KAPITEL VIER

Die staunenswerten Ereignisse, die sich in diesen 60 Minuten im weißen Holzhaus der Bedfords im verschneiten Maine abgespielt hatten, überraschten alle.

Als Erklärung dafür führte Andy Carlow an, dass auf Befehl höchster Stellen ein Untersuchungskomitee zusammentrete, um das gegen Mack ausgesprochene GOMOR – General Officer Memorandum of Reprimand – aufzuheben und aus allen Akten zu streichen.

Alles Weitere, Lohn, Rentenansprüche, Vergünstigungen und Beförderungen, würden zurückdatiert und umgehend wieder wirksam.

»Falls es jemanden interessiert«, sagte Andy Carlow mit breitem Grinsen, »Bradfields genauer Wortlaut war: ›Das hätte man schon vor Jahren machen sollen, sobald diese sinnlosen Nahost-Friedensgespräche den Bach runtergingen.‹ Daneben meinte er, er könne sich an kein Militärgerichtsverfahren erinnern, das mehr Verbitterung und Zorn erregt habe, vor allem unter den SEALs. Selbst der Hausmeister habe damals gemeint, dass Mack niemals so hätte geopfert werden dürfen, schon gar nicht, nachdem das Militärgericht ihn in allen Punkten für nicht schuldig befunden hatte.«

»Werde ich den Einsatz erfolgreich beenden müssen, damit das alles in Kraft tritt?«, fragte Mack.

»Auf keinen Fall«, erwiderte Carlow. »Ihr Wort und Ihr Handschlag reichen uns völlig. Jeder weiß, dass Sie die vier entweder eliminieren – oder dabei selbst ums Leben kommen.«

Der alte Marinestützpunkt in New Brunswick, Maine, war noch in Betrieb, obwohl seine Tage gezählt waren. Mack Bedford wurde von dort direkt zur Marinebasis in Quantico, Virginia, geflogen, dann ging es per Hubschrauber weiter zur CIA. Der Landeplatz auf dem ausgedehnten Gelände am Westufer des Potomac lag nur einen kurzen Fußweg entfernt vom neuen Hauptgebäude, dessen Dach – als Schutzmaßnahme gegen Lauschangriffe – mit einem Kupfergitter überzogen war.

Mack betrat es mit einer Eskorte, die Stahlabsätze seiner auf Hochglanz polierten Schuhe hallten auf dem fünf Meter breiten CIA-Wappen aus Granit wider, das in den Boden der Lobby eingelassen war. Köpfe drehten sich ihm zu; selbst die Geräusche, die Mack Bedford erzeugte, unterschieden sich von denen gewöhnlicher Menschen.

Mack schlenderte zur Nordwand der Lobby und betrachtete die 83 schwarzen, in den weißen Marmor eingravierten Sterne. Jeder stand für ein Mitglied der Agency, das im Dienst umgekommen war.

Im gleich daneben ausliegenden Ehrenbuch waren allerdings lediglich 48 Namen verzeichnet; die anderen unterlagen noch der Geheimhaltung. Mack hatte einige der gefallenen Agenten gekannt und mit ihnen in Bagdad und auf der Bagram Base in Afghanistan zum Teil enge Freundschaft geschlossen. Ihre Informationen und strategischen Pläne entschieden oftmals über Tod oder Leben. Die SEALs, immer an den Brennpunkten der Welt im Einsatz, brachten den Informanten aus Langley, Virginia, große Verehrung entgegen. Mack sah hoch zu den Worten an der Wand, den schwarzen Buchstaben, mit denen sie alle verewigt waren:

ZU EHREN JENER MITARBEITER DER CIA
DIE IM DIENST FÜR IHR LAND
IHR LEBEN GEGEBEN HABEN

Erinnerungen an seine verlorenen Freunde wurden wach, und für einen kurzen Augenblick sah er sich wieder an den höllischen Schauplätzen, an denen er gegen einen unsichtbaren Feind gekämpft hatte. Er dachte an die CIA-Männer und die schrecklichen Gefahren, unter denen sie verdeckt und hinter den Linien operierten.

Er erinnerte sich an die Angst und die Gewalttätigkeit, an Tod und Zerstörung, und er neigte in dieser großen, ruhigen Halle, als er vor der Flagge der USA stand, zum Gedenken an all das den Kopf.

Schließlich begab er sich zur Wachstation, wo bereits eine Begleitung eingetroffen war, um ihn zum CIA-Lageraum zu bringen, einem der geheimsten Konferenzräume der USA. Sie nahmen den Aufzug nach unten und schritten durch lange, geschwungene, gegen elektronische Abhörmaßnamen geschützte Betontunnel.

Vier Wachen standen vor dem Eingang zum bomben-, abhör- und funkwellensicheren Lageraum, wo noch das letzte Detail jeder geheimen Militäroperation ausgearbeitet wurde. Bei Treffen wie diesem waren keine Handys zugelassen, es gab keinerlei Kommunikation zur Außenwelt, keine Besucher, keine Sekretärinnen, keine Assistenten.

Nur die Personen, die für die Planung unerlässlich waren, Männer, die schwerwiegende Entscheidungen trafen und auch über die Macht verfügten, um sie ohne Rücksprache mit anderen Stellen in die Tat umzusetzen. In diesem Fall wären sie sonst allesamt im Gefängnis gelandet.

Rear Admiral Andy Carlow, der SPECWARCOM-Kommandeur, war bereits anwesend, ebenso Commander Ramshawe. Mack Bedford trat ein und sah sich um. Der Raum war karg eingerichtet, weiße Wände, keine Fenster. An der Wand waren zwei riesige Computermonitore befestigt und ein ebenso großer Fernseher. Auf dem großen Tisch in der Mitte lagen ein gewichtiger Weltatlas und mehrere Karten.

Dazu ein weißes Telefon, mit dem über eine verschlüsselte Leitung das Pentagon und das Weiße Haus zu erreichen waren. Zwei der bewaffneten Wachen kamen herein und stellten eine Kaffeekanne, Milch, Zucker und Tassen auf ein langes, antiquiert wirkendes Sideboard. Wer auch nur die Schwelle dieses Raumes überschreiten wollte, musste über die höchste Sicherheitsermächtigung verfügen. Die Jungs, die den Kaffee gebracht hatten, besaßen die Sicherheitsermächtigung, um den Präsidenten zu schützen.

Selbst der Herrscher über dies alles, Bob Birmingham, betrat nur in Begleitung die verstärkten Gänge. Mit ihm kam der Marinestabschef, Admiral Mark Bradfield, der Gerüchten zufolge für das Amt des Generalstabschefs vorgesehen war.

Nur ein einziger weiterer hochrangiger Beamter war zugegen, Birminghams Stellvertreter John Farrow, mit seinen 45 Jahren eine Art ziviler Jimmy Ramshawe. Er war ein Karriere-CIA-Beamter, hatte einen Wirtschaftsabschluss der Universität Georgetown, war viele Jahre in Arabien und Indien im Einsatz gewesen und hatte drei Jahre zuvor für sechs Monate in Peshawar gearbeitet, wo er auf dem Weg zum Khaiberpass fast von einem Stammeskrieger Shakir Khans getötet worden wäre. Farrow operierte an vorderster Front im Kampf gegen den Terrorismus und wurde schließlich aufgrund der Befürchtung, er könnte einem Anschlag zum Opfer fallen, von der CIA-Führung nach Hause geholt. Jetzt arbeitete er in Langley und galt allen als unangefochtene Autorität zum Thema globaler Terrorismus.

Bob Birmingham stellte Farrow vor, und die Tür wurde geschlossen. Die sechs Männer nahmen am Tisch Platz, worauf ihr »Gastgeber« kurz die aktuelle Lage skizzierte. »Die vier freigesprochenen Terroristen sind in Lahore eingetroffen und werden mit dem letzten Post-Expresszug weiter nach Peshawar fahren«, begann Birmingham. »Sie sind uns dort zehn Stunden voraus. Der Zug fährt um 22 Uhr ab. Meine Jungs sind dran, und bislang sieht es genau so aus, wie wir es uns gedacht haben. Sie sind auf dem Weg ins Swat-Tal. Gentlemen, wir müssen sie eliminieren, koste es, was es wolle – abgesehen davon, dass die Aktion nicht aufgedeckt werden darf.«

Bob Birmingham verteilte fünf Ordner. »Hier drin finden Sie eine Zusammenstellung der von Ibrahim Sharif, Yousaf Mohammed, Ben al-Turabi und Abu Hassan Akbar verübten Verbrechen. Aufgeführt sind alle Taten, die wir ihnen mit Sicherheit zuschreiben können, dazu alles, was ihnen der Mossad vorwirft, sowie jene Verbrechen, von denen wir annehmen, dass sie daran beteiligt waren.

