KAPITEL FÜNF
Ramshawe starrte auf die unverständliche Nachricht, die als »verschleierte Sprache« bezeichnet wurde.
»Peshawar«, murmelte er. »Das Tor zum Land der Durchgeknallten.« Also, wohin zum Teufel ging das Telefonat? Nach Bradford, England, wo mehr von diesen verdammten Muslimen leben als in Mekka.
Jimmy las zum wiederholten Mal die Nachricht: Die Auserwählten sollen vor dem Propheten in Hanfia knien. Gesegnet sei Allah, der ihnen Schutz gewährt bei den Steinrindern RV.
»Also, was in Gottes Namen soll das bedeuten?«, sprach er in sein leeres Büro hinein. »Hanfia? Was ist das? Und wer oder was ist RV? Ravi Vindaloo? Oder soll das für Rendezvous stehen, ein militärisches Rendezvous? Weiß der Kuckuck, was das soll, genau wie die bescheuerten Stein-Rindviecher.«
Die britischen Nachrichtenleute meinten, das Wort »Schutz« sei militärisch konnotiert, und RV würde für »Rendezvous« stehen. Wäre es eine Art Unterschrift, hätte nach dem Wort »Steinrindern« ein Punkt folgen sollen. Konnte natürlich ein Fehler sein. Aber der Sender hatte mit den anderen beiden Punkten – einmal hinter »Hanfia«, ein zweites Mal am Schluss – auch keinen Fehler begangen. Und es gab keine Begrüßung oder persönliche Ansprache.
Jimmy recherchierte »Hanfia« und fand heraus, dass es mitten im Pandschab – wo ebenfalls an die 80 Millionen Pakistani lebten – eine Begräbnisstätte dieses Namens gab. Das Problem schien mehr oder weniger unlösbar zu sein. Aber Rätsel wie diese hatten es dem jungen NSA-Direktor angetan, und so kreisten seine Gedanken weiterhin um die »Auserwählten« und ihren Trip zu diesem komischen Friedhof.
Er rief in der Nahost-Abteilung der CIA an, wo bislang keinerlei Fortschritte erzielt worden waren. Also wandte er sich wieder seinem Computer zu, suchte im Netz nach Terroristen aus Peshawar oder dem Pandschab und versuchte irgendeine Verbindung herzustellen.
Seine ihm frisch angetraute Frau, die Surfer-Göttin aus Sydney, Jane Peacock, Tochter des australischen Botschafters, hatte ihn zweimal angerufen und das Thema Pünktlichkeit zur Sprache gebracht, bevor er beschloss, einen letzten Versuch zu starten. Er googelte »Bradford«, und nach kaum zwanzig Sekunden hatte er das Gefühl, als stochere er in einem Wespennest. Er rief einen Stadtplan auf und entdeckte sofort die Hanfia-Moschee, die am Rand des pakistanischen Viertels Manningham lag.
Die Auserwählten sollen vor dem Propheten in Hanfia knien. »Na«, entfuhr es Jimmy lautstark, »sieht fast so aus, als würden vier Pakistani nach England unterwegs sein, um sich bei irgendeinem Mullah in der Hanfia-Moschee zu melden. Toll!« Er schickte eine Meldung an Bob Birminghams Büro in Langley und schlug vor, die Antiterror-Abteilung von Scotland Yard in London zu informieren.
Bevor er nach Hause aufbrach, warf er jedoch noch einen schnellen Blick auf die Umgegend von Bradford und betrachtete die Kleinstädte und Dörfer Yorkshires. Es fanden sich nicht viele davon, weder im Süden noch im Osten und auch nicht auf dem Plateau der Pennines, das im Norden die Grafschaften Yorkshire und Lancashire voneinander trennte, die beiden Grafschaften, die im 15. Jahrhundert den Rosenkrieg ausgefochten hatten – wobei die Farbe Weiß für das House of York und Rot für das schließlich siegreiche Lancaster gestanden hatte.
Jimmy allerdings befand sich im Moment eindeutig auf Seiten der Verlierer. Er trieb sich im Heideland nördlich des Dorfes Ilkley herum, betrachtete eine Website mit örtlichem Kartenmaterial und wurde dabei von seinem klingelnden Handy gestört. »Mist«, murmelte er. »Bin schon unterwegs, Liebste. Schon auf dem Highway.«
»Lügner«, blaffte Jane. »Wenn du nicht in einer Viertelstunde hier bist, fahre ich zu Dad zum Essen.«
Jimmy musste immer lächeln über die Neigung seiner Frau, die australische Botschaft in Washington als »bei Dad« zu bezeichnen. Aber er wusste, was es geschlagen hatte, und schwor bei Gott, dass er pünktlich bei ihr sein würde. In diesem Bruchteil einer Sekunde entdeckte er in der Heidelandschaft von Ilkley eine Stelle, die als Cow and Calf Rocks gekennzeichnet war.
Das sind die verdammten Steinrinder, entfuhr es ihm. Dann rechnete er Janes Zorn gegen den Verdienst auf, den er sich erwerben würde, wenn er »die Bettlakenträger festnageln« würde, und entschied sich schnell für die gertenschlanke Blondine aus den sonnigen Vororten Sydneys. Er schaltete den »blöden Apple« aus, stürmte aus dem Büro und murmelte auf dem Weg hinunter in die Lobby sein australisches Siegesmantra: »Ihr Drecksäcke, jetzt hab ich euch an den Eiern!«
Zu Hause wurde Jimmy mit einem gekühlten Rosé aus dem Barossa Valley in der Nähe von Adelaide empfangen. Zum Abendessen genossen er und Jane zwei hervorragende Sirloin Strip Steaks, die, wie Jimmy annahm, Ergebnis ihres heftigen Flirtens mit dem 70-jährigen Chefkoch der Botschaft waren.
Um halb elf verkündete Jane, dass sie sich schlafen legen würde, und verließ das Zimmer. Jimmy raste in sein Arbeitszimmer, seine Finger flogen über die Tastatur, während er die Suchbegriffe »Cow and Calf Rocks, Bradford« eingab.
Dann erschienen sie auf dem Monitor, zwei massive Felsbrocken im Hochmoor von Ilkley, der eine von nahezu quadratischer Gestalt und etwa 30 Meter hoch, der andere nur etwa halb so groß, aber keiner glich auch nur entfernt einer Kuh und ihrem Kalb. Dem Text zufolge verlor sich die Herkunft der Namen im Dunkel der Geschichte, die Felsen selbst waren wahrscheinlich prähistorischen Ursprungs, wobei der kleinere vom größeren abgebrochen sein dürfte.
Wie auch immer, Jimmy jedenfalls nahm an, dass es sich dabei tatsächlich um die »Steinrinder« handelte, bei denen sich die Auserwählten treffen wollten, 426 Meter über NN, in der weiten, öden Heidelandschaft, keine 15 Kilometer vom Stadtzentrum in Bradford entfernt. Jimmy notierte sich die GPS-Daten.
Er schaltete den Computer aus und eilte ins Schlafzimmer, freute sich bereits auf den neuen Tag, mehr noch aber auf die Nacht in den Armen seiner wunderbaren Frau.
Mack joggte um sieben Uhr morgens des nächsten Tages an der Kennebec-Mündung entlang, als Ramshawe ihn anrief, um ihn über die neuesten Erkenntnisse zu informieren.
»Kumpel, ich kann Ihnen nur raten«, sagte Jimmy, »mit leichtem Gepäck zu reisen, Ihre Waffen zu verbergen, solange Sie sie nicht brauchen, und in Kontakt mit dem britischen SAS zu bleiben. Die sind informiert.«
»Verstanden, Commander. Bedford nach Bradford. Meldungen über Stirling. Ende.«
Der ehemalige SEAL-Teamführer eilte sofort nach Hause. Auf den Eingangsstufen rief er den britischen Militärattaché in Washington an. Unter seinem neuen Codenamen »Black Bear« – benannt nach den Sportmannschaften der Universität Maine – bat er um einen schnellstmöglichen Flug an Bord einer Militärmaschine nach England. Fünf Minuten später meldete sich der Attaché. Eine Hercules der Royal Navy würde noch am selben Abend zum RAF-Stützpunkt Lyneham in der Grafschaft Wiltshire fliegen. Gegen Mitternacht sei eine Zwischenlandung auf dem US-Navy-Stützpunkt Brunswick, Maine, vorgesehen, wo er zusteigen könne. In Lyneham werde ein schwarzer Jaguar auf ihn warten, ohne Chauffeur, wie erbeten.
Den restlichen Tag verbrachte Mack im Internet und las alles, was er über Bradford und Umgebung finden konnte. Er war nie dort gewesen, und morgen würde er inkognito eintreffen und sich bei der West Yorkshire Police melden, einer der härtesten Antiterror-Einheiten der englischen Polizei, die in unmittelbarer Nähe zu einer der größten muslimischen Enklaven der westlichen Welt stationiert war.
