3
Lulu: 1972
in dünner Flaum aus Gras wuchs auf Mamas Grab. Der Grabstein sollte gleich enthüllt werden. Obwohl Mimi Rubee uns erklärt hatte, dass Juden die Grabsteine ein Jahr lang verhüllt ließen und sie dann erst aufdeckten, verstand ich immer noch nicht, was das bedeuten sollte.
Merry und ich standen am Fußende von Mamas Grab. Alle anderen drängten sich bei dem Grabstein mit dem Tuch darüber. Anscheinend achtete niemand auf uns. Ich versuchte, mir nicht Mamas Füße unter uns vorzustellen. Sie lackierte sich die Zehennägel mit so leuchtendem Rot wie sonst keine Mutter in Brooklyn. Waren Reste davon noch an ihren Knochen?
»Mama liegt jetzt unter dem Gras?«, flüsterte meine Schwester Merry.
»Ihr Körper, ja«, sagte ich.
»Sie hat sicher Angst«, sagte Merry. »Das muss doch furchtbar dunkel sein.«
»Es ist, als würde sie schlafen.«
»Wirklich?«
»Ganz bestimmt.«
Mimi Rubee kreischte, als der säuerlich dreinblickende Rabbi das weiße Tuch vom Grabstein zog. Merry und ich sprangen erschrocken zurück. Tante Cilla hielt Mimi Rubee am Ellbogen fest. »Ist schon gut, Mom. Sie ist jetzt an einem besseren Ort.«
Mimi Rubees Lippen schürzten sich auf die Art, bei der es mir immer den Magen zusammenzog. »Einem besseren Ort? Sie ist an keinem besseren Ort.« Unsere Großmutter zeigte mit einem knochigen Finger auf das Grab. »Sie ist in dem finsteren Loch, in das dieser Bastard sie geschickt hat.«
Merry schlang ihren klebrigen Arm um meinen, und ich ließ ihn, wo er war, obwohl mir furchtbar heiß war. Als ich an meinem Oberarm rieb, bildeten sich im Schweiß kleine Schmutzkügelchen. Ich wollte so gern etwas Kühles trinken. Es juckte mich überall, aber ich traute mich nicht, mich zu kratzen.
Am liebsten hätte ich den Kopf an Mamas Grabstein gelehnt und mit dem Finger die Blumen nachgezeichnet, die um ihren Namen herum eingemeißelt waren: Celeste Anastasia Silver. Geliebte Mutter. Treusorgende Tochter. Liebende Schwester. Meinen Vater und seinen Nachnamen, Zachariah, unseren Namen, hatten sie aus dem Leben meiner Mutter gestrichen.
Alles in der Welt tat weh.
Zu Hause lehnte ich mich an den Türrahmen und sah zu, wie Merry sich an Mimi Rubee kuschelte. Die beiden lagen auf dem neuen Schlafsofa. Mimi Rubee hatte tief bekümmert ausgesehen an dem Tag, an dem die Männer es hereingetragen hatten. Ihr ganzes Gesicht hatte sich in Falten gelegt, als sie die mächtige Tweed-Couch angestarrt hatte, die sich an der Wand breitmachte, während die Männer ihr geliebtes modernes, funktionales Sofa wegbrachten – das Sofa, das Merry und mich gefoltert hatte. Die dünne Matratze bedeckte kaum die Metallstreben, die sich darunter kreuzten. Bis Mimi Rubee es endlich wegbringen ließ, hatten Merry und ich gelernt, wie man liegen musste, damit der Stahl nicht so wehtat. Wir hatten uns beigebracht, die Arme unter den Bauch zu ziehen und uns auf unnatürliche Weise zu verdrehen, um uns dem Bett anzupassen.
Die vielen Leute in Mimi Rubees Wohnung überhitzten den sowieso schon warmen Raum. Tante Cillas Mann Hal drückte sich an sie, während sie unseren Cousin Arnie auf dem Schoß hatte. Arnie war ekelhaft. Er war neun Jahre alt und saß immer noch auf dem Schoß seiner Mutter wie ein kleines Baby.
Die Leute überschütteten Merry mit Küssen und flehten sie beinahe an, sie zu umarmen. Dann nahmen sie mich beim Ellbogen, drückten ihn leicht, sahen mir in die Augen und fragten: »Wie geht es dir, Liebes?«, als wären wir die besten Freundinnen, obwohl ich gewettet hätte, dass sie mich nicht erkennen würden, wenn sie mich in ein paar Tagen auf der Straße träfen.