Sie werden feststellen, dass es sich fast ausschließlich um Sprengstoffanschläge handelt. Alle vier sind ausgewiesene Sprengstoffexperten. Colonel Powell, der Kommandeur des Gefängnisblocks auf Guantanamo, ist der Meinung, dass es sich bei ihnen um die wahrscheinlich gefährlichsten Terroristen handelt, die jemals in einem Antiterror-Gefängnis der USA inhaftiert gewesen sind.«

Er richtete den Blick auf den Mann am Tisch, der sich freiwillig dazu gemeldet hatte, dieses Problem zu lösen. »Ich sowie alle anderen werden Sie von nun an nur noch Mack nennen«, sagte er. »Wir sollten nicht vergessen, dass Sie im Augenblick kein Angehöriger des US-Militärs sind. Wenn Sie sich bei uns melden, egal wo Sie sich gerade aufhalten, werden Sie das unter einem Namen wie Peshawar-Mack tun oder unter Hindu-Mack oder, wenn Sie beim Skifahren sein sollten, Aspen-Mack.

Admiral Bradfield hat ein Dokument dabei, dass die Bedingungen Ihrer neuen Karriere in der Navy ausformuliert. Es fehlt noch das Datum darauf, wofür Sie sicherlich Verständnis haben. Ebenfalls werden Sie verstehen, warum es Ihnen noch nicht übergeben werden kann. Der Erfolg dieser Mission hängt einzig und allein von ihrer Geheimhaltung ab. Keiner hier zweifelt daran, dass Sie das Ziel erreichen werden.«

»Danke, Sir. Ich werde alles tun, um Sie nicht zu enttäuschen«, antwortete ein nachdenklicher Mack Bedford. »Ich möchte lediglich das Thema Unterstützung ansprechen. Worauf kann ich mich verlassen?«

»Mack, Sie bekommen alles, was Sie wollen, bewaffnete Unterstützung, Waffen, Dokumente, Transport. Sie müssen es uns nur sagen, und wir lassen es Ihnen zukommen. Ich habe hier eine Kreditkarte für Sie, die von der Regierung der Vereinigten Staaten gedeckt ist. Ohne Limit.

Mit dieser magischen Plastikkarte können Sie überallhin reisen, überall absteigen, in jedem Restaurant essen, alles bezahlen – Mietwagen oder Kamele, wenn es sein muss. Und natürlich Bargeld abheben, so viel Sie brauchen. Es werden keine Fragen gestellt. Man traut Ihnen stillschweigend. Vergessen Sie nicht, es zählt nur, dass Sie diese vier Kerle vom Antlitz der Erde tilgen, bevor sie erneut zuschlagen.«

»Wer ist mein Hauptkontakt, falls ich mich melden muss?«

»Wir dachten, Sie ziehen den militärischen Nachrichtendienst vor, daher ist das Commander Ramshawe. Seine Zentrale in Maryland ist das wohl sicherste Gebäude der Welt, von diesem Ort hier mal abgesehen. Sie bekommen Jimmys Telefonnummern, E-Mail-Adressen, was immer Sie brauchen, damit Sie ihn im Notfall rund um die Uhr erreichen können.«

»Wenn ich mich melde, dann nur in einem wirklichen Notfall«, erwiderte Mack. »Darauf können Sie sich verlassen.«

»Haben Sie vor, sofort nach Peshawar aufzubrechen?«, fragte Admiral Carlow. »Damit Sie sich ihnen so schnell wie möglich an die Fersen heften können?«

»Darüber muss ich zuerst mit Jimmy reden. Ich glaube jedenfalls, dass sie dort nicht lange bleiben werden. Ich habe mir auf dem Weg hierher die Gerichtsprotokolle angesehen. Großer Gott, drei von ihnen haben ganz offen ihren Wunsch nach Rache geäußert. Sobald sie einen Plan haben, werden sie wieder in den Westen aufbrechen, davon gehe ich aus.«

»Sie wissen, dass wir mittlerweile im Besitz von Fotos und sämtlichen Fingerabdrücken sind«, sagte Birmingham. »Neben ihren Namen und Geburtsdaten. Die mussten sie herausrücken, damit sie vor Gericht erscheinen konnten. Den Einwanderungsbehörden liegen diese Daten ebenfalls vor. Es wird für sie also nicht leicht, in die USA zu kommen.«

»Da mögen Sie recht haben«, sagte Mack. »Aber mehrere Millionen Mexikaner haben es auch geschafft.«

Jimmy Ramshawe gluckste. »Mit ein wenig Glück fassen wir sie, bevor sie einreisen wollen. Der Hindukusch und die Westseite des Swat-Tals werden von uns ziemlich gut abgedeckt. Allein in Fort Meade arbeiten jeden Tag an die hundert Leute an dieser Sache. Es sollte auch nicht schwerfallen, die Briten mit ins Boot zu holen. Denen müssen die vier Typen noch mehr Kopfschmerzen bereiten als uns. Vor allem, weil sie fürchterlich durchlässige Grenzen haben und gegenüber Pakistani besonders verwundbar zu sein scheinen.«

»Vorerst jedenfalls«, sagte Mack, »werde ich außen vor bleiben und mich darauf beschränken, mit Jimmy und mit Bobs Jungs in Peshawar zusammenzuarbeiten, bis wir festen Zugriff haben. Noch haben die Gefangenen kein Handy, aber das wird nicht lange dauern. Typen wie sie operieren in direkter Verbindung mit ihrer obersten Führung. Die Nordwestliche Grenzprovinz ist ziemlich groß. Meine Erfolgschancen sind zehnmal höher, wenn sie von dort abhauen und in den Westen zurückkehren.«

»Haben wir den Europäern ihre Fotos, Personenbeschreibungen und Fingerabdrücke zukommen lassen?«, fragte Mark Bradfield.

»Schon vor einer Woche«, erwiderte Birmingham. »Aber von den großen Flughäfen dort ist keiner hundertprozentig sicher. Wir glauben sogar, dass El Kaida möglicherweise die britischen Einwanderungsbehörden infiltriert hat und Leute ins Land schleust.«

»Wie nett«, sagte Ramshawe. »Einfach großartig.« Mit hoher, gekünstelter Stimme fuhr er fort: »Hier in unserer liebenswerten multikulturellen Gesellschaft …« Worauf er in seinem normalen Aussie-Tonfall anfügte: »Wo keiner mehr sagen kann, wer eigentlich wer ist.«

Der Post-Express hinkte auf der gesamten 160 Kilometer langen Strecke von Islamabad nach Peshawar dem Fahrplan hinterher. Als er schließlich im Bahnhof Peshawar einlief, traf er mit eineinhalb Stunden Verspätung ein – zu spät für das Morgengebet. Hunderte von Menschen strömten nach der nächtlichen Fahrt von Lahore auf den Bahnsteig. Es war 8.30 Uhr, und die alte Stadt erwachte langsam zum Leben.

Nur die Bewegungen der Terroristen hatten nichts Langsames an sich. Kaum hatten Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu den Bahnhof verlassen, wurden sie von einem Chauffeur in den Fond einer Stretch-Limousine mit verdunkelten Scheiben geschoben.

Ted Novio kam gerade noch rechtzeitig aus dem Bahnhof gerannt, um einen langen schwarzen Wagen vom Randstein losfahren zu sehen. Seine Intuition sagte ihm, dass sich die vier Terroristen in diesem Wagen befinden mussten, worauf er sich das Kennzeichen einprägte. Ein Taxi war nirgends aufzutreiben, dafür eine Reihe von Motor-Rikschas, kleine, dreirädrige Gefährte, die durch fast jede Stadt im Land kurvten und deren Fahrer sich als die wahre Verkörperung urbaner Kultur sahen. Fast so wie Londoner Taxifahrer.

Ted stürmte auf einen davon zu, warf sich auf den Rücksitz und erschreckte damit den Fahrer, der es gewohnt war, dass er zunächst gefragt wurde: »Rikscha khali hai?« – ist die Rikscha frei? Er war so erstaunt, dass er glatt vom Fahrersitz sprang.

»Verdammt noch mal, setz die Schrottkiste endlich in Bewegung!«, brüllte Ted. Mittlerweile aber herrschte bereits das blanke Chaos. Ein Dutzend weiterer Rikschafahrer waren ihrem Kollegen zu Hilfe geeilt, weil sie annahmen, er würde von einem amerikanischen Riesen angegriffen. Es dauerte fünf Minuten, bis sich alle wieder beruhigt hatten. Die Limousine allerdings konnte mittlerweile gut und gern auf dem Weg nach Rawalpindi sein. »Scheiße«, stieß Ted hervor, während Phil Denson und der dritte CIA-Agent, Fred Zarcoff, mit ihren Koffern ankamen.

»Ging alles viel zu schnell«, sagte Phil. »Irgendwelche Anhaltspunkte?«

»Sie sind eben mit der verdammt größten Karre in ganz Pakistan abgerauscht«, erwiderte er. »Aber ich hab die Nummer. Eine schwarze Stretch-Limousine mit verdunkelten Scheiben. Ein US-Lincoln, denke ich.«

»Wenn er in der Stadt bleibt, haben wir eine Chance. Wenn er woandershin fährt, sieht es schlecht für uns aus.«

Phil notierte sich das Kennzeichen, ging zu einem Polizisten und fragte ihn, ob er Englisch spreche. Nachdem die Frage bejaht wurde, erklärte Phil, er warte hier auf einen Wagen, der ihn abholen solle, und gab dem Polizisten das Autokennzeichen.

»Sir, das ist ein Regierungskennzeichen«, antwortete der Polizist.

