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Lulu: Dezember 2003

IMAGE ch parkte neben einem alten schwarzen Cadillac Seville und ging den halben Häuserblock bis zu Tante Cillas Haus zu Fuß weiter. Mir fiel auf, dass es in Brooklyn ganz andere alte Autos gab als in Cambridge. Statt fünfzehn Jahre alter, rostiger Civics standen in Brooklyn schwerfällige Cadillacs mit kaputten Rücklichtern. Ich hatte am Flughafen einen Wagen gemietet. Merry hätte mir ihren sicher geliehen, aber ich hatte ihr noch nichts von meinem Besuch in New York erzählt. Es war ein sonniger Dezembertag, Merrys achtunddreißigster Geburtstag, und ich wollte sie überraschen.

In Tante Cillas Einfahrt stand ein glänzender Toyota Avalon. Ich öffnete die Tür zu der verglasten Veranda, ein wenig verblüfft darüber, dass sie nicht abgeschlossen war. Die Veranda war leer, vielleicht weil sich im Winter niemand darauf aufhielt oder weil sich überhaupt nie jemand darauf aufhielt. Ich verkündete meine Ankunft mit Hilfe des Messingklopfers, den ich gegen die Tür schlug, bis ich Schritte hörte.

Eine altersfleckige Hand zog den Spitzenvorhang im Türfenster beiseite. Tante Cilla spähte argwöhnisch zu mir heraus.

»Lulu?«, fragte Tante Cilla.

Ich erkannte sie sofort, obwohl sie noch älter aussah, als sie inzwischen war. Ihre Gesichtszüge ähnelten denen einer Bulldogge, was sich schon immer angedeutet hatte. Ihr Körper hatte den Umriss vieler alter Frauen angenommen, mit dünnen Beinen und viel zu dürren Armen, die in einer beleibten, kartoffelförmigen Mitte steckten.

»Ich bin es, Tante Cilla.«

Sie öffnete die Tür und starrte mich an. »Du kommst nach der Familie deines Vaters. Siehst aus wie sein Vater.«

»Stimmt. Mein Großvater.«

»Merry, deine Schwester, also, die sieht aus wie deine Mutter.«

»Ich weiß.« Ich hoffte, mein Lächeln war sarkastisch genug, sodass sie es selbst durch ihre dicke Brille erkennen konnte.

»Sie hat mich nicht ein einziges Mal besucht. Obwohl sie jetzt in Brooklyn wohnt. Sie hat Arnie angerufen.«

Ich nickte, als wäre Tante Cillas Klage auch nur ansatzweise verständlich. Merry traf sich einmal im Monat mit unserem Cousin zum Abendessen. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass Arnie nun Börsenmakler war.

»Komm rein«, sagte Tante Cilla. »Dein Onkel wollte gern dabei sein, aber er muss arbeiten.«

Er schämte sich vermutlich heute noch dafür, dass er uns abgeladen hatte wie Müll.

»Ich bringe ihn einfach nicht dazu, sich zur Ruhe zu setzen«, fuhr sie fort. »Kannst du mir sagen, wer zu einem alten Zahnarzt mit zittrigen Händen geht?« Sie wischte sich die Hände an ihrer verblassten grün karierten Schürze ab.

»Zittrige alte Frauen mit Zahnprothesen?«, schlug ich vor.

Tante Cilla schnalzte mit der Zunge. »Immer noch so ein freches Mundwerk, selbst nach so vielen Jahren.«

Sie breitete die Arme aus. Ich hielt den Atem an, beugte mich vor und gewährte ihr meine Oprah-Umarmung. Herrgott, Lulu, ich merke ganz genau, wenn du nicht willst, dass dich jemand anfasst,

hatte Merry gesagt. Du umarmst denjenigen wie Oprah Winfrey einen Gast umarmt, der völlig hingerissen ist von seinem Star, sodass sie Distanz halten muss.