Niemand war auch nur ungefähr in meinem Alter, bis auf Ar-nie, und da hätte ich lieber mit einem Leprakranken Händchen gehalten. Alte-Damen-Parfüms mischten sich mit den Essensgerüchen aus Mimi Rubees Küche, und ich musste würgen. Alle hatten viel zu viel von irgendetwas mitgebracht, als wäre Essen das Heilmittel gegen Traurigkeit. Mimi Rubees Schwester, unsere Tante Vivvy, trug gerade eine Platte mit Räucherlachs, Frischkäse, Bagels, kaltem Braten und Leberpastete herein.
Ich schlüpfte ins Wohnzimmer und nahm einen dicken Keks mit Schokosplittern von einem Haufen auf einem Teller mit Goldrand. Ich versuchte, unsichtbar zu sein, setzte mich auf ein Kniekissen und bearbeitete meinen Keks wie ein Puzzle – ich wollte im letzten Bissen einen ganzen Schokosplitter übrig haben.
»Und, was macht die Schule, Lulu?«, fragte Onkel Hal.
»Geht so.«
Mama hatte immer gesagt, Tante Cilla hätte Onkel Hal so sehr unter dem Pantoffel, dass wir ihn auch gleich Onkel Tante Cilla nennen könnten, aber zu mir war er immer nett. Von den beiden war er mir lieber.
»Bekommst du immer noch lauter Einsen?«
»M-hm.« Es war das Einzige auf der Welt, worauf ich mich verlassen konnte – dass ich gute Noten schrieb und bei den Lehrern beliebt war. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als klug zu sein, meine Hausaufgaben zu machen und den Mund zu halten. Aber jetzt machte ich mir Sorgen, ob die Junior Highschool genauso leicht sein würde.
»Lulu braucht sich für ihre Noten doch nie anzustrengen.« Nur Tante Cilla brachte es fertig, dass es sich böse anhörte, gute Noten zu bekommen.
»Sie ist eben ein kluges Mädchen«, erwiderte Onkel Hal. »Ich wünschte, Arnie wäre halb so gut in der Schule wie Lulu.« Für Onkel Hal, der immer den vorsichtigen Mittelweg wählte, war das beinahe, als hätte er Tante Cilla laut beschimpft.
»Das wird kein Problem sein.« Tante Cilla drückte die Arme fester um meinen Cousin zusammen. Froschaugen-Arnie fühlte sich an wie Hühnchenknochen, wenn man ihn umarmte. Wenn Tante Cilla noch fester drückte, würden Arnie sicher die Eingeweide aus dem Mund quellen.
»Cilla, hast du nach dem Essen gesehen?«, fragte meine Großmutter.
»Hier«, sagte Tante Cilla und drehte Arnie zu Onkel Hal herum. »Pass auf ihn auf.«
Was glaubte sie eigentlich, was ihm hier passieren konnte, außer, dass er sich aus Langeweile umbrachte? Die einzigen Spielsachen hier hatte Merry vor einem Jahr aus dem Krankenhaus mitgebracht. Ich vermisste meine kleine Sammlung Bücher, die ich mir zu Hause aufgebaut hatte. Daddy hatte mir an jedem Zahltag ein neues gekauft. Daddy las gern. Mama hatte immer nur Zeitschriften gelesen.
Manchmal, aber nur ein, zwei Minuten lang, konnte ich nicht anders, als mich zu fragen, wie es für Daddy im Gefängnis war. Durfte er lesen? Musste er Suppe essen, in der nur Kartoffelschalen schwammen? Dann sah ich, wie Mimi Rubee Mamas Foto anstarrte, und ich dachte daran, wie er an der Tür gerüttelt und geschüttelt hatte, und ich hätte mich übergeben können.
Ich scherte mich einen Dreck um Daddy, einen feuchten Dreck.
Merry wollte ihn immer wieder besuchen und machte Mimi Rubee damit wahnsinnig. Unserer Großmutter zufolge würden wir ihn nur über ihre Leiche besuchen, und auch das erst, wenn die Hölle gefror. Ich schrieb jedes Mal stumm Danke, lieber Gott auf meinen Arm, wenn sie das sagte. Ich wollte ihn nie wieder sehen. Solange mein blutig-mordender, messerschwingender, türerüttelnder Vater im Gefängnis blieb, war ich sicher. Ich brauchte ihn nicht zu sehen, zu riechen oder zu berühren, und er konnte mich auch nicht anrühren.