»Na ja, man sagte mir, es wäre ein schwarzer Lincoln.«

»Ja, Sir, ich glaube, der ist vor zehn Minuten hier weggefahren. Vielleicht kommt er ja zurück.«

»Gut. Danke. Der Wagen ist hier in der Stadt zugelassen?«

»Nein, Sir. Islamabad. Vielleicht ist er nur für den Tag heute hier. Vielleicht gehört er Mr. Shakir Khan, einem hohen Beamten. Einem sehr hohen Beamten.«

»Ja, mit dem hätten wir uns treffen sollen«, log Phil. »Sie wissen nicht zufällig, wo er wohnt?«

»Irgendwo in der Altstadt. Aber er arbeitet in Islamabad. Mehr weiß ich nicht.«

»Danke.«

Darauf bedacht, nicht einen weiteren Rikschafahrer-Aufstand zu provozieren, sahen sich Ted, Phil und Fred nach einem Taxi um. Der vierte CIA-Mann blieb am Bahnhof und wartete auf den nächsten Zug nach Islamabad, von wo er nach Paris zurückfliegen würde.

»Fahren Sie uns einfach mal durch die Altstadt«, sagte Phil zum Fahrer. »Damit wir in den Genuss der Sehenswürdigkeiten kommen.« In den folgenden zwanzig Minuten krochen sie durch die engen Straßen, die vollgestopft waren mit lärmenden Händlern, Mauleselkarren, Rikschas, Motorrädern und Passanten.

Nördlich der Andar Shehr, in der Nähe der großen Moschee des Mahabat Khan, entdeckte Zarcoff schließlich den Wagen. Er stand neben einigen Straßenhändlern, die auf ihren schmalen Tischen Pfirsiche, Pflaumen und Aprikosen feilboten. Die Limousine war kaum zu übersehen, da sie im Halteverbot einen Stau verursachte, der den gesamten Verkehr in der Altstadt zum Erliegen zu bringen drohte.

Nach Freds Einschätzung würde kein Verkehrspolizist es wagen, einen Strafzettel auszustellen, nicht, wenn ihm seine Anstellung im Staatsdienst lieb und teuer war. Fred, Experte für die internationale Zusammenarbeit der Polizeibehörden, stammte aus Rumänien und gehörte früher der Securitate an, einer der größten, grausamsten und brutalsten Geheimpolizeiorganisationen im alten kommunistischen Osteuropa, die im Dienst des rumänischen Diktators Nicolae Ceaus‚escu stand. Als junger Securitate-Mitarbeiter hatte er den Fall der Berliner Mauer miterlebt und daraufhin kurz entschlossen und geistesgegenwärtig die Seiten gewechselt. Seitdem arbeitete er als loyaler und brillanter Agent für die CIA. Dieser Einsatz nun erfüllte ihn mit einiger Unruhe. Seitdem sie den Bahnhof verlassen hatten, sah er sich unablässig um und hielt, besorgt, jemand könnte ihnen folgen, den Rückspiegel im Auge.

Phil hatte ihn nicht ganz unbegründet gefragt, wer zum Teufel ihnen denn schon folgen könnte, da sie selbst ja kaum wussten, wo sie sich befanden. Außerdem hatte ihnen keiner aus Amerika nachreisen können. Phil war überzeugt, dass sie sich absolut auf der sicheren Seite befanden. Fred war ebenso überzeugt, dass sie das nicht waren.

Dennoch hatte keiner der beiden erfahrenen CIA-Agenten die alte blaue Motor-Rikscha bemerkt, die ihnen nachtuckerte, manchmal in einer Nebengasse verschwand, um kurz darauf wieder direkt hinter ihrem gelben Taxi aufzutauchen.

Phil zahlte den Taxifahrer, und die Agenten schlenderten zu den Obstständen, um aus gut 40 Metern Entfernung die Limousine im Auge zu behalten. Recht viel mehr konnten sie nicht tun; sie mussten herumhängen und warten.

Ted platzierte sich an der Ecke zu einer Gasse, in der Silberschmiede ihrem Gewerbe nachgingen. Phil marschierte die Gasse auf und ab und betrachtete den ausliegenden Schmuck. Fred betrat einen Kleiderladen und staffierte sich wie Ali Baba aus, schlüpfte in weite Hosen und ein Hemd, eine bunte Weste und krönte alles mit einem schwarzen Turban. Dann ließ er sich in einem Straßencafé nieder und bestellte Tee, den er niemals anrühren sollte.

Die erste Kugel aus Fahd al-Ghamdis mit Schalldämpfer versehenem Gewehr traf Fred in der Brust. Die zweite drang einige Zentimeter hinter dem linken Ohr in den Schädel ein und riss einen beträchtlichen Teil seines Gehirns heraus. Fred wurde nach hinten über die Stuhllehne geschleudert und war sofort tot.

Nawaz Salim, der andere der beiden El-Kaida-Killer, die den CIA-Männern im Flugzeug und im Zug gefolgt waren, packte hinter dem Perlenvorhang eines Silberschmieds Phil Denson am Hals und rammte dem Amerikaner seinen Dolch ins Herz. Auch Phil war tot, noch bevor er auf dem Boden aufschlug.

Ted Novio brauchte geschlagene zehn Minuten, bis er mitbekam, dass etwas nicht stimmte. Freds Leiche war bis dahin längst weggeräumt, und Phil war wie vom Erdboden verschluckt. Ted rannte die Gasse auf und ab, suchte nach seinem Boss und traf nur auf leere Gesichter, besonders unter den Silberschmieden.

Bob Birmingham klebte fast an der Decke, als er die Neuigkeiten erfuhr. »Was meinen Sie, sie sind tot?«, blaffte er ins Telefon. »Wollen Sie mir sagen, Yousaf oder einer seiner Kumpel hätte zwei meiner Agenten umgebracht? Und wo ist Ted?«

Commander Ramshawe legte den Hörer auf und betrachtete Ted Novios Meldung.

Jimmy wusste, dass es aussichtslos war, Ted Novio, auf sich allein gestellt, in Peshawar zu belassen. Wenn diese Wahnsinnigen Phil und Fred töten konnten, dann konnten sie auch Ted umbringen. Oder Mack Bedford. Aber von dessen Existenz wussten sie ja Gott sei Dank noch nichts.

Fernüberwachung war die Spezialität der National Security Agency, die einige Erfahrung darin hatte, gefährliche Terroristen ins Visier zu nehmen. Ramshawes Meinung nach hätten Bob Birminghams Jungs einfach ein elektronisches Überwachungsnetz über die Nordwestliche Grenzprovinz spannen und ihre Maulwürfe und Spione aktivieren sollen, und früher oder später wären Yousaf, Ibrahim, Ben und Abu schon in die elektronische Falle gegangen.

Jimmy rief im Willard Inter-Continental Hotel in der Pennsylvania Avenue an und bat darum, zu Mack Bedford durchgestellt zu werden. Er informierte den Ex-SEAL-Commander über die vermissten Männer und bat ihn, zu einer strategischen Besprechung am Nachmittag nach Fort Meade zu kommen. Mack war über die Vorfälle in Peshawar nicht überrascht. »Klingt für mich ganz so, als wären sie unseren Jungs seit Paris gefolgt.«

»Dann glauben Sie also nicht, dass Ibrahim und seine Kumpel Phil und Fred auf dem Gewissen haben?«

»Das bezweifle ich. Sie würden es nie riskieren, schon nach so kurzer Zeit mitten in der Stadt für einen solchen Aufruhr zu sorgen, und das auch noch grundlos. Ich nehme an, El Kaida war an dem Fall dran, seitdem die PIA-Maschine Paris verlassen hat.«

»Aber sie haben Novio nicht erwischt«, sagte Jimmy.

»Hat er in einer anderen Reihe gesessen?«

»Ja. Als Bodyguard wollte er einen Überblick über die Gruppe haben, falls irgendwas vorfallen sollte. Er saß für sich allein vier Reihen hinter ihnen.«

»Dann haben sie ihn vielleicht nicht bemerkt.«

»Er hat auch den Bahnhof in Peshawar lange vor den anderen CIA-Leuten verlassen, deshalb haben sie ihn nicht mit ihnen in Verbindung gebracht.«

»Glück gehabt«, sagte Mack.

In der Altstadt von Peshawar nippte Shakir Khan in seinem großen, ins warme Nachmittagslicht getauchten Innenhof an einem Glas Orangensaft. Neben ihm saßen sein Assistent Kaiser Rashid, der Taliban-Kommandeur Musa Amin sowie ein Imam aus der nahegelegenen Großen Moschee, der in seinen weißen Bart hineinlächelte und feierlich dem Propheten Mohammed Friede und Gnade wünschte. Vor ihnen auf einer Steinbank saßen Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu.

Das Treffen hatte den Anstrich eines militärischen Briefings, nur ging es im Moment nicht um einen ausgearbeiteten Einsatzplan. Stattdessen unterhielt man sich über das Leben in Guantanamo und über den Zorn, der über den Westen kommen sollte. Und natürlich über die Herrlichkeit Allahs, die zur vollen Blüte kommen würde, wenn der Große Satan und seine Zionisten erst einmal endgültig aus dem Nahen Osten vertrieben waren.