Mack würde keinerlei Dokumente bei sich haben. Ein- und Ausreise würden über Militärmaschinen erfolgen. Auf seiner von der Regierung ausgestellten Kreditkarte war kein Name verzeichnet, nur eine nicht rückverfolgbare Codenummer. Es gab lediglich zwei dieser Kreditkarten, eine war auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten ausgestellt, die andere befand sich momentan im Besitz von Mack Bedford.
Wurde diese Kreditkarte irgendwo auf der Welt in ein Lesegerät geschoben, erschienen die Worte: »OK Visa. U.S. Govt.« Uncle Sam war noch nie einen Dollar schuldig geblieben. In dieser Beziehung stellte Mack für niemanden eine Gefahr dar.
Die amerikanische und britische Polizei sowie das britische Militär waren in die Geheimoperation eingeweiht, sonstige Staatsorgane oder Regierungsstellen wussten nichts davon.
Sollte er bei seinem Einsatz ums Leben kommen, würde niemand wissen, wer er war oder worauf er es abgesehen hatte. Wie so viele andere würde er als unbekannter Soldat sterben, ein rätselhafter Toter, von dem nur Gott etwas wusste.
Mack kramte eine alte afghanische Stammestracht heraus, die er aus dem Hindukusch mitgebracht hatte, weiße Schlabberhose, langes Hemd und die dazugehörige Kopfbedeckung. Er verstaute sie in seiner wasserdichten Ledertasche, zusammen mit einigen Hosen, Hemden, Jeans, Kampfstiefel und Tarnkleidung. In einem Geheimfach im Boden steckte seine SIG-Sauer-9-mm-Dienstpistole, dazu sechs Magazine, sein Kampfmesser und 50 000 Dollar in bar, die er mit der Kreditkarte von vier verschiedenen Banken abgehoben hatte.
Er schrieb Anne eine kurze Notiz: Werde für ein paar Tage fort sein. Mach dir keine Sorgen. Sag Tommy, ich bringe ihm ein neues Rugby-Shirt mit. Und was immer auch geschieht, ich werde immer an dich denken. Ich liebe dich, Mack.
Er legte den Zettel unter sein Handy auf das Tischchen im Flur, womit er ihr zu verstehen gab, dass er bis zu seiner Rückkehr nichts mehr von sich hören lassen würde.
Anne blieb für einen Moment fast das Herz stehen, als sie den Zettel fand. Aber als langjährige Ehefrau eines Mitglieds der amerikanischen Spezialkräfte wusste sie, was das zu bedeuten hatte.
Mit einem Taxi fuhr Mack ein Dutzend Kilometer nach Norden und checkte in der Kleinstadt Brunswick im Parkwood Inn ein, das von den Halbinseln Bailey und Orrs Island und den Gewässern umgeben war, die zur spektakulären Casco Bay führten. Er war am frühen Nachmittag eingetroffen und ließ sich vor dem Computer nieder, um Informationen über das Swat-Tal, über Peshawar, die Hanfia-Moschee, Bradford, die muslimische Enklave in Manningham und die Cow and Calf Rocks abzurufen, die, wie Jimmy Ramshawe geschworen hatte, eine wichtige Rolle bei dieser Operation spielen würden.
Dass von ihm erwartet wurde, vier Morde zu begehen, verdrängte Mack – nur wenn sich die unumstößliche Wahrheit seines Einsatzes ins Bewusstsein schob, rechtfertigte er sich damit, dass diese vier Männer auf hinterhältige Art und Weise seine Waffenbrüder umgebracht, unschuldige Frauen und Kinder ermordet und nicht das kleinste bisschen Gnade verdient hatten, schon gar nicht von ihm.
Und da die Männer, auf die er es abgesehen hatte, mit hoher Wahrscheinlichkeit teuflische Rachepläne gegen die USA schmiedeten, hatte er sogar ein gutes Gefühl wegen dieser Operation. Wie immer war Mack zum Schutz seiner Mitbürger da, jetzt sogar mit Unterstützung durch einige der wichtigsten Männer des Landes. Für den Ex-SEAL-Commander war dieser Einsatz nichts anderes als das, was er immer gemacht hatte. Und wie immer stand hinter allem das Glaubensbekenntnis der US-Navy-SEALs:
Bescheiden diene ich als Beschützer meiner amerikanischen Mitbürger und bin immer bereit, für jene zu kämpfen, die nicht für sich selbst kämpfen können. Ich prahle nicht mit meinen Taten noch suche ich Anerkennung dafür. Aus freien Stücken akzeptiere ich die Gefahren meines Berufes und stelle mich in den Dienst anderer, um für ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit zu sorgen … Dass ich in der Lage bin, ungeachtet der Umstände meine Gefühle und Handlungen unter Kontrolle zu haben, zeichnet mich gegenüber den anderen aus.
Er saß auf der breiten Veranda des Parkwood Inn und erinnerte sich, als er diese Worte zum ersten Mal gehört und man ihm den goldenen Dreizack an die Jacke seiner Ausgehuniform gesteckt hatte. Keiner vergisst jemals diesen Augenblick, den Tag der Aufnahme in die beste Kampftruppe der Welt. Man hatte nie versucht, ihm den Dreizack wegzunehmen. Das konnte niemand. Das war sein Geschenk. Verdammt, das war sein Leben und würde es immer sein. Die feierlichen Worte erklangen in seiner Erinnerung:
Der SEAL-Dreizack ist das Symbol meiner Ehre und wurde mir von jenen verliehen, die vor mir abgetreten sind. Er verkörpert das Vertrauen jener, die zu beschützen ich geschworen habe. Als Träger des Dreizacks nehme ich die Verantwortung meines von mir gewählten Berufs und meines Lebens auf mich. Dies ist ein Privileg, das ich mir jeden Tag verdienen muss.
Mack hatte sein Offizierspatent verloren, trotzdem war er noch immer mit Leib und Seele ein Navy-SEAL-Commander. Und jetzt stand er kurz davor, sein altes Leben zurückzugewinnen. Er starrte auf die Hochglanzfotos von Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu Hassan, den Massenmördern. »Und wenn ich euch bis ans Ende der Welt nachjagen muss«, murmelte er, »ich werde euch finden. Ich werde euch aufhalten, was immer ihr gerade vorhabt. Und ihr werdet sterben.«
Drei Stunden nach dem Abendessen setzte ein Wagen des Hotels Mack vor den Toren der während des Zweiten Weltkriegs errichteten Naval Air Station ab. Die Wachen winkten ihn durch. Niemand wollte einen Ausweis sehen. Ein Stabswagen brachte ihn zum Ende der 2,5 Kilometer langen Rollbahn, ohne dass ein Wort gewechselt wurde. Mack stieg aus und wartete in der Dunkelheit.
Der Wagen entfernte sich. Mack sah auf seine Uhr; eine Viertelstunde zu früh. Regen setzte ein, Mack knöpfte sich seinen Trenchcoat zu und stellte den Kragen hoch, barhäuptig stand er im steifen Südwestwind, der direkt vom Golf von Maine hereinwehte und über die Rollbahn peitschte. Wie alle Down Easter (so wurden die Küstenbewohner des Staates genannt) brüstete er sich damit, dass ihm die harten klimatischen Gegebenheiten seiner Heimat nichts ausmachten. Unbeirrt spähte Mack nach Nordosten und hielt Ausschau nach den Landelichtern der riesigen Lockheed Martin C-130 Hercules.
Bislang herrschte pechschwarze Nacht, und die Gedanken des großen Ex-SEALs schweiften ab zu jenem Tag, an dem er zum letzten Mal hier gestanden hatte, dem Tag, als er die Navy verlassen musste. Weniger unbeugsame Naturen wären vielleicht daran zerbrochen, aber Mack hatte seinen Kopf in den Wind gedreht und den stürmischen Böen getrotzt.
Die Sichtweite war gering, aber er hatte schon schlimmere Wetterbedingungen erlebt. Dann plötzlich, in nicht einmal zwei Kilometern Entfernung, erkannte er zwei Lichter, die sich wie Zwillingssterne mit hoher Geschwindigkeit der Erde näherten. Die große Turbo-Prop-Frachtmaschine war im Sinkflug begriffen, das Fahrwerk ausgefahren. Mack sah, wie die Räder mit einem schrillen Kreischen auf dem Asphalt aufsetzten und die wuchtigen Tragflächen durchschwangen, bevor sie sich wieder ausrichteten.
Eine Minute später rollte die Maschine in seine Richtung und hielt 30 Meter vor ihm an. Aus der Dunkelheit heraus tauchte eine mobile Treppe auf. Mack griff sich seine Tasche, rannte über das Rollfeld und sprang die Treppe hinauf.