»Gehen wir morgen wirklich zu Oma Zelda?«, fragte Merry.
»Ja doch, ja doch. Hör endlich auf zu fragen«, sagte Mimi Rubee.
Tante Cilla kam zurück und hatte immer noch die Kaffeetasse in der Hand, in die sie vorhin Crown Royal Whisky gekippt hatte – ich hatte es genau gesehen. »Nicht zu fassen, dass du sie Woche für Woche zu dieser Frau gehen lässt«, bemerkte sie.
Merry kauerte sich vor mir auf dem Boden zusammen und lehnte sich an meine Knie.
»Wie war's im Kindergarten?«, fragte Onkel Hal meine Schwester.
»Ganz gut.« Merry runzelte die Stirn, vermutlich, weil der Kindergarten für meine Schwester zur Tortur geworden war. Seit zwei nassen Zwischenfällen nannten die anderen Kinder sie Pipi-Po. In der Pause verspotteten sie Merry, weil sie wegen der Narben an ihrer Brust keinen Ball werfen konnte. Obwohl wir Schule und Kindergarten gewechselt hatten, wussten alle über uns Bescheid – die Mädchen, deren Vater ihre Mutter ermordet hatte. Die arme Merry war obendrein noch das Mädchen, das beinahe auch von seinem Vater erstochen worden wäre.
Keine von uns hatte eine Freundin gefunden, seit wir bei Mimi Rubee eingezogen waren.
»Ich wette, du warst die Hübscheste in deiner Gruppe«, sagte Onkel Hal zu Merry.
»Was zählt denn schon das Aussehen?«, sagte Tante Cilla. »Sieh dir Joey an, er hat umwerfend ausgesehen, als Celeste ihn kennengelernt hat. Wie ein Filmstar. Und wo ist er jetzt?«
»Celeste war eine wahre Schönheit. Neben ihr hat Joey doch billig ausgesehen.« Tante Vivvy schüttelte den Kopf. »Sie hätte ihn nie heiraten dürfen. Ihr hättet das verhindern müssen«, sagte sie zu Mimi Rubee.
»Meinst du denn, das hätten wir nicht versucht?«, erwiderte Mimi Rubee. »Ich glaube ja, er hat sie absichtlich geschwängert, um sicherzugehen, dass er sie auch hatte. Sie hätte wirklich ein Filmstar werden können, wenn sie ihn nicht geheiratet hätte. Und das wusste er auch.«
»Er ist ein Ungeheuer. Ein Tier«, sagte Tante Cilla.
Hielt sie Merry und mich denn für taub? Oder dumm?
»Hör auf, Cilla«, sagte Mimi Rubee. »Kleine Töpfe haben auch Henkel.«
»Wir können nicht einfach die Augen davor verschließen, Mama«, sagte Tante Cilla. »Willst du, dass sie blind bleiben? Und hältst du es für klug, sie zu seiner Mutter zu schicken? Es tut mir leid, aber das musste mal ausgesprochen werden.«
Vor lauter spähenden, starrenden Augen wäre ich am liebsten aus dem Haus gerannt, um irgendetwas Erstaunliches zu tun, etwa einen Ball bis nach Coney Island zu werfen oder das Lexikon auswendig zu lernen.
Ich verstand gar nichts mehr. Oma Zelda hatte gesagt: »Vergesst nie, warum es gegen euren Vater keine Verhandlung gegeben hat, Mädchen. Er wollte den Namen eurer Mutter nicht durch den Schmutz ziehen, nur deshalb hat er sich sofort für schuldig erklärt.« Als ich das gehört hatte, hatte ich im Stillen geschrien Nichts wird das besser machen, was Daddy getan hat. Aber wenn Mimi Rubee ihn als Monster bezeichnete, zog sich mein Herz zusammen, und ich wusste nicht, warum.