»Wir werden bald zuschlagen, und wir werden hart zuschlagen«, sagte Ben al-Turabi. »Es ist wichtig, dass sie sich an uns erinnern. Dass wir, die wir bereit waren, als Märtyrer zu sterben, von den Toten auferstanden sind und das Schwert des Propheten gegen unsere Feinde erheben, um ihnen einen Schlag wie 2001 zu verpassen.«

Der Imam lächelte milde. »Ich bin sehr stolz auf euch vier«, sagte er, »denn unter allen hier Versammelten habt ihr allein verstanden, dass El Kaida und die Taliban niemals besiegt werden. Je mehr die Amerikaner uns demütigen, je mehr sie von uns töten, umso mehr Brüder werden zur Sache Allahs finden.«

Die sieben Männer im Innenhof intonierten gemeinsam: »Allah ist groß. Es gibt keinen Gott außer Allah.«

Und der Imam fuhr fort: »Ein friedliches und glückliches Leben ist ein ferner Traum für uns – und die falschen Versprechungen des Westens haben uns noch nie etwas Gutes gebracht. Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu Hassan, ihr habt das Licht Allahs am finstersten Ort der Erde am Leuchten gehalten, und jetzt hat er euch nach Hause geführt.«

Die vier Ex-Gefangenen senkten aus Ehrerbietung den Kopf, und zum ersten Mal ergriff Shakir Khan das Wort. »Meine Freunde«, sagte er, »schon jetzt erweist sich erneut, wie treulos die Amerikaner sind. Noch während sie uns ihren guten Willen zeigen und unsere tapfersten Krieger entlassen, sind ihre Taten erfüllt mit Gift und Unehrlichkeit. Denn sie haben zwei Mörder bis hierher nach Peshawar geschickt, um uns alle auszulöschen. Doch, Allah sei Dank, haben seine mutigen und heldenhaften Diener Nawaz und Fahd die amerikanischen Attentäter erledigen können, bevor sie uns Schaden zufügen konnten.«

»Mutig und heldenhaft« war die etwas blumige Umschreibung für das, was Nawaz und Fahd geleistet hatten – Nawaz, der sich hinter einem Vorhang versteckt hatte, um Denson einen Dolch in den Leib zu rammen, und Fahd, der aus 40 Metern Entfernung Zarcoff hinter der Deckung einer Rikscha erschossen hatte, während die Polizei bewusst beiseitegeblickt hatte.

Dennoch waren die Männer im Innenhof von Stolz erfüllt, jeder gratulierte dem anderen, während der Imam seine Segenswünsche aussprach und allen Frieden wünschte.

Konkreter nahm sich der Plan aus, der in Shakir Khan Gestalt annahm. Als Erstes mussten Musa und die vier Helden zum El-Kaida-Ausbildungslager im Norden des Swat-Tals geschafft werden, direkt in den Bergen hinter der Stadt Kalam.

Sein Chauffeur würde sie um 22 Uhr aus der Stadt bringen, nach Norden über die Pässe nach Kalam, das sich zu beiden Seiten des Flusses erstreckte, über den sich dort eine hölzerne Hängebrücke spannte. Von dort aus brauchte man einen geländegängigen Wagen mit geringem Restwert, aber robustem Motor, oder einen Ochsenkarren, Maulesel oder vernünftige Wanderstiefel. Das Terrain war kaum mehr passierbar, die Männer der El Kaida allerdings wussten, was sie taten, als sie dort ihr Hauptausbildungslager anlegten. Das Klima war im Allgemeinen mild, die Aussicht beeindruckend, schneebedeckte Gipfel erhoben sich über fruchtbarem Ackerland, im Frühling blühte es kilometerweit, Pfirsiche, Pflaumen und Orangen wurden angebaut, und es gab sogar Reisfelder.

Touristen hatten keinen Zugang zu diesem Gebiet, Reisende waren sehr vorsichtig, und die Einheimischen argwöhnisch. Keiner kam allein hierher.

Shakir Khans Fahrer würde seine Fahrt in Kalam beenden. Er würde in der pittoresken Holzmoschee sein Morgengebet verrichten und dann nach Peshawar zurückkehren. Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu Hassan würden in traditioneller Stammeskleidung, ausgestattet mit Waffen und begleitet von einem Mauleselkarren und zwei Leibwächtern, ihren Weg durch die zerklüftete Landschaft fortsetzen.

Sie würden den Weg nehmen, der vom Mahodand-See über den Dardarilipass führte und dann hinunter nach Handrap an der Straße Gilgit-Citral. Yousaf hatte hier Verwandte, wollte sie aber erst aufsuchen, nachdem er sich bei den Vorgesetzten im El-Kaida-Lager vorgestellt hatte. Viele hatten lange gewartet, um den jungen Krieger zu sehen, der es irgendwie geschafft hatte, Guantanamo zu entkommen.

Shakir Khan skizzierte dies alles in seinem Innenhof und kam hier und dort auf die Rache zu sprechen, die sie sicherlich dem Großen Satan angedeihen lassen würden, der die vier Männer so lange ohne Gerichtsverfahren festgehalten hatte. Der einzige Aspekt, auf den sich alle sofort verständigen konnten, war, dass sie bald zu erfolgen hatte.

Die vier Ex-Gefangenen, so lange von allem abgeschnitten, hatten keinerlei Ideen für einen neuen aufsehenerregenden Schlag gegen die USA. Im Grunde hatten sie noch nicht einmal den Grundgedanken für einen neuen strategischen Plan oder den Aufbau eines neuen Fundamentalisten-Netzwerks in Amerika. El Kaida ohne den in den zurückliegenden Jahren abgetauchten Bin Laden war wie eine römische Legion ohne Cäsar, wie die französische Grande Armée ohne Napoleon. Es gab keine Vordenker, nachdem die niederen El-Kaida-Chargen durch die von Präsident George W. Bush und seinen Mitstreitern Cheney und Rumsfeld angeordneten vernichtenden Angriffe in Angst und Schrecken versetzt worden waren.

Seitdem war es zu sporadischen Anschlägen auf einen Nachtklub, einen spanischen Bahnhof und einen Londoner Bus gekommen – aber nichts davon hatte sich auf amerikanischem Staatsgebiet ereignet. Es war an der Zeit für einen neuen Schlag. Der mächtige Shakir Khan, durch und durch ein gläubiger muslimischer Fundamentalist, trug sich mit dem Gedanken, die Rolle des El-Kaida-Strategen zu übernehmen. Die Position würde wunderbar zu seinen Taliban-Wurzeln und seiner geheimen Unterstützung der extremistischen Religionsbewegung passen, die als Erste Osama und seinen Männern militärische Unterstützung und einen Rückzugsort geboten hatte.

Shakir, von machiavellistischen Machtansprüchen beherrscht, gehörte insgeheim zur treibenden Kraft im pakistanischen Militär, die leidenschaftlich auf einen islamischen, von der Scharia regierten Staat abzielte. Er gehörte zu jenen, die die ideologische Spaltung des Militärs betrieben, und galt als einer der führenden Hintermänner bei der Ermordung von Benazir Bhutto, die im Dezember 2007 einem Attentat durch Fundamentalisten zum Opfer fiel.

Tatsächlich war es Shakirs Freund, der El-Kaida-Kommandeur Mustafa Abu al-Yazid, der sich den Anschlag auf die Fahnen schrieb. Für ihn war die in Harvard ausgebildete Ms. Bhutto »das wertvollste amerikanische Kapital«. Laut der pakistanischen Regierung gebe es Beweise, dass El Kaida hinter dem Attentat stehe; die Mörder gehörten zum Umfeld der Lashkar i Jhangvi-zan, einer El Kaida nahestehenden militanten Gruppierung, die für Hunderte von Morden verantwortlich gemacht wurde, unter anderem für den Attentatsversuch auf den früheren Premierminister Nawaz Sharif.

Es gab manche, die Shakir Khan als geheimen Führer dieser Terrororganisation ansahen. In seinem Innenhof sprach er nun von seiner Vision, von einem weiteren gewaltigen Schlag gegen die USA, der die Aufmerksamkeit der gesamten Welt erregen und Angst vor der aufstrebenden muslimischen Bruderschaft nähren sowie zweifelsfrei beweisen würde, dass die Islamisten wieder zu ihrer Stärke vor 2001 zurückgefunden hatten.

»Nur durch unsere Taten können wir uns Respekt verschaffen«, sagte er. »Durch Taten, nicht durch Worte. Und damit sind wir bereits beim Zielobjekt unseres neuen Anschlags, einem Zielobjekt, das nicht unter der direkten Bewachung des amerikanischen Militärs stehen sollte. Offen gesagt sind sie uns an Ausrüstung und Truppenstärke überlegen. Deshalb kommt alles, was auch nur entfernt mit dem US-Militär in Verbindung steht, nicht infrage. Einen Fehlschlag können wir uns nicht leisten. Ebenso scheiden groß angelegte Entführungen aus, da die Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen zu streng sind. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Ereignisse des 1. September 2004 lenken, Ereignisse, die nach wie vor zu unseren größten Erfolgen zählen – die Geiselnahme in Beslan, Nordossetien-Alanien, der autonomen russischen Republik im Nordkaukasus.«

Shakir Khan beschrieb den brutalen Angriff auf die Schule, bei dem bis zu 385 Menschen den Tod gefunden hatten, darunter viele Schüler. Weitere 780 waren durch den Einsturz der Decke im Sportsaal verletzt worden.

