Sein Lieblingssong war von jeher Strawberry Fields gewesen. Er hatte ihn an irgendeinem Tag des Jahres 67 oder 68 bei seinem Cousin Juan Antonio zum ersten Mal gehört. Es war schrecklich heiß gewesen, und trotzdem hatten Juan Antonio und drei seiner Freunde – sie waren schon groß, bereits in der achten Klasse – im Zimmer seines Cousins gesessen, erinnerte er sich, so als wollten sie zum Propheten beten: auf dem Boden hockend, um einen uralten, von Holzwürmern zerfressenen Schallplattenapparat Marke RCA Victor herum. Auf dem Plattenteller lag eine schwarze Scheibe ohne Etikett. »Das ist ein Raubdruck, du Nasenbär, wie soll sie da ’n Etikett haben?«, sagte Juan Antonio zu ihm, ruppig wie immer. Mario setzte sich ebenfalls auf den Boden. Niemand wollte reden, nicht mal über Frauen. Tomy hob den Tonabnehmerarm an und legte ihn liebevoll auf den Plattenrand. Und dann begann der Song. Er verstand nichts, die Beatles waren nicht so gut zu hören wie auf einer richtigen Schallplatte. Aber die Älteren summten den Text mit, so als würden sie ihn kennen. Er wusste nur, dass field Park bedeutete, centerfield also Zentralpark, schloss er, doch das war erst sehr viel später. In diesem Moment spürte er, dass er einem einmaligen magischen Akt beiwohnte, und als das Lied zu Ende war, bat er, los, Tomy, spiels noch mal.
Und jetzt summte er den Song wieder und wusste nicht warum. Er wollte nicht wahrhaben, dass diese Melodie die Hymne seiner melancholischen Erinnerungen an eine Vergangenheit war, in der alles einfach und vollkommen gewesen war. Und obwohl er inzwischen wusste, was der Text bedeutete, zog er es vor, nicht daran zu denken, und gab sich lieber dem Gefühl hin, durch jenes Erdbeerfeld zu gehen, das er niemals gesehen hatte und an das er sich dennoch so gut erinnern konnte. Nur er und die Musik. Strawberry Fields kam ihm einfach so in den Sinn, ohne Ankündigung, und schob alles andere beiseite. Er sang, setzte an irgendeiner Stelle ein, fühlte sich besser. Er sah den dunklen, trist bedeckten Himmel nicht mehr, nicht das Bild von Rafael Morín, der Reden schwingend auf dem Podium im Eingang der Oberstufenschule stand. Er wollte weder rauchen noch hören, was Manolo ihm über seine letzte Eroberung berichtete, während er ihn zu Tamara fuhr. Strawberry Fields forever …
»Genau hier lag das Notizbuch mit den Telefonnummern.«
Die Zeit ist eine Täuschung. Nichts hat sich in der Bibliothek verändert. Die komplette Ausgabe der Enzyklopädie Espasa-Calpe, »die am meisten weiß«, steht unverrückbar im Regal, mit ihren trotz der Jahre goldglänzenden Lettern auf den dunkelblauen Buchrücken; der Doktortitel in Rechtswissenschaften von Tamaras Vater hängt unerschütterlich an seinem privilegierten Platz und verdrängt sogar die beiden Federhalter von Victor Manuel, die ihn immer so fasziniert haben; der dunkle Band mit den Erzählungen von Father Brown, über dessen Ledereinband man so zärtlich mit den Fingern streichen kann, ist wie ein stechender Schmerz in der Erinnerung: Der alte Dr. Valdemira hat ihm die Erzählungen vor so vielen Jahren ans Herz gelegt, damals, als Mario Conde noch nicht ahnte, dass er einmal ein Kollege von Chestertons Detektivpriester werden würde. Und der Mahagonischreibtisch ist unsterblich, immens groß wie die Wüste und schön wie eine Frau. Ein guter Schreibtisch, um daran zu schreiben. Lediglich das Leder des Drehstuhls wirkt ein wenig erschöpft, das echte Bisonleder ist mehr als dreißig Jahre alt; auf ihm saß derjenige, der in der Nacht vor Prüfungen den Stoff mit ihnen durchging. Ein Ehrenplatz für den, »der am meisten wusste«. Als Mario Conde zum ersten Mal dieses Zimmer betrat, kam er sich klein und verlassen und schrecklich ungebildet vor. Noch heute erinnert er sich an das nagende Gefühl intellektueller Minderwertigkeit, von dem er sich nie befreien konnte.
»Ich habe oft von diesem Zimmer geträumt«, sagt er. »Doch selbst im Traum konnte ich mich nicht daran erinnern, dass dein Vater ein Telefon hatte. Oder doch?«
»Nein, nie. Papa hasste zwei Dinge auf den Tod«, erinnert sie sich. »Eins davon war das Telefon. Das andere war das Fernsehen, was zeigt, dass er ein sehr sensibler Mann war.« Sie lässt sich in einen der beiden Sessel fallen, die vor dem Schreibtisch stehen.
»Und wie lassen sich die beiden Phobien mit diesem Kamin in einer Bibliothek in Havanna vereinbaren?«, fragt er. Er hockt sich vor den kleinen, aus roten Ziegeln gemauerten Kamin und spielt mit einem der beiden Feuerhaken.
