessiert«, erwiderte Owen. »Und kurz nachdem wir hergezogen waren, hörte ich, dass der kommunale Sender einen Workshop anbietet, bei dem man die Grundlagen lernt. Anschließend kann man Vorschläge für eine Sendung machen. Wenn sie das Konzept gut finden, laden sie dich zu einem Probesprechen ein. Und wenn sie mögen, was du ihnen präsentierst, kriegst du eine Sendezeit zugeteilt. Rolly und ich bekamen unsere im letzten Winter. Aber dann wurde ich verhaftet. Was uns ein ganzes Stück zurückwarf.«
Er erzählte das so beiläufig, als würde er über einen Urlaub am Grand Canyon oder eine Hochzeit plaudern, zu der er eingeladen gewesen war. »Du wurdest verhaftet?«, fragte ich nach.
»In der Tat.« Erneut hielt er an einem Stoppschild. »Ich wurde in eine Schlägerei verwickelt, in einem Club beziehungsweise auf dem Parkplatz davor. Mit so ein paar Typen eben.«
»Hast du bisher nichts davon gehört?«
»Glaub schon, so dies und das.«
»Warum fragst du dann?«
Ich merkte, wie mein Gesicht heiß wurde. Wenn man vorlaute Fragen stellt, sollte man darauf gefasst sein, eventuell auch welche beantworten zu müssen. »Keine Ahnung. Glaubst du denn alles, was du so hörst?«
»Nein.« Er blickte mich einen Moment lang an, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Tue ich nicht.«
Na bestens, dachte ich. Okay. Ich war also nicht die Einzige, die irgendwelche Gerüchte gehört hatte. Was nur fair war. Ich hatte schließlich auch all diese Theorien über Owen gehabt, die nur darauf beruhten, was andere über ihn quatschten. Aber bislang war mir noch nicht einmal in den Sinn gekommen, dass über mich ebenfalls Geschichten erzählt wurden. Zumindest eine.
Erneut fuhren wir schweigend weiter, hielten zwischendurch an zwei weiteren Stoppschildern. Schließlich atmete ich tief durch: »Falls es dich interessiert – es stimmt nicht.«
Bevor wir langsam um eine Kurve fuhren, schaltete Owen einen Gang runter, wobei das Getriebe leise vor sich hin rumpelte. »Was stimmt nicht?«
»Was du über mich gehört hast.«
»Ich habe nichts über dich gehört.«
»Ja klar«, sagte ich.
»Wirklich nicht. Ich würde es dir sagen, wenn es so wäre.«
»Echt?«
»Ja.« Ich wirkte wohl ziemlich skeptisch, denn er fügte hinzu: »Ich lüge nicht.«
»Du lügst nicht«, wiederholte ich.
»Ja, genau das habe ich gerade gesagt.«
»Nie.«
»Nö.«
Klar lügst du nie, dachte ich. »Das ist ein guter Vorsatz. Sofern man ihn einhalten kann.«
»Ich habe gar keine andere Wahl. Mit den Dingen hinterm Berg zu halten, funktioniert bei mir nicht. Das habe ich mittlerweile gelernt, und zwar auf die harte Tour.«
Schlagartig kam mir Ronnie Waterman in den Sinn: Wie er auf dem Schulparkplatz in die Knie ging, sein Kopf auf den Kies prallte. »Du bist also immer ehrlich?«
»Du nicht?«
»Nein«, erwiderte ich unwillkürlich. So ungezwungen, so spontan, dass es mich eigentlich hätte überraschen müssen. Aus irgendeinem Grund tat es das aber nicht. »Bin ich nicht.«
»Aha«, sagte Owen; wir erreichten gerade ein weiteres Stoppschild. »Gut zu wissen, schätze ich.«
»Damit will ich nicht sagen, dass ich eine Lügnerin bin.« Er zog die Augenbrauen hoch. »So habe ich das jedenfalls nicht gemeint«, fuhr ich fort.
»Wie hast du es denn gemeint?«
Ich schaufelte mir gerade mein eigenes Grab. Was mir auch klar war. Trotzdem versuchte ich weiter, mich zu erklären. »Es ist bloß … ich sage nicht immer das, was ich empfinde.«
»Warum nicht?«
»Weil die Wahrheit manchmal ziemlich wehtut.«
»Stimmt«, antwortete er. »Lügen aber auch.«
»Ich möchte nicht …« Ich stockte und war mir nicht sicher, wie ich mich ausdrücken sollte. »Ich möchte niemanden verletzen. Oder verärgern. Deshalb sage ich manchmal nicht genau das, was ich denke. Um anderen das zu ersparen.« Typische Ironie des Lebens: In dem Moment, da ich diese Worte aussprach, war ich so ehrlich wie seit Jahren nicht. Vielleicht wie überhaupt noch nie.