»Immerhin«, fuhr Tante Cilla fort, und ich hörte ihre Stimme wie in Zeitlupe, »kann man nie wissen. Vielleicht war das Gift ja von Zelda. Und wer weiß, wohin es als Nächstes wandert?«
Der Mund meiner Tante sah nass und hässlich aus, und ihr orangeroter Lippenstift erinnerte mich an Schmelzkäse. »Er hätte die Todesstrafe bekommen müssen. Grillen sollten sie ihn für das, was er getan hat.«
Merrys Schulterblätter bohrten sich in meine Knie, als sie vor Tante Cilla zurückwich.
»Die Kinder«, mahnte Onkel Hal.
»Die Kinder sollten Bescheid wissen. Was ist, wollen wir etwa ein Geheimnis daraus machen?« Tante Cilla beugte sich vor und drohte uns mit erhobenem Zeigefinger. »Ihr beide müsst für den Rest eures Lebens sehr genau aufpassen, was ihr tut.«
Mimi Rubee brach wieder in Tränen aus. Sie weinte so sehr, dass ihre ganze Schminke abging und sie alt und kaputt aussah, aber Tante Cilla ritt immer weiter darauf herum, bis Onkel Hal sagte: »Das reicht jetzt.«
»Ich vermisse Celeste«, schluchzte Tante Cilla.
»Ich weiß, trotzdem darfst du nicht so reden«, sagte er und rieb ihr den Rücken. »Du regst alle furchtbar auf.«
»Warum nimmst du ihn in Schutz?«
Onkel Hal seufzte und zog die Hand weg. »Zumindest hat er uns einen hässlichen Prozess erspart.«
»Und dafür soll ich ihm dankbar sein? Ich werde dankbar sein, wenn er tot ist. Ich will, dass er vergast wird. Ich will ihn auf dem elektrischen Stuhl sehen.«
»Nein! IHR DÜRFT MEINEN VATER NICHT UMBRINGEN«, kreischte Merry. Sie sprang auf und bettelte Mimi Rubee an: »Ich will zu Oma Zelda. Ich will zu Daddy.« Sie lief zu Tante Cilla hinüber und trat sie vors Schienbein. »Oma wird mich zu ihm bringen, egal, was ihr sagt.«
Alle starrten Merry an, als hätte der Stuhl gesprochen und der Teppich in der Luft zu tanzen begonnen, aber ich hatte gewusst, was kommen würde. Die liebe, nette Verpackung meiner Schwester täuschte die Leute und machte sie glauben, mehr sei nicht dran an ihr. Dabei hatte sich Merry immer näher herangeschlichen, während meine Eltern ihren letzten Streit ausgefochten hatten. Wenn Merry geschubst wurde, schubste sie irgendwann ganz sicher zurück.
»Hör auf damit, Merry«, schrie Tante Cilla. »Hör sofort auf damit.«
Meine Schwester ballte die Hände zu kleinen Fäusten und schlug damit gegen ihre Oberschenkel. »Du sollst aufhören. Du sollst aufhören. Du, du!« Bei jedem Wort wurde ihre Stimme lauter. »Ich will zu Daddy. Ich will ihn sehen. Ich hasse dich. Ich hasse alles hier!«
»Sorg dafür, dass sie aufhört, Lulu.« Mimi Rubee hielt sich den Kopf und wiegte sich vor und zurück. »Sie soll sofort aufhören.«
Ich schüttelte den Kopf und breitete hilflos die Hände aus. Sie hatten ja keine Ahnung. Merry drehte nicht oft so durch, aber wenn, dann kam nur noch Daddy an sie heran. Viel Glück, Tante Cilla.
Merry brach zusammen, sackte auf die Knie und faltete die Hände zum Gebet. »Bitte, bitte. Bringt mich zu Daddy.«
Es schnürte mir die Kehle zu. Der Drang, meine kleine Schwester zu trösten, kämpfte mit dem Wunsch, sie dafür umzubringen, dass sie das getan hatte – dass sie Daddy hierher in diesen Raum gebracht hatte. Jede Nacht flüsterte Merry seinen Namen, wickelte uns darin ein wie in eine Decke, ehe wir einschliefen. Ich konnte sie zu fast allem bringen, aber nicht dazu, Daddy nicht mehr zu brauchen.