»Er hatte sogar Holz und alles. Er ist schön, unser Kamin, nicht wahr?«
»Mein Motto ist: Höflich, aber direkt. Solange auf Kuba kein Schnee fällt, weiß ich nicht, wozu so was gut sein soll.«
Sie lächelt melancholisch.
»Der Kamin ist die Tarnung für einen Tresor. Ich habs erfahren, als ich ungefähr zwanzig war. Papa war eine Persönlichkeit. Eine richtige Persönlichkeit.«
Er legt den Feuerhaken zur Seite und setzt sich neben Tamara in den zweiten Sessel. Die Bibliothek wird nur durch die kleine Jugendstillampe mit dem Bronzefuß und dem Schirm aus tiefvioletten Weintrauben erleuchtet. Tamaras Gesichtshälfte erhält in dem Licht eine warme, bernsteinfarbene Tönung. Sie trägt einen sportlichen Overall von demselben Dunkelblau wie die Espasa-Calpe, der der ehemaligen, inzwischen etwas in die Breite gegangenen Tänzerin schmeichelt und ihre Formen betont.
»Rafael hat vor sieben oder acht Jahren einen Anschluss hier herein legen lassen. Er kann nämlich ohne Telefon nicht leben.«
Er nimmt die Entscheidung Rafaels zur Kenntnis, und plötzlich spürt er auf den Schultern das Gewicht eines zu langen Tages, an dem von nichts anderem als von Rafael Morín die Rede gewesen ist. So viele Leute haben ihm von Rafael erzählt, dass er langsam zu zweifeln beginnt, ob er ihn wirklich kennt oder ob es sich um eine Art Jahrmarktsattraktion handelt mit tausend Gesichtern, die sich wie die von Familienangehörigen ähneln, sich aber deutlich voneinander unterscheiden. Er würde lieber von anderen Dingen reden, ihr zum Beispiel sagen, dass er den ganzen Weg über Strawberry Fields gesungen hat. So etwas würde er ihr jetzt gerne gestehen. Oder ihr sagen, dass sie mit jedem Tag besser aussieht, attraktiver. Doch er befürchtet, dass sie solche Geständnisse banal und abgedroschen finden könnte.
»Ich habe zu spät erfahren, dass dein Vater gestorben ist. Sonst wär ich zur Beerdigung gekommen«, sagt er stattdessen, denn die Anwesenheit des alten Diplomaten in diesem Zimmer ist mit den Händen zu greifen.
»Ach, mach dir deswegen keine Gedanken.« Sie schüttelt leicht den Kopf, und das führt dazu, dass die Haarsträhne wieder in Bewegung gerät und ihr in die Stirn fällt. »Es war alles furchtbar hektisch, unglaublich. Sich damit abzufinden, dass Papa nun tot war, das war sehr hart, weißt du?«
Er nickt und verspürt plötzlich wieder Lust zu rauchen. Gespräche über den Tod regen immer seine Lust zu rauchen an. Auf dem Schreibtisch entdeckt er einen Aschenbecher aus Ton. Er ist erleichtert, dass es kein Mörser ist, keiner aus Muranoglas oder aus Sargadelos-Keramik, handbemalt, aus der Sammlung des Dr. Valdemira. Sie ist indessen aufgestanden und geht zu der kleinen Hausbar, die in einen Flügel des Bücherschranks eingelassen ist.
»Ich möchte mit dir anstoßen. Ich glaube, wir haben beide einen Schluck nötig.« Nach diesem Allgemeinplatz gießt sie Whisky aus einer fast quadratischen Flasche in zwei hohe Gläser. »Ich mag ihn gerne pur, und du? Ich weiß nicht, Eis nimmt einem guten schottischen Whisky das Aroma.«
»Ballantine’s, stimmts?«
»Aus Rafaels spezieller Reserve«, sagt sie und reicht ihm ein Glas. »Glück und Gesundheit.«
»Gesundheit und Pesos für den Tresor«, entgegnet er. »Schönheit besitzen wir ja reichlich.« Er probiert den Whisky und spürt die sanfte Wärme auf der Zunge, in der Kehle, im leeren Magen. Sogleich fühlt er sich besser.
»Wer ist Zoila, Mario?«
Er öffnet sein Jackett und trinkt einen zweiten Schluck. »Hatte er was mit anderen Frauen?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ehrlich gesagt, ich bin immer weniger daran interessiert, Rafael hinterherzuspionieren. Ich habe keine Ahnung, was er so treibt.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass Rafael sich kaum noch zu Hause blicken lässt. Immer ist er auf Reisen oder auf Versammlungen, und, wie gesagt, ich bin nicht daran interessiert, ihm hinterherzuspionieren. Aber das interessiert mich jetzt. Wer ist Zoila?«
»Das wissen wir noch nicht. Sie war seit einigen Tagen nicht mehr zu Hause. Wir sind dabei, sie ausfindig zu machen.«
»Und du glaubst wirklich, dass Rafael …?« Ihr Entsetzen ist echt.
Er versteht sie nicht gleich und fühlt sich unbehaglich. Sie schaut ihn fragend an.