Er hörte, wie die Tür hinter ihm geschlossen wurde, während man ihn bereits zu einem breiten Netzsitz führte. Es war an der Zeit, die 5500 Kilometer lange Reise anzutreten, und dies in einem der lautesten Flugzeuge, die jemals den Himmel durchmessen hatten, einer riesigen, hallenden Stahlhöhle, die ausschließlich zum Transport schwerer militärischer Ausrüstung entwickelt worden war. Keiner sprach, als er seinen Mantel auszog, ihn über die Tasche auf dem Sitz nebenan warf, sich setzte und anschnallte.
Die Flugzeugbesatzung wusste, dass es sich bei ihm nicht um einen gewöhnlichen ehemaligen SEAL handelte, sondern um den legendären Mackenzie Bedford, den Ex-Kampfschwimmer, der das Foxtrot Platoon des SEAL-Teams 10 angeführt hatte, als sie eine der größten Bohrinseln im Persischen Golf erobert hatte; 18 Soldaten hatten in jener Nacht den Tod gefunden, keiner davon ein Amerikaner.
Der gesamten Besatzung war es streng verboten, mit dem Passagier zu sprechen – sie konnten ihm Kaffee und Essen bringen und was er sonst so brauchte. Aber es durfte kein Wort gewechselt werden. Sie hatten einen Geist an Bord.
Am Nordende der Rollbahn wendete die Hercules, die Triebwerke heulten auf, während die Maschine zitternd und rumpelnd Fahrt aufnahm. Donnernd verschwand sie kurz darauf im Nachthimmel, brach durch die Regenwolken, die die Küste verhüllten, und stieg in den klaren Nachthimmel. Im schwachen Schein des fast vollen Mondes, der an der Backbordseite schimmerte, trat sie ihren Weg über den Atlantik an.
Während die Hercules abhob, befand sich eine Boeing 777-300ER über dem östlichen Mittelmeer und steuerte den Balkan an, direkt hinweg über die ehemaligen kommunistischen Staaten Osteuropas, um Kurs auf Amsterdam zu nehmen. Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu Hassan reisten erster Klasse, trugen maßgeschneiderte westliche Anzüge und hatten hervorragend gefälschte Studentenvisa bei sich.
Sie waren durchtrainiert, von sich überzeugt, lasen westliche Zeitschriften und Zeitungen und freuten sich auf die Begegnung mit Scheich Abdullah Bazir, dem El-Kaida-Führer in Bradford.
Zur morgendlichen Rushhour befand sich der große pakistanische Passagierjet im Landeanflug über den weitverzweigten Kanälen der Niederlande. Am Flughafen Schiphol, 15 Kilometer südlich von Amsterdam, verließen sie als Erste die Maschine. Sie brachten schnell die Abfertigung für weiterreisende Passagiere hinter sich, da sich die holländischen Beamten kaum für Fluggäste interessierten, die nicht im Land blieben.
Eine Stunde später gingen sie an Bord einer voll besetzten Chartermaschine der Air Iran mit Ziel Leeds-Bradford, das letzte Teilstück ihrer 7200 Kilometer langen Reise. Sie landeten am Vormittag und sahen sich dem gefährlichsten Teil ihrer Reise gegenüber, denn ein penibler Immigrationsbeamter könnte Unstimmigkeiten in ihrem Studentenvisum entdecken und Erklärungen einfordern. Das zumindest hätte in den USA oder in Australien geschehen können, selbst in Frankreich oder in Deutschland und ganz bestimmt in Japan. Aber nicht in England. Die Beamten stempelten achtlos die Einreisedokumente und gaben ihnen grünes Licht für die »University of British Literature and Law«.
Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu marschierten durch die Kontrollen, verließen den Flughafen und nahmen sich jeweils ein eigenes Taxi. Jeder nannte dem Chauffeur das gleiche Fahrtziel: »Cow and Calf Rocks, Ilkley-Moor.«
Die Taxis trafen dort in Fünf-Minuten-Abständen ein, und zehn Minuten lang standen die vier Terroristen aus dem Nahen Osten unter dem größeren der beiden Felsen zusammen. Kurz vor Mittag hielt ein schwarzer Range Rover mit getönten Scheiben neben ihnen.
Ein junger Mann mit indischen Gesichtszügen, aber in westlicher Kleidung, kam hinter dem Lenkrad hervor und öffnete die Tür im Fond. Ein Typ, der aussah, als stammte er direkt vom Filmgelände der Universal Studios in Burbank, stieg aus, der gefährlichste Mann in ganz England und das Oberhaupt der El Kaida in Bradford, Scheich Abdullah Bazir.
Der weißbärtige Mullah mit schwarzem Turban entbot ihnen mit ernster Miene den traditionellen muslimischen Gruß und vollführte mit der rechten Hand einen weiten Bogen von der Stirn zur Hüfte. Leise sagte er: »Willkommen, meine Söhne. Allah hat euch sicher hierhergebracht, stimmt mit mir in ein Gebet ein.«
Ohne ein weiteres Wort ging er zum nördlichen Ende des riesigen Felsens, sah in den Himmel, um sich zu vergewissern, dass die Sonne ihren Scheitelpunkt überschritten hatte. Dann sprach er mit fester Stimme die Worte, die die Imame weltweit sprechen, wenn sie auf ihren Minaretten die Gläubigen zum Gebet rufen. Scheich Abdullah hatte hier kein Minarett, aber seine Worte loderten vor Inbrunst und hallten über die öde und verlassene Heidelandschaft:
Gott ist groß.
Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott.
Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist.
Eilt zum Gebet!
Eilt zur Seligkeit!
Gott ist groß.
Es gibt keinen Gott außer Gott.
Dann wandte er sich nach Osten in Richtung des uralten West-Yorkshire-Dorfes Burley-in-Wharfedale. Sein Blick aber war weit darüber hinaus gerichtet und ging über die Heidelandschaft, den Ärmelkanal und Europa nach Osten, zur Kaaba in der heiligen Stadt Mekka, die in den Gedanken der treuen Anhänger Allahs immer präsent ist. Scheich Abdullah sprach das heilige Wort »Takbir!«, und Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu antworteten »Allahu Akbar!«. Gott ist groß.
Auf der Heide des Ilkley Moors warfen sich die fünf Männer vor ihrem Gott auf den Boden, und der Imam murmelte das Mantra des Propheten Mohammed, das erneut mit dem Ausruf »Allahu Akbar« endete, dem Satz, der sich auf den Nationalflaggen der islamischen Republiken Afghanistan, Irak und Iran wiederfindet. Es waren die Worte, die auch von den vier Terroristen gesprochen wurden, wenn ihre Sprengsätze explodierten und hundertfach Trauer und Leid brachten.
Imam Abdullah Bazir nahm jeden der vier Männer an der Hand und sprach zu ihnen. »Meine Söhne, die Schergen der Ungläubigen überwachen Tag und Nacht meine Moschee. Sie halten Ausschau nach meinen Besuchern, vor allem aber nach meinen Kriegern. Ich kann es nicht wagen, euch Zutritt zu gewähren, wir können uns also nur hier treffen. Aber habt keine Angst, hier sind wir Allah näher.«
Ibrahim dankte ihm. Der Scheich fuhr fort: »Entweder komme ich persönlich, ansonsten wird jeden Abend um 19 Uhr einer meiner Abgesandten hier erscheinen. Hier ist es sehr einsam, niemand wird uns stören. Solltet ihr die Unterweisung des Propheten benötigen, werden wir immer für euch da sein.«
»Und, Imam, Ihr betet doch für uns?«, fragte Yousaf.
»Ich oder meine Abgesandten werden hier jeden Abend für euch beten. Vergesst nicht, egal, wo ihr euch gerade aufhaltet, sprecht eure Gebete – Allah allein ist es würdig, verehrt zu werden, Lob und Dank sei ihm, dem Herrscher der Welt. Vergesst nicht, er richtet am Tag des Gerichts, ihn allein beten wir an, ihn allein ersuchen wir um Hilfe, ihm allein unterwerfen wir uns. Wiederholt daher: O Allah, halte uns auf dem rechten Weg und nicht auf dem Weg derer, die irregehen.«
Darauf drehte er sich um, kehrte zum Range Rover zurück und bedeutete ihnen, einzusteigen. »Ich werde euch nicht begleiten«, sagte er. »Man wird euch an einen sicheren Ort bringen, wo ihr nicht weit zu mir habt. Ich allein kenne eure neue Adresse. Shakir Khan hat mich damit betraut, mich um euch zu kümmern. Wenn es so weit ist, wird man es euch sagen. Dann werdet ihr eure lange Reise in die Vereinigten Staaten fortsetzen, wo ihr Gottes Werk verrichten werdet. In der Zwischenzeit, bis die Vorkehrungen abgeschlossen sind, werdet ihr unsere Gäste sein.«
Alle dankten Scheich Abdullah, der nun vom schwarzen Wagen zurücktrat und sich in den Schatten des gewaltigen Felsens stellte. Der junge muslimische Fahrer machte sich ohne ihn auf den Weg nach Süden in das islamische Viertel von Bradford.