»Die unsterbliche Bruderschaft Rijadus-Salichin, finanziert und ausgebildet von El Kaida und unserem verstorbenen Muslimbruder Schamil Bassajew, hat drei Tage lang die russische Armee in Schach gehalten. Wir haben die Schule gestürmt und sogar über die Stadt geherrscht. Keine militärische Operation seit 2001 hat unserer Dschihad-Revolution solche Ehre eingetragen und für solch weltweites Aufsehen gesorgt. Meine Herren, Beslan war nur die Generalprobe.«

»Aber warum«, fragte Ben al-Turabi, »haben wir nie versucht, eine solche Operation zu wiederholen?«

»Ben«, antwortete Shakir Khan geduldig, »danach wurden sowohl die amerikanischen als auch die russischen Sicherheitsvorkehrungen drastisch verstärkt. Putin hat den Anschlag zum Vorwand genommen, die Herrschaft über die Satellitenrepubliken auszudehnen, und der Tyrann Bush hat versucht, uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu demütigen und zu vernichten.

Aber der Tyrann hat das Weiße Haus verlassen. Die Vereinigten Staaten sind schwächer geworden. Das ist unsere Chance, wenn wir sie überraschen wollen. Nirgendwo ist dies einfacher als an US-Schulen und Universitäten, nichts wird weniger bewacht als diese Einrichtungen.«

»Wollt Ihr damit sagen, dass wir, nur wenige Monate nach unserer Freilassung aus Guantanamo, den gewaltigsten muslimischen Angriff auf die USA seit einer Generation anführen sollen?«, fragte Abu Hassan.

»Wenn ihr dazu bereit seid. Meines Erachtens können wir den vier besten unserer Krieger keine größere Ehre erweisen. Die USA haben uns aus den üblichen politischen Gründen ihre unehrliche Hand der Freundschaft gereicht, damit Dschihad-Krieger darauf spucken und ihnen somit klarmachen können, was wir von ihnen halten.«

»Als ich das letzte Mal einen US-Soldaten angespuckt habe, hätte er mich fast umgebracht«, sagte Ibrahim. »Das war kurz vor meiner Gefangennahme. Er war riesig und stark wie ein Bär.«

»Aber das waren US-Kampftruppen, keine Sicherheitsleute, und noch nicht einmal die gibt es an US-Universitäten.«

»Die Männer, die Yousaf und mich festgenommen haben, waren Spezialkräfte«, erwiderte Ibrahim. »Das hat man an ihren Bärten gesehen. Sie sind die einzigen US-Soldaten, die sich Bärte stehen lassen dürfen. Damit sie unter uns in den Bergen operieren können.«

»Na, solchen werdet ihr an US-Universitäten kaum begegnen«, entgegnete Shakir Khan. »Aber dort könnt ihr fürchterliche Rache nehmen für das, was sie dir und Yousaf und Ben und Abu Hassan angetan haben.«

»Als Schamil Bassajews Männer die russische Schule besetzt haben, ist da die Armee mit Artillerie und Infanterie gegen sie angetreten?«, fragte Yousaf Mohammed.

»O ja«, antwortete Khan. »Die Russen brachten Panzer und schwere Waffen gegen sie in Stellung, sprengten Löcher in die Schule und töteten ohne Unterschied Kinder, Eltern und unsere tapferen Kämpfer. Trotzdem brauchten sie drei ganze Tage, um die kleine islamische Streitmacht zu besiegen. Und am Ende hatten wir viele Märtyrer in unseren Reihen.«

Er hielt inne, senkte den Kopf, bevor er wieder aufblickte und fortfuhr. »Aber genau so sollte es auch sein. Schließlich bedeutet Rijadus-Salichin ›Garten der Märtyrer‹.«

»Und wie sind die El-Kaida-Männer in die Schule gekommen?«, fragte Yousaf.

»Ach, das war ganz einfach«, sagte Khan. »Sie mischten sich unter die Arbeiter, die während der Ferien im Juli in der Schule beschäftigt waren. Soweit wir wissen, haben sie in einem nicht genutzten Bereich des Kellers Waffen und Sprengstoffe versteckt. Außerdem konnten sie am 1. September ungehindert in die Schule, es war der traditionelle Beginn des russischen Schuljahres, überall wimmelte es von Eltern und Verwandten der Schüler, und keiner achtete auf die Arbeiter, die unbehelligt durch die Schule schlendern konnten.

Die Vorbereitung war das Entscheidende bei dieser Operation. Sie hat uns weltweite Schlagzeilen und Lobgesänge auf die tapferen Dschihadisten eingetragen, die ihre Mission erfolgreich zu Ende gebracht haben. Der amir der muslimischen Kräfte war an jenem Tag sehr stolz auf sie. Genau wie Allah, denn Allah ist groß und heißt all jene willkommen, die sich in seinen Dienst stellen.«

Shakir Khan ging weder auf die Schlagzeilen ein, für die der Vorfall in den westlichen Medien gesorgt hatte, noch wollte er erklären, warum Allah so großen Gefallen am Massenmord an mehreren Hundert russischen Schulkindern finden sollte.

»Habt Ihr eine Liste möglicher Ziele?«, fragte Abu Hassan.

»Noch nicht«, antwortete Khan. »Aber es sollte nicht schwerfallen, eine Auswahl zu treffen, wenn wir so weit sind.«

Kaiser Rashid, Khans Assistent und ehemaliger Jurastudent aus London, ergriff nun zum ersten Mal das Wort. »Herr«, begann er, »ich habe eine Art Dossier erstellt über die Ereignisse im Umfeld des Washingtoner Gerichtsurteils, durch das unseren vier Brüdern die Freiheit geschenkt wurde. Beide Anwaltskanzleien, die uns dabei behilflich gewesen waren, scheinen noch in der Nacht nach dem Gerichtsurteil in die Luft gesprengt worden zu sein. Durch zwei Sprengsätze, die gleichzeitig detoniert sind. Das war kein Zufall oder Unfall.«

Shakir Khan, normalerweise ein Ausbund der Ruhe, blieb kurz die Luft weg. »Dann ist jemand in unser Kommunikationssystem eingedrungen?«, schlussfolgerte er.

»Epsteins Arbeit an dem Fall war der Öffentlichkeit bekannt«, sagte Kaiser. »Zwei Anwälte der Kanzlei traten vor Gericht auf, beide waren in Juristenkreisen relativ bekannt. Die Londoner Kanzlei Howard, Marks and Cuthbert, die die Anfrage aus Saudi-Arabien nach Washington weitergeleitet hat, hielt sich allerdings bedeckt.«

»Wurde jemand getötet?«

»In London wegen der frühen Stunde niemand. Aber Josh Epstein und die beiden Anwälte, die für unsere Sache eintraten, sind tot.«

»Irgendwelche Schlüsse?«

»Ja«, antwortete Kaiser etwas ausweichend. »Es muss der Mossad gewesen sein. Ich habe mich umgehört, soweit es mir gefahrlos möglich war. Und man kommt nur zu einer einzigen Schlussfolgerung. Allein die Tatsache, dass Sprengsätze verwendet wurden, deutet auf den Mossad hin. Man vermeidet dadurch die Risiken, die sich bei einem Attentat ergeben würden. Es kam nur zu einer gewaltige Detonation in einer Washingtoner Seitenstraße, durch die die Feinde getötet und sämtliche Indizien vernichtet wurden. Es heißt, das FBI in Washington mache sich kaum die Mühe, nach den Schuldigen zu suchen, weil jeder sowieso weiß, wer dahintersteckt. Sämtliche US-Sicherheitskräfte sind äußerst aufgebracht, dass Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu Hassan freigelassen wurden.«

»Zionistenschweine«, murmelte Khan. »Aber Sie werden für dieses Verbrechen büßen.«

Der El-Kaida-Befehlshaber Musa Amin hatte während dieser Ausführungen geschwiegen, meldete sich jetzt aber zu Wort. »Es wäre perfekt, wenn wir in den Vereinigten Staaten eine große Schule mit vorwiegend jüdischen Studenten finden könnten. Auf diese Weise können wir Aberhunderte von ihnen mit einem Schlag töten.«

»Gibt es solche Einrichtungen in den USA?«, fragte Ben al-Turabi. »Ich weiß von einigen in England – die King David’s High School in Liverpool gehört meines Wissens dazu.«

»Ich hatte einen Studienkollegen in London, der auf einer jüdischen Schule war, deren Name fällt mir aber nicht mehr ein«, fügte Kaiser hinzu.

Shakir Khan mischte sich in die Unterhaltung ein. »Es gibt in den USA mehr jüdische Schulen und Universitäten als in ganz Israel. Eine der berühmtesten ist die Yeshiva University in New York. Doch die New Yorker Polizei und die Sicherheitskräfte haben den Finger schnell am Abzug seit unserem Tag des Ruhms. Nein, meine Herren, wir brauchen ein großes, ruhiges College in der amerikanischen Provinz. Kaiser wird eine kurze Liste zusammenstellen. Die Ostküste wäre vorzuziehen, dort sind wir besser organisiert, aber auch der Mittlere Westen käme infrage, nur nicht Chicago mit seiner rigoros durchgreifenden Polizei.