»Aber es ist und bleibt eine Lüge. Auch wenn du es gut meinst.«
»Weißt du, ich kann auch nicht ganz glauben, dass du tatsächlich immer die Wahrheit sagst.«
»Du kannst mir ruhig glauben. Weil es stimmt.«
Ich wandte mich ihm zu, sah ihn direkt an. »Wenn ich dich also fragen würde, ob ich in den Klamotten, die ich anhabe, fett aussehe, und du wärst wirklich dieser Meinung – du würdest es mir sagen? Ins Gesicht?«
»Ja«, erwiderte er.
»Würdest du nicht.«
»Doch. Vielleicht würde ich mich nicht so direkt ausdrücken, aber wenn ich finden würde, dass du nicht gut darin aussiehst …«
»Kann gar nicht sein«, warf ich trocken ein.
»... und sofern du mich gefragt hättest«, fuhr Owen fort, »würde ich es dir sagen. Ich würde es nicht von mir aus ansprechen. Ich bin nicht mit Absicht gehässig. Aber wenn du mich nach meiner Meinung fragst, antworte ich dir wahrheitsgemäß.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich glaubte ihm nach wie vor nicht.
»Wie schon gesagt, es tut mir einfach nicht gut, wenn ich nicht ehrlich aussprechen kann, was ich denke. Also tue ich das auch nicht. Es hat übrigens gewaltige Vorteile. Denn auch wenn ich dir unter die Nase reibe, dass ich dich für fett halte, schlage ich dir doch zumindest nicht ins Gesicht.«
»Sind das die beiden einzigen Alternativen?«, fragte ich.
»Nicht immer. Aber manchmal. Und es ist gut, seine Alternativen zu kennen, oder?«
Ich merkte, dass ich drauf und dran war zu lächeln, was ich aber irgendwie so daneben gefunden hätte, dass ich lieber den Kopf abwandte. Wir gelangten gerade an ein neuerliches Stoppschild. Vor uns auf unserer Seite parkte ein Wagen, und zwar halb auf der Straße. Erst im nächsten Augenblick realisierte ich, dass es meiner war.
»Weiter geradeaus?«, fragte Owen.
»Äh … nein.« Ich beugte mich vor, berührte mit meiner Stirn fast die Fensterscheibe. Das war Whitney, da am Steuer, ja, ganz bestimmt. Sie hatte eine Hand aufs Gesicht gelegt, ihre Finger bedeckten die Augen.
»Wohin dann? Rechts? Links?« Owen ließ seine Hand vom Steuer gleiten. »Stimmt etwas nicht?«
Ich blickte erneut zu Whitney hinüber und fragte mich, was sie da trieb. Warum sie angehalten hatte, obwohl sie noch gar nicht zu Hause, unser Zuhause andererseits in unmittelbarer Nähe war. »Meine Schwester.« Ich nickte in Richtung meines Autos.
Owen beugte sich vor und sah zu ihr hinüber. »Alles in Ordnung mit ihr?«
»Nein.« Das mit dem Nicht-Lügen schien ansteckend zu sein, denn meine Antwort kam fast automatisch. Bevor ich überhaupt damit anfangen konnte, irgendwelche anderen Worte zu suchen, um die Situation zu erklären. »Nein, ist es nicht.«
»Mm.« Owen schwieg eine Sekunde lang. »Möchtest du vielleicht –«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Fahr da vorne bitte rechts.«
Er tat es. Ich glitt auf meinem Sitz langsam nach unten. Als wir direkt an Whitney vorbeifuhren, war nicht mehr zu übersehen, dass sie weinte. Ihre mageren Schultern zuckten, die Hand hielt sie immer noch vors Gesicht gepresst. Ich fühlte ebenfalls einen Kloß im Hals – doch da waren wir auch schon vorbei, ließen sie hinter uns zurück.
Ich spürte Owens Blick auf mir, als wir das nächste Stoppschild erreichten. »Sie ist krank. Schon eine ganze Zeit lang.«
»Tut mir leid.«
Was man eben auf so eine Bemerkung sagt. Sagen sollte. Was jeder darauf gesagt hätte. Nur, das Seltsame daran war: Nach allem, was Owen mir erzählt hatte, war ich mir sicher, dass er es auch so meinte. Richtig ehrlich meinte.
»In welchem Haus wohnst du?«, fragte er mich, als wir in unsere Straße einbogen.