Detective Sergeant Owen Thomas, der etwa 80 Meter weiter östlich flach zwischen den Felsen lag, sah dem Range Rover hinterher und legte schließlich die Kamera ab.
Er und sein jüngerer Kollege Constable Tom Wainright hatten die Moschee in der Innenstadt schon die gesamte Woche von ihrem dunkelblauen Zivilwagen aus observiert. Als Scheich Abdullah dort losfuhr, setzten auch sie sich in Bewegung und folgten ihm in einem Abstand von 300 Metern zum Ilkley Moor. Nachdem der Geistliche ausgestiegen war, stellten sie ihren Wagen ab und bezogen, halb laufend, halb kriechend, ihr jetziges Versteck.
Sergeant Thomas war mit seiner altmodischen Analogkamera und dem Teleobjektiv eine Reihe von hervorragend scharfen Aufnahmen gelungen. Er hatte keine Ahnung, wer die vier Besucher waren, aber sein Bildmaterial würde ausreichen, um die Betenden zu identifizieren.
Fünf Minuten später traf ein weiterer Wagen ein, der den Scheich abholte. Sie sahen ihm nach, wie er nach Bradford zurückfuhr. Tom Wainright meldete sofort seiner Dienststelle, dass er und sein Vorgesetzter zurückkehren würden, um den Film entwickeln zu lassen. Das nächste Zwei-Mann-Team würde dann zur langen Nachtschicht vor der Moschee aufbrechen.
Es wurde ein hektischer Abend in der Dienststelle der West Yorkshire Police in Bradford. Die Hochglanzabzüge, die Sergeant Thomas um 21 Uhr Detective Superintendent Len Martin auf den Schreibtisch legte, wurden unverzüglich nach London an den Leiter der Anti-Terrorabteilung von Scotland Yard, Ronald Catton, weitergeleitet.
Er schickte sie in digitaler Form zur CIA in Langley mit der Bitte um Identifizierung. In Washington war es 16.15 Uhr, und Bob Birminghams Jungs brauchten nicht lange, um Ibrahim Sharif, Yousaf Mohammed, Ben al-Turabi und Abu Hassan Akbar zu identifizieren. Die vier meistgesuchten Männer der Welt waren ganz offensichtlich nach Bradford gereist.
Len Martin stellte Sergeant Thomas eine relativ simple Frage: »Haben wir die vier Typen weiter verfolgt?«
»Nein, Sir.«
»Warum nicht?«
»Das war nicht unsere Aufgabe. Wir sind zur Observierung von Scheich Abdullah abgestellt. Zu sonst nichts.«
»Großer Gott, Owen«, entfuhr es Martin, »laut der Meldung von Catton und der CIA handelt es sich bei den vier Männern, die Sie fotografiert haben, um verurteilte Terroristen, Ex-Guantanamo-Häftlinge.«
»Sir, wenn wir jeden verfolgen wollen, mit dem der Imam spricht, bräuchten wir dreihundert Zivilwagen und sechshundert Beamte mehr.«
»Alle Anti-Terroreinheiten der freien Welt sind anscheinend hinter diesen vier Typen her.«
»Haben die Amerikaner ihre Namen?«
»Sind gerade eingetroffen, eine Meldung von Catton. Heißen wie alle von denen, Mohammed, Abu, Ibrahim etc. Wir haben den Befehl bekommen, ihre Namen aus sämtlichen Polizeiakten rauszuhalten.«
»Hätte es Sinn, bei den Einwanderungsbehörden anzufragen?«
»Nicht viel. Typen wie die wissen doch gar nicht mehr, wann sie zum letzten Mal ihren richtigen Namen benutzt haben. Aber sie können nicht weit sein. Sie sind mit Abdullahs Wagen weggebracht worden. Einer unserer Jungs hat gerade angerufen und gesagt, dass der Wagen wieder vor der Moschee eingetroffen sei. Genau wie der Scheich.«
»Also irgendwo in Manningham, vielleicht nur ein paar Straßenzüge von der Moschee entfernt.«
Kurz darauf traf die Meldung ein, dass der Range Rover am nördlichen Ende der Darsfield Street gehalten habe und vier Passagiere ausgestiegen seien.
»Wir kennen vier Häuser, die ihnen vermutlich als Versteck dienen«, sagte Len Martin. »In einem davon dürften sie sich aufhalten.«
»Wir können sie nicht hochnehmen«, sagte der mürrische Sergeant Thomas. »Soweit ich weiß, verstößt es nicht gegen das Gesetz, wenn man mitten im Moor mit einem muslimischen Geistlichen redet.«
»Nein, sollte es aber, wenn es sich um einen ganz bestimmten muslimischen Geistlichen handelt«, entgegnete Len Martin. »Er ist eine Bedrohung. Den hätte man schon vor Jahren in den Pandschab zurückschicken sollen.«
Die viermotorige Hercules C-130J, die statt der üblichen Ladung von 156 Soldaten und 20 Tonnen Fracht nur Mack Bedford an Bord hatte, befand sich bei Anbruch der Morgendämmerung im Luftraum des Vereinigten Königreichs und bereitete sich auf den Landeanflug auf ihren Heimatstützpunkt Lyneham vor.
Sie schwebte über die Kreidefelsen und setzte auf der West-Ost-Rollbahn auf. Es dauerte keine Minute, bis die schwere Stahltür an der Maschine geöffnet war und Mack Bedford die Treppe hinunter direkt zum wartenden Jaguar lief. Er warf seine Tasche auf den Beifahrersitz und nahm hinter dem Lenkrad Platz. Keiner kannte ihn.
Er schaltete das Navigationsgerät an, fuhr zur Ausfahrt und nahm die Route über die Cotswold Hills, über Cirencester, Gloucester zum 110 Kilometer entfernten Ross-on-Wye. Der letzte Abschnitt der Fahrt führte ihn über vertrautes Terrain, die Straße von Hereford, wo früher das 22. SAS-Regiment stationiert gewesen war, die britische Spezialkräfteeinheit, mit der er oft genug trainiert hatte.
Der SAS hatte vor Kurzem ihr neues Hauptquartier bezogen – die legendären Stirling Lines in der Nähe des Dorfes Credenhill, sechs Kilometer nordöstlich der 930 Jahre alten Kathedrale von Hereford. Hier durchliefen die Männer des SAS, häufig in Gesellschaft von US-Navy-SEALs, das brutalste Ausbildungsprogramm, das man sich nur denken konnte. In den Stirling Lines saß auch Macks einziger Kontakt, sein alter Freund Colonel Russ Makin, der aufgrund seiner einzigartigen Verdienste als Kommandeur des Regiments vor weiteren Beförderungen und einer Stelle im Verteidigungsministerium verschont geblieben war.
Makin war aus ganzem Herzen Soldat der Kampftruppen. Er hatte 1982 mit Auszeichnung im Falklandkrieg gedient und später im ersten Golfkrieg. 2003 hatte er im Alter von 41 Jahren zusammen mit Mack Bedford die Bohrinsel im Golf angegriffen. Bei der gemeinsamen SEAL-/SAS-Operation hatten die beiden nach einem Feuergefecht mit zwölf irakischen Elitesoldaten die Plattform eingenommen.
Insgeheim mutmaßte Makin bereits, seinen alten Freund zu Gesicht zu bekommen, obwohl die Meldung des US-Nachrichtendienstes bewusst vage gehalten war. Makin hatte nicht die geringste Ahnung, woran Mack beteiligt war, die Sache musste jedenfalls streng geheim sein. Schweigend trank er seinen Nachmittagstee und sah auf einem großen Flachbildmonitor den 24-Stunden-Nachrichtensender. Er erfuhr dabei, dass zwei weitere ihm bekannte Jungs bei einem Sprengstoffanschlag in Kabul gefallen waren. Erneut war deutlich geworden, wie ungenügend die britischen Militärjeeps gepanzert waren.
Makin wusste bei solchen Meldungen nie genau, ob er darüber Trauer oder Wut empfinden, ob er Bedauern oder Zorn zeigen und in Whitehall alles kurz und klein schlagen oder sofort den Dienst quittieren sollte, damit er mit solchen Dingen nichts mehr zu tun hatte. Es nahm ihn mit, zu sehen, wie seine Jungs sinnlos ums Leben kamen, nur weil irgendwelche dämlichen Politiker ihren Etat und ihre erbärmliche Karriere höher schätzten als das Leben seiner Soldaten.