»Also, kannst du zum Mittagessen bleiben? Oder willst du einfach alles einpacken und gleich wieder verschwinden?« Tante Cilla schob mich durch den Flur. »Hal hat die Kisten vom Dachboden geholt.«

Wir betraten ihre Küche. Die hochglänzenden Geräte und teuer aussehenden Fronten aus Walnussholz standen in unangenehmem Kontrast zu Tante Cillas gealtertem Gesicht. Ihre alte Küche, die ich aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte, war aus hellem Holz gewesen, damals der neueste Trend. Ich weiß noch, dass meine Mutter meinen Vater ein ganzes Wochenende lang angefaucht hatte, nachdem sie gesehen hatte, wie Onkel Hal die Küche neu hergerichtet hatte.

Der Tisch war mit Mimi Rubees Porzellan gedeckt. An das erinnerte ich mich ebenfalls. Mimi Rubee hatte das Service Tante Cilla geschenkt, kurz nach dem Tod meines Großvaters. Mimi Rubee hatte das altmodische Haviland, überladen mit Bildern von tanzenden Maiden und grünen und goldenen Girlanden, nicht mehr haben wollen. Meine Mutter hasste dieses Geschirr, denn sie war ebenso sehr von modernen Sachen angetan wie Mimi Rubee, und beide hatten sich weißes Melamin mit eingeprägtem Sterndekor gekauft.

»Arnie versucht ständig, mir das Geschirr abzuschwatzen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ein erwachsener Mann, der Teller sammelt. Ich sollte das ganze Service einfach dir schenken. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du es ja für deine Töchter aufheben.«

Ich wollte schon protestieren, weil ich fürchtete, Arnie würde sich übergangen fühlen. Merry hatte mir erzählt, dass er seine Homosexualität vor Tante Cilla verheimlichte. Stattdessen sah ich meine Tante an und sagte: »Ich würde es sehr gern haben, danke.«

Sie wirkte ein wenig bestürzt. Offensichtlich war das Angebot nur so dahingesagt.

»Wenn du möchtest, komme ich morgen wieder und wickle alles gut ein.«

»Vielleicht warte ich doch lieber und frage erst Arnie.« Ihre Stimme erstarb, und sie holte eine Servierplatte aus dem Kühlschrank.

Ich hätte sie retten können, tat es aber nicht. »Ich werde es gleich den Mädchen erzählen. Die freuen sich bestimmt sehr darüber. Wie wäre es, wenn du das Geschirr einpackst und zu uns nach Hause schickst? Aber vielleicht wäre es besser, ich schicke Merry her, damit sie es abholt. Was sagst du dazu?« Würde ich wohl zu weit gehen, wenn ich ihr anbot, mein Vater könne ihr ja helfen, die schweren Kisten zu tragen?

»Die Kisten von deiner Mutter sind im Wohnzimmer.« Tante Cilla knallte einen Teller mit grober Leberpastete und Eiersalat auf den Tisch. »Du kannst sie durchgehen, wenn wir gegessen haben. Nachsehen, was du haben willst. Dir etwas aussuchen.«

»Ich brauche mir nichts auszusuchen. Ich nehme alles mit.«

Tante Cilla stemmte die Hände in die Hüften und richtete sich zu ihrer vollen eingesunkenen Größe auf. Wie so viele Frauen ihrer Generation – behandelte ich nicht genug von ihnen, um das genau zu wissen? – zeigte sie alle Anzeichen von Osteoporose und würde eines Tages auf Handtaschengröße geschrumpft sein. »Wenn du alles mitnimmst, was bleibt mir dann noch zum Gedenken an meine Schwester?«

»Du hattest jahrelang Zeit, ihrer ausgiebig zu gedenken, Tante Cilla. Woher soll ich überhaupt wissen, was du in die Kisten gepackt und was du behalten hast?«

»Willst du damit etwa behaupten, ich sei eine Diebin? Eine Lügnerin?« Sie schlug sich die Hand vor die Brust. Mehrere Diamantringe schnitten in ihre dicken Finger ein. »Wie kannst du es wagen? Das hat man nun davon, wenn man nett sein will. Ich wollte einen Neuanfang machen, genau wie Arnie gesagt hat. Warum sollte ich dich bestehlen?«

Ich schmierte mir eine riesige Portion Leberpastete auf ein Stück Roggenbrot und leckte die Gabel ab. »Mmm. Köstlich.« Ich belegte die Leberpastete mit einem Salatblatt und faltete das Brot zu einem Sandwich zusammen. »Warum du mir das antun solltest? Ich weiß es nicht, Tante Cilla. Warum hättest du mich in ein Waisenhaus abschieben sollen?«