»Das gläserne da vorne.«
»Das gläserne –«, setzte er an, unterbrach sich jedoch, als es in Sicht kam. »Alles klar.«
Zu dieser Tageszeit brach sich das Sonnenlicht so in den Fensterscheiben, dass sich der Golfplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite eins zu eins im ersten Stock spiegelte. Meine Mutter befand sich im Erdgeschoss; sie stand an der Küchentheke, eilte, als wir in die Auffahrt einbogen, Richtung Haustür, blieb allerdings wieder stehen, als ihr klar wurde, dass ich es war und nicht Whitney. Ich dachte an meine Schwester, die zwei Straßen weiter in meinem Auto hockte, dachte daran, wie sich meine Mutter hier zu Hause Sorgen um sie machte. Da war er wieder, der vertraute, stechende Schlag in die Magengrube. Eine Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen.
»Mannomann«, entfuhr es Owen. »Das ist ja ein Ding.«
»Menschen, die im Glashaus sitzen.« Ich blickte wieder zu meiner Mutter, die zur Küchentheke zurückgekehrt war und uns beobachtete. Fragte mich, ob sie wohl neugierig auf Owen war. Oder so abgelenkt wegen Whitney, dass sie ihn gar nicht wahrnahm. Immerhin saß ich in einem Auto, das sie noch nie gesehen hatte, geschweige denn den Kerl, der am Steuer saß. Aber vielleicht dachte sie auch, es wäre Peter Matchinsky, der nette Typ aus meinem Sportkurs.
»Danke fürs Heimbringen.« Ich schnappte mir meine Tasche. »Danke für alles.«
»Kein Problem«, antwortete er.
Ich hörte, wie sich von hinten ein Wagen näherte; einen Augenblick später bog Whitney in die Auffahrt ein. Erst nachdem sie den Wagen geparkt hatte und ausstieg, blickte sie auf. Bemerkte Owen und mich. Ich hob die Hand, um ihr zuzuwinken, aber sie ignorierte mich.
Mir war klar, was mich drinnen erwartete. Whitney würde bockig durch die Gegend stapfen und die munteren Suggestivfragen meiner Mutter geflissentlich ignorieren. Schließlich würde sie genug davon haben, nach oben verschwinden und die Zimmertür zuknallen. Meine Mutter wäre wieder einmal total aus der Fassung, würde aber so tun, als wäre alles in Ordnung. Und ich würde mir so lange Sorgen um sie machen, bis mein Vater nach Hause kam, wir uns zum Abendessen um den Tisch versammelten und so taten, als wäre alles in Ordnung.
Während mir all das durch den Kopf ging, wandte ich mich noch einmal zu Owen um. »Wann läuft deine Radiosendung eigentlich?«
»Sonntags um sieben.«
»Ich werde sie mir anhören.«
»Am Morgen«, fügte er hinzu.
»Um sieben Uhr morgens? Echt?«
»Ja.« Er kratzte am Lenkrad. »Nicht die ideale Sendezeit, aber man nimmt, was man kriegt. Immerhin hören einem die Schlafwandler zu.«
»Die erleuchteten Schlafwandler«, konterte ich.
Einen Moment lang sah er mich richtig verdutzt an – als hätte er mir so viel Schlagfertigkeit nie im Leben zugetraut. »Ja. Ganz genau.« Er lächelte.
Sieh einer an, dachte ich. Owen Armstrong lächelt. Von allem, was an diesem merkwürdigen Tag voll unvorhersehbarer Ereignisse passiert war, war das fast die größte Überraschung. »Ich denke, ich gehe dann mal.«
»Okay. Wir sehen uns.«
Ich nickte, griff nach unten und löste meinen Gurt. Ein Klick und ich war befreit. Es war schwerer reinzukommen als raus. Normalerweise lief es genau umgekehrt.
Nachdem ich die Wagentür zugeworfen hatte, legte Owen den Gang ein und fuhr davon. Ich drehte mich zum Haus um. Sicher lief Whitney gerade die Treppe hoch und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Meine Mutter stand nach wie vor an der Küchentheke und starrte aus dem hinteren Fenster in den Garten.
Ich lüge nicht, hatte Owen gesagt, und dabei dieselbe beiläufige Entschiedenheit ausgestrahlt wie jemand, der einem erzählt, er esse kein Fleisch oder könne nicht Auto fahren. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt wirklich kapiert hatte, aber eines wusste ich mit Bestimmtheit: Ich beneidete Owen um seine unverkrampfte Direktheit, um die Fähigkeit, sich der Welt gegenüber zu öffnen, anstatt sich nur immer weiter in ihr und sich selbst zu verstricken. Ganz besonders jetzt, während ich ins Haus ging, wo meine Mutter auf mich wartete.