Onkel Hal hob Merry auf und tätschelte ihr den Rücken. Sie trat mit den Füßen um sich und schluchzte. Neidisch sah ich zu, wie er besänftigend auf sie einredete. »Keine Angst, mein Kleines. Wir sorgen dafür, dass du deinen Daddy besuchen kannst. Versprochen.«
Drei Monate später zitterte Merrys Hand in meiner, als wir die Stufen zum Duffy-Parkman-Heim für Mädchen hinaufgingen. Ich versuchte, mich stark und unbekümmert zu geben, während wir die endlose steinerne Treppe zu dem Kinderheim hochstiegen, und lauschte unseren lauten Schritten. Onkel Hal öffnete eine zerschrammte Holztür, und wir traten in einen großen Vorraum mit vielen Milchglastüren. Schartiger Marmor lag unter unseren Füßen. Das Gebäude schien so alt zu sein, dass ich mir vorstellte, wie einst Prinzessinnen durch diese Flure gewandelt waren.
»Das wird schon, Mädchen, ihr werdet sehen«, sagte Onkel Hal.
Na klar doch, Onkel Hal.
Es würde nicht nur nicht werden, es würde absolut grauenhaft sein. Ich rechnete jeden Augenblick damit, dass Zombie-Schulmädchen in langen grauen Kleidern durch irgendeine Tür geschlurft kamen, aber der Flur blieb leer und still. Es war Montag, und die Mädchen waren wohl alle in der Schule. Onkel Hal hatte sich einen Tag freigenommen und allen seinen Zahnarzt-Patienten abgesagt, um uns hierherzubringen. Tante Cilla lag mit einem feuchten Waschlappen auf der Stirn im Bett und tat so, als seien wir ebenso tot wie Mama und Mimi Rubee, die einen Schlaganfall gehabt hatte und vor vier Wochen gestorben war. Seitdem hatten wir bei Tante Cilla und Onkel Hal gelebt.
»Bitte, können wir nicht zu Oma Zelda?«, flüsterte Merry, als Onkel Hal uns auf eine Tür zuschob, auf der in dicken, unheilverkündenden Lettern VERWALTUNG stand.
»Sie kann sich nicht um uns kümmern, und das weißt du auch, also hör endlich auf damit«, flüsterte ich zurück, als Onkel Hal nichts dazu sagte.
»Wann bringt sie mich denn wieder zu Daddy?«, fragte Merry.
Oma Zelda hatte Merry vor Mimi Rubees Tod einmal zu Daddy mitgenommen, und jetzt wiederholte Merry das ständig wie ein Mantra. Bringt mich zu Daddy, bringt mich zu Daddy, bringt mich zu Daddy. Jedes Mal, wenn sie das sagte, verabscheute ich die Worte noch mehr, und am liebsten hätte ich Merry so fest gekniffen, bis ich ihr den Wunsch, Daddy zu besuchen, einfach aus der Seele gekniffen hätte.
»Wenn sie dich eben hinbringt«, sagte ich. »Jetzt sei still, sonst lassen sie uns nicht hier wohnen. Weißt du, was dann passiert?«
Merry schüttelte den Kopf.
»Dann müssen wir in der Gosse leben und uns Essen und Kleider stehlen«, sagte ich. »So ist das.«
Ich wartete darauf, dass Onkel Hal mich ermahnte, doch er starrte nur die staubigen Bilder mit den Indianern an, die an der Wand hingen, zwischen einer Wanduhr und einer Reihe eingerahmter Zitate, mit blauem Faden auf vergilbten Musselin gestickt.
Vielleicht würden wir am Ende tatsächlich in der Gosse landen. Vielleicht würden sie uns nicht hierbehalten, wenn wir nicht brav genug waren. Vielleicht würde Tante Cilla eines Tages die Daily News aufschlagen und feststellen, dass die Polizei unsere erfrorenen Leichen auf der Straße gefunden hatte.
Ich will Joeys Mädchen nicht haben. Nicht in meinem Haus. Ich hatte gehört, wie Tante Cilla das nach der Beerdigung gesagt hatte. »Sie ständig um mich zu haben, zerreißt mir das Herz«, hatte sie der Gruppe unserer Verwandten zugezischt, die wir noch nie vorher gesehen hatten. »Meine Mutter ist tot, meine Schwester ist tot, alles nur wegen dieses Mannes. Und jetzt soll ich den beiden hier jeden Tag ins Gesicht sehen?«
Merry und ich hatten Tante Cilla von der Tür ihrer makellosen Küche aus zugehört – wir waren die bravsten kleinen Mädchen in ganz Brooklyn und wollten gerade hineingehen und ihr anbieten, die Platten mit Bratenaufschnitt und Ochsenbrust, die Körbe voller Bagels und den Räucherlachs hineinzutragen, der wie ein öliges orangerotes Windrad aufgefächert war. Ob wir die Kekse aus den vielen weißen Schachteln von der Konditorei nehmen und sie auf Tante Cillas Silbertabletts arrangieren sollten, hatten wir höflich fragen wollen, um zu beweisen, was für wohlerzogene Mädchen wir waren. Weil Mimi Rubee tot war und Oma Zelda zu krank, um sich um uns zu kümmern, weil sie den Zucker hatte, wussten wir nicht so recht, wo wir in Zukunft leben sollten.