»Ich weiß es nicht, Tamara. Deswegen habe ich dich nach eventuellen Frauengeschichten gefragt. Du müsstest mir das beantworten können.«
Sie nippt an ihrem Glas und versucht zu lächeln, aber ohne Erfolg. »Ich bin ziemlich durcheinander, Mario. Das Ganze kommt mir wie ein schlechter Scherz vor, und dann wieder denke ich, nein, das ist ein Albtraum, Rafael ist mal wieder auf Reisen, nichts weiter, es ist nichts passiert, und es wird nichts passieren, gleich kommt er zur Tür herein«, sagt sie, und er kann nicht anders, er muss zur Tür sehen. »Ich brauche Beständigkeit, Mario, ohne Beständigkeit kann ich nicht leben, verstehst du mich?«
Er versteht sie. Es ist leicht, ihr Bedürfnis nach Beständigkeit zu verstehen, denkt er, und er sieht sie noch einen Schluck trinken und die Wärme des Whiskys spüren. Sie zieht den Reißverschluss ihres Overalls gefährlich weit nach unten. Er würde sie gerne ansehen, versucht sich auf sein Glas zu konzentrieren, doch es gelingt ihm nicht. Er fühlt, dass er eine Erektion hat. Was soll das?, fragt er sich, was ist das für ein Geheimnis? Andere Leute fallen auf der Straße nicht in Ohnmacht, nur weil sie Tamara sehen, und dir bleibt die Luft weg! Er hat es immer noch nicht geschafft, das Verlangen, das diese Frau in ihm hervorruft, aus seinem Kopf zu verbannen. Er schlägt die Beine übereinander, um seine Begierde gewaltsam dem Gesetz der Schwerkraft zu unterwerfen. Aus, Leoncito!
»Ich glaube nicht, dass Rafael dazu fähig ist«, sagt sie, »ich glaube es einfach nicht. Ob er schon mal mit einer anderen Frau ins Bett geht? Also, ehrlich gesagt, wissen tu ichs zwar nicht, aber ich nehme es an. Ihr Männer seid ja für so was zu haben, oder nicht? Aber ich glaube nicht, dass er es wagt, mit einer Frau durchzubrennen und sich mit ihr zu verstecken. Ich kenne ihn wohl zu gut, um mir das vorstellen zu können.«
»Ich glaube das auch nicht. Ich glaube es nicht«, wiederholt auch er mit Überzeugung. Er wird doch nicht all das einfach so aufgeben, denkt er, und Zoilita ist nicht die Herzogin von Windsor. Bei anderen Dingen weiß ich nicht, aber in diesem Fall bin ich mir sicher.
»Und was hast du sonst noch rausgekriegt?«
»Dass ein Spanier namens Dapena durchgedreht ist, als er dich gesehen hat.«
Sie reißt die Augen auf. Wie kann sie die Augen nur so weit aufreißen, fragt er sich. Sie hebt die Stimme, verärgert, aus der Fassung gebracht, fast ganz ohne Anmut.
»Wer hat das gesagt?«
»Maciques.«
»So ein alter Schwätzer … Und dann heißt es immer, die Frauen … «
»Was war nun mit dem Spanier, Tamara?«
»Nichts, ein Missverständnis, es war nichts. Ist das alles, was du rausgekriegt hast?« Sie trinkt wieder einen Schluck.
Er stützt das Kinn in die Handfläche und nimmt ihren Geruch wahr. Er beginnt sich so wohl zu fühlen, dass er Angst bekommt. »Ja, viel ist es nicht. Hab das Gefühl, wir haben uns den ganzen Tag im Kreis gedreht. Unser Job ist beschissener, als du dir vorstellen kannst.«
»Doch, ich kann es mir vorstellen. Vor allem, seit ich unter Verdacht stehe.«
»Das habe ich nie gesagt, Tamara, das weißt du. Theoretisch bist du verdächtig, ja, weil du die Person bist, die Rafael am nächsten steht und ihn zuletzt gesehen hat. Und weil du Gott weiß was für Motive hast oder haben könntest, ihn dir vom Hals zu schaffen. Ich hab dir doch gesagt, wir befinden uns am Anfang einer Ermittlung, und die kann ziemlich peinlich werden.«
Sie trinkt ihr Glas leer und stellt es neben die Lampe. »Mario, findest du nicht, dass es albern ist, mir so was zu sagen?«
»Warum hast du mich eigentlich immer ›Mario‹ genannt und nicht ›E1 Conde‹ wie die anderen aus unserer Klasse?«
»Und warum wechselst du das Thema? Ehrlich, es ärgert mich, dass du so etwas von mir denken kannst.«
»Wie soll ichs dir denn sonst sagen? Glaubst du, es wär angenehm, sein Leben mit so was zuzubringen? Meinst du, sich mit Mördern, Dieben, Betrügern und Vergewaltigern zu beschäftigen wär das pure Vergnügen? Und dabei noch liebenswürdig und gutgläubig zu sein?«
Es gelingt ihr, ein schmales Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern, während ihre Hand sich bemüht, die widerspenstige Haarsträhne aus ihrer Stirn zu verbannen. »El Conde, ja? Sag mir eins: Warum bist du zur Polizei gegangen? Um den lieben langen Tag herumzumeckern und zu jammern?«
Er muss lächeln bei dieser Frage, die er in seinen Jahren als Ermittler am häufigsten und heute schon zum zweiten Mal gehört hat. Doch er ist der Meinung, dass sie eine Antwort verdient. »Ganz einfach. Ich bin aus zwei Gründen Polizist geworden. Einen davon kenne ich nicht. Hat was mit dem Schicksal zu tun, das mich dazu gebracht hat.«
»Und der zweite Grund? Der, den du kennst?«, fragt sie erwartungsvoll. Es tut ihm Leid, dass er ihre Erwartung enttäuschen muss.