»Scheiße«, murmelte er.
Mack befand sich bereits in Hereford. Er war einen kleinen Umweg gefahren, um sich ein paar alte Stationen aus seiner Vergangenheit anzusehen, unter anderem seine alte Stammkneipe, den 400 Jahre alten Green Dragon Inn, wo er und Makin mit drei anderen SEALs und SAS-Jungs 2006 an einem Wiedersehenstreffen teilgenommen hatten.
Er überquerte die auf sechs Bögen ruhende Steinbrücke, fuhr durch die Altstadt, bevor er auf der A48 fruchtbares Weideland passierte, vorbei an rot-weißen Herefordrindern, die zu den besten Mastrindern der Welt zählten.
Um 18.30 Uhr erreichte er die Tore des SAS-Hauptquartiers. Nach einem Blick auf das Nummernschild des Jaguars winkten die Wachen ihn nur durch. Sie wussten, wer soeben eingetroffen war. Auch hier verlor niemand ein Wort darüber.
Er stellte den Wagen ab und trat vor den majestätischen und düsteren Glockenturm, der vor der Regimentskirche auf dem Ehrenmalplatz errichtet worden war. Eingraviert auf dem Ehrenmal waren die Namen der SAS-Leute, die ihr Leben gelassen hatten; die Helden, die bereitwillig »den letzten schneebedeckten blauen Berg überschritten« hatten – das heilige, gelobte Ziel aller SAS-Männer, die, sollten die Schlacht, die Sicherheit der Kameraden oder einfach nur ihr Pflichtgefühl es erfordern, bereit waren, alles dafür zu geben.
Mack starrte auf das Mahnmal, dachte an drei seiner verstorbenen Freunde und senkte kurz den Kopf, dann drehte er sich um und ging zu Russ Makins Büro.
Der Kommandeur der Stirling Lines sah ihn durch das Fenster kommen. Er erhob sich, um ihn zu begrüßen, sie gaben sich die Hand, und mit einem Grinsen sagte der britische Offizier: »Ich habe von deinen Mätzchen am Euphrat gehört, also, was steht jetzt an?«
Mack Bedford lachte nur. »Kleinigkeiten, so Sachen eben, die man jemandem überträgt, der Führungsaufgaben nicht gewachsen ist.«
Russ klatschte ihm auf die Schulter, führte ihn in sein Büro und rief auf dem Weg dorthin einem jungen SAS-Soldaten zu: »Wir hätten gern heißen Tee, Harry! Und dazu ein paar Kekse.«
Lt. Colonel Makin nahm eine Meldung von seinem Schreibtisch: E-Mail für Sie eingetroffen, Sir. Militärischer Nachrichtendienst. Liegt auf Ihrem Rechner.
Er machte sich an der Tastatur zu schaffen und bat Mack, ihn für einen Moment zu entschuldigen. Dann sah er auf. »Großer Gott, bist du zufällig Black Bear?«
»Kommt das überraschend, Kumpel?«, erwiderte Mack.
»Na, dann solltest du dich vorsehen. Hier steht: ›Richten Sie Black Bear – zukünftig nur noch BB – aus, dass die Auserwählten wie vorhergesagt bei den Steinrindern eingetroffen sind. Vorschlag: Sie fahren heute noch dort hin. DS Len Martin von der örtlichen Polizei ist eingewiesen. Observierung gestartet.‹ Wer zum Teufel sind die Auserwählten?«, fragte Makin.
»Ein paar Typen, die vielleicht vorhaben, uns alle in die Luft zu sprengen.«
»Und du willst sie aufstöbern?«
»Ja.«
»Um was zu tun?«
»Mit ihnen Tacheles reden.«
»Du meinst, sie eliminieren?«, drängte Makin.
»Ich? Immer hübsch mit der Ruhe, Kumpel. Ich will mit ihnen nur ein bisschen plaudern.«
»Klar«, erwiderte der Kommandeur. »Nur ein bisschen plaudern.«
Der Tee wurde gebracht, heiß wie gewünscht, dazu Royal-Crown-Derby-Tassen und Untertassen aus der Offiziersmesse, ein Kännchen Milch, eine Zuckerdose und ein Teller mit Keksen. Dankbar nippte Mack am Tee. Er liebte ihn, wie ihn die Briten zubereiteten. Und er mochte Russ Makin wie keinen anderen Offizier, der irgendwo auf der Welt im aktiven Dienst stand.
»Okay, Mack«, sagte Makin. »Da du zu diesen Steinrindern willst und dir dazu ein Wagen zur Verfügung gestellt wurde, wie man ihn normalerweise Botenjungen aushändigt, will ich dich über meine Befehle aufklären.«
»Schieß los.«
»Ich bin dein einziger Kontakt. Jede Meldung von dir geht ausschließlich über mich. Dieses Büro ist deine Kommandostelle. Ich habe dir meine private Handynummer und meine E-Mail-Adresse notiert. Hier noch mein privater Festnetzanschluss, und wenn du auch da niemanden erreichst, hast du die Nummer des Stützpunkts. Du kannst von jedem Telefon auf Kosten dieses Büros hier anrufen. Außerdem ist mir streng untersagt, anderen gegenüber zuzugeben, dass wir seit dem Irakkrieg auch nur einmal Kontakt miteinander gehabt haben.«
»Was ist mit dem Green Dragon Inn?«
»Scheiß auf das Green Dragon. Und bevor du fragen solltest – du kannst davon ausgehen, dass dieses Büro nicht verwanzt ist und es auch nie sein wird.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil du dich hier auf der härtesten, brutalsten Militärbasis der Welt befindest.«
»Der Zweithärtesten.«
»Wer hat dir mal das Leben gerettet, Lieutenant Commander Bedford?«
»Der gleiche Typ, der von den verdammten Irakern fast gefangen genommen worden wäre, hätte ich sie nicht alle erschossen und ihren Boss von der Bohrinsel geworfen.«
»Na, jeder braucht mal ein wenig Glück«, erwiderte Russ Makin und lachte. »Können wir auch mal ernst sein?«
»Okay. Versuchen wir es.«
»Gut. Man sagte mir, du bist nicht mehr Offizier der US-Streitkräfte?«
»Richtig.«
»Trotzdem trägt dein Einsatz die allerhöchste Geheimhaltungsstufe. Deine Kontaktpersonen, mit denen du über mich Verbindung hältst, sind ausschließlich die Leiter verschiedener Behörden – CIA, NSA, Pentagon, Navy und die Anti-Terrorabteilung von Scotland Yard. Und dieser Detective Superintendent der West Yorkshire Police. So lauten meine Anweisungen.«
»Genau wie meine.«
»Und wenn ich es recht verstehe, darf ich nichts über diesen Einsatz erfahren.«
»Richtig.«
»Aber ich darf raten?«
»Nehme ich doch an.«
»Ebenfalls wurde ich angewiesen, dir jede Unterstützung zuteilwerden zu lassen, um die du mich bittest. Wobei von ›Bitten‹ nicht die Rede war. Sondern von ›Anfordern‹. Egal, was du da treibst, du solltest es nicht versauen.«
»Wie steht es mit Rettungseinsätzen? Sollte ich ganz tief in der Scheiße sitzen?«
»Ich habe den Befehl, ein ganzes SAS-Platoon loszuschicken und dich unter allen Umständen rauszuhauen.«
»Tröstlich.«
»Willst du mir sagen, worum es geht?«
»Würde ich gern. Kann ich aber nicht.«
»Na, zumindest musst du mir sagen, wohin du unterwegs bist. Sonst kann ich kaum einen Rettungseinsatz auf die Beine stellen.«
»Ja. Aber nur, wenn ich ihn anfordere. Im Moment existiere ich gar nicht.«
»Gut. Bleibst du zum Abendessen?«
»Wenn ich eingeladen werde. Hat keinen Sinn, mitten in der Nacht in Bradford einzulaufen.«
»Dann fährst du morgen direkt zu diesen Steinrindern?«
»Ich glaube nicht. Ich brauche vierundzwanzig Stunden, um mich zu orientieren. Aber es gibt noch eine Menge Dinge, über die ich mit dir reden will, bevor ich aufbreche. Kann ich noch eine Tasse Tee haben?«
Mack und Russ nahmen zusammen auf dessen Privatanwesen das Abendessen ein. Der gesamte Stützpunkt platzte vor Neugier über den Gast, aber keiner konnte in Erfahrung bringen, um wen es sich dabei handelte.
Mack frühstückte in seinem Zimmer, arbeitete den Morgen über mit Russ an seinem Computer und machte sich mit der Heidelandschaft von Yorkshire vertraut sowie den Zugangsstraßen zu dieser abgelegenen Gegend.