So, wir werden nach dem Abendgebet noch ein gemeinsames Essen zu uns nehmen, und dann werdet ihr euch alle auf den Weg machen. Denn ich habe das Gefühl, dass es hier bald vor US-Agenten und Spionen nur so wimmeln wird, und denen wird es nicht gefallen, welches Schicksal ihren Leuten widerfahren ist. Lob sei Allah, denn er ist groß.«

Um 22 Uhr hielt Shakir Khans Dienst-Mercedes in der dunklen Seitengasse. Die Tür zum Innenhof wurde leise geöffnet, und die vier ehemaligen Gefangenen schlüpften hindurch und ließen sich in dem schwarzen Wagen mit dem Kennzeichen der Nordwestlichen Grenzprovinz nieder.

Der Chauffeur schloss die beiden Fondtüren, nachdem Abu Hassan auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, und verließ die Stadt in nördliche Richtung zur Grand Trunk Road, einer tagsüber stets hoffnungslos verstopften Straße, auf der man nachts aber gut vorankam. Der Chauffeur hielt sein hohes Tempo bei und wurde nur auf den Pässen langsamer. Es war fast ein Uhr morgens, als sie die Ufer der rauschenden Flüsse Utrot und Ushu erreichten, die sich in Kalam zum mächtigen Swat-Fluss vereinten.

Vier Stammeskrieger, allesamt El-Kaida-Angehörige, begrüßten sie. Sie hatten für die vier Männer Stammeskleidung mitgebracht, dazu drei mit Nahrungsmitteln, Waffen, Kissen und großen Decken beladene Mauleselkarren. Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu, die großen Helden, wurden herzlich willkommen geheißen.

Die Nacht allerdings war schon weit fortgeschritten, und noch stand ein kilometerlanger Marsch bevor, den sie im Schutz der Dunkelheit hinter sich bringen wollten. Die sechs Maultiere setzten sich in Bewegung, hier in diesen kaum kartografierten Regionen des oberen Swat-Tals, das fest in der Hand von Bin Ladens Dschihadisten war.

Vor ihrem geistigen Auge stand die dreitägige Besetzung der Schule in Beslan. Dieses Bild, von Shakir Khan heraufbeschworen, wurde in ihrer Fantasie noch erhabener und lebendiger, wenn sie nur an die sterbenden Ungläubigen dachten. Das waren die Visionen, die sie sich vom kommenden Tag des Ruhms machten.

Die vier Terroristen fühlten sich jetzt in Sicherheit, marschierten langsam die Berge hinauf, waren fast schon in Sichtweite ihres eigenen Gelobten Landes und spürten die Herrlichkeit dieses Ortes, an dem Krieger ausgebildet wurden, wo der Traum einer muslimisch beherrschten Welt verfolgt wurde und wo dieser Traum niemals sterben würde.

Jeder von ihnen wusste, dass das Ausbildungslager ein integraler Bestandteil des El-Kaida-Netzwerks war. Sämtliche Beteiligten an den Anschlägen des 11. Septembers sowie alle, die den Angriff auf die USS Cole geplant und ausgeführt hatten, hatten afghanische oder pakistanische Ausbildungslager durchlaufen. Und nach jedem erfolgreichen Angriff schnellten die Rekrutierungszahlen in die Höhe.

Die Ausbildung deckte verschiedene Bereiche ab. Die meisten Rekruten erhielten eine konventionelle Grundausbildung, El Kaida brauchte gewöhnliche Fußsoldaten, dazu Leute, die mit schwerem Gerät umzugehen verstanden und die Sprengsätze in Botschaften legen oder Flugzeuge entführen konnten. In den Genuss eines spezifischen Terroristen-Lehrgangs kamen nur die von Bin Ladens Nachfolgern persönlich ausgewählten Top-Rekruten.

Im Allgemeinen wollte man Rekruten dazu anregen, selbst einfallsreiche Methoden des Massenmordes auszuhecken. Der ideologische Schwerpunkt des Lehrplans lag darauf, Israel und die Vereinigten Staaten als die Mächte des Bösen zu verdammen. Der Märtyrertod galt als die höchste Ehre, und viele Rekruten meldeten sich freiwillig zu Selbstmordkommandos.

Die Regierungen Irans und Pakistans wussten, dass sich die El-Kaida-Leute zwischen den Ländern frei bewegten, und unternahmen nichts dagegen. Ihre Kommunikationskanäle standen immer offen, und die 20000 Personen, die dem weitverzweigten Terror-Netzwerk angehörten, genossen ungehinderte Bewegungsfreiheit.

Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu Hassan würden in den nächsten Wochen der Terroristen-Ausbildung unterzogen werden. Sie würden sich nicht nur mit anderen jungen Rekruten messen, sondern ihr eigenes Wissen auch weitergeben und sich schließlich auf den nächsten Schlag gegen den amerikanischen und zionistischen Satan vorbereiten.

Sie marschierten die Nacht hindurch, schliefen manchmal auf den Kissen hinten auf den Karren oder starrten zum nächtlichen Himmel hinauf. Gegen vier Uhr erreichten sie das Lager und wurden vom Befehlshaber Musa Amin begrüßt, der mit einem Hubschrauber eingeflogen war.

Wie in fast allen El-Kaida-Lagern gab es keine einzelne, große Unterkunft, sondern kleine, eingeschossige Häuser, verstaubte, fensterlose Kästen, die vor Wind und Regen Schutz boten. Ben und Ibrahim kam gleichzeitig der Gedanke, dass die Unterkünfte in Guantanamo ein wenig besser gewesen waren.

Sie luden ihre wenigen Habseligkeiten ab und zogen sich in eines der Häuser zurück, während 320 Kilometer über ihnen der vier Meter breite Spiegel des amerikanischen Spähsatelliten KH-12 Crystal über den Himmel zog. Die elektronische Kamera dieses unglaublichen, Milliarden Dollar teuren Hochleistungsgeräts bekommt lediglich Probleme, wenn sie Gegenstände unter zehn Zentimeter Größe auflösen sollte; drei Maulesel-Karren und eine Gruppe Erwachsener aber bereiten ihr keinerlei Schwierigkeiten. Allein die Stationierung auf der Umlaufbahn – der Satellit war auf einer Titan-IV-Rakete von der Vandenberg Air Force Base nordwestlich von Los Angeles abgeschossen worden – hatte 400 Millionen Dollar verschlungen. Der KH-12, der mit Mach 25 die Erde umlief, war der Traum jedes Spions. Er konnte wahrscheinlich nicht die Nummer an der Haustür ablesen, aber aufzeigen, wie viele Fahrräder davor abgestellt waren.

Der KH-12 der sogenannten Keyhole-Klasse war so geheim, dass das National Reconnaissance Office, das NRO, in Virginia ihn nie unter dieser Nummer offiziell bestätigt hatte. Alle Spionagesatelliten wurden mit Zufallszahlen wie KH-362 benannt, um fremde Spionageprogramme und nicht zuletzt auch Washington zu verwirren. Der KH-12 war so programmiert, dass er am Tag der Freilassung der vier Gefangenen das obere Swat-Tal überflog. Insgesamt gab es sechs dieser Satelliten, was zwölf Überflüge innerhalb von 24 Stunden bedeutete.

Abu Hassans finstere Gesichtszüge trafen gestochen scharf im NRO ein, nachdem das Schwarz-Weiß-Bild über mehrere Kommunikationssatelliten übertragen worden war. Auch einige gute Aufnahmen von Ibrahim waren darunter, der auf dem Maulesel-Karren in der stillen Nacht wie ein B-52-Bomber vor sich hin schnarchte.

Das NRO in Chantilly, 40 Kilometer westlich von Washington, hatte ähnliche Aufnahmen von Terroristen, die in den vergangenen Tagen im Swat-Tal angekommen oder ausgerückt waren. Als jedoch die Bilder dieser Gruppe eintrafen, bestand kein Zweifel mehr. Die Gefängnisfotos, die mit den brillanten Digitalaufnahmen aus dem Weltraum abgeglichen wurden, machten die Identifizierung einfach. Der NRO-Befund stimmte exakt mit dem des CIA-eigenen National Photographic Interpretation Center überein und wurden umgehend an die National Security Agency weitergeleitet.

Als die Bilder auf Ramshawes Bildschirm erschienen, befielen ihn widerstreitende Gefühle. Übersetzt in die bildhaften Wendungen, die seinen australischen Vorfahren so elegant über die Lippen kamen, gab er Folgendes von sich: »Gut, jetzt wissen wir also, wo die Scheißkerle abgeblieben sind, aber wir können ja schlecht Pakistan bombardieren, wir können auch nicht rein und sie uns schnappen, also werden wir verdammt noch mal warten müssen, bis sie sich in Bewegung setzen.«

Bob Birmingham kam zu der gleichen Schlussfolgerung, ebenso Andy Carlow und Mark Bradfield. Man konnte nur warten.

Aber man musste nicht lange warten.

Sechs Wochen nach den Aufnahmen von KH-12 hatte Shakir Khan seine Pläne ausgearbeitet. Die vier El-Kaida-Killer würden in den Vereinigten Staaten zuschlagen und eine jüdische Schule oder Universität in die Luft jagen, vorzugsweise an der Ostküste, wo es ihnen leichter fallen sollte, danach zu verschwinden.