»Der Zweite ist ganz einfach, Tamara. Vielleicht lachst du darüber, aber es ist die Wahrheit: weil ich nicht möchte, dass die Schweine ungestraft davonkommen.«
»Ein richtiger Moralist«, stellt sie fest, nachdem sie alle Nuancen seiner Antwort erfasst hat. »Du bist ein armer Polizist, was nicht dasselbe ist wie ein armseliger Polizist … Möchtest du noch was trinken?«, fragt sie und nimmt ihr Glas vom Tischchen.
Er betrachtet sein leeres Glas und zögert. Er liebt den herben Geschmack schottischen Whiskys und ist immer dazu aufgelegt, sich mit einer Flasche Ballantine’s zu besaufen. Und er fühlt sich so wohl bei ihr in dem kultivierten Dämmerlicht der Bibliothek und findet sie so schön … Doch dann antwortet er: »Nein, lass nur, ich hab noch nicht mal gefrühstückt.«
»Willst du was essen?«
»Ich will schon, ich muss sogar, aber nein, danke, ich bin noch verabredet«, sagt er beinahe bedauernd. »Der Dünne und seine Mutter warten mit dem Essen auf mich.«
»Immer noch ein Herz und eine Seele, was?« Sie lächelt wieder.
»Hör mal, ich hab dich noch gar nicht nach deinem Sohn gefragt«, sagt er und steht auf.
»Klar, bei diesem ganzen Theater … Heute Mittag hab ich Mima gesagt, sie soll mit ihm zu Tante Teruca nach Santa Fe fahren. Zumindest bis Montag oder bis wir Genaueres wissen. Ich glaube, er würde das alles nicht verkraften … Mario, was kann Rafael zugestoßen sein?« Sie steht ebenfalls auf und verschränkt die Arme vor der Brust, so als hätte die Wärme des Whiskys ihren Körper plötzlich verlassen und ihr wäre sehr kalt.
»Wenn wir das wüssten, Tamara! Aber mach dich mit dem Gedanken vertraut: Was immer es auch ist, es ist nichts Gutes. Gibst du mir die Namensliste der Partygäste?«
Sie steht regungslos da, so als hätte sie nichts gehört. Dann löst sie die verschränkten Arme. »Hier«, antwortet sie und zieht ein Blatt Papier unter einer Zeitschrift hervor. »Ich habe alle aufgeschrieben, an die ich mich erinnere. Ich glaube, es fehlt keiner.«
Er nimmt das Blatt und hält es ins Lampenlicht. Aufmerksam liest er die Namen und Vornamen der Gäste und ihre Berufe. »Da war keiner wie ich dabei, stimmts?«, bemerkt er und sieht sie an. »Kein armer Polizist.«
Sie verschränkt wieder die Arme und starrt in den Kamin, so als wollte sie ihn um den unmöglichen Gefallen bitten, Wärme zu spenden. »Heute Morgen ist mir schon aufgefallen, dass du dich sehr verändert hast, Mario. Warum bist du so verbittert? Warum sprichst du über dich, als tätest du dir selbst Leid? Als wären alle andern Gauner und du der Ärmste und einzig Saubere?«
Er hört sich ihren Vorwurf an und ahnt, dass er sich in ihr getäuscht hat. Sie ist und bleibt eine intelligente Frau. Er fühlt sich schwach und hilflos, möchte sich wieder in den Sessel setzen, noch einen Whisky trinken und reden, nichts als reden. Doch er hat Angst.
»Ich weiß es nicht, Tamara. Wir reden ein andermal darüber.«
»Mir scheint, du fliehst vor etwas.«
»Ein Polizist flieht nie. Er geht nur weg, und mit ihm geht seine Freude.«
»Du bist ein schwieriger Fall.«
»Und ein hoffnungsloser.«
»Sag mir Bescheid, wenn was ist«, bittet sie. Sie gehen den Korridor entlang, Tamara noch immer mit verschränkten Armen. Und während Mario Conde dem Bild der Flora zuzwinkert, jenem üppigen Weib auf der farbigen Zeichnung, die gerahmt an der bevorzugten Wand des Salons hängt, fragt er sich, was Tamara Valdemira wohl alleine in diesem großen leeren Haus macht. Sich in den vielen Spiegeln betrachten?