Gleich nach dem Mittagessen brach er zu seiner 200 Kilometer langen Fahrt nach Bradford auf. Erst nach Westen zum Motorway M5, der zum M6 wird und weiter zum M62, einer dreispurigen Autobahn, die in einem weiten Bogen durch die Industrielandschaft von Lancashire bis zu den südlichen Vororten von Bradford führt.
Um 20 Uhr traf er in Bradford ein, ohne zu wissen, welches Chaos seine Ankunft in Großbritannien am Abend zuvor ausgelöst hatte. Da Detective Superintendent Len Martin fürchtete, zur Zielscheibe des Spottes zu werden, falls ihm die vier Terroristen durchs Netz schlüpften, hatte er Sergeant Thomas befohlen, die Darsfield Street hochzunehmen und unter dem Vorwand der Suche nach Drogen, Waffen und Sprengstoffen Razzien in allen Häusern durchzuführen, von denen bekannt war, dass islamische Fanatiker dort wohnten.
»Interessiert mich nicht die Bohne, und wenn es die ganze Nacht dauert«, erklärte Martin dem Sergeant. »Finden Sie diese vier Typen, die sich am frühen Abend mit dem Mullah bei den Felsen getroffen haben.«
»Aber ich kann sie nicht festnehmen, oder?«, sagte Thomas. »Sie haben sich ja noch nichts zuschulden kommen lassen.«
»Sie sollen sie auch nicht verhaften. Ich will nur wissen, wo sie sich in unserer Stadt aufhalten, verstanden?«
Und so war Sergeant Thomas kurz vor Einbruch der Dunkelheit mit einem Einsatzkommando aus 24 bewaffneten Beamten, zwei Polizeikastenwagen, vier Spürhunden, drei Polizeifotografen und (nur für den Fall) einem Notarztwagen über die nichts ahnende Darsfield Street hergefallen.
Sie hatten zwei Türen eingetreten, eine weitere mit einem Vorschlaghammer aufgebrochen und schlafende Muslime aus den Betten gezerrt. Sie hatten zwei Stunden lang ziemlichen Radau veranstaltet, hatten herumgebrüllt und die Anwohner eingeschüchtert, bis sie das letzte der sieben Häuser auf ihrem Plan erreichten.
Dort änderte sich das Spielchen schlagartig. Die gesamte Straße wusste mittlerweile, dass etwas vorgefallen war. In Hausnummer 289 brannte Licht, sechs Beamte bewachten die Hintertür, während weitere acht mit gezückter Maschinenpistole den Vordereingang ins Visier nahmen.
Sergeant Thomas pochte persönlich an die Tür. Sie wurde sofort von Ibrahim Sharif geöffnet. Hinter ihm standen Yousaf Mohammed und Ben al-Turabi. Die acht Beamten stürmten in das Haus und ließen die drei Islamisten mit vorgehaltener Waffe an der Wand Aufstellung nehmen. Dann durchsuchten sie das Gebäude, fanden keine Sprengstoffe, aber einen großen Sack mit Dünger, einige Zünder und verkabelte Batterien. Als erfahrene Polizisten, die noch dazu in Bradford Dienst taten, wussten sie, was das zu bedeuten hatte. Sprengsätze.
Dann entdeckte Sergeant Thomas Abu Hassan Akbar im Badezimmer, in dem er sich eingeschlossen hatte. Jetzt hatte er alle vier, die er fotografiert hatte; alle vier auf einen Streich. Verdammt gute Arbeit, die sie hier geleistet hatten.
Er ließ sie in Handschellen legen und verhaftete sie vom Fleck weg, weil sie im Verdacht standen, USBVs, unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen, herzustellen. Damit handelte er ziemlich eigenmächtig; er wusste, wie schwierig es sein würde, die Vorwürfe zu beweisen, und dass er sie in Yorkshire nur 48 Stunden lang festhalten konnte. Er wusste allerdings auch, dass ihm irgendwo irgendjemand verdammt dankbar dafür sein würde. Er befahl, ihnen die Pässe, sonstigen Dokumente und Visa abzunehmen, dann wurden sie in den Kastenwagen der Polizei geschafft.
Die Türen des dunkelblauen Gefangenenwagens wurden aufgerissen, und die erst vor Kurzem in England eingetroffenen Männer wurden hinten hineingeschoben, ohne dass sie wussten, welches Schicksal sie erwartete.
Man brachte sie in Arrestzellen, kurz bevor Mack Bedford sich bei Len Martin meldete. Er kündigte sich wie vereinbart als »Black Bear« an und setzte den Detective Superintendent darüber in Kenntnis, dass er ihn vom SAS-Heimatstützpunkt aus anrief. Daneben teilte er ihm mit, dass er am folgenden Abend eintreffen würde, und bat darum, dass ihn jemand im verabredeten Hotel anmeldete.
Martin sagte ihm, er würde ihn bei seinem Eintreffen über alles rückhaltlos aufklären. Er und Sergeant Thomas hätten Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu wie gesetzlich gefordert bereits über ihre Rechte aufgeklärt. Aufgrund der ihnen vorliegenden Fotos gebe es keinerlei Zweifel über die Identität der vier momentan in Gewahrsam genommenen Männer.
Ibrahim, der davon ausging, dass sie einen Anwalt brauchten, hatte darum gebeten, Scheich Abdullah anrufen zu dürfen. Martin hatte ihm das für die folgenden zwölf Stunden verweigert; so lange bräuchten sie noch, um die konfiszierten Materialien zur Sprengstoffherstellung zu untersuchen. Und vielleicht, so seine Begründung, müsse er sie sowieso alle wieder freilassen – je nachdem, was die besagte Untersuchung ergeben würde.
Damit beging er einen Gesetzesverstoß. In England haben sogar Terroristen sofortiges Anrecht auf einen Anwalt. Aber, so Martins Überlegungen, sollte es zu irgendwelchen Problemen kommen, könnte er sie immer noch wegen irgendwelcher Unstimmigkeiten mit ihren Studentenvisa drankriegen.
Als Mack schließlich ins Cow and Calf Hotel eincheckte, hatte Martin die Auserwählten seit 24 Stunden hinter Schloss und Riegel und wurde langsam nervös, da er die Tatverdächtigen nicht mehr viel länger festhalten konnte, ohne sie mit ihrem Anwalt reden zu lassen. Er war daher sehr erleichtert, als sich Mack von seinem Hotel aus meldete und ihm mitteilte, dass er die vier Terroristen am folgenden Abend um 21.30 Uhr allein bei den Felsen treffen wolle. Martin solle sie dorthin bringen, ihnen sagen, dass ein Freund am Fuß des kleineren Felsen auf sie warte, und sie dann freilassen.
»Damit überschreite ich die festgesetzte Frist, innerhalb derer ich sie wieder gehen lassen muss«, erwiderte er. »Kann ich mich darauf verlassen, dass das gewünschte Ergebnis erzielt wird?«
»Ja«, antwortete Mack. »Ich werde mich um ein Säuberungskommando kümmern, bevor ich verschwinde.«
»SAS?«
»Richtig.«
Die militärischen Vorbereitungen verliefen reibungslos. Mack forderte über Martin bei Russ Makin einen Chinook-Hubschrauber an, der am folgenden Abend gegen 23.00 Uhr mit Leichensäcken einschweben sollte. Martin gab diese Daten in seinen Computer ein und schickte wie von Scotland Yard angewiesen alles per E-Mail zu Lt. Colonel Makin in Credenhill.
Vier Stunden später ließ er den vier Gefangenen Kaffee und Sandwiches bringen, in der Hoffnung, sie damit fürs Erste zufriedenzustellen. Dann verließ er die Dienststelle.
In den vergangenen acht Monaten war die Dienststelle der West Yorkshire Police in Bradford allerdings von einem Maulwurf unterwandert worden – einer 24-jährigen pakistanischen Reinigungskraft namens Freddie, der dreimal in der Woche abends zum Putzen kam. Er war ein fröhlicher junger Mann, der tagsüber – gelegentlich – an einer der zahlreichen »Universitäten« im Stadtbezirk Manningham studierte. Es gab keinen, der Freddie nicht gemocht hätte, allerdings wusste niemand, dass er einerseits einen Universitätsabschluss in Informatik der Cornell University besaß und andererseits ein erfahrener Sprengstoffexperte war, der sich vorgenommen hatte, das Hauptquartier der Bradforder Polizei in die Luft zu jagen.
Freddie arbeitete für Scheich Abdullah. Sein Vater war beim amerikanischen Bombardement von Tora-Bora ums Leben gekommen. Freddie war ein islamischer Extremist.
Verborgen im Schatten sah er, wie Len Martin mit seinem Chauffeur das Gebäude verließ. Den Wischmopp über der linken Schulter, einen Eimer mit warmem Seifenwasser in der Hand, schritt er daraufhin durch den langen Gang zum Büro des Superintendent. Er zückte seinen Schlüsselbund, suchte den Generalschlüssel und betrat Len Martins Büro.