Wenn wir ganz, ganz brav wären, würde Tante Cilla es sich vielleicht noch einmal überlegen und uns behalten.
Ich musterte Merry und vergewisserte mich, dass sie sich auf dem Weg von Tante Cilla hierher zum Duffy-Heim nicht schmutzig gemacht hatte. Dann wich ich Onkel Hals Blick aus, indem ich mich den gestickten Warnungen zuwandte, die mich von der Wand aus ermahnten. Ich hatte nur Zeit, Denn unsern Gott loben, das ist ein köstlich Ding; solch Lob ist lieblich und schön – Bibel, Psalm 147 zu lesen, ehe eine Frau durch die Verwaltungstür aus Milchglas trat.
Die zwergenkleine Frau wirkte wie ein Kind, bis man den finsteren Blick sah, der in ihr Gesicht eingemeißelt schien. Sie stützte die Hände auf die dicken Hüften und sagte: »Ja?«
Onkel Hal hüstelte, ehe er sprach. »Misses Parker?« Die Frau nickte, als wäre sie dreißig Meter groß. »Hal Soloman. Wir haben vergangene Woche telefoniert.«
Sie schenkte ihm ein weiteres königliches Nicken und verschränkte die Arme vor der dicken Taubenbrust. »Sie haben Louise und Meredith mitgebracht?«, fragte sie.
»Hier sind sie.« Onkel Hal legte uns je eine Hand in den Rücken und schob uns vor.
»Louise ist die Ältere, nicht wahr?« Mrs. Parker neigte den Kopf zur Seite. »Du bist elf?«
»Ja, Ma'am«, sagte ich. Ich hatte noch nie im Leben jemanden Ma'am genannt, aber diese Frau war ganz eindeutig eine Ma'am.
Merry schniefte.
»Merry und Lulu. So nennen wir die beiden.« Onkel Hal ließ eine Hand auf Merrys Schulter ruhen.
»Ja. Sie sind nicht Merediths und Louises rechtmäßiger Vormund, korrekt?«, fragte sie. »Das ist ihre Großmutter? Zelda Zachariah?«
»Ich habe die Unterlagen dabei, die Sie von ihr haben wollten.« Er zog einen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts.
Mrs. Parker griff nach der Brille, die an einer Kette um ihren Hals hing, und setzte sie auf ihre dicke Nase. Sie schnalzte leise mit der Zunge, während sie die vielen Seiten voll schwarzer Schreibmaschinenschrift durchlas, und hörte erst auf, als Merrys ersticktes Schluchzen so laut wurde, dass kein Mensch es mehr ignorieren konnte. Mrs. Parker nahm ihre Brille ab und umfasste mit einer Hand Merrys Kinn.
»Meredith, richtig? Und du wirst im Dezember sieben?«
Merry nickte.
Mrs. Parker beugte sich vor und tätschelte meiner Schwester die Schulter. »Ihr kommt in den Eisvogel-Schlafsaal, Liebes. Da habt ihr blaue Bettwäsche und blaue Nachthemden.« Das erzählte sie Merry, als könnte die es tröstlich finden. »Ihr bekommt auch eine eigene Kommode und ein Wandbord für Bücher, falls ihr welche habt.«
Meine Schwester nickte wieder.
»Meistens haben wir hier niemanden, der euch in den Arm nehmen kann, wenn ihr weint. Traurig, aber so ist es nun einmal. Das Beste ist, ihr findet eine Möglichkeit, euch selbst zu trösten. Ich rate neuen Mädchen immer, sich recht bald ein Hobby zu suchen. Ihr könnt euch zwischen Sticken und Häkeln entscheiden. Der East Side-Frauenverein stiftet die Erstausstattung. Eure Stockwerksmutter wird sie euch zeigen.«