Der dünne Carlos inmitten der Clique, mit ausgebreiteten Armen, den Kopf leicht nach rechts geneigt. Sieht aus, als hinge er am Kreuz. Damals wusste er noch nicht, dass er später mal ein Kreuz zu tragen haben würde. Immer war er darum bemüht, im Mittelpunkt zu stehen, der Mittelpunkt zu sein. Oder vielleicht haben wir ihn auch ein wenig dazu animiert, sich als Nabel der Clique zu verstehen, in der er sich so wohl fühlte, und wir ebenfalls. Er war im Stande, einen Witz pro Minute loszulassen oder irgendeinen blöden Scherz zu machen, der sich bei jedem anderen wie eine plumpe Gemeinheit angehört und ein verlegenes Lachen hervorgerufen hätte. Er hatte lange Haare, weiß der Himmel, wie er das bei der strengen Kontrolle am Schultor geschafft hat. Damals, bereits in der 13, war er noch sehr dünn. An jenem Tag hatten wir uns an der Universität vorangemeldet. Als erste Wahl hatte er das Studienfach Ingenieurswesen angegeben. Er träumte davon, einen Flughafen, zwei Brücken und vor allem eine Kondomfabrik zu bauen, für die Produktion von Kondomen unterschiedlicher Größen, Farben, Geschmacksrichtungen und Formen, eine Produktion, die den gesamten Bedarf der Karibik decken sollte, des Teils der Erde, in dem am meisten und am besten gevögelt wird, wie er sagte. Das Vögeln war seine Leidenschaft. Als zweite Option hatte er Maschinentechnik angegeben. Dulcita steht zwischen dem Dünnen und dem Hasenzahn. Zu der Zeit ging sie mit dem Dünnen, und wenn der Dünne nicht den Gekreuzigten spielen würde, dann hätte er bestimmt seine Hand auf ihrem Po, und sie würde dazu lächeln. Denn ihr gefielen solche Schweinereien ebenfalls. Ihr Rock mit den drei weißen Streifen am Saum ist der kürzeste von allen, er reicht ihr bis weit übers Knie. Flinker als alle anderen rollte sie ihn in der Taille ein, sobald sie einen Fuß aus der Schule setzte. Und es lohnte sich, sie hatte runde Knie, kräftige lange Schenkel, Beine, für die die Bezeichnungen »wohlgeformt« und »handgemacht« erfunden zu sein schienen, und einen Hintern, wie der Dünne mit einem seiner furchtbar misslungenen lyrischen Vergleiche sagte, »so hart wie wenn man morgens um fünf mit knurrendem Magen aufstehen muss«. Aber das andere ist Plastik, sagte er, reine Kompensation, sie hat so gut wie keine Titten. Dulcita lächelt zufrieden, sie ist sich sicher, dass sie Architektur studieren und später mit dem Dünnen zusammenarbeiten wird. Sie wird die Entwürfe für seine Bauten zeichnen. Als zweite Möglichkeit hatte sie Geologie angekreuzt. Sie war nämlich ganz scharf darauf, in Höhlen zu kriechen, vor allem mit dem Dünnen, und ihrer beider Leidenschaft zu frönen: dem Vögeln. Damals war Dulcita einfach perfekt: erstklassiger Kumpel, toller Käfer, intelligent und schlagfertig. Hat sich nie mit jemandem gestritten, dir sowohl bei Prüfungen vorgesagt als auch bei den Mädchen Starthilfe gegeben. So war sie, ein echter Kumpel, ein Pfundskerl, jawohl! Hab nie verstanden, warum sie in die Vereinigten Staaten gegangen ist. Konnte es kaum glauben, als man mirs erzählt hat. Wo sie doch eine von uns war! Was wird wohl aus ihr geworden sein … Der Hasenzahn kann nichts dagegen tun, dass seine Zähne im Freien stehen. Weiß der Himmel, ob er lacht oder nicht, bei diesen Hauern wusste man das nie. Auch er ist dünn wie eine Bohnenstange. Er hatte Geschichtswissenschaften als erste Option gewählt und als zweite Geschichte fürs Lehramt. Zu der Zeit war er überzeugt davon, dass, hätten die Engländer 1763 Havanna nicht verlassen, Elvis Presley möglicherweise in Pinar del Río geboren wäre oder in River Pine City oder was für einen Blödsinn er sich ausdachte. Er immer mit diesen Zuckerrohrernte-Stiefeln, die er in der Schule anhatte und abends zum Flanieren und am Samstagabend auf den Partys. Er war so dünn, weil ihm gar nichts anderes übrig blieb. Bei uns zu Hause fressen wir Kabel, sagte er, nicht im übertragenen Sinne, sondern wirklich: Kabel, die sein Vater Gregorio, der »Goyo«, von seiner Arbeit als Elektriker mit nach Hause brachte. Kabelspaghetti, Kabelkroketten, Kabel mit Kartoffeln. Tamara macht ein ernstes Gesicht, aber so sieht sie noch besser aus, noch … hübscher? Eine hellbraune Haarsträhne fällt ihr locker in die Stirn, unbezähmbar, immer über das rechte Auge, was ihr so ein Aussehen verleiht, ich weiß nicht, wie die Honorata von Van Gult. Und Dulcita direkt neben ihr, man würde sagen, Dulcita hätte damals besser ausgesehen; aber Tamara, das war etwas anderes. Nicht nur hübsch, toll, süß, zum Anbeißen, nein, man wollte sie mit Haut und Haaren fressen, mit Rock und Bluse und allem, sagte ich einmal zum Dünnen, auch wenn ich eine Woche lang Stoff kacken muss. Man hatte auch Lust, sich an einem schönen Nachmittag mit ihr alleine auf einen kurz geschnittenen Rasen zu setzen und den Kopf auf ihre betörenden Schenkel zu legen, sich eine Zigarette anzuzünden, dem Gesang der Vögel