Ohne das Licht anzuschalten, fuhr er den Computer hoch, öffnete das E-Mail-Programm und scrollte, wie er es jeden Abend tat, durch die Nachrichten.
Bei der Nachricht mit der Betreffzeile »SAS-Kontakt« hielt er inne, bevor er sie öffnete:
BB ordert Chinook mit vier Leichensäcken für morgen 2300, Ilkley Moor, GPS 53.196N 1.800W. BB Rendezvous mit den Auserwählten, Steinrinder 2130. Bestätigung nicht erforderlich.
Freddie notierte sich die Angaben auf Len Martins Block, bevor er die Nachrichtenliste ein weiteres Mal überflog und auf die Betreffzeile »Auserwählte« stieß. Er öffnete die Mail und stieß auf die vom US-Geheimdienst identifizierten Terroristen Ibrahim Sharif, Yousaf Mohammed, Ben al-Turabi und Abu Hassan Akbar. Dieser Computer war der einzige in der Dienststelle, auf dem diese Namen verzeichnet waren.
»Beim Propheten! Leichensäcke! SAS! Sie wollen meine Glaubensbrüder umbringen«, entfuhr es Freddie. »Morgen Abend um halb zehn bei den zwei Felsen.«
Sofort rief er über sein Handy bei Scheich Abdullah Bazir an, der sich verschlafen meldete, aber nicht lange brauchte, bis er, hellwach, zu Stift und Zettel griff, sich die Einzelheiten notierte und sich dabei wunderte, woher die Polizei in Yorkshire wissen konnte, dass die Auserwählten im Land waren, und wie sie sie in so kurzer Zeit hatten identifizieren können. Er dankte Freddy, der Len Martins Computer ausschaltete und anschließend den Fußboden der Polizeidienststelle wischte.
Scheich Abdullah rief drei seiner gewissenlosesten Attentäter an. Sie hatten von Glück reden können, nicht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein, schließlich hatten sie zu den Verdächtigen gehört, die im August 2006 Sprengstoffanschläge auf sieben Passagierjets über den Nordatlantik geplant hatten.
Der Plan für diesen Anschlag war im Swat-Tal ersonnen worden, ausgeführt werden sollte er von El-Kaida-Mitgliedern in England. Einige unter ihnen waren zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden, manche hatten unmittelbar für Scheich Abdullah Bazir gearbeitet.
Die britischen Antiterror-Abteilungen hatten in diesem Fall hervorragende Arbeit geleistet, es war ihnen geglückt, die Anschläge zu unterbinden, bei denen bis zu 2800 Transatlantik-Passagiere hätten sterben können; das heißt, gut und gern so viele wie bei den Anschlägen auf die Twin Towers.
Drei dieser Männer waren also noch auf freiem Fuß und wurden nun von Scheich Abdullah für ihren nächsten Einsatz präpariert. Er wies sie an, sich um 20.30 Uhr bei den Cow and Calf Rocks einzufinden und dort den Mann zu töten, der gegen 21.30 Uhr versuchen würde, die Auserwählten umzubringen.
»Er ist wahrscheinlich sehr gefährlich«, so der Scheich. »Bringt ihn um und kümmert euch nicht darum, eure Spuren zu verwischen. Bis die Leiche gefunden wird, seid ihr schon auf dem Weg nach Pakistan. Bradford Airport. Eine Chartermaschine von Iran Air steht bereit.«
»Betrachtet den Auftrag als so gut wie erledigt«, erwiderten die Attentäter. »Wir werden Euch nicht enttäuschen.«
»Geht mit Allah«, antwortete der Scheich. »Denn Allah wird mit euch sein. Allahu Akbar.«
Scheich Abdullah klang, als er dies sagte, selbstsicher und überzeugt. Aber das war er nicht. Jemand würde am Abend dort draußen sterben – nur war sich der Scheich nicht sicher, wer. Jemand würde dort draußen warten, vielleicht allein, vielleicht auch nicht, aber mit ziemlicher Sicherheit war er ein professioneller Killer, der entweder von den Amerikanern oder den Briten angeheuert worden war – von jemandem, der wusste, was die Auserwählten auf dem Kerbholz hatten. Er konnte nur hoffen, dass seine getreuen Attentäter, allesamt Pakistani, ihren Feind aufspüren und durch das Schwert richten würden. Drei gegen einen – das schien für seine Männer zu sprechen. Drei gegen zwei klang bereits weniger vielversprechend. Also hoffte er, dass der im Regierungsauftrag handelnde Killer allein kommen würde. Er suchte Zuflucht im Gebet, bat Allah, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und seine Diener am Abend draußen auf der Heide den rechten Weg zu weisen.
Das zweite große Rätsel bestand aus der Frage, warum die Auserwählten um 21.30 Uhr bei den Felsen erwartet würden. Er hatte kein Treffen vereinbart, und die Auserwählten hatten keinen Grund, dort zu erscheinen, ohne ihm wenigstens Bescheid zu geben. Das konnte nur heißen, dass die Polizei oder die Armee sie dorthin brachte, damit sie ermordet werden konnten; der Westen wäre dadurch dieses Problem los, und natürlich würde danach jeder abstreiten, irgendetwas damit zu tun gehabt zu haben. Vor allem die USA, der Große Satan, war sehr erfahren in solchen Praktiken, wie Scheich Abdullah wusste.
Es stand daher noch eine weitere Aufgabe an: dafür zu sorgen, dass die Auserwählten nicht ins Ilkley Moor gebracht wurden. Doch abgesehen davon, die gesamte Polizeidienststelle in die Luft zu sprengen und mit ihr wahrscheinlich auch die Auserwählten, wusste er nicht, wie er das bewerkstelligen sollte.
Er hatte keine Idee dazu. Bis auf eine.
In Lancashire, hinter der Grenze zu Yorkshire, liegt in den nördlichen Vororten von Manchester das vorwiegend von Muslimen bewohnte Viertel Cheetham Hill. Dort, in der Cheetham Hill Road, wohnte Dr. Ahmed Kamil. Er war um die vierzig und eine überaus zwielichtige Gestalt; er stand nie im Mittelpunkt eines Gerichtsprozesses, hatte aber bei vielen juristischen Auseinandersetzungen mit terroristischem Hintergrund die Finger mit im Spiel.
Dr. Kamil, versehen mit einem Doktortitel der juristischen Fakultät der Universität Kairo, arbeitete in Großbritannien nicht als Anwalt, sondern als juristischer Berater. Sein Fachgebiet war ausschließlich Terrorismus. Da er niemals die nötigen juristischen Examen abgelegt hatte, war es ihm nicht möglich, vor einem Crown Court aufzutreten, ganz zu schweigen vor einem High Court, an dem sich Terroristen üblicherweise zu verantworten hatten.
Ahmed Kamil, in Pakistan geboren und in allen großen Polizeidienststellen Nordenglands nur allzu bekannt, besaß elegante Büroräumlichkeiten in Deansgate, einem relativ exklusiven Viertel in Manchester, in dem man nicht unbedingt einen nicht sonderlich qualifizierten Anwalt vermutete, dessen Mandanten aus unrasierten Killern und Bombenbastlern bestanden. Niemand wusste, wer ihn für seine Dienste bezahlte, aber irgendjemand musste ihn ganz offensichtlich sehr schätzen. Denn Dr. Kamil fuhr einen nagelneuen Rolls-Royce.
Und dieses dunkelrote Phantom Drophead Coupé flog nun den langen Anstieg zum Lakewood-Moor am Westrand der steilen Pennines hinauf. Am Steuer saß Ahmed Kamil, der stirnrunzelnd und mit Höchstgeschwindigkeit zu Scheich Abdullah in Bradford unterwegs war. Seinem Zahlmeister.
Er brachte die 70 Kilometer lange Strecke in einer halben Stunde hinter sich und bog kurz nach elf Uhr in den Privatparkplatz neben der Moschee ein. Kurz darauf stand er im Büro des Scheichs, um dessen Anweisungen entgegenzunehmen.
Dr. Kamil notierte sich die voraussichtlichen Anklagepunkte. Er bat um die Namen und Adressen der früheren Anwohner der 289 Darsfield Road, wollte auch den Besitzer des Anwesens erfahren, doch Scheich Abdullah sagte dazu nur, dass dies wenig hilfreich sei und zur Sache nichts beitrage. Nach drei Stunden machte sich Dr. Kamil auf, um gegen die West Yorkshire Police in die Schlacht zu ziehen. In seinem Aktenkoffer führte er Abschriften des neuen Gesetzes mit sich, das regelte, wie viele Tage jemand ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden durfte.