Ich packte das Auto voll, sobald ich das dicke Sandwich heruntergewürgt hatte, wobei mir Tante Cilla mit geschürzten Lippen zugesehen hatte. Wir schwiegen, während ich sechs große Kartons zum Wagen trug. Ich wartete darauf, dass irgendeine Art menschlicher Güte mich überkam, nachdem ich die letzte Kiste aus dem Haus geschleppt hatte. Onkel Hal hatte sie mit »Persönliche Dinge« beschriftet, mit dickem Filzstift über die Worte Dawson Dental Supplies gemalt.

Ich blieb neben meinem Mietwagen stehen und blickte zu Tante Cilla zurück. Sie zog mit einer Hand den Pulli fester um sich und hielt mit der anderen die offene Haustür fest, in der Erwartung, dass ich wieder hereinkommen würde. Ich ging zur Fahrertür, öffnete sie, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und spürte, wie Tante Cilla mich beobachtete. Vielleicht erwartete sie, dass ich zurückging und sie umarmte. Sie küsste.

Zwei traurige kleine Mädchen hatten einst verzweifelt darauf gewartet, so lange gewartet, dass jemand kam und sich um sie kümmerte.

Der Motor sprang an, heulte auf, und ich fuhr davon.

Die Fahrt von Mill Basin nach Park Slope dauerte etwa eine halbe Stunde. Querstraße für Querstraße veränderte sich die Gegend. Die vorstädtisch wirkende Straße meiner Tante ging in die belebte Avenue N über. Als ich die Flatbush Avenue erreichte, sah ich das Brooklyn meiner Kindheit. Das Viertel war noch schäbiger und düsterer geworden. In den Schaufenstern häuften sich die Billigangebote, riesige, supergünstige Flaschen Shampoo mit seltsamen Namen, kunstseidene Hemden in wüsten Farben, steife Kleider mit verklebten Nähten, die höchstens bis zur ersten Wäsche halten würden.

Meinen Töchtern hätte es gefallen – den Ort meiner Kindheit zu sehen –, aber mein Vater war allzu nah. Ich brauchte mehr Abstand zwischen ihm und uns, um mich sicher zu fühlen. Die Mädchen wünschten sich ab und zu, ihren Großvater kennenzulernen. Inzwischen erzählte ich ihnen keine Lügen mehr. Ich sagte einfach nein. Eines Tages würden sie ihn wohl trotzdem besuchen, aber solange sie unter unserem Schutz standen, Drews und meinem, würden wir sie von ihm fernhalten.

Das war mein Plan. Gelegentlich schnitt Drew das Thema an, und dann versuchte ich, ihm zu erklären, was ich fühlte. Ich hörte zu, wenn er sprach. Ich rang mir um seinetwillen Worte ab, während mein Herz laut pochte. Ich liebte meinen Mann. Ich konnte es mir nicht leisten, meinen Vater zu lieben. Niemals würde ich das kleine bisschen Frieden aufgeben, das ich errungen hatte.

Als ich mich dem Prospect Park näherte, breitete sich das Leben gelassener aus, und die Architektur ließ den Menschen mehr Raum zum Atmen. Die Straßen von Park Slope waren grün vor Bäumen und neuem Geld.

In Merrys Straße hatten die Häuser keine Einfahrten. Ich quetschte mich in eine Parklücke zwischen einem Matrix und einem Prius. Dann griff ich in meine Handtasche, holte mein Handy heraus und wählte ihre Nummer mit der Kurzwahltaste – der Eins in meinem Telefon. Merry kam heraus und rannte über die Straße. Wir umarmten und küssten uns. Merry benahm sich, als hätte sie schon seit Wochen gewusst, dass ich kommen würde, und nicht nur eine Viertelstunde Vorwarnzeit von mir erhalten. Sie trug Lippenstift und Samt.

Wir mussten drei Mal gehen, bis wir die Kartons in ihre Wohnung im ersten Stock gebracht hatten, und trotz der Dezember-kälte waren wir hinterher beide verschwitzt. Ein Topf Chili köchelte auf dem Herd und gab Wärme und Würze an die Luft ab. Perfekt glasierte Challot-Brote lagen auf einem ziegelroten Steingutteller.