zu lauschen und glücklich zu sein. Sie hatte Zahnmedizin angekreuzt und als zweite Option Medizin. Es ist schade, dass sie so ernst dreinblickt, denn die zukünftige Zahnärztin hatte Zähne, mit denen sie nie zum Zahnarzt gehen musste. Mein erster Patient wird der Hasenzahn sein, sagte sie, wenn ich dich bei meinem Examen auf dem Stuhl sitzen habe, rück ich dir die Hauer zurecht, und dann geben sie mir sofort den Doktortitel, sagte sie zu ihm. Ich mache mein erschrecktes Gesicht. Ich stehe ganz rechts außen, neben Tamara natürlich, wie immer, wenn es irgendwie möglich war. Und meine Hosen, also, die wurden über den Knien abgeschnitten, damit meine Mutter die Beine verkehrt herum wieder annähte, der weite Mittelteil nach unten und der untere Teil, der engere, nach oben. Die einzige Möglichkeit für unsereinen, an eine Hose mit einigermaßen weitem Schlag zu kommen, so wie man sie damals trug. Die Tennisschuhe ohne Strümpfe, beide geflickt am kleinen Zeh, der bei mir übersteht, immer scheuerte sich der Stoff an derselben Stelle durch. Ich lächle, aber es ist ein gezwungenes Lächeln, etwas schief, mit einem ausgehungerten Gesicht, zum Fürchten, ich hatte zu der Zeit schon Ringe unter den Augen. Und ich denke: Ich weiß nicht, ob ich Literatur studieren darf, in diesem Jahr gibt es fast keine Plätze. Ich hab einen guten Notendurchschnitt und würde liebend gerne Literatur studieren, aber das Auswahlverfahren ist die reinste Wundertüte. Dass ich als zweites Psychologie und nicht Zahnmedizin angegeben hatte, war wegen Tamara, außerdem kann ich kein Blut sehen. Aber vielleicht wäre Geschichte besser gewesen, wie der Hasenzahn, ich weiß nicht. Psychologie? Ein Beruf mit Zukunft, aber ich hab mich noch nie entscheiden können, hatte immer Probleme damit. Da ist es nur logisch, dass ich keine rechte Lust habe zu lächeln, auf jenem letzten Foto von uns, wie wir die Freitreppe herunterkommen, kurz vor der Abschlussprüfung, die wir alle bestehen werden, weil sie in der 13 keinen mehr durchfallen lassen, na ja, falls es nicht wieder zu einem ›Water-School-Skandal‹ kommt und sie uns keine Prüfungsaufgaben stellen, die uns das Genick brechen. (Wie in der 13 im letzten Jahr, auch Dulcita musste die Klasse deshalb wiederholen, obwohl sie doch so intelligent ist.) Also, wir werden alle bestehen, ganz bestimmt. Auf der Rückseite des Fotos steht »Juni 1975«, und wir waren alle noch gleich arm – fast alle –, aber glücklich. Der Dünne ist noch dünn, Tamara ist mehr als … hübsch?, Dulcita ist noch eine von uns, der Hasenzahn träumt davon, die Geschichte umzuschreiben, und ich werde Schriftsteller, wie Hemingway. Das Fotopapier ist mit den Jahren vergilbt, außerdem ist es mal nass geworden und an einer Ecke ausgefranst. Und wenn ich mir das Foto ansehe, bekomme ich einen Moralischen, denn der Dünne ist nicht mehr dünn, und hinter der Kamera, unsichtbar, aber anwesend, hat immer Rafael gestanden.
Er drückte viermal hintereinander auf die Klingel, hämmerte mehrmals gegen die Tür, rief »Niemand zu Hause?!« und hüpfte auf der Stelle. Die Nähe der Toilette hatte bei ihm einen stechenden Harndrang hervorgerufen, er konnte es nicht mehr aushalten und hämmerte erneut gegen die Tür.
»Ich habe Hunger, richtig Hunger, und ich muss pinkeln«, sagte er noch vor der Begrüßung. Dann gab er der Frau einen Kuss auf die Stirn und neigte den Kopf, jetzt schon beinahe im Laufen, damit sie ihn ebenfalls auf die Stirn küssen konnte. Es war eine Gewohnheit aus der Zeit, als der dünne Carlos noch dünn gewesen war und Mario Conde seine Tage in diesem Haus verbracht hatte. Sie hatten Tischtennis gespielt, mit mehr als zweifelhaftem Erfolg tanzen zu lernen versucht und vor Prüfungen frühmorgens Physik gebüffelt. Aber inzwischen war der dünne Carlos nicht mehr dünn, und nur er nannte ihn noch so. Carlos wog jetzt mehr als zweihundert Pfund und starb in einem Rollstuhl einen langsamen Tod. 1981 in Angola hatte er eine Kugel in den Rücken gekriegt, direkt über der Hüfte, und die hatte ihm das Rückenmark zerstört. Fünfmal war er seitdem operiert worden, doch das hatte seinen Zustand nicht verbessert. Jeden Tag wachte der Dünne mit einem neuen Schmerz auf, einem toten Nerv oder einem weiteren Muskel, der für immer unbeweglich blieb.
»Mein Gott, Junge, wie siehst du denn aus!«, rief Josefina, als sie ihn aus dem Badezimmer kommen sah. Sie reichte ihm ein halb volles Glas Kaffee.
»Ich geh auf dem Zahnfleisch, Jose, und ich hab Hunger zum Umfallen.« Er gab ihr das Glas zurück, nachdem er es auf einen Zug ausgetrunken hatte.
Erleichtert und rauchend trat er in das Zimmer seines Freundes. Der Dünne saß im Rollstuhl vor dem Fernseher. Er machte ein besorgtes Gesicht. »Die präparieren gerade den Rasen, sagen sie, vielleicht wird doch noch gespielt … Um Himmels willen, nein!«, protestierte er, als er die Flasche Rum sah, die sein Freund auspackte.