Im Unterhaus waren tumultartige Debatten vorausgegangen, bis man sich auf maximal 28 Tage hatte einigen können. Nötig waren dafür jedoch richterliche Beschlüsse und andere Voraussetzungen. Die entscheidende Zahl lautete jedoch 48 – so viele Stunden nämlich konnte jemand ohne Anklage in Polizeigewahrsam festgehalten werden. Dank des fleißigen Freddie wusste Dr. Kamil, dass die vier Gefangenen zwei Tage zuvor um 19 Uhr festgenommen worden waren.
Kamil stellte den Rolls-Royce auf den nächsten freien Platz des Polizeiparkplatzes im sicheren Wissen, dass niemand auf die Idee käme, dem Besitzer eines solchen Wagens die Berechtigung dazu abzusprechen. Er betrat die Dienststelle, marschierte direkt zum Empfangstresen, ignorierte die Schlange der Wartenden und stellte sich als Anwalt der vier Gefangenen vor, die mittlerweile seit über vierzig Stunden in Gewahrsam waren. »Ich möchte sie umgehend sehen«, sagte er und wusste, dass seine Bitte abschlägig beschieden würde.
Der diensthabende Sergeant griff zum Telefonhörer und informierte Len Martin, dass jemand ihn sprechen wolle: »Er vertritt die vier inhaftierten Pakistani«, sagte er.
Len Martin war darüber alles andere als glücklich. Schon jetzt bewegte er sich auf dünnem Eis, der Neuankömmling würde für ihn alles nur noch heikler machen. Er wies an, Dr. Kamil in sein Büro zu führen.
»Sir«, begrüßte Kamil ihn, »ich bin mit der Vertretung der vier Männer betraut, die, soweit ich weiß, seit vorgestern 18 Uhr festgehalten werden, ohne dass bislang Anklage gegen sie erhoben wurde. Meine Frage: Haben Sie vor, Anklage gegen sie zu erheben, und falls ja, weswegen?«
Len Martin musste improvisieren. »Ich werde sie höchstwahrscheinlich noch diesen Nachmittag der versuchten Herstellung von USBVs anklagen in der Absicht, den Bürgern der Stadt Bradford damit Schaden zuzufügen.«
»Haben Sie sie verhört?«
»Noch nicht.«
»Woher wollen Sie dann ihre Absichten kennen? Außerdem würde ich gern wissen, ob Sie Beweise für das Vorhandensein von Sprengstoffen haben. Fand sich TNT oder Dynamit im Haus?«
»Es fanden sich keine eigentlichen Sprengstoffe, aber mehrere elektrische Zünder sowie eine umfangreiche Menge von Dünger, aus dem Sprengstoff hergestellt werden kann.«
»Superintendent, meine Frage lautet, ob sie im Begriff gewesen sind, daraus Sprengstoff herzustellen.«
»Nun, nicht unbedingt zum Zeitpunkt ihrer Festnahme.«
»Sind die vier Männer die Besitzer des Düngers und der Zünder?«
»Das wissen wir nicht.«
»Dann haben wir es hier ausschließlich mit Indizien zu tun, die darauf basieren, dass sich meine Mandanten zufällig in einem Haus aufgehalten haben, in dem sich auch die von Ihnen genannten Materialien befanden.«
»Das lässt sich kaum leugnen.«
»Superintendent, wissen Sie, wie lange sich meine Mandanten insgesamt in der 289 Darsfield Street aufgehalten haben, als Ihre Beamten dort die Razzia durchführten?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Keine fünf Stunden. Sie sind erst am Morgen des fraglichen Tages aus Pakistan eingetroffen. Das heißt, meine vier Mandanten wurden nahezu unmittelbar, nachdem sie das Haus bezogen haben, von der britischen Polizei festgenommen, in Handschellen gelegt, inhaftiert, kein einziges Mal verhört und seitdem ohne Anklage festgehalten, noch dazu unter Angabe eines falschen Festnahmezeitpunktes.«
»Was meinen Sie damit?«
Dr. Kamil ließ es darauf ankommen. »Laut Ihren Aufzeichnungen wurden sie um 19 Uhr festgenommen, daher wären Sie berechtigt, sie bis heute Abend um 19 Uhr festzuhalten. Ich behaupte aber, dass sie sich bereits seit 18 Uhr in Polizeigewahrsam befinden, nicht erst seit 19 Uhr.«
»Wir haben sie um 19 Uhr hier eingeliefert«, erwiderte Martin.
»Aber Sie haben sie um 18 Uhr verhaftet, in Handschellen gelegt, in einen Polizeiwagen verfrachtet und sie somit ihrer Freiheit beraubt.«
»So geht das nicht«, entgegnete Martin. »Ihre Ankunft in der Polizeidienststelle markiert den Beginn ihres Gewahrsams. Und sie kamen um 19 Uhr hier an.«
»Dann bestreiten Sie also, dass jemand seiner Freiheit beraubt wird, wenn man ihn in Handschellen legt und unter Bewachung in einen vergitterten Polizeiwagen schafft? Ihrer Meinung nach kann er unter diesen Umständen nach wie vor seine Rechte als freier Bürger wahrnehmen?«
»Nun, nicht ganz …«
»Die Justiz, Superintendent, gibt sich mit solch schwammigen Aussagen nicht zufrieden«, erwiderte Dr. Kamil. »Ich bestreite, dass Sie das Recht haben, meine Mandanten auch nur eine Sekunde länger als bis heute 18 Uhr ohne Anklageerhebung festzuhalten.«
»Und wie wollen Sie Ihren Widerspruch geltend machen?«
»Ach, vorbehaltlich einer nicht zufriedenstellenden Einigung zwischen uns habe ich mich bereits um eine richterliche Verfügung und eine Anhörung bemüht. Mr. Martin, ich fürchte, dass Sie entweder Anklage erheben oder meine Mandanten um Punkt 18 Uhr freilassen müssen.«
»Dann gehen Sie mal davon aus, dass wir Anklage erheben werden.«
»Das ist Ihr gutes Recht. Aber ich hoffe um Ihretwillen, dass Sie dann auch in der Lage sind, die angeblich gefundenen und für die Herstellung von Sprengsätzen notwendigen Materialien eindeutig auf die Anwesenheit meiner Mandanten zurückzuführen. Denn soweit ich weiß, wurden die vorherigen Bewohner der 289 Darsfield Street nach ihrer Verhaftung in London terroristischer Umtriebe angeklagt. Meine Mandanten werden nachdrücklich abstreiten, von diesen Dingen überhaupt gewusst zu haben. Sie waren soeben erst eingetroffen, und mit Ausnahme einiger Kaffeetassen werden Sie nirgends ihre Fingerabdrücke finden.
Meiner Meinung nach werden Sie kaum einen Richter auftun, der sie unter diesen Voraussetzungen wegen irgendetwas schuldig spricht. Worauf ich natürlich Sie belangen werde – wegen ungesetzlicher Festnahme und weil Sie ihnen über vierzig Stunden lang das gesetzlich festgeschriebene Recht auf einen Anwalt verweigert haben. Unsere Kanzlei wird entsprechende Entschädigungsforderungen einklagen.«
Vom Standpunkt der Polizei aus lief die Sache damit gehörig aus dem Ruder. Die Operation war in so ziemlich allen Punkten gescheitert. Zu befürchten stand eine verheerende Publicity, Schäden für das Image der Polizei sowie Anklagepunkte, denen die Polizei nicht viel entgegenzusetzen hatte. Ganz zu schweigen vom Zorn des Verteidigungsministeriums, von Scotland Yards Antiterror-Abteilung, der CIA, des SAS und von weiß Gott noch wem. Ein Wort zur Presse, und über Len Martin würde die Hölle hereinbrechen. Er erhob sich. »Dr. Kamil, ich denke, wir verstehen uns. Lassen Sie mich mit meinen Kollegen Rücksprache halten, möglicherweise können wir später noch einmal zusammenkommen.«
»Das würde ich sehr zu schätzen wissen«, antwortete Dr. Kamil. »Wie wäre es heute Nachmittag um 16.45 Uhr?«
Nachdem er dem Rolls hinterhergesehen hatte, der den Parkplatz verließ, meldete sich DS Martin bei Lt. Colonel Makin, der Rücksprache mit dem Amerikaner halten musste. Es war bereits nach 16.30 Uhr, als alle Beteiligten zu dem Schluss kamen, die Operation abzubrechen.
Drei Minuten vor 18 Uhr wurden die El-Kaida-Killer Ibrahim Sharif, Yousaf Mohammed, Ben al-Turabi und Abu Hassan Akbar zum zweiten Mal in drei Monaten aus dem Polizeigewahrsam entlassen.
Wichtiger noch, sie würden nicht Mack Bedford gegenübertreten müssen, der bereits das windgepeitschte Ilkley Moor observierte.
Dr. Ahmed Kamil war sein Geld wieder einmal wert gewesen.