Da die Einreise in die USA so gut wie unmöglich war, sollten sich die vier in die langen Schlangen mexikanischer Arbeiter einreihen, die über die südliche Grenze nach Texas einzudringen versuchten. Khan war sich bewusst, dass zahllose Mexikaner nach Durchquerung des berüchtigten Wüstenstreifens aufgegriffen und wieder zurückgeschickt wurden. Aber das würde nicht auf Ibrahim und seine Männer zutreffen. Sie würden moderne Waffen und hohe Bargeldbestände bei sich haben, außerdem waren sie skrupellose Killer, die unter dem unbesiegbaren Banner des Propheten Mohammed und im Namen Allahs vor nichts zurückschrecken würden, um über die Grenze zu kommen.

Shakir Khan würde sich nun daranmachen, die »Schläfer« zu wecken – die Terrorzellen, die in den USA bereits vor Ort waren und deren Zahl von Präsident Bush einmal auf über 5000 geschätzt wurde. So viele waren es mittlerweile nicht mehr, aber eine davon würde jetzt in Aktion treten und sich mit ihrem unbegrenzten Sprengstoffvorrat auf den Angriff gegen den Großen Satan vorbereiten.

Endgültig wollte man sich erst dann auf ein Ziel festlegen, wenn Ibrahims Gruppe in Mexiko eingetroffen war. Das war allerdings ein weiteres Problem. Der beste und bewährte Weg aus Afghanistan und dem Hindukusch führte über Großbritannien, wo die Labour Party in ihrer 13-jährigen Regierungszeit das Land beinahe in den Bankrott geführt hatte und zum Machterhalt auf ihre muslimischen Wähler angewiesen war. Die britischen Grenzbeamten hätten sogar Osama und seine besten Kumpel ins Land gelassen, solange sie offizielle Papiere vorlegen und bestätigen konnten, dass sie Studenten am Pakistan Culture and Commonwealth Centre for Advanced Literary Studies waren, dessen ausgedehnter »moderner Campus« direkt über einem Fish-and-Chips-Laden in Bradford lag.

Seit Jahren trieben diese skandalösen Schein-Universitäten ihr Unwesen, dazu kamen die nicht minder skandalösen britischen Gesetze, die nahezu jedem die Einreise erlaubten – Terroristen, Stammeskriegern, Dschihadisten, Fanatikern, Verrückten, Typen, deren Urgroßväter bei den Bengal Lancers gedient hatten, Mullahs, Schlangenbeschwörern, Kameltreibern, Bombenbastlern, Fakiren und weiß Gott noch wem. Nach der letzten Zählung hatte die britische Labour-Regierung zum großen Unwillen der Polizei jedes Jahr an die 10000 Studentenvisa an Pakistani vergeben; zwischen 2004 und 2008 wurden über solche Visa 42292 Pakistani die Einreise gestattet.

Selbst Abdul Rahman, der 2007 zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, weil er britische Muslime zum heiligen Krieg aufgerufen hatte, reiste mit einem solchen Studentenvisum ein. Er lebte in Cheetham Hill, Manchester, wo im April 2009 die Polizei in einem Internet-Café elf mutmaßliche Terroristen festnahm, die mit Studentenvisa ins Land gekommen waren. Es stellte sich heraus, dass nur einer von ihnen eine »allgemein anerkannte Universität« besuchte.

In Großbritannien gibt es schätzungsweise an die 2000 betrügerische Bildungseinrichtungen, Schein-Colleges mit tollen Websites, von denen viele in ethnisch dominierten Stadtteilen angesiedelt sind. Sie geben sich großartige Namen: Oxford and Cambridge World Scientific College; UK Harvard Advanced Studies; Commonwealth Literature and Engineering School; London Language School. Die Letztere offeriert für 250 Pfund einen Kurs für »Türinspektion« – ein interessanter Euphemismus für Studenten, die sich zum Rausschmeißer in einem Nachtklub ausbilden lassen wollen.

Selbst der peinlich berührte pakistanische Hochkommissar in London beschwerte sich bei Premierminister Gordon Brown über die nachlässigen britischen Behörden. Etwa zur selben Zeit stellte sich heraus, dass zum Sicherheitsteam, das für den Dienstwagen des Premiers zuständig war, ein illegaler Immigrant aus Pakistan gehörte.

Shakir Khan wusste, wie man in den Westen gelangte. Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu würden von Karatschi nach Europa fliegen, wahrscheinlich nach Amsterdam, und von dort zum Leeds-Bradford International Airport. Sie würden mit pakistanischen Pässen und Studentenvisa, die mithilfe von Islamabad ausgestellt wurden, in Großbritannien einreisen, sich zunächst für einige Wochen in Bradford niederlassen, wo es einen großen pakistanischen Bevölkerungsanteil gab, bevor sie sich vermutlich über Madrid auf den Weg nach Mexiko machten.

Das war zeitraubend, aber sicher. Und wenn die Jungs erst über der texanischen Grenze waren, konnten sie mit Unterstützung der Schläfer mehr oder minder ungehindert US-Bürger töten. Das oberste Ziel des El-Kaida-Strategen war maximaler Schaden, Tod und Vernichtung des Feindes, möglichst großes internationales Aufsehen sowie Ruhm und Ehre für El Kaida.

Shakir Khan hatte vor, eines Tages Pakistan zu regieren. Er hatte dabei sein Schicksal mit den Extremisten verknüpft, den Taliban, den islamischen Fanatikern, die der gegenwärtigen Mitte-Links-Regierung nur Hohn und Verachtung entgegenbrachten. Shakir Khan zielte darauf ab, dass die Fundamentalisten sowohl die Regierung wie das Militär unter ihre Herrschaft brachten. Wenn es so weit war, wenn es zur unvermeidlichen Bildung eines islamischen Staates kam, der sich vom Horn von Afrika bis zum Atlantik erstreckte, würde er, Shakir Khan, bereitstehen, um ihn zu regieren. Damit wäre er Herrscher über die halbe Welt, und in ihm wäre der unsterbliche Bin Laden wiedergekehrt.

So konnte er es kaum erwarten, Al-Dschasira darüber in Kenntnis zu setzen, dass sich El Kaida offiziell zum Anschlag auf das US-College bekannte; dass der mächtige Politiker Shakir Khan aus der Nordwestlichen Grenzprovinz dahinterstand und damit in die Fußstapfen des großen Osama trat. Denn danach, davon ging er aus, würden die gottlosen Amerikaner aus dem Nahen Osten abziehen und ihm, Shakir Khan, dem Nachkommen des Propheten, den Weg ebnen, das größte Reich zu regieren, das die Welt jemals gesehen hatte.

Er freute sich schon jetzt darauf, vor allem, wenn es an der Zeit war, die US-Behörden in einer nicht rückverfolgbaren Botschaft darüber aufzuklären, dass die Täter dieses ungeheuren Verbrechens jene vier Männer waren, die von einem Washingtoner Gericht für nicht schuldig befunden worden waren.

Mack Bedford war nach Dartford, Maine, zurückgekehrt und wartete darauf, dass sich seine vier Zielobjekte wieder zeigten. Er hatte beschlossen, seiner Frau nichts über den neuen Einsatz zu erzählen oder über die Konsequenzen, die eine erfolgreiche Durchführung nach sich ziehen würde. Er wusste, Anne würde nur zu gern wieder nach Coronado ziehen mit seinem fabelhaften kalifornischen Wetter, aber er wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen über seinen Auftrag machte.

Vorerst beruhigte es ihn zu wissen, dass die gesamte Maschinerie der amerikanischen Nachrichtendienste im Hintergrund anlief und Ibrahim, Yousaf, Ben und Abu Hassan zu lokalisieren versuchte. Tagsüber arbeitete er nach wie vor für die Werft, handelte Verträge mit den Seestreitkräften fremder Länder aus, nachts beschäftigte er sich mit der stetig anwachsenden Zahl von Dokumenten über die zurückliegenden Aktivitäten der vier Terroristen.

Früh am Morgen allerdings, im ersten Tageslicht, rannte der Ironman und ehemalige SEAL nun die Küstenstraße zur Kennebec-Mündung hinunter, die steilen Anstiege hinauf, durch Wind und Regen, und beschloss die Strecke mit einem Spurt den Hang zu seinem Haus hinauf, nach dem er gewöhnlich auf dem nassen Rasen seines Vorgartens ausgestreckt liegen blieb. Aber er rappelte sich wieder hoch und unterzog sich an einer zwischen den Ästen eines Apfelbaums angebrachten Eisenstange seiner morgendlichen Klimmzüge.

Er musste sich ganz strecken, um überhaupt an die Stange zu kommen. Ziel der Übung war es, sich mit dem Kinn über die Stange zu hieven, bis ihn die Kräfte verließen. Eine durchschnittliche Person schaffte vielleicht zwei oder drei, ein durchtrainierter Sportler vielleicht acht oder neun dieser Klimmzüge. Mack Bedford schaffte 32.

Vier Abende in der Woche fuhr er zu einer kleinen, versteckt gelegenen Bucht an der Mündung, zog sich bis auf den Neoprenanzug aus, warf sich in die Fluten und schwamm 600 Meter weit hinaus zu einer Reihe von Felsen, wo er umdrehte und im Höchsttempo zurückkehrte. Wenn er wusste, dass starke Strömung herrschte, zog er seine großen SEAL-Flossen an und kämpfte sich mit ihnen durch die 1200-Meter-Strecke.