»Wir müssen reden, Bruder, aber erst mal brauch ich einen ordentlichen Schluck. Wenn du nicht willst … «
»Scheiße, du bringst mich noch um«, entgegnete der Dünne und rollte auf Mario zu. »Für mich bitte kein Eis, der Santa Cruz ist erstklassig.«
El Conde verließ das Zimmer und kam mit zwei Gläsern und einem Korkenzieher bewaffnet zurück.
»Also, du, wie läufts?«
»Ich komm gerade von Tamara, Dünner. Sieht besser aus denn je, dieses Weib, ich schwörs dir. Nicht dass sie nicht auch älter würde, aber sie wird immer besser.«
»So Frauen gibt es. Würdest du sie noch immer gerne heiraten?«
»Halt doch die Schnauze … Wirklich ausgezeichnet, der Rum.«
»Lass es langsam angehen, Alter! Du siehst heute richtig Scheiße aus.«
»Das macht der Schlafmangel. Und der Hunger. Und außerdem fallen mir die Haare aus.« Er zeigte ihm die lichten Stellen am Haaransatz. Dann trank er noch einen Schluck. »Na ja, Rafael ist und bleibt verschwunden, und kein Schwein weiß, wo er steckt und warum er verschwunden ist. Nicht mal, ob er noch lebt oder schon tot ist … «
Der Dünne war unruhig. Er warf einen Blick auf den Fernseher, über dessen Bildschirm ein Musikvideo flimmerte, während alle Welt auf den Beginn des Baseballspiels wartete. Von den Leuten, die Mario Conde kannte, war Carlos, noch weit vor ihm selbst, derjenige, der beim Baseball am meisten litt, schon als er noch dünn war und in der Oberstufenmannschaft centerfield spielte. Die einzigen beiden Male, die Mario ihn hatte weinen sehen, war wegen Baseball gewesen. Sein Schluchzen war ein Bolero-Schluchzen, Schnodder und Rotz hatte er geheult, ohne dass irgendjemand ihn hätte trösten können.
»Das Leben steckt voller Überraschungen«, sagte der Dünne und musterte seinen Freund. »Dass ausgerechnet du Rafael Morín suchst … «
»So überraschend ist das nun auch wieder nicht, Dünner. Rafael ist noch immer derselbe, ein opportunistisches Arschloch, das wer weiß wie viele Schweinereien gemacht hat, um dorthin zu kommen, wo er jetzt steht.«
»Hör mal, du, sag so was nicht«, erwiderte der Dünne, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte. »Rafael wusste immer schon, was er wollte, und er ist direkt drauflos marschiert. Und er hatte das Zeug dazu! Nicht umsonst war er Jahrgangsbester seiner Abschlussklasse und später dann der beste Wirtschaftsingenieur. Als ich anfing zu studieren, wurde schon von ihm gesprochen, als wär er ’n Phänomen. Wahnsinn, fast fünf im Durchschnitt, vom ersten Jahr an.«
»Willst du ihn plötzlich in Schutz nehmen?«, fragte Mario ungläubig.
»Hör mal, du, ich weiß nicht, was da jetzt passiert ist, und du selbst weißt es genauso wenig, und dabei bist du der Polizist. Aber so liegen die Dinge, Alter. Rafael war wirklich gut in der Schule, und ich bin überzeugt davon, dass er die Prüfungsaufgaben nicht brauchte, damals bei Water-School.«
Mario Conde fuhr sich durchs Haar. Er musste grinsen. »Leck mich am Arsch, Dünner, der ›Water-School-Skandal‹! Und ich dachte, daran würde sich kein Mensch mehr erinnern.«
»Hör mal, bevor ichs vergesse«, sagte der Dünne und goss sich Rum nach, »heute Nachmittag war Miki hier. Er fährt nach Deutschland und wollte mich fragen, ob ich was brauche. Und ganz nebenbei kam er auf die zehn Pesos zu sprechen, die er mir geliehen hat. Ich hab das Thema gewechselt und ihm von dem Rummel um Rafael erzählt. Du sollst unbedingt bei ihm vorbeikommen, sagt er.«
»Wieso? Weiß er was?«
»Nein, er hats erst von mir erfahren, und da hat er nur gesagt, du sollst vorbeikommen. Du weißt ja, Miki hat immer schon so geheimnisvoll getan.«
»Und Rafael ist mit weißer Weste aus Water-School hervorgegangen?«
»Mann, trink noch ’n Schluck, das stärkt den Gedankengang. Nein, er hatte nichts damit zu tun. Als der Direktor gefeuert wurde, war er nämlich schon an der Uni. Aber wer um ein Haar alles ausbaden musste, war Armandito Fonseca, sein Nachfolger als Vorsitzender der Schülervertretung.«
»Ja, klar, Rafael stand mit einem Bein in der Scheiße, aber er ist sauber geblieben. Sag ich doch!«
Der Dünne schüttelte den Kopf, so als wollte er sagen: Du bist ein hoffnungsloser Fall, du. Laut sagte er: »Jetzt reichts, Conde! Du weißt nicht, ob er was damit zu tun hatte oder nicht. Tatsache ist, dass er nicht beschuldigt wurde, Noten abgesprochen oder Prüfungsaufgaben verkauft zu haben oder so was. Du hast dich nur immer schwarz geärgert, dass er Tamara aufs Kreuz gelegt hat, und du durftest dir einen runterholen und dabei an sie denken.«
»Und du, warum hattest du Blasen an den Fingern? Weil du den Hof asphaltiert hast?«