»Ein Wunder ist geschehen«, sagte ich. »Du hast endlich Kochen gelernt.«

»Nein. Dad hat es gelernt.«

Ich beobachtete die Miene meiner Schwester. Wartete sie auf eine Reaktion? Aber sie sah einfach nur aus wie Merry. Rockstar-hübsch. Sie wirkte so niedlich wie damals als kleines Mädchen und hatte diese verkrampfte Nervosität abgelegt.

»Gut, dann macht er sich wenigstens nützlich«, entgegnete ich gelassen. Ich hatte Merry nie von den fünfzehntausend Dollar erzählt. Sie hatte mir gesagt, dass er ihre Ausbildung finanzierte und Möbel für sie machte, aber nichts davon bewegte mich dazu, ihn treffen zu wollen, kein bisschen. Der einzige Unterschied zu früher war der, dass es mir endlich egal war, wenn Merry ihn gern treffen wollte. »Mal sehen, was wir hier haben.«

Ich setzte mich neben die Kisten auf den Boden und suchte nach der Schachtel, die Onkel Hal auf meine Bitte hin eigens für mich beschriftet hatte. »Hier. Das ist für dich. Alles Gute zum Geburtstag.«

Ich sah zu, wie Merry das Klebeband aufschlitzte, das Onkel Hal so sorgsam angebracht hatte. Sie nahm eine Schicht zerknülltes Zeitungspapier aus der Schachtel und brachte dann ein schwarzes Onyxkästchen mit Perlmuttintarsien zum Vorschein. Sie blickte auf, das Kästchen in der Hand, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Fang noch nicht an zu weinen«, sagte ich. »Du musst noch mehr auspacken.«

»Hilf mir.«

Ich rutschte hinüber, griff in die Kiste, holte ein weiteres in Zeitungspapier gewickeltes Objekt heraus und war überrascht von dem Gewicht, das ich ganz vergessen hatte. Ich streichelte den Stein unter dem Papier, so glatt und kalt wie eh und je. »Ich habe das Kästchen, das du mir geschenkt hast, auf meiner Kommode stehen«, sagte ich. »Ich dachte, die übrigen teilen wir uns.«

»Weißt du noch, wie wir immer damit gespielt haben?« Merry packte das nächste Kästchen aus und drückte es an ihre Wange. Dieses hatte eine kreisförmige, feine Silberverzierung.

»Mama hat das Spielen genannt. In Wahrheit haben wir die Kästchen für sie geputzt.«

»Trotzdem war es schön.« Merry blickte verträumt drein und erinnerte sich an Dinge, die ich nicht für möglich hielt. »Vor allem im Sommer haben sie sich gut angefühlt. Weißt du noch, wie wir damit über unsere Arme gerieben und sie als unsere Kühlsteine bezeichnet haben?«

»Hinterher waren wir immer furchtbar schmutzig. Von dem ganzen Staub.« Lauter kleine Schmutzkügelchen hatten unsere Körper bedeckt, sogar zwischen den Zehen.

»Mama hat uns direkt danach in die Badewanne gesteckt.« Merry streckte die Beine aus und ließ eine Hand auf einer Kiste ruhen.

»Dann hat sie uns die Arme und die Brust mit Alkohol eingerieben.«

»Nein, das hat sie gemacht, ehe wir ins Bett gegangen sind«, sagte Merry.

»Nein, nach dem Baden, wenn wir vom Wasser ganz heiß waren.«

»Danach hat sie uns mit Puder eingestaubt.«

Ich schüttelte den Kopf. »Du liegst völlig falsch.«

Merry kniete sich hin und klopfte sich den Staub von den Händen. »Weißt du, ich könnte auch recht haben.«

»Das könntest du«, sagte ich. »Aber das glaube ich nicht.«

Merry lachte und griff nach dem nächsten Karton. »Weißt du, was da drin ist?«

»Der Rest ist eine einzige große Überraschung«, antwortete ich. »Ich habe Tante Cilla gesagt, dass wir alles von Mama haben wollen. Dass ich ihre Sachen mit nach Hause nehmen würde. Für dich und für mich. Ich glaube, wir sind jetzt bereit dafür, und es ist an der Zeit.«