Seit seinem Abschied von den SEALs hatte er dieses rigorose Programm durchgezogen. Irgendwo im Hinterkopf hatte er nie die Hoffnung aufgegeben, eines Tages doch wieder nach Coronado zurückzukehren. Jetzt hatte er seine Chance.

Mit jedem weiteren Tag näherte sich Mack einem Grad an Fitness, die ihresgleichen suchte. Mack Bedford besaß die Kämpferqualitäten eines bengalischen Tigers. Er war immer noch durch und durch ein SEAL und gehörte zu den Besten, die diese Bruderschaft jemals hervorgebracht hatte. Ihm waren die Gefahren seines Einsatzes bewusst, und er hütete sich, die Aufgabe zu unterschätzen. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, dass irgendjemand auf der Welt ihn im Kampf besiegen könnte.

Mack studierte die Guantanamo-Aufnahmen der Terroristen und versuchte diese einzuschätzen. Er kam dabei nicht sehr weit. Alle vier zeichneten sich durch eine gewisse Härte und vor allem durch Hass und Verachtung aus, die sie, wie die meisten Terroristen, ihren Feinden entgegenbrachten.

Nur Ibrahim Sharif hatte etwas an sich, das ihm entfernt vertraut vorkam, ohne dass er es hätte benennen können. Die US-Behörden hatten den Afghanen gezwungen, sich während der Haft auf Kuba den Bart abzunehmen. Alle islamischen Fanatiker, die Mack jemals zu Gesicht bekommen hatte, aber hatten einen Vollbart getragen, ihre Identifizierung war also nahezu unmöglich.

Trotzdem beschlich Mack das Gefühl, dass er Ibrahim Sharif irgendwo schon mal begegnet war.

Noch nicht einmal Mack Bedford wusste vom wahren Ausmaß der amerikanischen und britischen Funküberwachung im Hindukusch. Die USA konnten auf boden- und satellitengestützte Lauschanlagen zurückgreifen, die das Gebiet von Peshawar bis nördlich des oberen Swat-Tals und weiter nach Westen bis Afghanistan abdeckten, die Pässe, die hoch aufragenden Gipfel und die weit verstreuten Dörfer, die sich an die steilen Hänge klammerten.

Sie konnten nahezu jedes Gespräch abfangen, eine gigantische Aufgabe, bei der Spezialisten nach den seltenen Meldungen Ausschau hielten, die militärischen oder terroristischen Inhalts waren. Und sie waren gut darin. Zu gut für einen Quasi-Amateur wie Shakir Khan.

Der Pakistani und zukünftige Herrscher musste den El-Kaida-Führer in Großbritannien, Scheich Abdullah Bazir, über die anstehende Ankunft seiner heiligsten und höchstgeschätzten Vier-Mann-Kampfgruppe in Kenntnis setzen. So hatte er es geplant, und soweit er wusste, blieb ihm nichts anderes übrig, als dazu das Telefon zu benutzen. Für die Kommunikation zwischen dem Hindukusch und den Schläferzellen in Großbritannien war ein hervorragendes Code-System ausgearbeitet worden, das sich Khan, davon war er überzeugt, wunderbar zunutze machen konnte. Ein System, das er jedoch nicht ganz durchdrungen hatte.

In seinem Regierungsbüro wählte er eine Privatnummer auf der afghanischen Seite der Berge. Ein El-Kaida-Befehlshaber hob ab, sagte nichts, sondern schrieb nur mit, was Khan ihm mitteilte, und legte dann auf. Dieser Mann wählte daraufhin eine Nummer in Großbritannien; am anderen Ende der Leitung meldete sich Scheich Bazir in seinem Büro einer Moschee in Bradford, Yorkshire, einer Stadt mit 80000 muslimischen Einwohnern. Der El-Kaida-Befehlshaber sprach lediglich seine Botschaft: »Die Auserwählten sollen vor dem Propheten in Hanfia knien. Gesegnet sei Allah, der ihnen Schutz gewährt bei den Steinrindern RV.«

Der Anruf dauerte nur wenige Sekunden. Sofort wurde wieder aufgelegt. Scheich Abdullah Bazir blieb nicht eine Sekunde, etwas zu erwidern. Geschwindigkeit war alles, worauf es ankam, jeder in Bin Ladens Organisation wusste das. Aber sie waren nicht schnell genug gewesen.

Nachrichtenexperte Sergeant Shane Collins hatte an einem ruhigen Morgen Dienst in der britischen Horchstation auf Zypern, hoch auf den Bergen nördlich der britischen Militärbasis Dekelia im Südosten der Insel. Geografisch lag sie genau auf der Schnittstelle zwischen Ost und West, und der britische Posten war dazu prädestiniert, Satellitennachrichten, Telefonate und sämtlichen Funkverkehr aus dem Nahen Osten abzufangen. Im Norden lag die Türkei, im Südosten lagen Syrien, Israel, der Irak, Jordanien und Saudi-Arabien und im Süden Ägypten.

Diese geheime Lauschstation war intern als JSSU, Joint Services Signal Unit, bekannt, in ihr diente die Crème de la Crème der britischen Abhörspezialisten aus allen drei Waffengattungen. Sie zeichneten rund um die Uhr sämtliche Nachrichtenübertragungen auf, jeder Operator war ein hoch qualifizierter Linguist, dazu befähigt, die abgefangenen Nachrichten und Gespräche auch gleich zu übersetzen.

Faxe, E-Mails, verschlüsselte Nachrichten in hundert verschiedenen Sprachen wurden für spätere Analysen gespeichert. Verdächtige Übertragungen allerdings wurden von den lauschenden Mitarbeitern notiert und gleich an Ort und Stelle übersetzt.

Sergeant Collins beschloss, die Übertragung aufzuzeichnen, weil sämtliche entscheidende Faktoren auf sie zutrafen: 1. war sie äußerst kurz; 2. erfolgte keinerlei Reaktion des Angerufenen; 3. enthielt sie keine persönliche Begrüßung; 4. gab sich keiner der beiden Gesprächspartner zu erkennen; 5. ergab sie keinen Sinn; und 6. wurde auf etwas Bezug genommen – in diesem Fall auf »Steinrinder«.

Sergeant Collins, dessen Großvater aus Pakistan stammte, verstand Paschtunisch, die Sprache, in der die Nachricht übermittelt wurde. Trotzdem benötigte er eine genauere Übersetzung, die er bereits kurz darauf vorliegen hatte. Er wusste mittlerweile, dass der von einem Handy erfolgte Anruf seinen Ausgangspunkt ungefähr 80 Kilometer westlich von Peshawar hatte, irgendwo in Afghanistan.

Daraufhin meldete er sich bei einem zweiten britischen Horchposten in Großbritannien, der die dem Anruf entsprechende Frequenzlinie ebenfalls verfolgen sollte. Es stellte sich heraus, dass die beiden Linien sich in der Stadt Bradford in West Yorkshire schnitten – höchstwahrscheinlich im Stadtzentrum, näher sei es nicht zu bestimmen.

Sergeant Collins meldete dies sofort seinem diensthabenden Captain. Dieser teilte die Auffassung, dass es sich um eine ungewöhnliche Nachricht handelte, und gab den Text zur detaillierten Auswertung weiter an das Government Communications Headquarter (GCHQ) in Cheltenham, Gloucestershire.

Das GCHQ war die Perle der britischen Geheimdienste und verschlang jedes Jahr 1,5 Milliarden Dollar. Die NSA in Maryland teilte nur allzu gern seine sämtlichen Informationen mit Cheltenham, wo 4000 Mitarbeiter in bombensicheren Büros unter einem mit Panzerplatten verstärkten Dach arbeiteten. Es war ein großes kreisförmiges Gebäude mit einem runden Innenhof in der Mitte. Man nannte es »den Donut«.

Nach nicht einmal fünf Minuten hatte das GCHQ seine Analyse erstellt. Die Computersysteme hatten mehrere Milliarden Rechenschritte vollzogen und waren zu der Schlussfolgerung gekommen, dass es sich nicht um einen Code handelte, sondern um verschleierte Sprache mit militärischen Konnotationen.

Wie immer schloss sich die kritische Frage an: Hatte die JSSU auf Zypern soeben eine Nachricht aus dem El-Kaida-Kommandohauptquartier aufgeschnappt? Und kam ihr so entscheidende Bedeutung zu wie bei ihrem größten Triumph vor Jahren, als sie Bin Laden und seine Henker im Hindukusch abgehört hatten?

Auch hier handelte es sich um einen Anruf aus dem Hindukusch. Das GCHQ konnte natürlich nichts über Motiv, Urheber und Empfänger der Nachricht aussagen, über die Bedeutung des von Sergeant Collins aufgezeichneten Signals aber gab es nicht die geringsten Zweifel.

Kurz vor Mittag leiteten sie die Nachricht an die National Security Agency in Fort Meade, Maryland, weiter – an Commander James Ramshawe, dem sie als vertraulich zugestellt wurde.

Shakir Khans Meldung war abgefangen worden.