»Und was dich auch noch wer weiß wie geärgert hat, das hast du mir nämlich mal gesagt, das war, dass wir uns nicht mehr in der Bibliothek vom alten Valdemira zum Lernen treffen konnten, weil Rafael sich da breit gemacht hatte … «
El Conde stand auf und ging zum dünnen Carlos. Er streckte den Zeigefinger aus und zielte auf die Stirn seines Freundes. »Sag mal, für wen bist du eigentlich, für die Indianer oder für die Cowboys? Weißt du, warum ich nicht auf deine Mutter scheiße? Weil sie Essen für mich macht. Aber auf dich, auf dich scheiß ich mit Vergnügen, mit Ver-gnü-gen! Du redest schon wie die Grille von Pinocchio.«
»Ach, lass mich doch mit dem alten Scheiß zufrieden«, sagte der Dünne, schlug dem Freund gegen den Arm und fing an zu lachen. Es war ein absolutes Lachen, das aus dem Bauch kam und den ganzen riesigen, schlaffen und so gut wie nutzlosen Körper schüttelte. Ein Lachen, das aus den Tiefen der Eingeweide aufstieg und den Rollstuhl zu Tode erschreckte, das Wände niederreißen und auf die Straße dringen, um die Ecke biegen und Türen aufstoßen konnte. Und das bewirkte, dass auch Teniente Conde zu lachen begann und aufs Bett fiel und noch einen Schluck brauchte, gegen den Hustenanfall. Sie lachten, als hätten sie just in diesem Augenblick entdeckt, was Lachen war. Josefina, durch den Radau angelockt, betrachtete die beiden von der Tür aus und lächelte. Doch hinter der lächelnden Fassade legte sich eine tiefe Melancholie auf ihr Gesicht. Sie hätte alles dafür hergegeben, ihr eigenes Leben, ihre Gesundheit, die langsam schwächer zu werden begann, alles, wenn sie dadurch nur hätte ungeschehen machen können, was passiert war, und wenn diese lachenden Männer wieder die beiden Jungs gewesen wären, die immer so gelacht hatten, ohne Grund, aus bloßem Vergnügen am Lachen.
»Schluss jetzt, es reicht«, sagte sie und trat ins Zimmer. »Lasst uns essen, es ist schon fast neun.«
»Ja, Mamachen, ich bin fix und fertig«, sagte Mario und stellte sich hinter den Rollstuhl.
»Warte, du, warte«, bat Carlos.
Der Videoclip wurde ausgeblendet, und auf dem Bildschirm erschien das übertrieben freundliche Lächeln der Ansagerin. »Verehrte Zuschauer«, begann sie, so als wäre sie begeistert, ja, glücklich über das, was sie zu sagen hatte. »Die Vorbereitungen im Estadio Latinoamericano sind praktisch abgeschlossen, sodass das erste Vorrundenspiel zwischen Industriales und Vegueros gleich beginnen kann. Bis zum Anpfiff unterhalten wir Sie mit Musikvideos.« Nach diesen Worten setzte sie wieder ihr maskenhaftes Lächeln auf und behielt es standhaft bei, bis der Videoclip eines weiteren Sängers mit einem weiteren Lied, das kein Mensch hören wollte, die gesamte schmale Breite des Bildschirms einnahm.
»Los, gehen wir«, sagte der Dünne, und sein Freund schob den Rollstuhl in den Flur. »Glaubst du, die Industriales können was reißen?«
»Ohne Marquetti und ohne Medina und mit einem verletzten Javier Méndez? Nein, Bär, ich seh schwarz für sie«, urteilte El Conde. Sein Freund schüttelte verzweifelt den Kopf. Er litt vor und nach jedem Spiel, selbst wenn die Industriales gewannen. Er dachte nämlich, wenn sie dieses Spiel gewonnen haben, dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie das nächste verlieren werden. Es war ein Leiden ohne Ende, trotz all seiner Beteuerungen, nicht mehr so fanatisch zu sein und das Baseballspiel überhaupt zum Teufel zu jagen. Früher sei es anders gewesen, sagte er, damals, mit Capiró, Chávez, Changa Mederos und all den andern. Doch Mario und Carlos wussten, dass sie beide hoffnungslose Fälle waren und dass es für den dünnen Carlos am wenigsten Hoffnung gab.
Sie setzten sich an den Tisch, und Mario beäugte Josefinas Angebot: sämige schwarze Bohnen, der Klassiker; panierte Schweineschnitzel, gut durch und doch saftig, gemäß der goldenen Schweineschnitzel-Regel; körniger Reis, schneeweiß und zart wie eine Jungfrau; Gemüsesalat, kunstvoll angerichtet und farblich ansprechend dekoriert mit rot-grün-goldenen Frühtomaten; und schließlich gebackene Bananenscheiben von grünen Bananen, ganz einfach herrlich. Dazu ein trockener roter Rumäne, sozusagen der König der Tafelweine.
»Um Himmels willen, Jose, was hast du da angerichtet?«, rief Mario aus. Er biss in eine gebackene Bananenscheibe und zerstörte die Harmonie des Salats, indem er eine Tomatenscheibe stibitzte. »Die Pest über den, der jetzt über die Arbeit redet«, warnte er und häufte sich den Teller voll, bereit, auf einen einzigen Schlag Frühstück und Mittagessen nachzuholen und das Abendmahl eines endlos scheinenden Tages zu feiern. »Oder über sonst irgendetwas«, fügte er hinzu und fing an zu schlingen.